Dreizehntes Kapitel.
Nicolaus bringt durch ein äußerst tatkräftiges und merkwürdiges Verfahren einige Veränderungen in die Einförmigkeit von Dotheboys Hall, was zu nicht unwichtigen Folgen führt.
Die kalte, matte Dämmerung eines Januarmorgens stahl sich durch die Fenster des gemeinschaftlichen Schlafsaals, als Nicolaus, auf den Ellenbogen gestützt, unter den hingestreckten Gestalten, die ihn auf allen Seiten umgaben, umherblickte, als suche er irgendeinen besonderen Gegenstand.
Es bedurfte eines raschen Auges, um unter der wirren Masse von Schläfern die Umrisse eines bestimmten Individuums zu entdecken, denn da sie dicht nebeneinandergepackt mit ihren geflickten und zerrissenen Kleidern bedeckt dalagen, so konnte man wenig mehr als die scharfen Umrisse blasser Gesichter unterscheiden, über die das düstere Licht dieselben unangenehmen Farben goß, mit denen es hin und wieder einen hageren Arm färbte, der sich, von keiner Bedeckung verhüllt, dem Auge in seiner ganzen eingeschrumpften Häßlichkeit zeigte. Einige davon, die mit aufwärtsgerichteten Gesichtern und zusammengeklammerten Händen auf dem Rücken lagen und in der trüben Beleuchtung nur eben sichtbar waren, sahen mehr Leichen als lebenden Geschöpfen gleich, während andere sich in so seltsame und phantastische Lagen zusammengekrümmt hatten, daß man diese eher für die unruhigen Bemühungen des Schmerzes, der sich vorübergehend Linderung verschaffen will, als für Grillen des Schlummers halten konnte. Nur wenige, und diese gehörten unter die jüngsten der Kinder, schliefen friedlich mit einem Lächeln auf ihren Zügen und träumten vielleicht von ihrer Heimat. Aber von Zeit zu Zeit verkündete ein tiefer und schwerer Seufzer, der die Stille des Gemaches unterbrach, daß abermals ein Schläfer zu dem Elend eines neuen Tages erwacht sei; und wie der Morgen die Nacht verdrängte, so schwand das Lächeln allmählich mit der freundlichen Dunkelheit, die es erzeugt hatte, dahin.
Träume sind liebliche Kinder der Phantasie, die in bunten, märchenhaften Bildern nächtlicherweile auf der Erde spielen und in den ersten Strahlen der Sonne hinwegschmelzen, die mit ihrer Leuchte die finstere Sorge und die traurige Wirklichkeit in die Welt einführt.
Nicolaus blickte auf die Schläfer – anfangs mit der Miene eines Menschen, der auf ein zwar bekanntes, demungeachtet aber nicht minder schmerzerregendes Schauspiel sieht, dann aber mehr in der achtsamen und spähenden Weise eines Mannes, dessen Auge irgendeinen gewohnten Gegenstand vermißt. Er war noch in seinem Suchen begriffen, zu welchem Ende er sich halb in seinem Bette aufgerichtet hatte, als sich Squeers‘ Stimme von dem Fuße der Treppe her vernehmen ließ.
»Was soll das?« rief der Ehrenmann. »Wollt ihr den ganzen Tag schlafen? Aufgestanden –«
»Ihr faulen Hunde«, beendigte Madame Squeers den Satz, indem sie zu gleicher Zeit einen Ton hervorbrachte, ähnlich dem, der durch das Zuschnüren eines Korsetts veranlaßt wird.
»Wir werden im Augenblick hinunterkommen, Sir«, antwortete Nicolaus.
»Im Augenblick hinunterkommen?« sagte Squeers. »Ja, Sie werden gut tun, bald herunterzukommen, ich möchte sonst noch bälder einen und den andern von euch unter mich kriegen. Wo ist Smike?«
Nicolaus blickte rasch umher, ohne jedoch zu antworten.
»Smike!« brüllte Squeer«.
»Willst du, daß dir der Schädel an einer neuen Stelle eingeschlagen wird, Smike?« fragte die liebenswürdige Frau Schulmeisterin in demselben Tone.
Noch immer keine Antwort. Nicolaus sah sich allenthalben um und ebenso auch der größere Teil der Knaben, die inzwischen erwacht waren.
»Heillose Unverschämtheit!« wütete Squeers, indem er ungeduldig mit seinem Rohr auf das Stiegengeländer schlug. »Nickleby!«
»Was steht zu Diensten, Sir?«
»Schicken Sie den störrischen Schlingel herunter; hören Sie mich denn nicht rufen?«
»Er ist nicht hier, Sir«, versetzte Nicolaus.
»Lügen Sie mich nicht an«, entgegnete der Schulmeister: »er ist bestimmt da.«
»Nein, er ist’s nicht«, erwiderte Nicolaus gekränkt: »das Lügen ist auf Ihrer Seite.«
»Wir wollen bald sehen«, sagte Herr Squeers, die Treppe hinaufstürmend. »Was gilt’s, ich finde ihn!«
Unter dieser Versicherung stürzte Herr Squeers mit zum Schlage geschwungenem Stock in den Schlafsaal und eilte nach dem Winkel, wo der ausgemergelte Körper des Haussklaven gewöhnlich des Nachts lag. Das Rohr flog, ohne Schaden zu tun, nieder, denn das Bett war leer.
»Was soll das heißen?« sagte Squeers, sich mit leichenblassem Gesicht umwendend. »Wo haben Sie ihn versteckt?«
»Ich habe ihn seit gestern abend nicht mehr gesehen«, versetzte Nicolaus.
