Einundfünfzigstes Kapitel


Einundfünfzigstes Kapitel

Enthält einige nähere Umstände betreffs des eben erwähnten Klopfens und unter anderem auch interessante, bedeutsame Aufschlüsse in bezug auf Mr. Snodgraß und eine junge Dame.

Die Erscheinung, die sich den Blicken des erstaunten Schreibers darbot, war ein junger, auffallend dicker, livrierter Bursche, der kerzengerade und mit geschlossenen Augen dastand, als ob er im Stehen schliefe. Mr. Lowten hatte noch nie einen so fetten Burschen im Leben gesehen, und dies, verbunden mit der beispiellosen Ruhe und Gelassenheit seiner Erscheinung, entsprach so wenig dem Bilde, das er sich von der Person gemacht, die so stürmisch angeklopft, daß er in die größte Verwunderung geriet.

„Was gibt’s denn?“ fragte er verblüfft.

Der seltsame Bursche erwiderte darauf kein Wort, sondern nickte bloß, und Mr. Lowten hatte den Eindruck, als ob er leise schnarche. „Warum, zum Teufel, haben Sie denn auf eine solche Weise geklopft?“

„Auf was für eine Weise?“ fragte der Bursche mit schläfriger Stimme.

„Gerade wie vierzig Mietkutscher“, erwiderte der Schreiber ärgerlich.

„Weil mein Herr gesagt hat, ich solle in einem fort klopfen, bis die Tür geöffnet würde, damit ich nicht einschliefe.“

„Gut, und was sollen Sie denn hier?“ verhörte der Schreiber.

„Er ist unten“, lallte der Bursche.

„Wer?“

„Mein Herr. Er will wissen, ob Sie zu Hause sind.“

Lowten ging ans Fenster und sah hinaus. Als er einen wohlbeleibten alten Herrn in einem offenen Wagen unten erbückte, der sehr unruhig heraufschaute, winkte er ihm, und ein paar Minuten darauf erschien der Gentleman in Gestalt des alten Mr. Wardle in der Kanzlei, grüßte flüchtig und ging direkt in Mr. Perkers Zimmer.

„Ah, Pickwick“, rief der alte Herr. „Deine Hand, lieber Freund. Denk dir, erst gestern habe ich gehört, daß du dich ins Gefängnis sperren ließest. Warum haben Sie es zugegeben, Perker?“

„Ich bin unschuldig, mein lieber Herr“, erwiderte Perker mit einem Lächeln und nahm eine Prise. „Sie wissen ja, wie eigensinnig er ist.“

„Jaja, das weiß ich“, versetzte der alte Herr. „Aber dessenungeachtet freut es mich herzlich, ihn wiederzusehen. Ich werde ihn auch sobald nicht wieder aus den Augen lassen.“

Mit diesen Worten schüttelte Wardle Mr. Pickwick aber mals die Hand und warf sich in einen Lehnstuhl. Sein lustiges rotes Gesicht glänzte wie gewöhnlich vor Freude und Gesundheit.

„Na, was sagst du zu der kleinen schwarzäugigen Hexe?“ platzte er urplötzlich heraus. „Ich hatte selbst große Lust, sie gelegentlich zu heiraten. – Na, ’s ist anders gekommen. Bin auch so zufrieden. Freue mich herzlich darüber.“

„Wie hast du es denn erfahren?“ fragte Mr. Pickwick.

„Natürlich durch meine Mädchen. Arabella schrieb vorgestern, sie habe heimlich und ohne Einwilligung ihres Schwiegervaters geheiratet, und du seiest fortgereist, um seine Einwilligung zu etwas einzuholen, was er nun einmal nicht mehr ändern könne. Ich hielt das für eine sehr passende Gelegenheit, ein paar ernste Worte an meine Mädchen zu richten, und sagte ihnen, was es für eine schreckliche Sache sei, wenn Kinder ohne Erlaubnis ihrer Eltern heiraten, und so weiter. Aber es machte nicht den geringsten Eindruck auf sie. Sie fanden es nur schrecklich, daß die Hochzeit ohne Brautjungfern vor sich gegangen sei.“

Der alte Herr hielt inne und lachte herzlich.

„Das ist aber noch lange nicht alles, kaum die Hälfte von den Liebeshändeln und Komplotten, die gegenwärtig vor sich gehen“, fuhr er fort. „Wir sind in den letzten sechs Monaten auf Minen gewandelt, und jetzt sind sie endlich in die Luft geflogen.“

„Was meinst du damit?“ rief Mr. Pickwick erbleichend. „Hoffentlich doch keine zweite heimliche Heirat?“

„Nein, nein“, erwiderte der alte Wardle, „so schlimm steht’s nicht.“

„Aber was ist’s denn? So sprich doch! Bin ich vielleicht auch darein verwickelt?“

„Soll ich die Frage beantworten, Perker?“ fragte Wardle.

„Wenn Sie sich nicht dadurch kompromittieren, mein lieber Herr.“

„Na, also gut. – Ja, allerdings.“

„Wieso?“ fragte Mr. Pickwick ängstlich. „Inwiefern?“

„Weißt du“, erwiderte Wardle, „du bist ein so hitzköpfiges junges Blut, daß ich mich beinah fürchte, es dir zu sagen; doch wenn Perker sich zwischen uns setzt, um Unheil zu verhüten, so will ich es wagen. – Also die Sache ist die. Meine Tochter Bella – du weißt doch – die den jungen Trundle geheiratet hat?“

„Jaja, das wissen wir alles“, sagte Mr. Pickwick ungeduldig.

„Mache mir nur nicht gleich im Anfang angst, hörst du? Also meine Tochter Bella setzte sich, nachdem Emilie, die mir Arabellas Brief vorgelesen, mit Kopfschmerzen zu Bett gegangen war, vorgestern abend an meine Seite und ring an, von dieser Heiratsgeschichte zu sprechen. ,Nun, lieber Papa‘, sagte sie, ,was hältst du von der Sache?‘ – ,Ei, liebes Kind‘, antwortete ich, ,ich denke, es kann noch ganz gut werden; ich hoffe das Beste.‘ Ich antwortete so, weil ich gerade vor dem Feuer saß, etwas gedankenvoll meinen Grog trank und wußte, daß sie weitersprechen würde, wenn ich nur dann und wann, ein Wort dazwischenwürfe. Meine Mädchen sind beide die getreuen Abbilder ihrer seligen Mutter, und jetzt, wo ich alt werde, sitze ich gerne bei ihnen, und ihre Stimmen und ihre Blicke führen mich in die glücklichste Periode meines Lebens zurück und machen midi für den Augenblick wieder so jung, wie ich damals war, wenn auch nicht wieder so leichtfüßig. ,Es ist eine Neigungsheirat‘, sagte Bella nach einer Pause. Ja, liebes Kind‘, erwiderte ich, ,allein solche Ehen sind nicht immer die glücklichsten.'“

„Das bestreite ich“, fiel Mr. Pickwick mit Wärme ein.

„Na ja“, antwortete Wardle, „bestreite, was du willst, aber laß mich doch nur ausreden.“

„Pardon.“

„Na gut“, fuhr Wardle fort. „,Es tut mir leid, daß du gegen Neigungsheiraten bist, Papa‘, sagte Bella und verfärbte sich ein wenig. ,Ich hatte unrecht, ich hätte das nicht sagen sollen, liebes Kind‘, antwortete ich und tätschelte sie so freundlich auf die Wange, wie es ein altes Rauhbein wie ich nur tun kann, ,deine Mutter hat ja auch aus Neigung geheiratet, und du ebenfalls.‘ – ,Das meinte ich eigentlich nicht, Papa‘, drückte Bella herum. ,Ich – ich – ich wollte eigentlich mit dir über Emilie sprechen.'“

Mr. Pickwick erschrak.

„Na, was ist denn?“ fragte Wardle und hielt in seiner Erzählung inne.

„Nichts, nichts“, erwiderte Mr. Pickwick, „bitte, fahre nur fort.“

„Ich habe nie eine Geschichte gehörig von Anfang an erzählen können“, sagte Wardle. „Früher oder später muß es doch heraus, und wenn es auf einmal kommt, erspart man viel Zeit. Also kurz und gut: Bella faßte sich endlich ein Herz und gestand mir, Emilie sei höchst unglücklich; sie und dein junger Freund Snodgraß hätten seit Weihnachten in fortwährendem Briefwechsel miteinander gestanden, und sie habe pflichtgetreu beschlossen, in lobenswerter Nachahmung des Beispiels ihrer alten Schulfreundin, davonzulaufen. Inzwischen habe sie jedoch Gewissensbisse empfunden, da ich von jeher gut zu ihr gewesen sei, und so wäre denn beschlossen worden, mir die Ehre zu erweisen, mich zu fragen, ob ich nichts dagegen einzuwenden habe, daß sie einander auf die gewöhnliche alltägliche Art heiraten. So stehen die Sachen, und wenn es dir möglich ist, lieber Pickwick, deine Augen wieder auf die normale Größe zu reduzieren und mir dann einen guten Rat zu erteilen, so werde ich mich dir sehr verpflichtet fühlen.“

Der etwas wunderliche Schluß des guten alten Herrn war ziemlich berechtigt, denn Mr. Pickwicks Gesicht hatte einen seltenen Grad von Verwunderung und Erstaunen angenommen.

„Snodgraß? – Seit Weihnachten?“ waren die ersten Worte, die über seine Lippen kamen.

„Allerdings. Seit Weihnachten. Und wir müssen sehr schlechte Brillen aufgehabt haben, daß wir nicht schon früher etwas gemerkt haben.“ „Es ist mir rein unbegreiflich“, meinte Mr. Pickwick nachdenklich, „rein unbegreiflich.“

„Die Sache ist nicht so unbegreiflich“, erwiderte der alte Herr. „Wärest du jünger, wüßtest du sie wahrscheinlich längst, und außerdem“, fügte Mr. Wardle nach einem kurzen Zögern hinzu, „muß ich gestehen, daß ich seit den letzten vier oder fünf Monaten Emilie einigermaßen gedrängt habe, die Bewerbungen eines jungen Mannes unserer Nachbarschaft anzunehmen, selbstverständlich nur, wenn sie ihn glaubte lieben zu können, denn ich würde meine Tochter nie zu einer Ehe gezwungen haben. Ich zweifle nicht, daß sie nach Mädchenart, um ihren eigenen Wert zu erhöhen und das Liebesfeuer des Mr. Snodgraß noch mehr anzuschüren, ihm die Sachen in den glühendsten Farben vorgestellt hat, und daß sie auf diesem Wege zu dem Entschluß gelangt sind, sie seien schrecklich verfolgte unglückliche Menschenkinder, denen gar nichts mehr übrigbliebe, als heimlich zu heiraten oder sich mit Kohlengas umzubringen. – Jetzt fragt es sich also bloß, was ist zu tun?“

„Was hast du denn getan?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ich?“

„Ja, ich meine, was du getan hast, als deine verheiratete Tochter dir diese Mitteilung machte.“

„Na, natürlich einen dummen Streich.“

„Das glaube ich“, fiel Perker ein, der dieses Zwiegespräch mit wiederholtem Zupfen an .seiner Uhrkette, grimmigem Reiben seiner Nase und andern Symptomen von Ungeduld begleitet hatte. – „Das ist ganz natürlich; aber erklären Sie sich näher.“

„Ich geriet so in Zorn, daß meine Mutter vor lauter Angst einen Krampfanfall bekam.“

„Das war sehr gescheit“, bemerkte Perker. „Und was weiter, mein lieber Herr?“

„Ich tobte den ganzen folgenden Tag und machte gewaltigen Lärm im Haus. Schließlich wurde es mir aber zu dumm, mich und andre zu ärgern, und ich nahm daher in Muggleton einen Wagen, spannte meine eigenen Pferde davor und fuhr unter dem Vorwand, Emilie sollte Arabella besuchen, nach London.“

„Emilie ist also auch hier?“ fragte Mr. Pickwick.

„Freilich“, erwiderte Wardle, „und zwar in ,Osbornes Hotel‘ in Adelphi, wenn nicht dein unternehmender Freund diesen Morgen mit ihr davongelaufen ist, während wir hier schwatzen.“

„Sie sind also wieder versöhnt?“ fragte Perker.

„Nicht die Spur. Sie hat die ganze Zeit über Gesichter geschnitten und geweint, ausgenommen gestern abend zwischen dem Tee und dem Abendessen, wo sie sehr ostentativ einen Brief schrieb, was ich aber natürlich nicht bemerkte.“

„Sie wünschen also wohl meinen Rat in dieser Sache zu hören?“ fragte Perker und nahm schnell hintereinander mehrere Prisen von seinem Lieblingsstimulans.

„Na ja – was meinst du?“ sagte Mr. Wardle und blickte Mr. Pickwick fragend an.

„Nun gut“, sagte Perker, stand auf und schob seinen Stuhl zurück, „mein Rat ist der, daß Sie beide jetzt miteinander fortgehen oder –fahren oder sich auf irgendeine Art fortmachen und die Sache zusammen überlegen, denn ich bin Ihrer ein bißchen müde. Haben Sie, bis wir uns das nächste Mal wiedersehen, einen Entschluß gefaßt, so will ich sagen, was zu tun ist.“

„Wahrhaftig, ein köstlicher Rat!“ versetzte Wardle, der nicht recht wußte, ob er lächeln oder beleidigt sein sollte.

„Ach was, mein lieber Herr“, erwiderte Perker, „ich kenne Sie beide besser, als Sie sich selbst. Sie haben Ihren Entschluß ja doch innerlich schon gefaßt.“

Dabei stieß der kleine Anwalt seine Schnupftabaksdose zuerst Mr. Pickwick auf die Brust und dann Mr. Wardle gegen die Weste, und dann lachten alle drei und schüttelten sich ohne besonderen Grund unaufhörlich die Hände.

„Sie speisen doch mit mir zu Mittag?“ fragte Wardle Mr. Perker, als sie zusammen hinausgingen.

„Kann’s nicht versprechen, mein lieber Herr, kann’s nicht versprechen“, erwiderte Perker. „Indes werde ich mich jedenfalls abends für ein paar Minuten einstellen.“

„Also gut, ich erwarte Sie um fünf Uhr“, sagte Wardle. „Hallo, Joe!“

Nachdem Joe glücklich aufgerüttelt war, fuhren die beiden Freunde in den „Georg und Geier“. Arabella war, als sie von Emiliens Ankunft in London erfahren, schnurstracks nach Adelphi gefahren, und da Mr. Wardle Geschäfte in der City hatte, schickte er den Wagen mit dem fetten Burschen in sein Hotel und ließ sagen, daß er und Mr. Pickwick um fünf Uhr mitsammen zum Mittagessen kommen würden.

Sei es nun, daß die Stöße des Wagens auf dem holprigen Pflaster die Geisteskräfte des fetten Jungen verwirrt oder eine solche Menge neuer Ideen in ihm erweckt hatten, daß er die gewöhnlichen Umgangsformen darüber vergaß, oder daß sie sein Einschlafen beim Ersteigen der Treppen nicht zu verhindern vermocht hatten, soviel ist gewiß, daß er, ohne vorher anzuklopfen, direkt ins Besuchszimmer trat und daselbst einen Gentleman erblickte, der seinen Arm um den Leib der Tochter seines Gebieters geschlungen hielt und sehr verliebt neben ihr auf einem Sofa saß, indes Arabella und ihr hübsches Dienstmädchen sich stellten, als ob sie interessiert zum Fenster hinaussähen. Beim Anblick dieses Phänomens stieß der fette Bursche einen Ruf der Verwunderung aus, die Damen schrien laut auf und der Herr fluchte. – Alles zu gleicher Zeit. „Du Tölpel, was willst du hier?“ rief der Herr, der natürlich Mr. Snodgraß war.

Der fette Junge war vor Schrecken völlig sprachlos und starrte nur Emilie an.

„Was willst du denn von mir, du dummer Kerl?“ fragte Emilie und wendete das Gesicht ab.

„Der Herr und Mr. Pickwick kommen um fünf Uhr zum Essen“, stotterte der fette Bursche.

„Mach, daß du hinauskommst“, rief Mr. Snodgraß mit wildem Blick.

„Nein, nein!“ fiel Emilie hastig ein. „Rate mir doch, liebe Bella.“

Emilie, Mr. Snodgraß, Arabella und Mary steckten sodann die Köpfe zusammen und flüsterten mehrere Minuten lang eifrig miteinander.