»Lassen Sie diese Possen«, sagte Squeers, augenscheinlich geängstigt, obgleich er es zu verbergen suchte; »Sie werden ihm auf diese Weise nicht durchhelfen. Wo ist er?«
»Den Vorgängen nach wahrscheinlich auf dem Grunde des nächsten Teiches«, entgegnete Nicolaus leise mit einem scharfen Blicke nach dem Gesicht seines Chefs.
»Zum Teufel, was wollen Sie damit sagen?« erwiderte Squeers in großer Verwirrung. Und ohne auf eine Antwort zu warten, fragte er die Knaben, ob keiner von ihnen etwas von ihrem abhanden gekommenen Schulkameraden wüßte.
Alle murmelten ein ängstliches Nein, und nur eine schrille Stimme ließ laut werden, was in der Tat alle anderen dachten –
»Ich glaube, Sir, Smike ist weggelaufen.«
»Ha!« rief Squeers, sich schnell umwendend; »wer hat das gesagt?«
»Tomkins, Toms, Sir«, entgegnete ein Chor von Stimmen.
Herr Squeers stürzte sich in den Haufen und erwischte im Augenblick einen winzigen Knaben, der noch im Hemdchen dastand, und dessen verwirrter Gesichtsausdruck, als er hervorgeholt wurde, anzudeuten schien, daß er noch ungewiß sei, ob er wohl für seine Vermutung belohnt oder bestraft werden würde. Er blieb jedoch nicht lange im Zweifel.
»Du meinst also, er sei weggelaufen, Bürschchen – he?« fragte Squeers.
»Ja, Sir«, antwortete der kleine Knabe.
»Und welchen Grund, Bürschlein –« sagte Squeers, indem er den kleinen Knaben plötzlich bei den Armen packte und dessen leichte Bekleidung gar gewandt in die Höhe streifte – »welchen Grund hast du für die Annahme, daß ein Knabe aus dieser Anstalt fortlaufen sollte? Nun, Bürschlein, rede!«
Das Kind erhob, statt der Antwort, ein Zetergeschrei, und Herr Squeers, der die günstigste Stellung für die gehörige Anwendung seiner Kräfte annahm, schlug so lange drauf los, bis ihm der arme Knabe in seinen Krümmungen förmlich aus der Hand kugelte, worauf ihm denn der Schulmeister allergnädigst gestattete, so weit wegzurollen, wie er konnte.
»So!« sagte Squeers. »Ist vielleicht noch einer unter euch der Meinung, Smike sei weggelaufen? Es wäre mir recht angenehm, ein Wörtchen mit ihm zu sprechen.«
Natürlich meldete sich niemand, und während des nun folgenden Schweigens legte Nicolaus seine Abscheu so offen, als er es durch Blicke tun konnte, an den Tag.
»Nun, Nickleby«, sagte Squeers mit einem boshaften Blicke nach dem Angeredeten; »vielleicht sind Sie der Meinung, daß er weggelaufen ist?«
»Es scheint mir äußerst wahrscheinlich«, versetzte Nicolaus in dem ruhigsten Tone.
»Ah, Sie halten’s also für höchst wahrscheinlich?« höhnte Squeers. »Vielleicht wissen Sie es sogar gewiß?«
»Ich weiß von nichts der Art.«
»Vermutlich sagte er Ihnen nicht, daß er gehen wollte – oder?« höhnte Squrers.
»Er sagte mir nichts«, entgegnete Nicolaus; »und ich freue mich dessen, da ich es sonst für meine Pflicht gehalten hätte, Sie beizeiten zu warnen.«
»Was Ihnen ohne Zweifel teufelmäßig schwer angekommen wäre«, spöttelte Squeers.
»Allerdings«, erwiderte Nicolaus; »Sie wissen meine Gefühle sehr gut zu deuten.«
Frau Squeers hatte diese Unterhaltung von dem untern Ende der Stiege aus mit angehört; aber nun ging ihr die Geduld aus, und hastig ihren Bettkittel umwerfend, eilte sie nach dem Schauplatze der Handlung.
»Was soll all das heißen?« begann die Dame, als die Knaben nach rechts und links auswichen, um ihr die Mühe zu ersparen, sich mit ihren sehnigen Armen einen Weg zu bahnen. »Um des Himmels willen, was hast du mit diesem da abzumachen, Squeerschen?«
»Ei, mein Schatz«, sagte Squeers, »der Umstand ist, daß man den Smike nirgends auffinden kann.«
»Wohl, ich weiß das«, versetzte die Dame, »aber wie kann man sich darüber wundern? Was ließ sich anders voraussehen, wenn man einen Haufen übermütiger Lehrgehilfen ins Haus nimmt, die die Hunde rebellisch machen? Junger Herr, Sie werden auf der Stelle die Güte haben, sich mit den Knaben in die Schulstube hinunterzupacken und sich dort nicht von der Stelle zu rühren, bis Sie Erlaubnis haben, oder ich und Sie könnten in einer Weise aneinander kommen, in der Ihre Schönheit etwas Not leiden dürfte, so viel Sie sich auch darauf einbilden mögen; das sage ich Ihnen.«
»Wirklich?« sagte Nicolaus lächelnd.
»Ja – wirklich, und noch einmal wirklich, Musje Maulaffe«, polterte die aufgeregte Dame fort; »und wenn es von mir abhinge, so würde ich einen solchen Wicht wie Sie keine Stunde mehr im Hause behalten.«
»Das sollten Sie auch nicht, wenn es von mir abhinge«, entgegnete Nicolaus. »Kommt, Kinder!«
»Ja, kommt, Kinder«, belferte Frau Squeers weiter, indem sie, so gut sie konnte, die Stimme und das Benehmen des Unterlehrers nachäffte. »Folgt eurem Führer und nehmt euch Smike zum Beispiel, wenn ihr das Herz habt. Aber seht zu, was er vor sich bringen wird, wenn er wieder hier ist, und denkt an das, was ich sage: es soll euch ebenso schlimm und zweimal so schlimm ergehen, wenn ihr nur das Maul über ihn auftut.«
»Wenn ich ihn erwische, so will ich nicht eher von ihm ablassen, als bis ich ihn lebendig geschunden habe – merkt’s euch, ihr Buben!«
»Wenn du ihn erwischst?« entgegnete Madame Squeers verächtlich. »Ist hieran auch nur zu zweifeln, wenn du den rechten Weg einschlägst? – Marsch, fort mit euch!«
Mit diesen Worten entließ Frau Squeers die Knaben, und nach einigen Püffen auf die letzten, die vorwärts drückten, um aus dem Bereich der Fäuste dieser liebenswürdigen Dame zu kommen, aber einige Augenblicke durch das Gedränge vorn aufgehalten wurden, gelang es ihr, das Zimmer zu reinigen, um nun mit ihrem Gatten allein das Nötige zu beraten.
»Er ist wirklich fort«, sagte Frau Squeers. »In den Ställen kann er nicht sein, da sie verschlossen sind, und ebensowenig ist er unten im Haus, denn das Mädchen hat alles durchsucht. Er muß York zugegangen sein, und zwar auf einer der Landstraßen.«
»Warum denn das?«
»Dummkopf!« entgegnete Frau Squeers verdrießlich. »Er hatte doch kein Geld bei sich?«
»Er hat meines Wissens in seinem ganzen Leben keinen Heller besessen«, entgegnete Squeers.
»Nun ja«, versetzte Frau Squeers; »und etwas zum Essen hat er auch nicht mitgenommen, dafür kann ich stehen. Ha! ha! ha!«
»Ha! ha! ha!« stimmte Herr Squeers ein.
»Er muß sich also natürlich durch Betteln fortbringen«, setzte Frau Squeers weiter auseinander, »und das kann er nirgends als an der Landstraße.«
»Das ist wahr«, rief Squeers, die Hände zusammenschlagend.
»Allerdings wahr, aber dir wäre es in deinem ganzen Leben nicht eingefallen, wenn ich’s nicht gesagt hätte«, bedeutete ihm seine Gattin. »Du nimmst jetzt deinen Einspänner und fährst den einen Weg, während ich Swallows Wagen borge und den andern einschlage. Wenn wir dann nur unsere Augen offen behalten und bei den Leuten Nachfrage anstellen, so muß er notwendig dir oder mir wieder in die Hände fallen.«
Der Plan der würdigen Dame fand Beifall und wurde ohne die mindeste Zögerung in Vollzug gesetzt.
Sie nahmen in aller Eile ein Frühstück zu sich, stellten im Dorfe einige Nachfragen an, deren Ergebnis anzudeuten schien, daß sie auf der rechten Spur wären, und nun brach Herr Squeers rachgierig mit seinem Einspänner auf. Bald nachher schlug Frau Squeers, mit ihrem weißen Kapuzenmantel aufgeputzt und in eine Menge von Halstüchern eingehüllt, in einem andern Wagen eine andere Richtung ein, indem sie zugleich einen tüchtigen Knüttel, einige feste Stricke und einen stämmigen Arbeiter mit sich nahm. Alle diese Vorkehrungen hatten den einzigen Zweck, bei der Habhaftwerdung des unglücklichen Smike Dienste zu leisten und denselben, sobald man ihn hätte, in sichere Verwahrung zu bringen.
Nicolaus blieb in einem Sturm von Gefühlen zurück; denn er wußte wohl, daß aus der Flucht des Knaben nur schmerzliche und bedauerliche Folgen hervorgehen konnten, mochte sie nun gelingen oder nicht. Tod aus Mangel an Nahrung und Obdach war noch das Beste, was einem so armen und hilflosen Geschöpf, das allein und freundlos durch eine ihm vollkommen unbekannte Gegend wanderte, auf einem längeren Marsche erwachsen mußte. Es war vielleicht eine schlechte Wahl zwischen diesem Schicksal und einer Rückkehr zu den Wohltaten der Yorkshirer Schule. Aber das unglückliche Wesen hatte sich so sehr sein Mitleid und seine Teilnahme gewonnen, daß Nicolaus das Herz blutete, wenn er der Leiden gedachte, die das Schicksal über den armen Smike verhängen mochte. Er malte sich in unablässiger Beängstigung tausend Möglichkeiten aus, bis am Abend des nächsten Tages Herr Squeers allein, und ohne seinen Zweck erreicht zu haben, zurückkehrte.
»Nichts Neues von dem Ausreißer?« fragte der Schulmeister, der augenscheinlich, seinem alten Grundsatz zufolge, während der Fahrt nicht selten seine Beine gestreckt hatte. »Nun, ich will mich dafür an irgend jemand trösten, Nickleby, wenn meine Frau ihn aufjagt; verlassen Sie sich darauf.«
»Es ist nicht in meiner Macht, Sie zu trösten, Sir«, versetzte Nicolaus. »Die Sache geht mich nichts an.«
»So?« entgegnete Herr Squeers in drohendem Tone. »Wir wollen sehen.«
»Sei’s drum«, erwiderte Nicolaus.