„Joe“, sagte Arabella endlich und wendete sich mit ihrem bezauberndsten Lächeln an den fetten Jungen, „wie geht es dir, Joe?“

„Joe“, lobte Emilie, „du bist wirklich ein ganz vortrefflicher Junge.“

„Ach, du bist’s, Joe“, rief Mr. Snodgraß, „ich habe dich vorhin gar nicht erkannt. Da hast du fünf Schilling, Joe.“

„Und von mir auch fünf“, sagte Arabella, „du weißt, weil wir alte Bekannte sind.“ Und wieder verschwendete sie ein berückendes Lächeln an den beleibten Eindringling.

Da die Fassungskraft des fetten Jungen etwas langsam war, machte er bei den unerwarteten Gunstbezeigungen ein höchst verdutztes Gesicht und stierte auf eine wirklich beunruhigende Weise um sich. Endlich begann sein dickes Gesicht Symptome eines Grinsens von verhältnismäßig breiten Dimensionen zu zeigen; er versenkte in jede seiner beiden Seitentaschen eine halbe Krone und brach in ein fettes Glucksen aus. „Ich sehe schon, er versteht uns!“ sagte Arabella.

„Er muß sogleich etwas zu essen bekommen“, bemerkte Emilie besorgt.

„Ich will mit Ihnen zu Mittag essen, Sir, wenn Sie nichts dagegen haben“, sagte Mary.

„Jaja, kommen Sie“, grinste der fette Bursche vergnügt. „Es ist ganz famose Fleischpastete da.“ Mit diesen Worten ging er mit ihr animiert die Treppe hinunter.

Die Fleischpastete, von der Joe so gefühlvoll gesprochen, stand auf dem Tisch, samt einem Stück Roastbeef, einer Schüssel Kartoffeln und einem Krug Porter. – Beide setzten sich.

„Wollen Sie auch etwas?“ fragte der fette Junge und versenkte Messer und Gabel bis ans Heft in die Pastete.

„Ein bißchen, wenn ich bitten darf“, erwiderte Mary.

Joe legte Mary eine kleine, sich selbst aber eine sehr große Portion vor und war eben im Begriff, mit dem Essen zu beginnen, als er auf einmal Messer und Gabel niederlegte, sich in seinem Stuhl vorwärtsbeugte und sehr langsam sagte:

„Herrschaft, wie hübsch Sie sind!“

„Aber Mr. Joseph“, zierte sich Mary und stellte sich, als ob sie errötete. „Aber gehen Sie.“

Der fette Junge, der allmählich seine frühere Stellung wieder eingenommen hatte, antwortete nur mit einem tiefen Seufzer, blieb einige Augenblicke in Gedanken versunken und tat dann einen langen Zug aus dem Porterkruge. Dann seufzte er wieder und machte sich mit großem Eifer über die Pastete her.

„Was für eine feine nette junge Dame doch Miß Emilie ist!“ begann Mary nach langem Schweigen.

Der fette Junge war indessen mit der Pastete fertig geworden. Er heftete seine Augen auf Mary und erwiderte:

„Ich kenne noch eine nettere.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich“, erwiderte der fette Junge mit ungewohnter Lebhaftigkeit.

„Wie heißt sie denn?“

„Wie heißen Sie?“

„Mary.“

„So heißt sie auch“, sagte der fette Junge. „Sie sind es selbst.“

Dabei grinste er, um seinem Kompliment mehr Nachdruck zu geben, und verdrehte seine Augen auf eine höchst wunderliche Art, was wahrscheinlich ein Liebäugeln bedeuten sollte.

„Aber gehen Sie, Sie Schlimmer“, sagte Mary. „Es ist Ihnen ja doch nicht Ernst.“

„So? Meinen Sie?“ erwiderte der fette Bursche. „Ich sage Ihnen …“

„Nun?“

„Kommen Sie gewöhnlich hierher?“

„Nein“, antwortete Mary und schüttelte den Kopf. „Ich gehe noch heute abend wieder fort. – Aber warum?“

„Oh!“ rief Joe gefühlvoll. „Was für eine angenehme Gesellschaft hätten wir beim Essen aneinander gehabt, wenn Sie dageblieben wären!“

„Vielleicht komme ich hie und da, um nach Ihnen zu sehen“, sagte Mary und legte mit erkünstelter Sprödigkeit ihre Serviette zusammen. „Aber Sie müssen mir einen Gefallen tun.“

Der fette Junge blickte von der Pastetenschüssel auf das Roastbeef, offenbar in dem Glauben, eine Gefälligkeit müsse unbedingt etwas mit Essen zu tun haben, zog dann eine seiner beiden halben Kronen heraus und schaute sie mit großem Behagen an.

„Verstehen Sie, was ich meine?“ fragte Mary mit einem koketten Blick.

Abermals betrachtete Joe seine halbe Krone und sagte mit schwacher Stimme:

„Nein.“

„Die Damen bitten Sie, Mr. Wardle nichts von dem jungen Herrn zu sagen, der oben war, und ich bitte Sie auch darum.“

„Ist das alles?“ fragte der fette Junge und schob erleichtert das Geldstück wieder ein. „Ich will gewiß nichts sagen.“

„Wissen Sie“, fuhr Mary fort, „Mr. Snodgraß ist sehr verliebt in Miß Emilie, und Miß Emilie in ihn, und wenn Sie etwas davon ausplauderten, würde der alte Herr sie viele Meilen weit in eine Gegend fortschaffen, wo sie einander niemals wieder zu Gesicht bekämen.“

„Nein, nein, ich sag gewiß nichts“, beteuerte der fette Junge.

„So ist’s recht“, lobte Mary. „Jetzt muß ich aber nach oben gehen und meine Herrschaft zum Diner ankleiden helfen.“

„Ach, bleiben Sie doch noch ein bissel!“ drängte der fette Junge.

„Ich muß“, erwiderte Mary. „Adje. Auf Wiedersehen!“ Mit Elefantengrazie streckte der fette Junge seine Arme aus, um ihr einen Kuß zu rauben; da es aber keiner großen Gewandtheit bedurfte, ihm auszuweichen, so war seine schöne Herzensbezwingerin verschwunden, ehe er sie wieder sinken ließ, worauf er voll Gleichmut noch ein Pfund Roastbeef mit sentimentalem Gesicht verzehrte und dann fest einschlief.

Die jungen Leute oben hatten sich noch so viel zu sagen, und es waren so viele Flucht- und heimliche Trauungspläne zu besprechen, falls der alte Wardle bei seiner Grausamkeit verharren sollte, daß Mr. Snodgraß erst eine halbe Stunde vor dem Mittagessen zum letzten Male Abschied nahm. Die Damen eilten in Emiliens Schlafzimmer, um Toilette zu machen, und der verliebte Pickwickier nahm seinen Hut und entfernte sich. Kaum war er zur Tür hinaus, als er die laute Stimme Mr. Wardles vernahm und ihn vom Geländer herab in Begleitung einiger andrer Herren die Treppe heraufkommen sah.

Da Mr. Snodgraß im Hause unbekannt war, eilte er in seiner Verwirrung in das eben verlassene Zimmer zurück, ging von da in ein zweites (Mr. Wardles Schlafgemach) und schloß behutsam die Tür gerade in dem Augenblick, als die Herren, die er hatte kommen sehen, ins Wohnzimmer traten. Es waren die Herren Wardle, Pickwick, Nathaniel Winkle und Benjamin Allen.

Ein Glück, daß ich Geistesgegenwart genug besaß, ihnen auszuweichen, sagte sich Mr. Snodgraß freudig lächelnd und schlich sich auf den Zehen zu der zweiten Tür neben dem Bett. Diese da führt ebenfalls auf den Gang hinaus und ich kann mich jetzt in aller Ruhe aus dem Staube machen. Diesem ruhigen Sich-aus-dem-Staube-Machen stellte sich aber nur ein einziges Hindernis in den Weg, nämlich, daß die Tür verschlossen und der Schlüssel abgezogen war.

„Geben Sie uns heute von Ihren besten Weinen“, hörte man nebenan den alten Wardle rufen. „Und lassen Sie die Damen wissen, daß wir hier sind, Kellner.“

„Sehr wohl, Sir.“

Sehnlichst wünschte sich Mr. Snodgraß, die Damen hätten eine Ahnung, daß auch er hier sei. Er wagte es ein einziges Mal, durch das Schlüsselloch flüsternd, „Kellner!“ zu rufen; aber nur ein einziges Mal, denn es –drängte sich ihm die Befürchtung auf, ein falscher Kellner könne ihm zu Hilfe kommen und es ihm dann so ähnlich gehen, wie einem Gentleman, der erst vor kurzem in einem benachbarten Hotel in ähnlicher Lage angetroffen worden war und über dessen Mißgeschick die heutigen Morgenblätter unter der Rubrik „Polizeiangelegenheiten“ ausführlich berichtet hatten. Er ließ sich daher, am ganzen Leibe zitternd, lieber auf einem Mantelsack nieder.

„Wir wollen nicht erst auf Perker warten“, sagte Wardle nebenan und sah auf die Uhr. „Er ist immer pünktlich. Wenn er kommen will, so kommt er rechtzeitig, und wenn nicht, so hilft auch das Warten nichts. – Hallo, Arabella!“

„Ah, meine Schwester!“ rief Mr. Benjamin Allen und schloß die junge Mrs. Winkle theatralisch in seine Arme.

„Aber, lieber Ben, wie du wieder nach Tabak riechst!“ sagte Arabella. „Du erdrückst mich ja.“

„Wirklich?“ sagte Mr. Benjamin Allen. „Rieche ich so nach Tabak, Bella? Na ja, es könnte ja sein.“

Natürlich konnte es sein, denn er hatte soeben noch mit zwölf jungen Chirurgiebeflissenen in einem kleinen Hinterstübchen eine lustige kleine Rauchsitzung abgehalten.

„Ich bin entzückt, dich zu sehen. Grüß dich Gott, Bella.“

„Da!“ sagte Arabella und beugte sich vor, um ihren Bruder zu küssen. „Aber halt mich nur nicht so fest, lieber Ben, du bringst ja meine Kleider ganz in Unordnung.“

„Na, und mir hat man gar nichts zu sagen?“ rief Wardle mit offenen Armen.

„Oh, sehr viel“, flüsterte Arabella, als sie die Liebkosungen und herzlichen Glückwünsche des alten Herrn über sich ergehen ließ. „Sie sind ein hartherziges, gefühlloses, grausames Ungeheuer!“

„Und Sie eine kleine Rebellin“, erwiderte Wardle in demselben Ton, „ich fürchte sehr, ich werde mich genötigt sehen, Ihnen das Haus zu verbieten. Leute wie Sie, die allen zum Trotz heiraten, sollte man nicht auf die Gesellschaft loslassen. Aber kommen Sie“, fügte der alte Herr lauter hinzu, „es wird serviert, Sie müssen neben mir sitzen. – Joe! Was zum Teufel, der Bursche ist wach?!“

Zur großen Verwunderung der Anwesenden war der fette Junge tatsächlich in einem Zustand merkwürdigen Wachseins; seine Augen standen weit offen und sahen aus, als ob sie es vorläufig sogar bleiben sollten. In seinem ganzen Wesen lag eine rein unerklärliche Munterkeit; sooft seine Blicke denen Emiliens oder Arabellas begegneten, schmunzelte und grinste er, und einmal hätte Mr. Wardle sogar darauf schwören mögen, er habe ihn zwinkern sehen.

Die Veränderung in Joes Benehmen kam natürlich daher, daß er sich seiner Wichtigkeit und der Ehre, von den jungen Damen ins Vertrauen gezogen worden zu sein, mit Stolz bewußt war, und sein fortwährendes Schmunzeln, Grinsen und Blinzeln war daher bloß eine herablassende Versicherung, daß sie auf seine Treue bauen könnten. Da indes diese Zeichen mehr geeignet waren, Verdacht zu erwecken als zu beschwichtigen, und überdies Verlegenheiten herbeiführen konnten, so erwiderte sie Arabella gelegentlich mit einem Stirnrunzeln oder Kopfschütteln, was der fette Junge als Winke betrachtete, er solle auf seiner Hut sein, weshalb er nun begann, mit verdoppeltem Eifer durch Schmunzeln, Grinsen und Blinzeln anzudeuten, daß er sie vollkommen verstehe.

„Joe“, sagte Mr. Wardle nach einer erfolglosen Durchsuchung aller seiner Taschen, „sieh mal nach, liegt meine Dose nicht auf dem Sofa?“ „Nein, Sir“, erwiderte der fette Junge.

„Ah! Ich erinnere mich, ich habe sie heute früh auf dem Waschtisch liegenlassen“, sagte Wardle. „Geh ins Zimmer nebenan und hole sie.“

Der fette Junge ging und kam etwa nach einer Minute mit der Dose und totenbleichem Gesicht zurück.

„Zum Donnerwetter, was hat denn der Bursche!“ rief Wardle.

„N–nichts“, stammelte Joe, am ganzen Leibe zitternd.

„Hast du vielleicht einen Geist gesehen?“ fragte der alte Herr.

„Oder einen genossen?“ fügte Ben Allen hinzu.

„Jaja, Sie werden recht haben“, rief Wardle über den Tisch hinüber. „Natürlich. Er ist betrunken.“

Ben Allen erwiderte, er glaube das bestimmt, und da er als Fachmann schon viele solche Krankheitsfälle gesehen haben mußte, bestärkte dies Mr. Wardle natürlich in seiner Meinung, die sich ihm schon seit einer halben Stunde aufgedrängt hatte.

Der unglückliche Jüngling war aber durchaus nicht betrunken, sondern hatte nur ein Dutzend Worte mit Mr. Snodgraß gewechselt, der ihn beschworen, durch irgend jemand seine Erlösung zu bewerkstelligen, und ihn dann mit der Dose hinausgestoßen hatte, damit seine lange Abwesenheit nicht auffalle. Er besann sich ein wenig mit verstörter Miene und verließ dann das Zimmer, um Mary aufzusuchen.

Zum Unglück aber war Mary, nachdem sie ihrer Gebieterin beim Ankleiden geholfen, fortgegangen, und Joe kam daher, womöglich noch verstörter als vorher, zurück.

Wardle und Ben Allen wechselten einen Blick.

„Joe!“

„Hier, Sir.“

„Warum bist du soeben hinausgegangen?“

Der fette Junge stierte hoffnungslos alle am Tische Sitzenden der Reihe nach an und stammelte endlich, er wisse es selbst nicht. „So, so“, sagte Wardle, „du weißt es selbst nicht? Reiche mal Mr. Pickwick den Käse.“

Mr. Pickwick strahlte gerade in rosenfarbigster Laune, er war das ganze Essen über sehr vergnügt gewesen und unterhielt sich soeben sehr lebhaft mit Emilie und Mr. Winkle. Im Eifer des Gesprächs hatte er das Haupt lauschend vorgebeugt, agierte ein wenig mit seiner linken Hand, um seinen Bemerkungen gehörigen Nachdruck zu verleihen, und glühte geradezu vor stiller Wonne. Er nahm ein Stückchen Käse vom Teller und war eben im Begriff, seine Rede wieder fortzusetzen, als der fette Junge ihn heftig anstieß, mit dem Daumen über die Schulter deutete und das schauderhafteste Gesicht schnitt, das man je außerhalb einer Pantomime gesehen.

„Mein Gott!“ sagte Mr. Pickwick erschrocken. „Was? – Wie?“

Er hielt inne, denn der fette Junge hatte sich wieder emporgerichtet und schlief entweder wirklich oder stellte sich wenigstens so.

„Was gibt’s denn?“ fragte Wardle.

„Ihr Bedienter ist wirklich ein ganz sonderbarer Kauz“, erwiderte Mr. Pickwick mit einem unruhigen Blick auf den Burschen. „Man soll so etwas zwar nicht sagen, aber auf mein Wort, ich fürchte, er hat zuweilen einen kleinen Sparren.“

„Oh, Mr. Pickwick, bitte, sagen Sie das nicht“, riefen Emilie und Arabella wie aus einem Munde.