»Das Pferd hat sich aufgerieben, so daß ich mit einem Mietgaule heimkehren mußte – kostet fünfzehn Schillinge, außer den andern Ausgaben«, sagte Squeers. »Wer wird mich dafür entschädigen – he?
Nicolaus zuckte die Achseln und schwieg.
»Ich sage Ihnen, einer soll’s mir tun«, fuhr Squeers fort, indem er seine gewöhnliche rauhe und verschmitzte Weise mit dem Tone einer offenen Herausforderung vertauschte. »Nichts da mit Ihren greinenden Grillen, Musje Hasenfuß, sondern fort mit Ihnen nach Ihrem Loche, wo Sie schon lange sein sollten. Marsch, hinaus!«
Nicolaus biß sich in die Lippen und ballte unwillkürlich seine Fäuste, denn es prickelte ihn bis in die Fingerspitzen, diese Beleidigung zu rächen; aber er erinnerte sich, daß der Mann betrunken war und daß die Sache zu nichts als zu einem ärgerlichen Auftritt führen konnte, und so begnügte er sich, einen Blick der Verachtung auf den armseligen Tyrannen zu werfen, und ging stolzen Trittes die Stiegen hinauf, obgleich er nicht ohne Ärger bemerken mußte, daß Fräulein Squeers, der junge Squeers und das Dienstmädchen sich aus einer Ecke heraus über den Auftritt lustig machten. Die beiden erstern ergingen sich in manchen erbaulichen Bemerkungen über den Dünkel armer Emporkömmlinge und begleiteten diese mit einem schallenden Gelächter, worin sogar das armseligste aller armseligen Dienstmädchen mit einstimmte, wahrend Nicolaus, bis aufs Innerste verletzt, das bischen Bettzeug, das er hatte, über den Kopf zog und den festen Entschluß faßte, die zwischen ihm und Herrn Squeers aufgelaufene Rechnung um ein ziemliches früher auszugleichen, als der letztere wohl ahnen mochte.
Nicolaus war am nächsten Morgen kaum erwacht, als er einen Wagen auf das Haus zurasseln hörte. Sie machte halt. Man vernahm die Stimme der Frau Squeers, die mit einem Frohlocken, das allein schon hinreichend andeutete, daß irgend etwas Außerordentliches vorgefallen war, ein Glas Branntwein für irgend jemand verlangte. Nicolaus getraute sich kaum, zu dem Fenster hinauszusehen; aber er tat es endlich doch, und der erste Gegenstand, der seinen Augen begegnete, war der unglückliche Smike, aber so durchnäßt und beschmutzt, so abgemagert und verwildert, daß man wohl seine Identität hätte bezweifeln können, wenn sie nicht durch seine Kleider, die von einer Art waren, wie man sie nicht einmal an einer Vogelscheuche sieht, zur Genüge wäre dargetan worden.
»Heraus mit ihm!« rief Squeers, nachdem er seine Augen schwelgend auf dem Schuldigen hatte haften lassen. »Bringt ihn herein, bringt ihn herein!«
»Sich dich vor«, sagte Frau Squeers, als ihr Gatte seinen Beistand anbot; »wir haben seine Beine in dem Korbe festgebunden, damit er uns nicht wieder entkomme.«
Mit vor Entzücken zitternden Händen löste Squeers den Knoten des Strickes, und Smike, der mehr tot als lebendig war, wurde, nachdem man ihn ins Haus gebracht hatte, zur sichern Verwahrung in einen Keller gesteckt, um seinerzeit wieder hervorgezogen zu werden, wenn es Herrn Squeers geeignet scheinen sollte, die Operation in Gegenwart der ganzen Schule an ihm vorzunehmen.
Bei einer flüchtigen Erwägung der Umstände dürfte es vielleicht überraschen, daß Herr und Frau Squeers sich so viele Mühe gaben, um wieder in den Besitz einer Last zu kommen, über die sie sich so laut zu beklagen gewöhnt waren. Man wird sich jedoch nicht mehr wundern, wenn man weiß, daß die mannigfachen Dienste des Haussklaven, wenn sie von jemand anders verrichtet werden mußten, der Anstalt doch auch zehn oder zwölf Schillinge Wochenlohn kosteten; und zudem forderte es die Politik von Dotheboys Hall, daß an allen Ausreißern stets ein strenges Exempel statuiert wurde, sintemalen die Reize der Anstalt zu wenig Anziehungskraft besaßen, um einen Zögling, der mit der gewöhnlichen Anzahl von Beinen und mit der Macht, sie zu gebrauchen, versehen war, anders als durch den mächtigen Hebel der Furcht zurückzuhalten.
Die Neuigkeit, daß Smike wieder aufgegriffen und im Triumph zurückgebracht worden wäre, verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den ausgehungerten Zöglingen der Anstalt, und alles war den ganzen Morgen über in der gespanntesten Erwartung. Diese sollte jedoch erst am Nachmittag befriedigt werden; denn Squeers erschien, nachdem er sich durch sein Mittagessen erfrischt und noch überdies durch einen Extratrunk gehörig gekräftigt hatte, von seiner liebenswürdigen Ehehälfte begleitet, mit gar bedeutsamem Gesicht und einem schrecklichen Geißlungsinstrumente, stark, biegsam, unten gewichst und nagelneu – mit einem Wort, erst am Morgen für den gegenwärtigen Fall angekauft.
»Sind alle Knaben hier?« fragte Squeers mit einer Donnerstimme.
Es waren alle hier, aber keiner hatte den Mut zu sprechen. Squeers ließ daher seinen Blick an den Reihen hinuntergleiten, und wo dieser hinfiel, senkten sich die Augen oder duckten sich die Köpfe.
»Jeder bleibe an seinem Platz«, sagte Squeers, mit dem Stock auf das Pult schlagend, indem er zugleich mit düsterem Wohlbehagen das allgemeine Auffahren betrachtete, das gewöhnlich dieser seiner Lieblingsostentation folgte. »Nickleby, an Ihr Pult!«
Mehr als einer der kleinen Zuschauer hatte bemerkt, daß ein sehr seltsamer und ungewöhnlicher Ausdruck auf dem Gesicht des Unterlehrers lag, obgleich er, ohne die Lippen zu einer Antwort zu öffnen, seinen Sitz einnahm. Squeers warf einen Blick des Triumphs auf seinen Gehilfen und einen des unumschränktesten Despotismus auf die Knaben, verließ das Zimmer und kam bald darauf mit Smike wieder zurück, den er am Rockkragen oder vielmehr an jenem Jackenüberreste hereinzerrte, der der Stelle am nächsten war, wo der Kragen hätte sitzen müssen, wenn sich die Brustbekleidung des Knaben einer solchen Zierde hätte rühmen können.
An jedem andern Orte würde die Erscheinung des elenden, abgehetzten und mutlosen Delinquenten ein Gemurmel des Mitleids und der Einsprache veranlaßt haben. In der Tat übte sie auch selbst hier einige Wirkung; denn die Zuschauer bewegten sich unruhig auf ihren Sitzen, und einige der kühnsten wagten es sogar, sich gegenseitig verstohlene Blicke der Entrüstung und des Mitleids zuzuwerfen.
So etwas war jedoch bei Squeers verloren, der sein Auge fest auf den unglücklichen Smike heftete und diesen nach der in solchen Fällen hergebrachten Gewohnheit fragte, ob er etwas zu seinen Gunsten vorzubringen hätte.
»Du wirst wohl nichts wissen?« schloß Squeers mit einem teuflischen Grinsen.
Smike blickte umher, und sein Auge ruhte einen Moment auf Nicolaus, als erwarte er von ihm eine Einmischung; aber dieser hatte seinen Blick fest auf das Pult geheftet.
»Hast du noch etwas zu sagen?« fragte Squeers abermals und schwang dabei seinen rechten Arm zwei- oder dreimal durch die Luft, als wolle er dessen Gewandtheit und Kraft prüfen. »Tritt ein wenig beiseite, liebe Frau, denn ich werde Raum genug brauchen.«
»Ach, haben Sie Barmherzigkeit mit mir, Sir«, rief Smike.
»Ah, ist das alles?« sagte Squeers. »Ja, ich will Barmherzigkeit mit dir haben und dich peitschen, bis dir das Herz stille steht und ich den Arm nicht mehr rühren kann.«
»Ha! ha! ha!« lachte Frau Squeers. »Das ist gut – das ist gut.«
»Man hat mich mit Gewalt so weit gebracht«, entgegnete Smike mit schwacher Stimme, indem er abermals einen flehenden Blick um sich warf.
»So, du wurdest mit Gewalt dazu getrieben?« erwiderte Squecrs. »Ah, es war also nicht deine Schuld, sondern vermutlich die meinige?«
»Du unstetiger, undankbarer, schweinsköpfiger, viehischer, störrischer, kriechender Hund«, rief Madame Squeers, indem sie Smikes Kopf unter ihren Arm nahm und ihm bei jedem Beiworte einen Rippenstoß versetzte; »was willst du damit sagen?«
»Tritt ein wenig auf die Seite, meine Liebe«, sagte Squeers. »Wir wollen sehen, ob wir’s herauskriegen.«
Frau Squeers, die durch ihre Anstrengungen bereits atemlos geworden war, willfahrte. Herr Squeers packte den Jungen fest. Ein Hieb aus Leibeskräften fiel auf den Körper des armen Jungen nieder, der sich unter dem Streiche krümmte und vor Schmerz winselte. Es wurde noch einmal ausgeholt, und abermals sollte ein Schlag fallen, als Nicolaus Nickleby plötzlich aufsprang und mit einer Stimme, daß die Decke dröhnte, ›halt!‹ schrie.
»Wer rief ›halt‹?« tobte Squeers mit einem wilden Blick rückwärts.
»Ich«, sagte Nicolaus, vorwärtstretend. »So darf nicht fortgefahren werden!«
»Darf nicht fortgefahren werden?« kreischte Squeers.
»Nein!« donnerte Nicolaus.
Erstarrt ob der Verwegenheit dieser Einrede, ließ Squeers Smike fahren, trat ein paar Schritte zurück und sah Nicolaus mit in der Tat fürchterlichen Blicken an.
»Ich sage, es darf nicht!« wiederholte Nicolaus, ohne sich einschüchtern zu lassen, – »und soll nicht! Ich dulde es nicht.«
Squeers fuhr fort, ihn mit Augen, die fast aus ihren Höhlen sprangen, anzustieren, denn das Erstaunen hatte ihn wirklich für den Augenblick der Sprache beraubt.