„Ich kann es natürlich nicht mit Gewißheit behaupten“, entschuldigte sich Mr. Pickwick inmitten der allgemeinen Stille, „aber sein Benehmen in diesem Augenblick war wirklich sehr beunruhigend. – Au!“ schrie er plötzlich laut auf und sprang vom Sessel empor. „Ich bitte um Verzeihung, meine Damen, aber er hat mich gerade wieder mit einem spitzigen Instrument ins Bein gestochen. Er ist wahrhaftig nicht recht bei Trost.“

„Nein, betrunken ist er“, brüllte der alte Wardle ingrimmig. „Winkle, klingeln Sie, rufen Sie die Kellner; er ist betrunken.“

„Nein, ich bin es gewiß nicht“, jammerte der fette Junge und fiel auf die Knie, als sein Herr ihn am Kragen packte. „Ich bin gewiß nicht betrunken.“

„Dann bist du toll, und das ist noch schlimmer. Rufen Sie die Kellner.“

„Nein, ich bin nicht toll, ich bin ganz vernünftig“, beteuerte Joe und fing an zu heulen.

„Was, zum Teufel, stichst du denn dann Mr. Pickwick scharfe Instrumente ins Bein?“ fragte Wardle zornig.

„Er wollte mich nicht ansehen und ich hätt ihm gern was gesagt“, schluchzte der Bursche.

„Was hättest du ihm gern gesagt?“ fragten ein halbes Dutzend Stimmen zugleich.

Der fette Junge stöhnte, blickte nach der Tür des Schlafzimmers, stöhnte wieder und wischte sich mit den Fingerknöcheln die Tränen aus den Augen.

„Was wolltest du sagen?“ fragte Wardle unerbittlich und schüttelte ihn.

„Halt!“ mischte sich Mr. Pickwick ein. „Erlaube mal. Was wolltest du mir mitteilen, armer Bursche?“

„Ich wollte Ihnen was ins Ohr flüstern“, erwiderte der fette Junge.

„Du wolltest ihm wahrscheinlich das Ohr abbeißen“, sagte Wardle. „Gehe nicht zu nahe an ihn heran, Pickwick, er ist toll; klingeln Sie, Winkle, der Kellner soll ihn fortführen.“

Eben faßte Mr. Winkle die Klingelschnur, da wurde er durch einen allgemeinen Ausruf des Erstaunens daran gehindert, denn plötzlich trat mit einem vor Beschämung glühenden Gesicht der gefangene Liebhaber aus dem Schlafzimmer und verbeugte sich vor der ganzen Gesellschaft.

„Hallo!“ rief Wardle, ließ den Kragen des fetten Jungen los und taumelte zurück. „Was ist das?“

„Ich befand mich seit Ihrer Rückkehr im Zimmer daneben versteckt, Sir“, erklärte Mr. Snodgraß.

„Aber, Emilie! Kind!“ sagte Wardle in vorwurfsvollem Ton. „Du weißt, ich verabscheue Hinterlist und Betrug, und dies hier ist im höchsten Grade unzart und einfach unentschuldbar. Das habe ich wirklich nicht um dich verdient, Emilie.“

„Liebster, guter Papa!“ schluchzte Emilie. „Arabella weiß es – jedermann hier weiß es – Joe weiß es, daß ich dabei die Hand nicht im Spiele gehabt habe. August, erkläre um Himmels willen, wie das zuging.“

Mr. Snodgraß, der nur auf die Gelegenheit, Gehör zu finden, gewartet hatte, erzählte sogleich mit größter Geläufigkeit, wie er in diese peinliche Lage geraten sei – wie die Besorgnis, häusliche Zwistigkeiten zu veranlassen, ihn allein bewogen habe, Mr. Wardle bei seiner Ankunft auszuweichen, und wie er durch eine andre Tür entwischen zu können geglaubt, diese aber verschlossen gefunden habe und dadurch genötigt gewesen sei, gegen seinen Willen zu bleiben. Seine Lage sei peinlich gewesen, indes bedaure er sie jetzt keineswegs, da sie ihm jetzt Gelegenheit gebe, hier, vor Freunden, das Bekenntnis abzulegen, daß er Mr. Wardles Tochter aus tiefstem Herzen und aufrichtig liebe und stolz darauf sei, sagen zu können, daß seine Empfindungen erwidert werden, und daß er, wenn auch Tausende von Meilen zwischen ihnen lägen oder ganze Ozeane, er doch keinen Augenblick die seligen Tage vergessen könnte, wo er zum .erstenmal – und so weiter, und so weiter. Nach dieser Erklärung verbeugte sich Mr. Snodgraß abermals, schaute in seinen Hut und schritt zur Tür.

„Halt!“ rief Wardle. „Bei allem, was …“

„Entzündbar ist“, fiel Mr. Pickwick aufatmend ein, denn er hatte gefürchtet, es werde etwas Schlimmeres kommen. „Nun gut – bei allem, was entzündbar ist“, wiederholte Wardle. „Warum haben Sie mir nicht das alles schon früher gesagt?“

„Oder sich mir anvertraut?“ fügte Mr. Pickwick hinzu.

„Du lieber Gott“, sagte Arabella, die Verteidigung übernehmend, „was nützt all das Gefrage, wo man doch weiß, daß Sie Ihr habgieriges altes Herz an einen reicheren Schwiegersohn gehängt haben und überdies so wild und bärbeißig sind, daß jedermann vor Ihnen Angst hat, nur ich nicht. Geben Sie ihm die Hand, und lassen Sie ihm um Gottes Barmherzigkeit willen etwas zu essen kommen. Er sieht ja halb verhungert aus, und dann bestellen Sie schon endlich einmal Ihre Weine, denn Sie werden ja doch nicht eher erträglich, als bis Sie zum mindesten zwei Flaschen getrunken haben.“

Der würdige alte Herr zupfte Arabella am Ohr, küßte sie auch ohne weitere Umstände, küßte auch seine Tochter mit vieler Zärtlichkeit und schüttelte dann Mr. Snodgraß herzlich die Hand.

„In einem Punkt hat sie jedenfalls recht“, sagte er vergnügt. „Pickwick, läute, daß der Wein gebracht wird.“

Der Wein kam, und in demselben Augenblick trat Perker ein. Mr. Snodgraß bekam an einem Nebentisch noch schnell etwas zu essen, und als er damit fertig war, rückte er ohne die mindeste Einwendung des alten Herrn seinen Stuhl dicht neben Emilie.

Der Abend wurde großartig. Der kleine Mr. Perker ging prachtvoll aus sich heraus, erzählte viele komische Geschichten und sang ein ernstes Lied, wobei er noch humoristischer wirkte als bei seinen Anekdoten. Arabellas Charme blühte voll auf, Mr. Wardle wurde sehr jovial, Mr. Pickwick vermittelte nach allen Seiten, Mr. Ben Allen war der Lauteste von allen und Mr. Winkle wurde ungewöhnlich gesprächig. Nur die Liebenden blieben stumm: Alle waren glücklich.

Fünfundvierzigstes Kapitel


Fünfundvierzigstes Kapitel

Handelt von Geschäftsangelegenheiten und dem zeitlichen Vorteil der Herren Dodson und Fogg. Mr. Winkle tritt unter außerordentlichen Umständen wieder auf, und Mr. Pickwicks gutes Herz siegt über seine Hartnäckigkeit.

Hiob Trotter rannte wie besessen Holborn hinauf, bald mitten auf der Straße, bald auf dem Bürgersteig und bald im Rinnstein, je nachdem das Gedränge der Männer, Weiber und Kinder und Wagen abwechselte, und blieb nicht eher stehen, als bis er das Tor von Grays Inn erreicht hatte. Trotz aller seiner Eile war aber das Tor schon seit einer guten halben Stunde geschlossen. Er sah sich daher um und machte endlich Mr. Perkers Waschfrau ausfindig, die mit einer verheirateten Tochter zusammenlebte, die mit ihrer Hand einen auswärtigen Kellner beglückt hatte und ein paar Zimmer bei einer Brauerei wenig hinter Grays Inn Lane bewohnte.

Mr. Lowten mußte aus dem Hinterzimmer der „Elster“ herausgeklopft werden, und Hiob hatte Sam Wellers Botschaft kaum ausgerichtet, als die Glocke zehn Uhr schlug.

„Zu spät“, sagte Lowten. „Sie können nicht mehr zurück. Oder haben Sie vielleicht den Schlüssel?“

„Sorgen Sie sich nicht um mich“, erwiderte Hiob, „ich kann überall schlafen. Aber würde es nicht besser sein, Mr. Perker heute nacht noch aufzusuchen, damit wir morgen in aller Frühe zur Stelle sind?“

„Meinetwegen“, versetzte Lowten nach kurzer Überlegung. „Wenn es sich um irgend etwas andres handelte, so würde Perker über einen so späten Besuch sehr ungehalten sein; da es aber Mr. Pickwick betrifft, so glaube ich wohl einen Wagen nehmen und aufrechnen zu dürfen.“

Nachdem sich Mr. Lowten zu dieser Maßregel entschlossen hatte, nahm er seinen Hut, bat die versammelte Gesellschaft, in seiner Abwesenheit einen andern Präsidenten zu ernennen, steuerte auf den nächsten Droschkenplatz los, wählte den Wagen, dessen Aussehen am meisten versprach, und befahl dem Kutscher, nach dem Montagueplace, Russellsquare, zu fahren.

Mr. Perker gab an diesem Abend ein Souper, wie der Lichterglanz in den Fenstern des Gesellschaftszimmers verriet. Da zufällig einige wertvolle Kunden vom Lande zu gleicher Zeit in die Stadt gekommen waren, so hatte sich zu ihrem Empfang eine vergnügte kleine Gesellschaft zusammengefunden, bestehend aus Mr. Snicks, dem Sekretär der Lebensversicherung, aus Mr. Prosee, dem ausgezeichneten Rechtskonsulenten, aus drei Anwälten, einem Kommissär vom Fallitengericht, einem Advokaten vom Temple, einem kleinäugigen, peremtorischen jungen Herrn, seinem Mündel, der ein scharfes Buch über das Legatengesetz mit einer ungeheuren Menge Randnoten und Zitaten geschrieben hatte, und mehreren anderen hervorragenden Personen. Von dieser Gesellschaft machte sich der kleine Mr. Perker los, als ihm die Ankunft seines Schreibers zugeflüstert wurde, begab sich in das Speisezimmer und traf dort Mr. Lowten und Hiob Trotter beim trüben Dämmerschein eines Küchenlichtes, das der Gentleman, der sich herabließ, gegen vierteljährlichen Lohn in kurzen Plüschhosen und wollenen Strümpfen zu erscheinen, mit gebührender Verachtung für den Schreiber und alle das Geschäft berührenden Dinge auf den Tisch gestellt hatte.

„Nun, Lowten“, sagte der kleine Perker und schloß die Tür hinter sich ab, „was gibt’s? Sind wichtige Briefe angekommen?“

„Nein, Sir. Aber hier ist ein Bote von Mr. Pickwick, Sir.“

„Von Pickwick? Was will er denn?“

„Dodson und Fogg haben Mrs. Bardell wegen der Prozeßkosten verhaften lassen“, sagte Hiob.

„Unmöglich“, rief Perker, steckte beide Hände in die Taschen und lehnte sich rücklings an den Kredenztisch.

„Es ist wirklich so“, bekräftigte Hiob. „Wie es scheint, haben sie sich von ihr unmittelbar nach der Gerichtsverhandlung ein Cognovit für die Prozeßkosten ausstellen lassen.“

„Bei Gott!“ rief Perker, in die Hände klatschend, „das sind doch die gescheitesten Leute, mit denen ich je zu tun gehabt habe.“

„Die schärfsten“, bemerkte Lowten.

„Die schärfsten?“ wiederholte Perker. – „Jaja, allerdings, die schärfsten.“

„Mhm“, erwiderte Lowten, und dann versanken beide, Meister und Geselle, einige Sekunden lang mit belebten Gesichtern in tiefes Sinnen, gleich, als ob sie über eine der schönsten und sinnreichsten Entdeckungen nachdächten, die der menschliche Verstand jemals ausgeklügelt hat. Als sie sich einigermaßen von ihrem träumerischen Bewunderungsanfall erholt hatten, entledigte sich Hiob Trotter des Restes seines Auftrags, und Perker nickte gedankenvoll und zog seine Uhr heraus.

„Schlag zehn Uhr werde ich dort sein“, sagte er. „Sam hat vollkommen recht. Sagen Sie ihm das. Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Lowten?“

„Nein, ich danke Ihnen, Sir.“

„Sie meinen ,ja‘ – denke ich“, sagte das Männchen und wandte sich an den Kredenztisch, um eine Flasche und Gläser zu holen.

Da Lowten wirklich „ja“ meinte, verlor er kein Wort mehr über die Sache, sondern fragte Hiob mit hörbarem Flüstern, ob das gegenüber vom Kamin hängende Porträt Perkers nicht zum Sprechen ähnlich sei, worauf Hiob natürlich bejahte. Inzwischen war der Wein eingeschenkt, und Lowten trank auf die Gesundheit Mrs. Perkers und ihrer Kinder und Hiob auf das Wohlsein des Herrn Anwalts.

Da der Gentleman in den kurzen Plüschhosen und wollenen Strümpfen es nicht für seine Amtspflicht hielt, den Leuten hinauszuleuchten, mußten beide ihren Weg selbst suchen. Der Advokat verfügte sich in sein Besuchszimmer, der Schreiber in die „Elster“, und Hiob ging auf den Covent-Garden-Markt, um die Nacht in einem leeren Gemüsekorb zu verbringen.

Pünktlich zur bestimmten Stunde klopfte am andern Morgen der aufgeräumte kleine Anwalt an Mr. Pickwicks Tür. Sam Weller öffnete sofort. „Mr. Perker, Sir“, meldete er den Besuch Mr. Pickwick, der gedankenvoll am Fenster saß. „Sehr erfreut, daß Sie gelegentlich auch mal nach uns sehen, Sir. Ich glaube, der Gouvernör möchte gern ’n paar Worte mit Ihnen sprechen.“ Perker wechselte einen Blick des Einverständnisses mit Sam, womit er ihm bedeuten wollte, er verstehe, daß er nicht sagen solle, man habe nach ihm geschickt, winkte ihn dann näher zu sich und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr.

„Nich möglich!“ rief Sam und prallte mit äußerster Überraschung einige Schritte zurück. Perker nickte und lächelte.

Mr. Samuel Weller blickte erst ihn, dann Mr. Pickwick, dann die Stubendecke, dann wieder Mr. Perker an, grinste, lachte laut auf, nahm endlich seinen Hut vom Nagel und verschwand ohne weitere Erklärung.

„Was soll das alles bedeuten?“ fragte Mr. Pickwick verwundert. „Was hat Sam in diese Aufregung versetzt?“

„O nichts, nichts“, erwiderte Perker. „Kommen Sie, mein lieber Herr, rücken Sie Ihren Stuhl an den Tisch. Ich habe viel mit Ihnen zu sprechen.“

„Was sind das für Papiere?“ fragte Mr. Pickwick, als der kleine Advokat ein mit roter Schnur zusammengebundenes Paket Dokumente auf den Tisch legte.

„Die Papiere in Sachen Bardell kontra Pickwick“, erwiderte Perker, den Knoten mit den Zähnen öffnend.

Mr. Pickwick stieß mit dem Stuhl auf den Boden, warf sich dann hinein, faltete die Hände und blickte seinen Rechtsfreund grimmig an – wenn er überhaupt grimmig blicken konnte.

„Sie hören diesen Namen nicht gern?“ meinte der kleine Mann, noch immer mit dem Knoten beschäftigt.

„Nein, wahrhaftig nicht.“

„Tut mir leid“, fuhr Perker fort, „aber eben darüber möchte ich mit Ihnen sprechen.“

„Von dieser Sache darf zwischen uns keine Rede mehr sein, Perker“, unterbrach ihn Mr. Pickwick erregt.

„Pah, pah, mein lieber Herr“, sagte der kleine Mann, band das Paket auf und blickte seinen Klienten dabei aus den Augenwinkeln scharf an. „Wir müssen davon sprechen! Ich bin ausdrücklich deswegen hierhergekommen. Sind Sie bereit, mich anzuhören, mein lieber Herr? Es hat keine Eile; wenn es Ihnen nicht genehm ist, so kann ich warten. Ich habe die Zeitungen von heute früh mitgenommen. Sie dürfen nur sagen, wann es Ihnen gefällig ist. – So.“

Mit diesen Worten schlug Mr. Perker ein Bein über das andre und gab sich den Anschein, als begänne er mit großer Ruhe und Aufmerksamkeit zu lesen.