»Sie haben mein ruhiges Fürwort für den Jungen nicht beachtet«, sagte Nicolaus, »und auch den Brief keiner Antwort gewürdigt, in dem ich für ihn um Verzeihung bat und meine Bürgschaft anbot, daß er ruhig hierbleiben würde. Sie können mir daher dieses öffentliche Einschreiten nicht zum Vorwurf machen, da Sie es nur sich selbst, nicht mir zuzuschreiben haben.«
»Geh an deinen Platz, armseliger Bettelbube«, schrie Squeers, fast außer sich vor Wut, indem er abermals nach Smike griff.
»Elender«, entgegnete Nicolaus heftig; »wenn Sie ihn anrühren, so geschieht es auf Ihre eigene Gefahr. Ich werde nicht untätig zusehen. Mein Blut kocht, und ich habe die Kraft von zehn solchen Menschen, wie Sie. Nehmen Sie sich in acht, denn bei Gott, ich werde Sie nicht schonen, wenn Sie mich aufs äußerste treiben.«
»Zurück!« schrie Squeers, mit seiner Waffe ausholend.
»Ich habe eine lange Reihe von Beleidigungen zu rächen«, erwiderte Nicolaus zornrot, »und meine Erbitterung wird noch erhöht durch die feige Grausamkeit, die man in dieser scheußlichen Höhle an hilflosen Kindern verübt. Sehen Sie sich vor; denn wenn Sie den Teufel in mir wecken, so werden die Folgen davon schwer auf Ihr eigenes Haupt fallen.«
Er hatte kaum ausgesprochen, als Squeers in einem heftigen Wutausbruch und mit einem Schrei, ähnlich dem Geheul einer wilden Bestie, den Hilfslehrer anspie und ihm mit seinem Peinigungsinstrumente einen Schlag über das Gesicht versetzte, der, wo er hinfiel, eine rote Wulst zurückließ. In diesem Augenblick drängten sich alle Gefühle von Wut und Verachtung in Nicolaus‘ Seele zusammen; er sprang auf, entriß die Waffe Squeers‘ Händen, packte den Schurken an der Kehle und zerbläute ihn, bis er um Gnade brüllte.
Die Knaben – mit Ausnahme des jungen Squeers, der seinem Vater zu Hilfe kam und den Feind im Nacken angriff – rührten weder Hand noch Fuß. Aber Madame Squeers hängte sich unter fortwährendem Schreien nach Hilfe an den Rockschoß ihres Gemahls und mühte sich, ihn den Händen seines wütenden Gegners zu entreißen, während Fräulein Squeers, die in der Erwartung einer ganz anderen Szene durch das Schlüsselloch gelauscht hatte, gerade im Augenblick des beginnenden Angriffs hereinstürzte und, nachdem sie dem Unterlehrer eine Menge Tintenfässer an den Kopf geworfen hatte, nach Herzenslust von hinten auf ihn losschlug, indem sie sich zu jedem Streiche durch die Erinnerung an die Verschmähung ihrer Liebe ermutigte, und so einem Arme, der (da sie in dieser Beziehung ihrer Mutter nachartete) ohnehin nicht der schwächste war, noch mehr Kraft verlieh.
Nicolaus empfand jedoch in dem vollen Strome seiner Leidenschaft die Schläge nicht stärker, als ob sie mit Federn ausgeteilt würden. Endlich aber wurde er des Lärmens und des Aufruhr müde, und da noch außerdem sein Arm erlahmte, so vereinigte er alle ihm noch zu Gebote stehenden Kräfte zu einem halben Dutzend Schlußhieben und schleuderte Squeers mit aller Gewalt von sich. Die Macht des Stoßes riß auch Madame Squeers mit sich fort und stürzte sie gegen eine im Weg liegende Bank, gegen die Herr Squeers im Fallen so kräftig anstieß, daß er der ganzen Länge nach betäubt und regungslos auf dem Boden lag.
Als Nicolaus das Werk in dieser Weise glücklich zu Ende gebracht und sich zu seiner völligen Beruhigung überzeugt hatte, daß Squeers nicht tot – über welchen Punkt er im Anfang einige unbehagliche Zweifel empfand –, sondern nur betäubt war, überließ er dessen Wiederherstellung seiner Familie und entfernte sich, um zu überlegen, welcher Weg jetzt wohl der geeignetste für ihn sein dürfte. Er sah sich, als er das Zimmer verließ, ängstlich nach Smike um, aber er konnte ihn nirgends entdecken.
Nach einer kurzen Überlegung packte er seine wenigen Kleider in ein kleines ledernes Felleisen, ging, da sich niemand seinem Abzuge in den Weg stellte, kühn durch die vordere Tür und bog bald nachher in den Weg ein, der nach Greta Bridge führte.
Als er hinreichend abgekühlt war, um über seine dermaligen Verhältnisse ein wenig nachzudenken, erschienen sie ihm freilich nicht in einem sehr ermutigenden Lichte, denn er hatte nur vier Schillinge und einige Pence in der Tasche und war etwas mehr als zweihundertundfünfzig Meilen von London entfernt, wohin er zuvorderst seine Schritte zu lenken willens war, um sich unter anderem auch zu erkundigen, wie Herr Squeers wohl die Vorgänge dieses Tages seinem liebevollen Onkel vortragen würde.