„Gut, gut“, seufzte Mr. Pickwick und lächelte bereits wieder, „sagen Sie also, was Sie zu sagen haben. Ohne Zweifel immer wieder die alte Geschichte?“

„Nur mit einem kleinen Unterschied, mein lieber Herr; mit einem Unterschied. Mrs. Bardell, die Klägerin in Ihrem Prozeß, befindet sich innerhalb dieser Mauern, Sir!“

„Das weiß ich.“

„Sehr gut! Und ohne Zweifel wissen Sie auch, wie sie hierhergekommen ist? Ich meine, aus was für Gründen und auf wessen Verlangen?“

„Ja; wenigstens hat mir Sam davon erzählt“, versetzte Mr. Pickwick mit erkünstelter Gleichgültigkeit.

„Sanas Erzählung“, erwiderte Perker, „ist gewiß vollkommen richtig; wenigstens möchte ich es zu behaupten wagen. Nun gut, mein lieber Herr, die erste Frage, die ich an Sie zu richten habe, ist, ob diese Frau hierbleiben soll?“

„Hierbleiben?!“ wiederholte Mr. Pickwick erstaunt.

„Ja, hierbleiben, mein lieber Herr“, entgegnete Perker, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und fixierte seinen Klienten.

„Wie können Sie mich so fragen? Das hängt lediglich von Dodson und Fogg ab. Sie wissen das recht gut.“

„Nein, ich weiß es nicht“, entgegnete Perker fest. „Es hängt mitnichten von Dodson und Fogg ab. Sie kennen die Leute ebensogut wie ich, mein lieber Herr; es hängt einzig und allein nur von Ihnen ab.“

„Von mir?“ rief Mr. Pickwick, sprang hastig von seinem Stuhle auf und setzte sich sofort wieder.

Der kleine Mann klopfte zweimal auf den Deckel seiner Schnupftabaksdose, öffnete sie, nahm eine große Prise, schlug die Dose zu und wiederholte die Worte: „Von Ihnen.

Jaja, mein lieber Herr! Ich sage, ihre schleunige Befreiung oder lebenslängliche Einkerkerung hängt von Ihnen ab, und lediglich nur von Ihnen. Hören Sie mich gefälligst zu Ende, mein lieber Herr, und erhitzen Sie sich nicht so, Sie kommen dadurch nur in Schweiß, und das hilft doch zu nichts. Ich sage“, fuhr Perker fort, „ich sage, daß niemand als Sie die arme Frau aus dieser Höhle des Elends erlösen kann, und daß Sie dies nur können, wenn Sie sämtliche Kosten dieses Prozesses, sowohl die für die Klägerin als für den Beklagten, den Gaunern von Freemans Court, ausbezahlen. – Bitte, lassen Sie mich gefälligst ausreden, mein lieber Herr.“

Mr. Pickwick, dessen Mienen während dieser Rede die überraschendsten Wechsel durchgemacht hatte, stand sichtlich auf dem Punkte, loszubrechen, und hielt sich nur mit Mühe zurück; Perker fuhr, sich wieder durch eine Prise Schnupftabak stärkend, unbeirrt fort:

„Ich habe die Frau heute morgen gesehen. Wenn Sie die Prozeßkosten bezahlende kann Ihnen die Entschädigungssumme gänzlich erlassen werden, und überdies bekommen Sie von ihr – was, wie ich wohl weiß, in Ihren Augen von weit größerer Bedeutung ist, mein lieber Herr – eine freiwillige, eigenhändige Erklärung in der Form eines Schreibens an mich, daß diese Leute, Dodson und Fogg nämlich, an dem ganzen Prozeß schuld sind, indem sie sie verleiteten und durch glänzende Vorspiegelungen dazu veranlaßten; daß sie es ferner aufs tiefste bedauere, sich zum Werkzeug hergegeben zu haben, und daß sie mich dringend ersuchte, in der Sache zu vermitteln und Sie um Verzeihung anzuflehen.“

„Wenn ich die Kosten für sie bezahle!“ rief Mr. Pickwick entrüstet. „Wahrhaftig, eine nette Zumutung!“

„Es ist von keinem ,Wenn‘ mehr die Rede, mein lieber Herr“, sagte Perker triumphierend. „Hier ist das Schreiben. Es wurde mir heute früh um neun Uhr von einer Frau auf mein Büro gebracht, ehe ich noch einen Fuß in dieses Haus gesetzt oder die geringste Unterhandlung mit Mrs. Bardell gepflogen hatte; das kann ich Ihnen auf meine Ehre versichern.“ Und der kleine Advokat suchte den Brief aus dem Paket heraus, legte ihn Mr. Pickwick hin und schnupfte zwei Minuten hintereinander, ohne zu blinzeln.

„Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?“ sagte Mr. Pickwick, ein wenig besänftigt.

„Noch nicht. Ich kann in diesem Augenblick noch nicht sagen, ob die Abfassung des Cognovits, die Natur des Scheinkontrakts und die Aufschlüsse, die wir hinsichtlich des ganzen Vorgehens bei diesem Prozeß bekommen können, hinreichend sein werden, um eine Klage wegen Anstiftung und Betrügerei zu begründen. Ich fürchte, nein, mein lieber Herr; diese Leute sind gar zu schlau. Jedenfalls aber werden sämtliche Tatsachen zusammengenommen mehr als hinreichend sein, Sie in den Augen aller vernünftigen Menschen zu rehabilitieren. Und nun, mein lieber Herr, überlasse ich die Sache ganz Ihnen. Diese hundertfünfzig Pfund, oder was es sein mag, wenn man eine runde Summe annimmt, sind ja doch nichts für Sie! Eine Jury hat gegen Sie entschieden und ihr Ausspruch war ungerecht; allein die Geschworenen haben nun einmal entschieden, wie sie es für recht hielten, und der Spruch ist gegen Sie ausgefallen. Sie haben jetzt Gelegenheit, unter sehr annehmbaren Bedingungen eine weit höhere Stellung in der öffentlichen Meinung einzunehmen, als Sie durch Ihr Hierbleiben jemals erzielen können; denn, glauben Sie mir, mein lieber Herr, jedermann, der Sie nicht kennt, würde es Ihnen als baren, verrückten, lächerlichen und abgeschmackten Eigensinn auslegen. Können Sie noch zögern, diese Gelegenheit zu benutzen, durch die Sie Ihren Freunden, Ihren alten Beschäftigungen und Vergnügungen zurückgegeben werden und ihre Gesundheit wiederherstellen können? – Eine Gelegenheit, die Ihren treuen, anhänglichen Diener, den Sie sonst für die ganze Dauer Ihres Lebens zur Einkerkerung verurteilen, befreit – und vor allem eine Gelegenheit, die Sie instand setzt, eine höchst großmütige Rache zu nehmen, die, wie ich weiß, ganz Ihrem Herzen entspricht – und diese Frau von einem Schauplatz des Elends zu erlösen, wo man nach meiner Ansicht nicht einmal Männer einsperren sollte, geschweige denn Frauen. Ich frage Sie, mein lieber Herr, nicht bloß als Ihr juristischer Beirat, sondern als wohlmeinender treuer Freund, ob Sie die Gelegenheit, alles dies zu erreichen und so viel Gutes zu tun, schießen lassen wollen wegen armseliger paar Pfund, die allerdings in die Tasche zweier Schufte wandern, die dadurch aber nicht glücklicher, vielleicht nur um so habsüchtiger werden, und sich möglicherweise um so eher zu einem Schurkenstreich verleiten lassen werden, der mit ihrem Sturze enden muß? So schwach und unvollkommen ich Ihnen alle diese Rücksichten auch vorgelegt haben mag, mein lieber Herr, so ersuche ich Sie doch, sie in Erwägung zu ziehen und, solange es Ihnen beliebt, darüber nachzudenken. Ich werde geduldig wie ein Lamm Ihrer Antwort harren.“ Ehe Mr. Pickwick noch etwas erwidern konnte und Mr. Perker den zwanzigsten Teil der Prise zu sich genommen hatte, die eine so ungewöhnlich lange Rede gebieterisch erheischte, vernahm man ein leises Gemurmel draußen und sodann ein schüchternes Klopfen an die Tür.

„Mein Gott!“ rief Mr. Pickwick, von den letzten Bemerkungen seines Freundes sichtlich aufgewühlt. „Wie ärgerlich, daß wir gestört werden! Wer ist denn da?“

„Ich, Sir“, erwiderte Sam Weller und steckte den Kopf herein.

„Ich kann dich jetzt nicht brauchen, Sam“, sagte Mr. Pickwick ärgerlich. „Ich bin beschäftigt, Sam.“

„Bitte um Verzeihung, Sir. Aber hier ist eine Dame, wo sagt, sie hat Ihnen ganz besondere Mitteilungen zu machen.“

„Ich kann jetzt keinen Damenbesuch annehmen“, entgegnete Mr. Pickwick, dessen Geist lauter Gestalten wie Mrs. Bardell vorschwebten.

„Das möchte ich doch nich so bestimmt behaupten“, drängte Mr. Weller. „Wenn Sie wüßten, wer hier is, denn würden Sie, schätz ich, aus ner andern Tonart feifen, wie der Habicht sagte, als er das Rotkehlchen um die Ecke singen hörte.“

„Wer ist’s denn?“

„Wollen Sie selbst sehen, Sir?“ fragte Mr. Weller und behielt vorsichtig die Tür in der Hand, als hätte er draußen irgendein merkwürdiges lebendes Tier.

„Nun, so laß sie ein“, sagte Mr. Pickwick mit einem verzweifelten Blick auf Perker.

„Richtig so“, rief Sam. „Jetzt geht der Tanz los! Die Geigen gestimmt, den Vorhang hochgezogen, und herein treten die zwei Verschwörer.“

Dabei riß er die Tür auf, und herein stürmte Mr. Nathaniel Winkle, an der Hand dieselbe junge Dame, die in Dingley Dell die hübschen Pelzstiefelchen getragen hatte und jetzt – eine höchst anmutige Mischung von Erröten, Verwirrung, lila Seide und Spitzenschleierhut – reizender aussah als je.

„Miß Arabella Allen!“ rief Mr. Pickwick und sprang von seinem Stuhle auf.

„Nein“, erwiderte Mr. Winkle und ließ sich auf ein Knie nieder, „Mrs. Winkle. Verzeihen Sie mir, mein teurer Freund, verzeihen Sie mir!“

Mr. Pickwick wollte kaum seinen Augen trauen und würde es vielleicht auch nicht getan haben, hätte nicht das lächelnde Gesicht Perkers sowie die leibliche Anwesenheit Sams und des hübschen Hausmädchens im Hintergrund, die beide die Szene mit der lebhaftesten Befriedigung zu betrachten schienen, jeden Zweifel an der Wirklichkeit ausgeschlossen.

„Ach, Mr. Pickwick“, sagte Arabella mit leiser Stimme, durch das Stillschweigen des alten Herrn beunruhigt, „können Sie mir meine Unklugheit verzeihen?“

Mr. Pickwick antwortete nicht mit Worten, sondern nahm in großer Hast seine Brille ab, umarmte die junge Dame und küßte sie öfter, als unbedingt notwendig gewesen wäre, und sagte dann, fortwährend eine ihrer Hände in der seinigen behaltend, Mr. Winkle sei ein verwünscht frecher Gesell. Er solle übrigens endlich aufstehen. Mr. Pickwick schlug ihm hierauf mehrere Male auf den Rücken und schüttelte dann Perker herzlich die Hand, der, um mit seinen Komplimenten nicht zurückzubleiben, sowohl die junge Frau wie das hübsche Dienstmädchen aufs wärmste begrüßte, und nachdem er Mr. Winkle aus lauter Freundschaft beinahe die Hand aus dem Gelenk gerissen, seine Freudenbezeigungen damit schloß, daß er Schnupftabak genug nahm, um ein halbes Dutzend Leute mit gewöhnlich konstruierten Nasen zeitlebens niesen zu machen.

„Aber mein liebes Kind“, rief Mr. Pickwick endlich, „wie ist denn dies alles zugegangen? Setzen Sie sich zu mir, und erzählen Sie! Wie sie hübsch aussieht, was, Perker?“ setzte er hinzu und blickte dabei Arabella mit so viel Stolz und Wonne ins Gesicht, als ob sie seine eigene Tochter sei.

„Zum Entzücken, mein lieber Herr“, beteuerte der kleine Mann. „Wäre ich nicht selbst schon verheiratet, so könnte es mich anwandeln, Sie zu beneiden, Sie Tausendsasa.“

Bei diesen Worten klopfte er Mr. Winkle auf den Rücken, und beide fingen an, laut zu lachen, doch immerhin nicht so laut wie Mr. Samuel Weller, der seinen Gefühlen soeben dadurch Luft verschafft hatte, daß er hinter der Tür das hübsche Hausmädchen küßte.

„Wahrhaftig, ich kann Ihnen nicht dankbar genug sein, Sammy“, sagte Arabella mit ihrem süßesten Lächeln. „Ich werde Ihre Bemühungen im Garten in Clifton nie vergessen.“

„Sprechen Sie da nich von, Madam“, wehrte Sam ab. „Ich bin bloß der Natur zu Hilfe gekommen, Ma’am, wie der Doktor zur Mutter des Knaben sagte, als er ihm so lange zur Ader gelassen hatte, bis er tot war.“

„Setzen Sie sich doch, liebe Mary“, unterbrach Mr. Pickwick diese Komplimente. „Und nun, wie lange seid ihr denn schon verheiratet?“

Arabella blickte ihren Herrn und Gebieter verschämt an, und dieser erwiderte:

„Erst drei Tage.“

„Erst drei Tage?“ rief Mr. Pickwick. „Aber was habt ihr denn die ganzen drei Monate über getrieben?“

„Jaja“, fiel Perker ein, „rechtfertigen Sie sich nur. Sie sehen, Mr. Pickwick wundert sich darüber, daß Sie nicht schon vor Monaten ans Ziel gekommen sind.“

„Die Sache ging so zu“, erklärte Mr. Winkle mit einem zärtlichen Blick auf seine errötende junge Frau, „ich konnte Bella lange nicht überreden, mit mir durchzugehen, und als es mir endlich gelungen war, wollte sich lange keine Gelegenheit dazu bieten. Auch Mary mußte einen Monat zuvor aufkündigen, ehe sie ihre Stelle verlassen konnte, und ihr Beistand war für uns unbedingt notwendig.“

„Auf mein Wort“, rief Mr. Pickwick, der inzwischen seine Brille wieder aufgesetzt hatte und mit so viel Entzücken seine Blicke von Arabella auf Winkle und von Winkle auf Arabella schweifen ließ, wie ein warmes Herz und freundliche, liebevolle Teilnahme nur einem menschlichen Antlitz mitteilen können, „auf mein Wort, ihr scheint sehr systematisch zu Werke gegangen zu sein. Und weiß Ihr Bruder schon alles, mein liebes Kind?“

„Ach nein, nein“, stammelte Arabella und wechselte die Farbe. „Lieber Mr. Pickwick, er darf es nur von Ihnen – nur aus Ihrem Munde erfahren! Er ist so heftig, so voll von Vorurteilen, und hatte so – so lebhafte Wünsche für seinen Freund, Mr. Sawyer“, fügte sie verschämt hinzu, „daß ich die entsetzlichste Angst vor den Folgen habe.“

„Jaja“, meinte Perker ernsthaft. „Sie müssen diese Sache für sie ausfechten, mein Lieber Herr. Vor Ihnen werden diese jungen Männer Respekt haben, wenn sie schon auf niemand sonst hören; Sie müssen Unglück verhüten, mein lieber Herr. Heißes Blut – heißes Blut!“

„Sie vergessen nur, liebes Kind“, sagte Mr. Pickwick freundlich, „Sie vergessen nur, daß ich ein Gefangener bin.“

„Nein, mein lieber Mr. Pickwick“, erwiderte Arabella, „gewiß nicht. Ich habe es nie vergessen und beständig daran gedacht, wie entsetzlich Sie an diesem abscheulichen Ort leiden müssen. Ich hoffte nur, wozu keine Rücksicht auf Ihre eigne Person Sie bewegen könnte, dazu würden Sie sich vielleicht durch Ihre Wünsche für unser Glück bestimmen lassen. Wenn mein Bruder es von Ihnen zuerst erfährt, so hoffe ich mit Bestimmtheit auf eine Aussöhnung. Er ist mein einziger Verwandter in der Welt, Mr. Pickwick, und wenn Sie nicht für mich sprechen, fürchte ich, daß ich auch ihn noch verlieren werde. – Ich habe unrecht getan – sehr unrecht; ich weiß es wohl“, schluchzte Arabella.