Diese Betrachtungen führten leider zu dem traurigen Schlusse, daß es bei der dermaligen unglücklichen Sachlage keine Hilfsquelle für ihn gebe; und als er da zufällig seine Augen aufrichtete, sah er auf einmal einen Mann auf sich zureiten, in dem er beim Näherkommen zu seinem großen Verdruß niemand anderen als Herrn Johann Browdie erkannte, der in lederbesetzten Beinkleidern auf seinem Tier saß und dasselbe mittelst eines starken Stockes, den er kurz zuvor von irgendeiner jungen stämmigen Esche abgeschnitten zu haben schien, vorwärtstrieb.
»Es gelüstet mich nicht nach weiterem Lärmen und Zank«, dachte Nicolaus, »und doch wird mir, ich mag es machen, wie ich will, wahrscheinlich noch ein Wortwechsel mit diesem ehrlichen Dummkopf, vielleicht auch der eine oder der andere Streich von jenem Stock blühen.«
Wirklich schien auch einiger Grund vorhanden zu sein, von dieser Begegnung einen solchen Ausgang zu erwarten; denn Johann Browdie hatte kaum Nicolaus des Weges herziehen sehen, als er sein Pferd auf den Fußweg trieb und so lange harrte, bis jener herankam, wobei er unablässig zwischen den Ohren seines Pferdes hindurch nach Nicolaus sah, der gemächlich einherschritt.
»Gehorsamer Diener, junger Herr«, sagte Johann.
»Gleichfalls«, entgegnete Nicolaus.
»Nun, wir haben uns endlich getroffen«, bemerkte Johann, indem er mit seinem Eschenstock an den Steigbügel schlug, daß dieser erklirrte.
»Ja«, versetzte Nicolaus stockend. »Doch –« fuhr er nach einer augenblicklichen Pause freimütig fort – »wir sind, als wir uns das letzte Mal sahen, nicht unter den freundlichsten Verhältnissen voneinander geschieden. Es war, glaube ich, meine Schuld, aber ich hatte nicht die Absicht, Sie zu beleidigen, und ließ mir’s auch nicht träumen, daß Sie sich beleidigt fühlen könnten. Es hat mir nachher sehr leid getan. Wollen wir gegenseitig die Sache vergleichen und uns die Hand zur Versöhnung reichen?«
»Die Hand zur Versöhnung reichen?« rief der gutmütige Yorkshirer; »nun denn, da bin ich auch dabei.« Er beugte sich sofort vom Sattel nieder und drückte Nicolaus‘ Hand kräftig. »Aber was hast du in deinem Gesicht, Mensch? Es sieht ja aus wie zerbläut!«
»Es ist ein Schlag«, entgegnete Nicolaus hocherrötend; »aber ein Schlag, den ich dem Geber mit reichlichen Zinsen wieder zurückerstattete.«
»Ach was, das haben Sie getan?« rief Johann Browdie. »Recht so. Sie gefallen mir darum.«
»Ich wurde nämlich mißhandelt«, entgegnete Nicolaus, der nicht recht wußte, wie er sein Zugeständnis einleiten sollte.
»O je!« fiel Johann Browdie in einem Ton des Mitleids ein, denn er war ein Riese an Kraft und Gestalt, und Nicolaus mochte in seinen Augen wohl nur wie ein Zwerg erscheinen; »sagen Sie mir das nicht.«
»Es ist leider so«, erwiderte Nicolaus, »und zwar von jenem schuftigen Squeers; ich habe ihn aber gesund abgedroschen und darauf sein Haus verlassen.«
»Was!« schrie Johann Browdie in einer solchen Wonne, daß sein Pferd darüber scheute; »den Schulmeister abgedroschen! Wer hat je etwas der Art gehört? Gib mir noch einmal deine Hand, Kamerad! Den Schulmeister abgedroschen! Zum heiligen Donnerwetter, ich möchte dich darum küssen.«
Unter diesen Ausbrüchen des Entzückens lachte Johann Browdie wiederholt so laut, daß das Echo weit und breit nur die jovialen Töne der Heiterkeit zurückgab, wobei der Kornhändler die Hand des Hilfslehrers mit der größten Herzlichkeit drückte. Als sich seine Lachlust gelegt hatte, fragte er Nicolaus, was er jetzt zu tun gedächte, schüttelte jedoch auf die Mitteilung, daß er schnurstrack nach London wolle, bedenklich den Kopf und meinte, er werde wohl nicht wissen, wie viel die Eilwagen für eine so weite Fahrt verlangten.
»Ich weiß es allerdings nicht«, versetzte Nicolaus; »es kommt aber auch nicht sonderlich in Betracht, da ich im Sinn habe, meine Reise zu Fuß zu machen.«
»Eine Reise nach London zu Fuß?« rief der Kornhändler verwundert.
»Jeden Schritt des Wegs«, entgegnete Nicolau«. »Ich hätte aber, statt hier zu stehen, schon eine schöne Strecke hinter mich bringen können; und somit Gott befohlen!«
»Nicht doch«, erwiderte der ehrliche Landmann, sein ungeduldiges Pferd zügelnd; »halt noch ein wenig, sag‘ ich. Wieviel Geld hast du in deiner Tasche?«
»Nicht viel«, antwortete Nicolaus errötend! »aber ich muß es eben zu strecken suchen. Kräftiger Wille kann viel ausrichten.«
Johann Browdie machte nicht viel Worte, sondern steckte die Hand in seine Tasche, zog einen alten, abgenutzten, ledernen Geldbeutel hervor und bestand darauf, daß Nicolaus so viel von ihm borgen müsse, als er zu seinem gegenwärtigen Bedürfnis für nötig erachte.