Mr. Pickwick erschütterten schon diese Tränen gewaltig; als aber Mrs. Winkle ihre Augen trocknete und anfing, ihn mit den süßesten Schmeichelworten zu bestürmen, wurde er sehr unruhig und sichtlich in seinem Entschlüsse wankend, wie aus seinem mehrfach wiederholten krampfhaften Reiben an den Brillengläsern, an Nase und Schenkeln, Kopf und Gamaschen hervorging.

Mr. Perker benutzte diese Symptome von Unentschlossenheit und setzte mit juristischer Gewandtheit und Advokatenschlauheit auseinander, wie auch Mr. Winkle senior von dem wichtigen Fortschritt, den sein Sohn auf der Lebensleiter gemacht habe, noch nichts wisse, wie die künftigen Aussichten des Sohnes gänzlich davon abhingen, daß besagter Winkle senior ihn fortwährend mit unverminderten Gefühlen der Liebe und Zuneigung betrachte, was höchst unwahrscheinlich sei, wenn ihm dieses große Ereignis lange geheimgehalten werde; wie ferner Mr. Pickwick, wenn er sich nach Bristol begebe, um Mr. Allen zu besuchen, ebensogut auch nach Birmingham gehen und Mr. Winkle senior aufsuchen könne, zumal dieser ihn mit Recht als Mentor und Ratgeber seines Sohnes betrachte.

So standen die Verhandlungen, als sehr zur gelegenen Zeit Mr. Tupman und Mr. Snodgraß erschienen. Mr. Pickwick wurde geradezu aus allen seinen Entschlüssen hinausdisputiert und –argumentiert, und endlich schloß er Arabella in seine Arme, erklärte, sie sei ein unendlich liebenswürdiges Geschöpf, er habe sie vom ersten Augenblick an außerordentlich liebgewonnen und brächte es nicht übers Herz, ihrem Glück im Wege zu stehen, und sie könnten jetzt mit ihm anfangen, was sie wollten.

Als Mr. Weller von dieser Nachgiebigkeit vernahm, war sein erstes, daß er Hiob Trotter zu dem berühmten Mr. Pell schickte mit der Aufforderung, dem Boten die rechtsgültige Quittung zu übergeben, die sein kluger Vater in den Händen des gelehrten Gentleman zu lassen die Vorschrift gehabt hatte; sein zweites war, daß er seinen ganzen Vorrat an barem Gelde zum Ankauf von fünfundzwanzig Gallonen Porter verwendete, die er eigenhändig auf dem Ballplatz gratis an alle Durstigen ausschenkte. Dann hallote er in den verschiedenen Teilen des Hauses herum, bis er ganz heiser war, und versank endlich wieder in seine philosophische Ruhe und Sammlung.

Um drei Uhr nachmittags warf Mr. Pickwick einen letzten Blick in sein kleines Zimmer und bahnte sich, so gut er konnte, seinen Weg durch den Haufen von Schuldnern, die sich herandrängten, um ihm noch einmal die Hand zu schütteln. In dem ganzen Gedränge bleicher, abgezehrter Gesichter war kein einziges, das er nicht durch seine wohlwollende Teilnahme glücklicher gemacht hätte.

„Perker“, sagte er an der Treppe und winkte einen jungen Mann zu sich, „dies ist Mr. Jingle, von dem ich Ihnen bereits erzählt habe.“

„Sehr wohl, mein lieber Herr“, erwiderte Perker, Jingle scharf ins Auge fassend. „Sie werden mich morgen wiedersehen, junger Mann. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, wird Ihnen hoffentlich zeitlebens in Erinnerung bleiben.“

Jingle verbeugte sich ehrerbietig, zitterte heftig, als er Mr. Pickwicks dargebotene Hand ergriff, und wendete sich ab.

„Den Hiob kennen Sie doch?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja, ich kenne den Spitzbuben“, erwiderte Perker heiter. „Seien Sie morgen um ein Uhr auch bereit. – Vergessen Sie’s nicht. – Nun, gibt es sonst noch etwas?“

„Nein“, entgegnete Mr. Pickwick. „Sam, du hast doch das Päckchen abgegeben, das ich dir für deinen alten Stubengenossen gab?“

„‚türlich“, nickte Sam. „Er hat laut aufgeheult und sagte, Sie sind sehr schenerös, daß Sie auch an ihm gedacht haben; er wünschte bloß, daß Sie ihm die galoppierende Schwindsucht hätten einokulieren gekonnt; jetzt, wo sein alter Freund gestorben ist, der wo so lange hier gelebt hat, da kann er sich, meint er, nach keinen neuen mehr umsehen.“

„Der arme, arme Kerl“, seufzte Mr. Pickwick. „Lebt jetzt wohl, meine Freunde, Gott segne euch.“

Die Menge brach in ein lautes Geschrei aus und umdrängte Mr. Pickwick, um ihm nochmals die Hand zu drücken. Aber er nahm Perkers Arm und eilte für den Augenblick weit betrübter und niedergeschlagener aus dem Gefängnis, als er es betreten hatte.

Wie viele unglückliche, trostlose Menschen ließ er dort zurück!

Am nächsten Morgen bestiegen Mr. Pickwick und Sam Weller eine Postkutsche.

„Sir“, rief Sam seinem Herrn zu.

„Ja, Sam“, antwortete Mr. Pickwick und steckte den Kopf aus dem Fenster.

„Ich wünschte, die Pferde da hätten auch gute drei Monate in der Fleet hinter sich, Sir!“

„Weshalb denn, Sam?“

„Na, Sir“, rief Sam und rieb sich die Hände, „was meinen Sie, wie die rennen würden!“

Sechsundvierzigstes Kapitel


Sechsundvierzigstes Kapitel

Mr. Pickwick erweicht mit Hilfe Samuel Wellers das Herz Mr. Benjamin Allens und besänftigt den Zorn Mr. Robert Sawyers.

Mr. Ben Allen und sein Freund saßen in dem kleinen Ambulatorium beisammen, mit Kalbshaschee und künftigen Aussichten beschäftigt, da sich das Gespräch naturgemäß um die Praxis Bobs und seine Hoffnungen drehte, aus dem ehrenwerten Beruf, dem er sich gewidmet, die Mittel zu einer unabhängigen Lebensführung herauszuschlagen.

„Ich meine“, spann Bob Sawyer das Thema fort, „ich meine, Ben, es ist immer noch zweifelhaft.“

„Was ist zweifelhaft?“ fragte Mr. Ben Allen und schärfte seine Verstandeskräfte mit einem Schluck Bier. „Was ist zweifelhaft?“

„Nun, die Aussichten.“

„Ja, so. Ich hatte es schon wieder vergessen“, brummte Mr. Ben Allen. „Hm, ja, allerdings, Bob; sie sind allerdings zweifelhaft.“

„Es ist erstaunlich, wie die Armen des Orts mich begünstigen“, meinte Bob Sawyer nachdenklich. „Sie klopfen mich zu allen Stunden der Nacht aus dem Bett, nehmen Arzneien ein in Quantitäten, daß ich früher so etwas für rein unmöglich gehalten hätte, lassen sich mit einer Beharrlichkeit, die einer besseren Sache würdig wäre, Blasenpflaster und Blutegel setzen und vermehren ihre Familie auf eine wahrhaft erschreckliche Weise. Sechs ‚Störche‘ beehrten mich an einem Tag mit ihrem Vertrauen; denk dir das mal aus, Ben!“

„Doch höchst erfreulich“, knurrte Mr. Ben Allen und hielt seinen Teller hin, um sich noch eine Portion Kalbshaschee geben zu lassen.

„Hm, gewiß. Aber noch erfreulicher wäre mir das Zutrauen von Patienten, die auch einige Schillinge für mich übrig hätten. So habe ich mir’s wenigstens bei Eröffnung des Geschäftes gedacht, Ben. Jetzt besitze ich zwar eine Praxis – eine sehr ausgedehnte Praxis –, aber das ist auch alles.“

„Ich muß dich sobald wie möglich in den Besitz von Arabellas tausend Pfund setzen“, brach Mr. Ben Allen los, legte Messer und Gabel nieder und sah seinen Freund starr an.

„Dreiprozentige Konsols, gegenwärtig auf ihren Namen in das Buch oder die Bücher der englischen Bank eingetragen“, ergänzte Mr. Bob Sawyer feierlich.

„Ganz recht. Sie bekommt sie, sobald sie mündig wird oder heiratet. Mündig wird sie in einem Jahr, und wenn es dir nicht ganz an Mut gebräche, so brauchte sie keinen Monat mehr zu warten, um einen Mann zu haben.“

„Sie ist ein allerliebstes, entzückendes Geschöpf“, erwiderte Mr. Robert Sawyer, „und hat meines Wissens nur einen einzigen Fehler. Nämlich Mangel an Geschmack. Sie kann mich nicht leiden.“

„Ich möchte nur“, stieß Mr. Ben Allen zwischen den Zähnen hervor, „ich möchte nur wissen, ob irgendein Schuft ihr den Kopf verdreht hat. Ich würde ihn, glaube ich, erdolchen, Bob.“

„Und ich würde ihm eine Kugel in den Bauch jagen, wenn ich ihn fände“, sagte Mr. Sawyer, nahm einen langen Schluck Bier und sah dabei giftig über den Rand des Kruges hinüber. „Und wenn das noch nicht genügte, würde ich sie ihm wieder mit der Sonde herausholen und ihn dadurch umbringen.“

Mr. Benjamin Allen starrte seinen Freund einige Minuten lang in düsterem Schweigen an und fragte dann:

„Hast du ihr nie direkt einen Antrag gemacht, Bob?“

„Nein. Hätte keinen Zweck gehabt.“

„So mußt du es tun, bevor du vierundzwanzig Stunden älter bist. Sie soll dich nehmen, oder ich will den Grund wissen, warum sie dich nicht mag. – Ich werde meine ganze brüderliche Gewalt anwenden.“

„Also gut“, sagte Mr. Bob Sawyer, „wir werden ja sehen.“

„“Wir werden allerdings sehen, mein Freund“, erwiderte Mr. Ben Allen grimmig, schnappte einige Sekunden nach Luft und fügte dann mit zornbebender Stimme hinzu: „Du hast sie schon als Kind geliebt, Bob. Hast sie geliebt, als wir noch Schuljungen waren, und damals schon hat sie dich nicht mögen. Erinnerst du dich noch, wie du ihr einmal zwei kleine Kümmelbiskuits und einen Apfel mit Gewalt aufdrängen wolltest?“ „Jaja, ich weiß“, erwiderte Mr. Bob Sawyer. „Sie sagte, ich hätte den Apfel so lange in der Tasche meiner Manchesterhose getragen, bis er ganz warm geworden sei.“

„Hm“, nickte Mr. Ben Allen düster. „Wir beide aßen ihn dann zusammen, jeder abwechselnd einen Biß.“

Bob Sawyer gab mit melancholischem Stirnrunzeln zu verstehen, daß er sich auch dieses Umstandes recht wohl entsinne. – Dann versanken beide einige Zeit in dumpfes Grübeln.

Inzwischen war ein Einspänner, dunkelgrün lackiert und von einem dickköpfigen braunen Gaul gezogen, wie ihn alte Damen zu halten heben, und mit einem sauertöpfisch aussehenden Kutscher auf dem Bock ehrbarlich durch die Straßen Bristols gerollt und hielt vor dem Ambulatorium.

„Martin!“ rief eine alte Dame aus dem vorderen Fenster. „Sag dem Laufburschen, er soll herauskommen und das Pferd halten.“

„Werde ich schon selbst besorgen“, sagte Martin und legte seine Peitsche auf das Kutschendach.

„Nein, nein“, eiferte die alte Dame, „unter keinen Umständen. Deine Zeugenschaft ist von höchster Wichtigkeit, und du mußt unbedingt mit ins Haus kommen. Du darfst während der ganzen Unterredung nicht von meiner Seite weichen. Verstanden?“

„Ja, ich verstehe“, erwiderte Martin.

„Nun gut; auf was wartest du dann noch?“

„Auf nichts“, versetzte Martin und stieg gemächlich vom Rade herab, auf dem er sich mit den Zehenspitzen gewiegt hatte, rief den Jungen in der grauen Livree, öffnete den Wagenschlag, streckte seine in einen dunklen waschledernen Handschuh gehüllte Rechte ins Innere der Kutsche und zerrte seine Herrin wie einen schweren Koffer heraus.

„Ach, du mein Gott“, jammerte die alte Dame, „mir ist angst und bange, Martin; ich zittere an allen Gliedern.“

Mr. Martin hustete hinter seinem waschledernen Handschuh, drückte aber weiter kein Mitgefühl aus und geleitete die Alte in den Laden.

Unmittelbar, nachdem sie eingetreten, waren, stürzten Benjamin Allen und Mr. Bob Sawyer, die inzwischen die geistigen Getränke beiseite geschafft und Ammoniak ausgeschüttet hatten, um den Tabaksgeruch zu übertäuben, voll Entzücken, Freundlichkeit und Zärtlichkeit herein.

„Ach, meine gute Tante“, rief Mr. Ben Allen. „Wie lieb, daß du uns auch einmal besuchen kommst! – Mr. Sawyer – meine Tante! Mein Freund, Mr. Bob Sawyer, von dem ich dir schon erzählt habe; du weißt schon, weswegen, Tante.“

Er fügte, da er sich nicht besonders nüchtern fühlte, flüsternd – wie er meinte, aber immerhin noch laut und vernehmlich genug, daß es alle Anwesenden hören mußten – das Wort „Arabella“ hinzu.

„Mein lieber Benjamin“, begann die alte Dame, die sehr mit Asthma zu kämpfen hatte und am ganzen Leibe zitterte, „erschrick nicht, mein guter Junge; aber ich möchte gern Mr. Sawyer auf einen Augenblick allein sprechen – nur auf einen Augenblick.“

„Bitte sehr“, erwiderte Bob in sehr professionellem Ton. „Hier herein, meine verehrteste Madame. Haben Sie nur keine Angst, Madame. Ich zweifle keinen Augenblick, daß wir Sie in kurzer Zeit vollkommen wiederherstellen werden. Hier, meine teuerste Madame, wenn es Ihnen gefällig ist.“ Er geleitete sie zu einem Stuhl, schloß die Tür und wartete auf die Schilderung der Symptome eines langwierigen, gewinnbringenden Leidens.

Das erste, was die alte Dame tat, war, daß sie sehr oft den Kopf schüttelte und dann zu schluchzen begann.

„Nervös“, sagte Bob Sawyer verbindlich. „Kamphor julep mit Wasser, dreimal täglich, und einen beruhigenden Trank vor dem Schlafengehen.“

„Ich weiß nicht, womit ich beginnen soll, Mr. Sawyer“, keuchte die alte Dame. „Es ist so namenlos peinlich und schmerzlich.“

„Ich weiß schon, was Sie sagen wollen“, beruhigte Mr. Sawyer, „der Kopf.“

„Ach nein, das Herz“, stöhnte die alte Dame schwach.

„Das macht nichts, Ma’am“, erwiderte Bob Sawyer. „Der Magen ist die Hauptsache.“

„Mr. Sawyer!“ rief die alte Dame und richtete sich auf.

„Ohne Zweifel, Ma’am“, unterbrach sie Bob mit weiser Miene, „Arznei zur rechten Zeit würde alles verhütet haben, meine teuerste Madame.“

„Mr. Sawyer!“ rief die alte Dame noch aufgeregter, „Ihr Benehmen gegenüber einer Frau in meiner Lage ist entweder eine Impertinenz oder ein Beweis, daß Sie über den Zweck meines Besuches gänzlich im Irrtum sind. Hätte ich das, was geschehen ist, durch Arzneien oder Vorsicht verhüten können, so hätte ich es gewiß getan. Es ist übrigens am besten, ich wende mich unmittelbar an meinen Neffen“, fügte sie hinzu, nahm voll Entrüstung ihren Pompadour und stand auf.