»Brauchst dich nicht zu schämen, Mann«, sagte er. »Nimm so viel, als du zum Heimkommen nötig hast. Ich habe keine Sorge; du wirst’s mir schon einmal wieder bezahlen.«
Nicolaus ließ sich jedoch durchaus nicht bewegen, mehr als eine Guinee anzunehmen, mit welchem Anlehen Herr Browdie sich nach vielem Drängen, daß er besser zugreifen solle, begnügen mußte, obgleich er seinem Freunde, nicht ohne einen Anflug von Yorkshirer Bedachtsamkeit, vorgestellt hatte, daß er das, was er nicht ausgebe, ja aufbewahren könne, bis sich eine Gelegenheit finde, es ohne Porto zurückzusenden.
»Nimm auch diesen Stecken mit, daß er dir auf deinem Wege forthelfe, Kamerad«, fügte er hinzu, indem er seinen Eschenstock Nicolaus hinreichte und ihm noch einmal die Hand drückte. »Bewahre dir einen guten Mut, und Gott sei dein Geleitsmann. Den Schulmeister geprügelt! Bei Gott, das ist das Beste, was ich in zwanzig Jahren gehört habe.«
Nach diesen Worten brach Johann Browdie mit mehr Zartgefühl, als man von ihm erwartet hätte, aufs neue in ein lautes Gelächter aus, um nicht auf Nicolaus‘ Dankergießungen achten zu müssen; dann gab er seinem Pferde die Sporen und ritt in scharfem Trab davon, indem er sich noch hin und wieder nach Nicolaus umsah und ihm freudig mit der Hand zuwinkte, als wolle er ihm zu seiner Reise Mut zusprechen, während dieser stehen blieb und seinem Wohltäter nachblickte, bis Roß und Reiter hinter dem Kamm eines fernen Hügels verschwunden waren; dann setzte er seinen Weg fort.
Er kam an diesem Abend nicht mehr weit; denn es war inzwischen dunkel geworden, und da es stark geschneit hatte, so war der Weg nicht nur sehr mühsam, sondern auch in der Nacht für jemanden, der die Gegend nicht genau kannte, unsicher und schwer aufzufinden. Er blieb in einer Hütte über Nacht, wo für Wanderer der geringeren Klassen Betten zu wohlfeilem Preise zu haben waren, stand am andern Morgen zeitig auf und kam noch vor Einbruch der Nacht nach Boroughbridge. Als er durch diese Stadt ging, um irgendein wohlfeiles Nachtlager aufzufinden, traf er ein paar hundert Ellen von der Straße seitwärts eine leere Scheune, in der er sich eine warme Decke aussuchte, seine müden Glieder ausstreckte und bald in einen gesunden Schlaf verfiel.
Als er des andern Morgens erwachte und seine Träume, die alle mit seinem kürzlichen Aufenthalt zu Dotheboys Hall in Verbindung standen, ins Gedächtnis zurückzurufen versuchte, setzte er sich auf, rieb die Augen und starrte – wahrscheinlich nicht in der größten Fassung – auf irgendeinen unbeweglichen Gegenstand, der einige Ellen vor ihm zu stehen schien.
»Sonderbar!« rief Nicolaus. »Sollte das noch unter die Traumgebilde gehören, die mich eben verlassen haben? Es kann nicht wirklich sein – und doch – ich bin wach – Smike?«
Die Gestalt bewegte sich, stand auf, trat näher und ließ sich bei seinen Außen auf die Knie nieder. Es war wirklich Smike.
»Warum kniest du vor mir?« sagte Nicolaus, ihn hastig aufhebend.
»Damit Sie mir erlauben, mit Ihnen zu gehen, – überall hin – bis an der Welt Ende – bis ins Grab«, versetzte Smike, seine Hand umfassend. »O gestatten Sie mir’s! Sie sind meine Heimat – mein einziger Freund – nehmen Sie mich mit sich, ich bitte.«
»Aber dieser Freund kann wenig für dich tun«, sagte Nicolaus sanft. »Wie kommst du hierher?«
Der arme Bursche hatte, wie es schien, Nicolaus‘ Spur verfolgt, ihn auf dem ganzen Wege nie aus dem Gesicht verloren, und stets auf ihn acht gegeben, wenn er schlief oder eine Erfrischung einnahm, aber immer sich gescheut, vor ihm zu erscheinen, damit er nicht wieder zurückgeschickt werden möchte. Es war auch nicht seine Absicht, schon jetzt hervorzutreten, aber Nicolaus war früher erwacht, als er vermutet hatte, und so hatte er keine Zeit mehr gehabt, sich zu verbergen.
»Armer Junge«, sagte Nicolaus; »dein hartes Geschick versagt dir Freunde, bis auf einen einzigen, und dieser ist beinahe so arm und hilflos wie du selbst.«
»Darf ich – darf ich mit Ihnen gehen«, sagte Smike schüchtern. »Ich will keine Mühe scheuen und Ihr treuer Diener sein. Ich brauche keine Kleider«, fügte das arme Geschöpf bei, indem es seine Lumpen zusammenzog, »da ich mit diesen gut ausreiche. Es fehlt mir daher nichts, als in Ihrer Nähe zu sein.«
»Und das sollst du!« rief Nicolaus. »Wir wollen unser Geschick teilen, bis einer von uns diese Welt mit einer bessern vertauscht. So komm denn!«
Mit diesen Worten warf er sein Ränzel auf den Rücken, nahm seinen Stock in die eine Hand, reichte die andere dem entzückten Smike, und so verließen beide miteinander die Scheune.