„Bleiben Sie doch noch einen Augenblick, Ma’am“, bat Bob Sawyer. „Ich fürchte, ich habe Sie mißverstanden. Um was handelt es sich denn, Ma’am?“

„Doch um meine Nichte, Mr. Sawyer, um die Schwester Ihres Freundes.“

„Nun und, Ma’am?“ drängte Bob voll Ungeduld, denn die alte Dame sprach trotz ihrer sichtlichen Aufgeregtheit mit peinigender Langsamkeit.

„Nun und, Ma’am?“

„Sie verließ mein Haus vor drei Tagen, Mr. Sawyer, angeblich, um meine Schwester – eine andre Tante von ihr – zu besuchen, die unmittelbar jenseits des dritten Meilensteins die große Pension hält; dort, wo der große Lindenbaum und das eichene Tor stehen“, erklärte die alte Dame und hielt inne, um sich die Augen zu trocknen.

„Der Teufel hole den Lindenbaum, Ma’am“, fluchte Bob, der in seiner Angst seine Amtswürde ganz vergaß. „Ein bißchen schneller, wenn ich bitten darf; wenden Sie ein wenig mehr Dampf an, Ma’am.“

„Heute morgen“, fuhr die alte Dame langsam fort, „heute morgen ist sie …“

„Zurückgekommen, ohne Zweifel?“ fiel Bob sehr aufgeregt ein. „Zurückgekommen?“

„Nein, zurückgekommen nicht. Sie schrieb.“

„Und was schrieb sie denn?“

„Sie schrieb, Mr. Sawyer – und darauf bitte ich Sie, Benjamin allmählich und vorsichtig vorzubereiten –, sie schrieb, sie sei – ich habe den Brief in meiner Tasche, Mr. Sawyer – aber meine Brille liegt noch im Wagen, und es würde zuviel Zeit kosten, wenn ich Ihnen die betreffende Stelle ohne Brille vorlesen wollte; kurz und gut, Mr. Sawyer, sie schrieb, sie sei … verheiratet.“

„Was!“ sagte oder schrie vielmehr Mr. Bob Sawyer.

„Verheiratet“, wiederholte die alte Dame.

Mr. Bob Sawyer wollte nichts mehr hören; er stürzte aus dem Hinterstübchen in den Laden und rief mit Stentorstimme:

„Ben, Ben, denk dir, sie ist durchgegangen!“

Mr. Ben Allen, der, hinter dem Ladentisch eingeschlummert, den Kopf fast auf den Knien hängen hatte, vernahm kaum diese Schreckensnachricht, als er urplötzlich auf Mr. Martin losstürzte, den schweigsamen Diener an seinem Halstuch faßte und die liebenswürdige Absicht ausdrückte, ihn auf der Stelle zu erwürgen, was er auch sogleich mit der Raschheit, die oft nur die Verzweiflung zu verleihen vermag, und dabei mit großer Kraft und chirurgischer Geschicklichkeit auszuführen begann.

Mr. Martin, ein Mann von wenig Worten und geringer Beredsamkeit, unterwarf sich dieser Operation ein paar Sekunden lang mit sehr ruhigem und heiterem Gesicht; als er aber sah, daß sie schnell zu einem Resultat zu führen drohte, das ihn für alle künftigen Zeiten außerstand setzen würde, Trink- oder Schmerzensgelder oder sonst etwas zu beanspruchen, murmelte er eine unartikulierte Gegenvorstellung und schlug Mr. Benjamin Allen zu Boden. Da dieser jedoch die Halsbinde nicht losließ, blieb ihm keine andere Wahl, als mit ihm hinzufallen, und so kämpften die beiden in liegender Stellung weiter, bis die Ladentür aufging und die Gesellschaft durch die Ankunft zweier höchst unerwarteter Gäste, nämlich der Herren Pickwick und Weller, vermehrt wurde.

Der erste Eindruck, den der Anblick auf Mr. Weller machte, war, daß Mr. Martin von dem Etablissement Sawyer, weiland Nockemorf, offenbar gedungen sei, um starke Arzneien einzunehmen, Anfälle zu bekommen und Experimente mit sich anstellen zu lassen, oder auch, um dann und wann ein Gift zu verschlucken, damit sich die Wirksamkeit einiger neuer Gegengifte an ihm erproben ließe, oder sonst etwas zu tun, was die Wissenschaft fördern und den glühenden Wissensdurst befriedigen könnte, der im Busen ihrer zwei jungen Anhänger brannte. Er machte daher keinen Versuch, sich ins Mittel zu legen, sondern blieb ruhig stehen und sah zu, auf das Ergebnis des Experiments äußerst begierig. Nicht so Mr. Pickwick, der sich sogleich mit seiner gewohnten Energie auf die Kämpfer warf und die Umstehenden laut aufforderte, sie auseinanderzureißen.

Sein Geschrei brachte Mr. Bob Sawyer, der bisher wie gelähmt dagestanden, wieder zu sich, und mit vereinten Kräften wurde Ben Allen wieder auf die Beine gestellt. Mr. Martin, der sich nunmehr allein auf dem Boden liegen sah, stand ebenfalls auf und blickte wild um sich.

„Mr. Allen“, rief Mr. Pickwick, „was gibt es denn hier?“

„Das geht Sie einen Schmarrn an“, brummte Mr. Allen trotzig.

„Was ist denn geschehen?“ wendete sich Mr. Pickwick an Bob Sawyer. „Ist er unwohl?“

Doch ehe dieser noch antworten konnte, ergriff Ben Allen Mr. Pickwicks Hand und murmelte wehmütig:

„Meine Schwester, lieber Mr. Pickwick, meine Schwester!“

„Oh, ist das alles?“ rief Mr. Pickwick. „Nun, das werden wir hoffentlich bald ins reine bringen. Ihre Schwester ist wohl und gesund, und ich bin hier, mein lieber Herr, um …“

„Tut mir leid, die schönen Purrparlehs zu unterbrechen, wie der König sagte, als er das Parlament auflöste“, fiel Mr. Weller ein, der inzwischen durch die Glastür in das Hinterzimmer gespäht hatte, „aber da liegt ’ne ehrwürdige alte Dame auf ‚m Teppich und wartet auf ’ne Sektion oder Galvanisierung oder sonst ’ne andre wissenschaftliche Wiederbelebung.“

„Ach, richtig, ich habe ja ganz vergessen“, rief Mr. Ben Allen. „Es ist meine Tante.“

„’ne sonderbare Lage für ’n Familienmitglied“, bemerkte Sam Weller und hob die alte Dame auf einen Stuhl. „Heda, Vizebeinsäger, ’n Riechfläschchen her!“

Die Aufforderung galt dem Laufburschen in der grauen Livree, der den Einspänner der Fürsorge eines Straßenaufsehers überlassen hatte und hereingeeilt war, um zu sehen, was der Lärm zu bedeuten habe, und seinen und den Bemühungen Mr. Bob Sawyers und Benjamin Allens gelang es endlich, die alte Dame wieder zu Bewußtsein zu bringen. Dann wandte sich Mr. Ben Allen verstört an Mr. Pickwick und fragte ihn, was er habe sagen wollen, als er auf eine so beunruhigende Weise unterbrochen worden sei.

„Wir sind doch lauter gute Freunde hier?“ begann Mr. Pickwick, räusperte sich und ließ seinen Blick nachdenklich auf dem wortkargen Mann mit dem sauertöpfischen Gesicht ruhen.

Dies erinnerte den Wundarzt daran, daß der Bursche in der grauen Livree mit weitaufgerissenen Augen und gespitzten Ohren zuschaute. Nachdem daher der junge angehende Chemiker am Rockkragen in die Höhe gehoben und zur Tür hinausgeworfen worden war, versicherte Bob Sawyer Mr. Pickwick, er könne jetzt ohne Rücksicht sprechen.

„Ihre Schwester, mein teurer Sir“, begann Mr. Pickwick zu Mr. Benjamin Allen gewendet, „befindet sich in London und ist wohl und glücklich.“ „Ich habe nichts mit ihrem Glück zu schaffen, Sir“, wehrte Benjamin Allen mit einer ungeduldigen Handbewegung ab.

„Ich aber habe mit ihrem Gatten zu schaffen, Sir!“ fiel Bob Sawyer ein. „Ich will auf zwölf Schritte mit ihm zu schaffen haben, Sir, mit diesem niederträchtigen Schurken!“

„Halt, Sir!“ rief Mr. Pickwick. „Bevor Sie auf den in Rede stehenden Gentleman solche Epitheta anwenden, erwägen Sie einmal leidenschaftslos den Umfang seiner Schuld, und bedenken Sie vor allem, daß er – ein Freund von mir ist.“

„Was?“ rief Mr. Bob Sawyer.

„Wie heißt er? Wer ist er?“ sehne Ben Allen.

„Mr. Nathaniel Winkle“, erklärte Mr. Pickwick mit Festigkeit.

Benjamin Allen zertrat bedächtig seine Brille mit dem Stiefelabsatz, las die Stücke auf und steckte sie in drei verschiedene Taschen; dann verschränkte er die Arme, biß sich in die Lippen und blickte mit drohender Gebärde in das sanfte Gesicht Mr. Pickwicks.

„Dann haben also Sie, Sir, und niemand anders als Sie diese Verbindung gutgeheißen und womöglich zustande gebracht?“ brachte er endlich heraus.

„Und dann ist es“, fiel die alte Dame ein, „vermutlich der Bediente dieses Herrn gewesen, der um mein Haus herumgeschlichen ist und mein Gesinde zu einer Verschwörung gegen mich zu verleiten suchte. – Martin!“

„Ma’am?“ sagte der sauertöpfische Groom und trat vor.

„Ist dies der junge Mann, den Sie in der Gasse gesehen und von dem Sie mir heute früh erzählt haben?“

Mr. Martin, der, wie bereits erwähnt, ein kurz angebundner, wortkarger Mann war, sah Sam Weller an, nickte mit dem Kopfe und brummte:

„Ja, der ist’s.“

Mr. Weller, der nie stolz war, lächelte freundlich, als seine Augen denen des griesgrämigen Stallknechtes begegneten, und gestand in höflichen Ausdrücken, daß er ihn schon von früher her kenne.

„Und diesen treuen Menschen“, rief Mr. Ben Allen, „hätte ich beinahe erwürgt! Mr. Pickwick, wie konnten Sie es wagen, Ihrem Kerl zu erlauben, daß er sich bei der Entführung meiner Schwester gebrauchen ließ? Ich verlange Aufklärung von Ihnen, Sir.“

„Jaja, erklären Sie sich, Sir“, schrie Bob Sawyer wild.

„Es ist eine Verschwörung!“ sagte Ben Allen.

„Ein hinterlistiger, niederträchtiger Betrug!“

„Eine schändliche Büberei“, bemerkte die alte Dame.

„Ein echtes Bubenstück“, meinte Martin.

„Bitte, hören Sie mich doch an“, flehte Mr. Pickwick, als Mr. Ben Allen in den Stuhl sank, in dem gewöhnlich die Patienten zur Ader gelassen wurden, und seine Zuflucht zu seinem Taschentuch nahm. „Ich war bei der Sache durchaus unbeteiligt, außer daß ich einer Zusammenkunft der beiden jungen Leute beiwohnte, die ich nun einmal nicht verhindern konnte. Und zwar tat ich es in der Überzeugung, daß meine Anwesenheit auch den geringsten Schein von Unschicklichkeit, den die Sache sonst gehabt hätte, beseitigen müßte. Weiter habe ich die Hand nicht im Spiele gehabt. Ich hatte sogar nicht einmal eine Ahnung davon, daß eine so schnelle Verbindung beabsichtigt war. Im übrigen will ich nicht sagen, daß ich sie verhindert haben würde, wenn ich etwas davon gewußt hätte.“

„Sie hören es alle! Sie hören es!“ stöhnte Mr. Benjamin Allen.

„Hoffentlich“, fuhr Mr. Pickwick milde fort, während ihm die Röte ins Gesicht stieg. „Sie hören hoffentlich auch noch, Sir, daß ich Ihnen, nach allen eingezogenen Erkundigungen, versichern muß, daß Sie keineswegs berechtigt waren, den Neigungen Ihrer Schwester einen Zwang anzutun, und sich vielmehr hätten befleißigen sollen, ihr durch freundliches, zärtliches Benehmen alle andern näheren Verwandten zu ersetzen, deren sie von Kindheit an keine gehabt hat. Was meinen jungen Freund betrifft, so erlaube ich mir hinzuzusetzen, daß er in bezug auf Glücksgüter und materielle Verhältnisse zum mindesten auf gleichem Fuße mit Ihnen steht, wo nicht auf einem weit besseren, und daß ich übrigens nichts mehr über die Sache reden werde, wenn sie nicht mit geziemender Mäßigung und dem gebührenden Anstand verhandelt wird.“

„Ich möchte ja auch noch „n paar Bemerkungen machen; nämlich zu die Sache, wo der ehrenwerte Schendlmän vorhin von gesprochen hat“, fiel Mr. Weller ein, „nämlich da hat doch ein Gewisser auf mich ,Kerl‘ gesagt.“

„Das hat nichts mit dieser Sache zu tun, Sam“, verwies Mr. Pickwick. „Sei so gut und schweig.“

„Ich wollte auch weiter nichts sagen“, lenkte Sam ein, „als bloß noch den Klecks: Vielleicht denkt der Schändlmän, daß eine frühere Zuneigung bestanden hat; es is aber durchaus nich der Fall, weil nämlich die junge Dame gleich anfangs bei unserer Bekanntschaft sagte, sie kann ihm nich leiden. Keiner hat ihn ausgestochen, und es wäre ganz egal für ihm gewesen, wenn die junge Dame den Mr. Winkle überhaupt nich gesehen haben würde. Das wollte ich bloß sagen, Sir, und ich hoffe, der Schendlmän wird sich nu beruhigen.“

Auf diese trostreichen Worte Mr. Wellers folgte eine tiefe Stille; dann sprang Mr. Ben Allen von seinem Stuhl auf und schwor, Arabella dürfe ihm nie wieder vor die Augen treten, indes Mr. Bob Sawyer, trotz Sams schmeichelhafter Versicherung, dem glücklichen Nebenbuhler schreckliche Rache gelobte.

Doch gerade in dem Augenblick, als die Sache das feindseligste Aussehen gewann und zu behalten drohte, fand Mr. Pickwick einen mächtigen Beistand an der alten Dame, der die Art, wie er die Sache ihrer Nichte verfochten hatte, offenbar sehr gefiel, und die es daher wagte, Benjamin Allen einige tröstliche Betrachtungen vorzuhalten, worunter die erheblichsten die waren, es sei doch vielleicht gut, daß es nicht noch schlimmer gekommen sei. Bei Licht betrachtet, stünden die Sachen doch nicht gar so böse; geschehene Dinge müsse man eben hinnehmen, und was man nicht abändern könne, darein müsse man sich in Geduld fügen; nebst verschiedenen andern ebenso neuartigen wie auch tröstlichen Versicherungen.

Mr. Benjamin Allen erwiderte bloß, er habe jeden möglichen Respekt vor seiner Tante und vor jedermann; das ändere aber an der Sache nichts, und man müsse ihm schon erlauben, daß er seinem eigenen Kopf folge. Er werde sich das Vergnügen machen, seine Schwester bis zu ihrem Tode und noch über das Grab hinaus zu hassen.

Als er diesen felsenfesten Entschluß wohl noch fünfzigmal beschworen, brauste die alte Dame plötzlich auf, blickte höchst majestätisch um sich und verlangte zu wissen, was sie denn getan habe, um so wenig Ehrerbietung zu verdienen, wo sie doch ihren Neffen seit fünfundzwanzig Jahren, von seiner Geburt angefangen, stets im Auge behalten, noch ehe er einen Zahn im Munde gehabt, nicht zu gedenken ihrer Anwesenheit, als man ihm zum erstenmal das Haar geschnitten, und ihrer tätigen Mitwirkung bei vielen andern Vorgängen und Feierlichkeiten während seiner Kindheit – lauter Dinge, die denn doch wichtig genug seien, um ihre Ansprüche auf seine Liebe und seinen Gehorsam für immer zu begründen. Während die gute Dame solchergestalt Mr. Ben Allen den Text las, hatten sich Mr. Bob Sawyer und Mr. Pickwick in eifriger Unterhaltung in das Hinterstübchen zurückgezogen. Der unglückliche Brautwerber hatte dabei zu wiederholten Malen eine schwarze Flasche angesetzt, und unter deren Einfluß hatten seine Züge allmählich einen vergnügteren und schließlich sogar heiteren Ausdruck gewonnen. Endlich trat er sogar mit der Flasche in der Hand aus der Stube heraus, erklärte, es tue ihm sehr leid, sich so albern benommen zu haben, trank auf die Gesundheit und das Wohlergehen Mr. Winkles und seiner Gattin und sagte, daß er sie nicht nur nicht um ihr Glück beneide, sondern auch der erste sein wolle, der ihnen dazu gratuliere.

Als Mr. Ben Allen dies hörte, sprang er von seinem Stuhl auf, ergriff die schwarze Flasche und trank gleichfalls den Toast so herzhaft, daß er von dem starken Inhalt beinahe ebenso schwarz im Gesicht wurde wie die Flasche selbst. Endlich machte die Bouteille die Runde, bis nichts mehr darin war, und dann gab es ein Händeschütteln und eine allgemeine Beglückwünschung, daß selbst Mr. Martin mit dem steinernen Gesicht sich herabließ, zu lächeln.

„Und jetzt“, rief Bob Sawyer und rieb sich die Hände, „jetzt wollen wir eine lustige Nacht haben.“

„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Mr. Pickwick, „daß ich in meinen Gasthof zurückkehren muß, aber ich bin seit längerer Zeit an keine Strapazen mehr gewöhnt, und die Reise hat mich sehr angegriffen.“

„Aber eine Tasse Tee werden Sie doch annehmen, Mr. Pickwick?“ schmeichelte die alte Dame mit gewinnendem Lächeln.

„Danke sehr, aber ich kann wirklich nicht“, lehnte der Gelehrte ab.

In Wirklichkeit war das sichtlich zunehmende Wohlwollen der alten Dame für ihn ein Hauptgrund, zu gehen. Er mußte an Mrs. Bardell denken, und jeder Strahl aus den Augen der Dame brachte ihn in kalten Schweiß.

Da er sich daher unter keinen Umständen bewegen ließ zu bleiben, wurde auf seinen eignen Antrag beschlossen, Mr. Benjamin Allen solle ihn auf seiner Reise zu Mr. Winkle senior begleiten. Die Kutsche werde am nächsten Morgen um neun Uhr vor der Tür stehen. Er nahm sodann Abschied und ging in Begleitung Samuel Wellers nach dem „Busch“ zurück.

Siebenundvierzigstes Kapitel


Siebenundvierzigstes Kapitel

Wie Mr. Pickwick nach Birmingham reiste und Verstärkung an einem höchst unerwarteten Bundesgenossen erhielt.

Am nächsten Morgen pünktlich um drei Viertel auf neun Uhr waren die Pferde angespannt. Mr. Pickwick und Sam Weller nahmen ihre Plätze wieder ein, der eine in der Kutsche, der andre draußen auf dem Hintersitz, und dem Postillion wurde die Weisung erteilt, zunächst vor Mr. Bob Sawyers Hause vorzufahren, um daselbst Benjamin Allen abzuholen.

Als die Kutsche vor der Tür mit der roten Lampe und der ins Auge stechenden Inschrift: „Sawyer, weiland Nockemorf“ anhielt und Mr. Pickwick seinen Kopf zum Fenster hinaussteckte, bemerkte er mit nicht geringer Verwunderung den Jungen in der grauen Livree eifrig beschäftigt, die Läden vor die Fenster zu setzen. Da dies zu so früher Stunde ein höchst ungewöhnliches und für einen Geschäftsmann keineswegs empfehlenswertes Verfahren bedeutete, verfiel Mr. Pickwick sogleich auf die Vermutung, entweder müsse irgendein guter Freund oder Patient Mr. Bob Sawyers gestorben sein oder Mr. Bob Sawyer selbst bankrott gemacht haben.

„Was ist denn geschehen?“ fragte er daher den Jungen.

„Nix, Herr“, erwiderte dieser und grinste von einem Ohr bis zum andern.

„Alles in Ordnung“, rief Bob Sawyer, der plötzlich, mit einem kleinen, magern, schmutzigen ledernen Schnappsack in der Hand und einem groben Überzieher nebst Schal über den Arm geworfen, an der Tür erschien. „Ich komme gleich, alter Freund.“

„Sie?“ rief Mr. Pickwick.

„Ja, ich! Ein Hauptspaß, was?“ sagte Bob, lachte wie toll, warf Sam seinen Reisesack auf den Wagen hinauf und wischte sich mit einem Ärmel seines zottigen Überrocks die Tränen aus den Augen.

„Mein lieber Herr“, wendete Mr. Pickwick ziemlich verlegen ein, „ich erwartete eigentlich nicht, daß Sie uns begleiten würden.“

„Das ist’s ja eben“, lachte Bob. „Das ist ja eben der Spaß. Ich lasse einfach das Geschäft für sich selbst sorgen, da es nun mal für mich nicht sorgen zu wollen scheint.“

Bei dieser Erklärung des Phänomens mit den Fensterläden deutete Bob Sawyer auf sein Ambulatorium und verfiel aufs neue in Lachkrämpfe.

„Sie werden doch nicht so wahnsinnig sein, Ihre Patienten zu verlassen, ohne sie der Pflege eines andern übergeben zu haben?“ stellte ihm Mr. Pickwick in sehr ernstem Ton vor.

„Nun, warum nicht?“ meinte Bob dagegen. „Ich spare dadurch, müssen Sie wissen. Es zahlt ja doch keiner. Zudem“, setzte er hinzu und dämpfte seine Stimme zu vertraulichem Flüstern, „wird es ihnen um kein Haar schlechter gehen; meine Arzneien sind bereits auf der Neige, und da ich gerade jetzt nicht imstande bin, neue Einkäufe zu machen, so müßte ich dem einen wie dem andern nichts wie Kalomel geben.“

In dieser Antwort lag so viel Philosophie und Logik, daß Mr. Pickwick betroffen schwieg und nur noch unentschlossen bemerkte, daß der Wagen bloß zweisitzig sei und er doch Ben Allen mitnehmen müsse.

„Seien Sie meinetwegen ohne Sorgen“, lachte Bob. „Ich habe mir alles genau überlegt; Sam und ich werden den Rücksitz miteinander teilen. Sehen Sie hier: diesen Anschlag hefte ich an die Ladentür: ,Sawyer, weiland Nockemorf. Zu erfragen gegenüber bei Mrs. Cripps.‘ – Mrs. Cripps ist die Mutter meines Burschen. – ,Es tut Mr. Sawyer sehr leid‘, sagt dann Mrs. Cripps, ,aber er wurde heute früh zu einem Konsilium mit den berühmtesten Wundärzten auf das Land geholt – konnten ohne ihn nicht fertig werden – wollten ihn um jeden Preis haben; eine schreckliche Operation.‘ Die Folge davon kann sein“, schloß Bob, „daß die Sache in eines der Lokalblätter kommt und ich ein gemachter Mann bin. Apropos, da kommt Ben. Vorwärts, Ben, hineingesprungen!“

Mit diesen Worten stieß Mr. Bob Sawyer den Postillion auf die Seite, half seinem Freund in den Wagen, warf den Schlag zu, klebte seinen Anschlag an die Haustür, verschloß sie, steckte den Schlüssel in die Tasche, schwang sich auf den äußeren Rücksitz und gab das Signal zum Abfahren, und tat das alles mit so außerordentlicher Schnelligkeit, daß, bevor noch Mr. Pickwick recht zur Besinnung gekommen war, der Wagen bereits davonrollte.

Solange sich die Fahrt auf die Straßen von Bristol beschränkte, behielt der lustige Bob seine grüne Doktorbrille auf der Nase und benahm sich überhaupt mit gebührender Ernsthaftigkeit, wobei er jedoch zum größten Gaudium Mr. Samuel Wellers verschiedene Witze zu reißen nicht unterlassen konnte; als sie jedoch auf die offne Landstraße gelangten, legte er mit seiner grünen Brille auch seine Würde ab und führte eine Menge Spaße aus, die wohl geeignet waren, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen und den Wagen wie die Reisenden selbst zu Gegenständen einer ungewöhnlichen Neugierde und Heiterkeit zu machen. Zu seinen geringsten und noch am wenigsten auffallenden Taten gehörte die lärmende Nachahmung der schrillen Töne eines Klapphorns sowie die prunkvolle Entfaltung eines karmesinroten Taschentuches, das er an seinen Spazierstock band und mit herausfordernden Gebärden gelegentlich in der Luft schwenkte.

„Ich möchte doch wissen“, unterbrach sich Mr. Pickwick mitten in einer höchst gesetzten Unterredung mit Ben Allen, die sich auf die zahlreichen guten Eigenschaften Mr. Winkles und seiner jungen Frau bezog, „ich möchte doch wissen, was die Leute an uns sehen können, daß sie uns alle so anstarren.“

„Na, das kann ich mir ganz gut denken“, erwiderte Ben Allen stolz. „Eine solche Equipage sehen sie eben nicht alle Tage.“

„Möglich“, gab Mr. Pickwick zu, „das könnte sein.“

Er hätte sich sehr wahrscheinlich sogar in die Überzeugung hineinräsoniert, daß es wirklich so sei, hätte er nicht zufällig zum Kutschenfenster hinausgesehen und bemerkt, daß die Blicke der Vorübergehenden keineswegs ehrfurchtsvolle Bewunderung verrieten und daß verschiedene telegrafische Verständigungsmethoden zwischen ihnen und den Personen auf dem Außensitz des Wagens obzuwalten schienen, was ihm sofort klarmachte, diese Demonstrationen müßten irgendeine entfernte Beziehung auf ein gewisses humorvolles Benehmen Mr. Robert Sawyers haben.

„Ich will doch hoffen“, sagte er, „daß unser leichtfertiger Freund sich da draußen nicht etwa auffallend benimmt.“

„Gott behüte“, versicherte Ben Allen. „Bob ist das ruhigste Geschöpf von der Welt, wenn er nicht gerade ein Gläschen zuviel getrunken hat.“ In diesem Augenblick traf eine länger dauernde Nachahmung des Klapphorns, gefolgt von einem lustigen Gejohle, alles offenbar aus der Kehle des „ruhigsten Geschöpfes von der Welt“, ihre Ohren. Mr. Pickwick nahm sofort den Hut ab und lehnte sich beinahe mit dem halben Leib zum Kutschenfenster hinaus, was ihn endlich instand setzte, seines spaßhaften Freundes ansichtig zu werden.

Mr. Bob Sawyer saß, wie es sich zeigte, nicht auf dem Rücksitz, sondern auf dem Kutschendach und hatte seine Beine so weit ausgespreizt, wie es sich nur immer tun ließ. Er hatte Mr. Samuel Wellers Hut schief auf dem Ohr, hielt in der einen Hand ein ungeheures Stück Butterbrot, in der andern eine stattliche strohumflochtene Flasche und sprach beiden mit innigem Behagen abwechselnd zu, wobei er sich die Eintönigkeit seiner Beschäftigung durch ein gelegentliches Geheul oder durch den Austausch einiger lustiger, kurzweiliger Worte mit den nächstbesten Vorübergehenden unterhaltender zu gestalten suchte. Die karmesinrote Flagge war mit großer Sorgfalt an die Lehne des Hintersitzes festgebunden, und Mr. Samuel Weller saß, mit Bob Sawyers Hut geschmückt, im Zentrum desselben, ein zweites Butterbrot bearbeitend, und zwar mit so behaglichem Gesicht, daß seine vollkommene Zustimmung zu der ganzen Anordnung darin geschrieben stand.

Das war genug, um auf die Galle eines Mannes von Mr. Pickwicks Schicklichkeitsgefühl zu wirken; aber es kamen noch mehr erschwerende Umstände hinzu, denn in diesem Augenblick fuhr eine sowohl innen wie außen wohlbesetzte Postkutsche an ihnen vorüber, und die Passagiere gaben ihr Erstaunen auf eine sehr unzweideutige Art zu erkennen. Ebenso unangenehm waren die Gratulationen einer irischen Bettlerfamilie, die mit der Chaise gleichen Schritt hielt, besonders des männlichen Hauptes derselben, das zu glauben schien, es werde hier ein Triumphzug politischer Art gefeiert.

„Mr. Sawyer“ rief Mr. Pickwick daher in großer Aufregung. „Mr. Sawyer! – Sir!“

„Was beliebt?“ fragte Bob mit der größten Kaltblütigkeit von dem Wagendach herunter.

„Sind Sie toll, Sir?“

„Durchaus nicht“, erwiderte Bob, „bloß lustig.“

„Lustig, Sir, nennen Sie das?“ rief Mr. Pickwick. „Nehmen Sie dieses skandalöse rote Tuch da herunter. Ich bitte – ich bestehe darauf. Sam, nimm es weg. – Sofort!“

Ehe noch Sam in Tätigkeit treten konnte, strich jedoch Mr. Bob Sawyer gutwillig die Flagge, steckte sie in die Tasche, nickte Mr. Pickwick freundlich zu, wischte den Mund der Flasche ab und setzte ihn an seinen eigenen, wodurch er Mr. Pickwick ohne allen unnötigen Wortaufwand zu verstehen gab, daß er ihm mit diesem Trunk alles nur erdenkliche Glück und Heil wünsche. Sodann pfropfte er mit großer Sorgfalt die Flasche wieder zu, sah mit holdseliger Freundschaft auf Mr. Pickwick hernieder, tat einen großen Biß in das Butterbrot und lächelte.

„Schon gut“, sagte Mr. Pickwick, dessen augenblicklicher Ärger gegen Bobs unerschütterliche Seelenruhe nicht standzuhalten vermochte, „aber ich bitte, lassen Sie jetzt diese Albernheiten sein, Sir.“

„Ja, das will ich“, erwiderte Bob und gab Mr. Weller seinen Hut zurück, „’s war weiter nicht böse gemeint, aber die Fahrt hat mich so lustig gemacht, daß ich nicht anders konnte.“

„Bedenken Sie nur, was die Leute sagen werden“, stellte ihm Mr. Pickwick vorwurfsvoll vor, „Sie müssen doch auch den Schein wahren.“

„Ja, gewiß“, gab Bob zu, „ich will es nicht wieder tun und midi ganz ruhig verhalten, mein Verehrtester.“

Zufrieden mit dieser Versicherung, zog Mr. Pickwick seinen Kopf wieder zurück und ließ das Fenster herab; kaum aber hatte er die unterbrochene Unterhaltung mit Mr. Allen wieder aufgenommen, als er einigermaßen erschreckt wurde durch das Erscheinen eines kleinen dunklen Körpers von länglicher Gestalt an der Außenseite des Fensters, der wiederholt dagegenschlug, als ob er ungeduldig Einlaß begehrte.

„Was ist denn das?“ rief er erstaunt.

„Sieht aus wie eine Flasche“, meinte Ben Allen und betrachtete den Gegenstand voll Interesse durch seine Brille. „Ich glaube, sie gehört Bob.“

Die Vermutung war vollkommen richtig; denn Mr. Bob Sawyer hatte die Flasche an das Ende seines Stockes gebunden und schlug damit an das Fenster, zum Zeichen, daß er seine Freunde drinnen kameradschaftlich an ihrem Inhalt teilnehmen zu lassen wünschte.

„Was ist da zu tun?“ fragte Mr. Pickwick mit einem Blick auf den länglichen Gegenstand. „Dies Benehmen ist noch weit abgeschmackter als das vorige.“

„Es wird wohl das beste sein“, riet Mr. Ben Allen, „wir nehmen die Flasche herein und behalten sie. Das ist die beste Strafe.“

„Ja, allerdings“, meinte Mr. Pickwick. „Soll ich?“

„Wird sich wohl nichts anderes tun lassen.“

Da der Rat sich vollkommen mit seiner eignen Ansicht deckte, ließ Mr. Pickwick das Fenster leise herab und machte die Flasche von dem Stocke los, worauf dieser wieder hinaufgezogen wurde und man Bob Sawyer fröhlich lachen hörte.

„Ein unglaublich lustiger Bursche“, sagte Mr. Pickwick mit der Flasche in der Hand zu seinem Gefährten. „Man kann ihm nicht böse sein.“

„Nein, schlechterdings nicht“, stimmte Benjamin Allen ein.

Während dieses kurzen Gesinnungsaustausches hatte Mr. Pickwick in der Zerstreutheit den Korken herausgezogen.

„Was ist drin?“ fragte Ben Allen gleichgültig.

„Ich weiß es nicht“, meinte Mr. Pickwick. „Dem Geruch nach scheint es Punsch zu sein.“

„Wahrscheinlich“, bestätigte Ben.

„Es scheint mir wenigstens so“, fuhr Mr. Pickwick, der jederzeit gern bei der Wahrheit blieb, fort. „Gewiß kann ich es zwar nicht zu behaupten wagen, ohne es versucht zu haben.“

„Nun, so tun Sie es“, riet Ben, „dann kommen wir der Sache auf den Grund.“

„Meinen Sie? Nun gut, wenn Sie es gerne wissen möchten, habe ich weiter nichts dagegen.“ – Und stets bereit, seine eigenen Gefühle den Wünschen seiner Freunde unterzuordnen, nahm Mr. Pickwick einen ziemlich langen Schluck.

„Was ist es also?“ forschte Mr. Ben Allen ungeduldig.

„Sonderbar!“ meinte Mr. Pickwick und schmatzte mit den Lippen. „Ich weiß es selbst noch nicht. Doch ja“, fügte er nach einem zweiten Schluck hinzu, „es ist wirklich Punsch.“

Mr. Ben Allen sah Mr. Pickwick an, Mr. Pickwick Ben Allen. Mr. Ben Allen lächelte, Mr. Pickwick hingegen nicht.

„Es würde ihm recht geschehen“, sagte er dann streng, „es würde ihm recht geschehen, wenn wir ihm alles bis auf den letzten Tropfen austränken.“

„Das meine ich auch“, nickte Ben Allen.

„Jaja“, versetzte Mr. Pickwick. „Nun, so lassen Sie uns auf seine Gesundheit trinken.“

Mit diesen Worten nahm der Treffliche einen höchst energischen Schluck und reichte dann Ben Allen die Flasche, der nicht säumte, sein Beispiel nachzuahmen. Das Lächeln wurde gegenseitig und der Punsch allmählich und mit vielem Vergnügen ausgetrunken.

„Bei Licht besehen“, meinte Mr. Pickwick, als er den letzten Tropfen ausschlürfte, „sind seine Possen eigentlich sehr lustig und unterhaltend.“

„Ja, kann man nicht anders sagen“, bekräftigte Mr. Ben Allen.

Und zum Beweis, daß Bob Sawyer einer der drolligsten Burschen sei, die man finden könne, begann er Mr. Pickwick mit einer langen und umständlichen Erzählung zu unterhalten, wie Bob sich einmal ein Fieber an den Hals getrunken und sich dann den ganzen Kopf kahlgeschoren habe – eine wirklich ergötzliche und anmutige Geschichte, deren Vortrag nur durch das Anhalten der Kutsche vor der „Glocke“ in Berkeley Heath unterbrochen wurde, wo die Pferde gewechselt werden sollten.

„Wir werden hier doch natürlich zu Mittag speisen?“ fragte Mr. Sawyer zum Fenster hinein.

„Zu Mittag speisen?“ rief Mr. Pickwick. „Wir haben doch erst neunzehn Meilen zurückgelegt und müssen im ganzen siebenundachtzig und eine halbe machen.“

„Eben deswegen sollten wir uns instand setzen, die Strapazen der Reise zu ertragen“, wendete Bob Sawyer ein.

„Aber es ist ja rein unmöglich, um halb zwölf Uhr zu Mittag zu essen“, stellte Mr. Pickwick vor und sah auf die Uhr.

„Nun, meinetwegen“, versetzte Bob, „so will ich es einen Lunch nennen. Heda, Kellner! Einen Lunch für drei Personen! Die Pferde können noch eine Viertelstunde im Stall bleiben. Man soll alles, was in der Küche ist, auf den Tisch stellen, auch einige Flaschen Ale und euren besten Madeira!“

Die Qualität des Lunchs rechtfertigte vollkommen die Anpreisungen des Kellners, und das Trifolium ließ es sich aufs beste schmecken. Die Flaschen Ale und Madeira waren bald geleert, und als sämtliche Passagiere ihre Sitze eingenommen und Bob die strohumflochtene Flasche mit dem stärksten Punsch, den er in so kurzer Zeit bekommen konnte, angefüllt, erschallte das Klapphorn aufs neue, und die rote Flagge wehte ohne die geringste Einrede von seiten Mr. Pickwicks.

In der „Hopfenstange“ in Tewkesbury wurde Mittag gemacht. Wiederum wurden Ale, ein paar weitere Flaschen Madeira und überdies Portwein getrunken und auch die strohumflochtene Flasche zum vierten Male gefüllt. Unter dem Einfluß dieser vereinigten Stimulantien schlummerten Mr. Pickwick und Mr. Ben Allen dreißig Meilen weit, indes Bob und Mr. Weller auf dem Rücksitz Duette sangen.

Es war schon ganz dunkel, als Mr. Pickwick sich so weit aufraffte, um aus dem Fenster sehen zu können. Die vereinzelten Hütten an der Straße, die tiefen Schatten, aber auch die trübe Atmosphäre und die mit Schmiedekohlenasche und Ziegelmehl bestreuten Wege sowie das tiefrote Glühen der Ofenfeuer in der Ferne, die dicken Rauchwolken, die sich schwerfällig aus den hohen Kaminen wälzten, alles ringsum berußend und verdunkelnd, und schließlich die schweren Wagen, die sich, mit klirrenden Eisenstangen beladen oder mit sonstigen Frachtwaren bis oben angehäuft, langsam auf der Straße hinquälten – alles verkündete ihre schnelle Annäherung an die große Fabrikstadt Birmingham.

Als die Kutsche durch die engen Tore rasselte, die mitten in das Getümmel führten, wurden die Sinne der Herren gewaltsam erweckt durch den Anblick und das Getöse ernster Tätigkeit. Die Straßen waren vollgedrängt von Arbeitern. Lärm drang aus jedem Hause hervor, Lichter glänzten von den langen Fensterflügeln der Dachstöcke her, und das Rumpeln der Räder und das Dröhnen der Maschinen erschütterte die zitternden Wände. Die Feuer, deren trübseligbleicher Schein meilenweit sichtbar gewesen, brannten lodernd in den großen Fabriken und Arbeitshäusern der Stadt. Der Postillion fuhr rasch an den hübschen, hell beleuchteten Läden vorbei, die zwischen den Vorstädten und dem alten Royal-Hotel liegen, ehe noch Mr. Pickwick angefangen hatte, über die höchst heikle Natur des Geschäftes nachzusinnen, das ihn hierhergeführt.

Das Schwierige der Lage wurde durch die freiwillige Mitfahrt Mr. Bob Sawyers keineswegs verringert; im Gegenteil fühlte Mr. Pickwick, daß seine Anwesenheit, so gut gemeint und angenehm sie auch sein mochte, eine Ehre bedeutete, auf die er ganz gern verzichtet hätte.

Er kannte Mr. Winkle senior nicht persönlich und fühlte deutlich, daß, wenn er ihn das erste Mal in Begleitung Bob Sawyers und Ben Allens, die beide etwas benebelt waren, besuchte, dies eben nicht das zweckmäßigste Mittel sein dürfte, ihn zu seinen Gunsten einzunehmen.

„Aber so oder so“, suchte er sich zu beruhigen, „ich muß es so gut machen, wie ich kann. Ich will noch heute abend zu ihm gehen, denn ich habe es heilig versprochen, und wenn die beiden darauf bestehen, mich zu begleiten, so muß ich den Besuch möglichst abkürzen und mich inzwischen mit der Hoffnung begnügen, daß sie sich schon um ihrer selbst willen anständig aufführen werden.“

Während er sich mit solchen Betrachtungen tröstete, hielt der Wagen vor dem „Old Royal“ an. Ben Allen wurde dadurch teilweise aus seinem merkwürdig tiefen Schlafe geweckt und von Mr. Weller am Kragen herausgezogen. Mr. Pickwick war selbst imstande, auszusteigen. Sie wurden in ein behagliches Zimmer gewiesen, und Mr. Pickwick fragte den Kellner sogleich nach Mr. Winkles Wohnung.

Ganz in der Nähe, hieß es. Nicht über fünfhundert Schritte. Mr. Winkle sei Kaimeister am Kanal.

„Bringen Sie auch etwas Sodawasser!“ rief Bob Sawyer dem Kellner nach, frischte damit seine Lebensgeister wieder auf und ließ sich sogar überreden, sich Gesicht und Hände zu waschen und von Sam ausbürsten zu lassen. Dann brachen alle drei Arm in Arm auf, um zu Mr. Winkle senior zu gehen, wobei Bob Sawyer unterwegs die Atmosphäre mit Tabakrauch schwängerte.

Etwa eine Viertelmeile vom Gasthause entfernt, in einer ruhigen, solid aussehenden Straße stand ein altes, aus roten Backsteinen gebautes Haus mit drei Stufen vor der Tür und einer messingnen Platte darüber, die in großen lateinischen Buchstaben das Wort „Winkle“ zeigte.

Die Stufen waren sehr weiß, die Ziegel sehr rot, das Haus sehr niedlich, und Mr. Pickwick, Benjamin Allen und Bob Sawyer standen davor, als die Glocke bereits zehn Uhr schlug.

Ein hübsches Dienstmädchen erschien auf ihr Klopfen und fuhr zurück, als sie die drei Fremdlinge erblickte.

„Ist Mr. Winkle zu Hause, mein liebes Kind?“ fragte Mr. Pickwick.

„Er hat sich soeben zu Tisch gesetzt, Sir“, erwiderte das Mädchen.

„Geben Sie ihm doch gefälligst diese Karte und sagen Sie ihm, es tue mir leid, ihn so spät noch stören zu müssen, allein es liege mir so viel daran, ihn heute nacht noch zu sehen, und ich sei soeben erst angekommen.“

Das Mädchen blickte schüchtern an Mr. Bob Sawyer hinauf, der durch allerhand wunderliche Grimassen seine Bewunderung für ihre persönlichen Reize ausdrückte, warf dann einen besorgten Blick auf die im Gange hängenden Hüte und Überröcke und rief einem andern Mädchen zu, achtzugeben, indes sie hinaufginge. Im Augenblick kehrte sie jedoch zurück, bat die Herren um Entschuldigung, daß sie sie habe auf der Straße warten lassen, und führte sie in einen mit Läufern belegten Warteraum, der halb eine Amtsstube, halb ein Toilettenzimmer zu sein schien. „Es tut mir sehr leid, daß ich Sie vor der Tür hab stehenlassen“, sagte sie nochmals und zündete eine Lampe an, „aber es gibt so viele Landstreicher, die immer was wegfischen wollen, so daß ich wirklich …“

„Sie brauchen sich nicht im geringsten zu entschuldigen, liebes Kind“, unterbrach sie Mr. Pickwick freundlich.

„Nein, durchaus nicht, mein Schätzchen“, setzte Bob Sawyer hinzu, breitete scherzend die Arme aus und hüpfte von einer Seite auf die andre, um sie nicht hinauszulassen.

Die junge Dame ließ sich jedoch durch alle diese Lockungen nicht im mindesten zur Milde stimmen, drückte ein für allemal ihre Meinung dahin aus, Mr. Bob Sawyer sei ein höchst widerwärtiger, unverschämter Mensch, und als er mit seinen Aufmerksamkeiten immer zudringlicher wurde, schlug sie ihm ihre schönen Finger ins Gesicht und rannte unter vielen Ausdrücken der Abneigung und Verachtung aus dem Zimmer.

Nachdem Mr. Bob Sawyer der Gesellschaft der jungen Dame beraubt war, begann er sich die Zeit damit zu vertreiben, daß er in ein Pult hineinschaute, sämtliche Schubfächer durchsuchte, scheinbar Anstalten machte, das Schloß der eisernen Geldkiste aufzudrücken, den Kalender umdrehte, Mr. Winkle seniors Stiefel über seine eigenen anprobierte und mit den andern Hausgerätschaften auch sonst noch allerlei humoristische Experimente anstellte, die Mr. Pickwick mit unaussprechlicher Angst und wahrem Schauder erfüllten, ihn selbst aber ungemein zu ergötzen schienen.

Endlich ging die Tür auf, und herein wackelte, Mr. Pickwicks Karte in der einen Hand und einen silbernen Leuchter in der anderen haltend, ein kleiner alter Herr mit kahlem Kopf und einem Gesicht, das ein getreues Gegenstück zu dem seines Sohnes war.

„Ah, wie befinden Sie sich, Mr. Pickwick?“ begann er sofort, stellte den Leuchter weg und streckte die Hand aus. „Ich hoffe, Sie recht wohl zu sehen. Freut mich sehr. Setzen Sie sich doch, Mr. Pickwick; ich bitte, Sir. Dieser Herr ist –“

„– mein Freund, Mr. Sawyer“, fiel Mr. Pickwick ein, „auch ein Freund Ihres Sohnes.“

„Hm!“ meinte Mr. Winkle senior mit einem ziemlich grämlichen Blick auf Bob. „Sie befinden sich doch wohl, Sir?“

„Wie der Fisch im Wasser“, erwiderte Bob Sawyer.

„Der andere Herr hier“, fuhr Mr. Pickwick fort, „ist, wie Sie aus dem mir anvertrauten Briefe ersehen werden, ein sehr naher Verwandter, oder, ich sollte vielmehr sagen, ein ganz intimer Freund Ihres Sohnes. Er heißt Allen.“

„Dieser Herr da?“ fragte Mr. Winkle, mit der Karte auf Ben Allen deutend, der auf einem Stuhl eingeschlafen war, so daß man nichts von ihm sah als seinen Rücken und seinen Rockkragen.

Mr. Pickwick war im Begriff, die Frage zu beantworten und Mr. Benjamin Allens ehrenwerten Stand und andere ausgezeichnete Eigenschaften lang und breit herzuzählen, als Mr. Bob Sawyer in seinem Mutwillen seinen Freund, um ihn zum Bewußtsein seiner Lage zu bringen, dermaßen in den fleischigen Teil seines Armes kniff, daß er zusammenschrak und mit einem lauten Schrei in die Höhe fuhr. Als er bemerkte, daß ein Unbekannter anwesend war, sprang er auf, schüttelte Mr. Winkle äußerst verbindlich fünf Minuten lang beide Hände, murmelte in einigen halbverständlichen Satzfragmenten sein unendliches Vergnügen, ihn zu sehen, und die gastfreundliche Frage, ob er nicht vielleicht nach seiner weiten Reise eine Erfrischung annehmen wolle oder es vorziehe, bis zum Mittagessen zu warten, setzte sich dann wieder und starrte mit verglasten Augen umher. Dies alles brachte Mr. Pickwick natürlich in die peinlichste Verlegenheit, zumal da Mr. Winkle senior das unverkennbarste Erstaunen über das exzentrische Benehmen seiner zwei Gefährten an den Tag legte. Um der Sache ein schnelles Ende zu machen, zog er einen Brief aus der Tasche und überreichte ihn mit den Worten:

„Hier ist ein Brief von Ihrem Sohne, Sir. Sie werden daraus ersehen, daß sein ganzes Lebensglück und seine ganze fernere Existenz von Ihrer wohlwollenden und väterlichen Erwägung seines Inhalts abhängen. Haben Sie die Güte, ihn ruhig durchzulesen und nachher den Gegenstand in dem Tone und Geist mit mir zu besprechen, in dem dergleichen Dinge allein besprochen werden dürfen. Wie hochwichtig Ihre Entscheidung für Ihren Sohn ist und mit welcher Angst er derselben entgegensieht, mögen Sie daraus schließen, daß ich Ihnen in so später Stunde ohne vorhergegangene Anmeldung und“ – fügte Mr. Pickwick mit einem flüchtigen Blick auf seine zwei Begleiter hinzu – „unter so ungünstigen Umständen meine Aufwartung mache.“

Nach dieser Einleitung legte Mr. Pickwick vier enggeschriebene Seiten extrasuperfeinen flordünnen Briefpapieres in die Hände des erstaunten Mr. Winkle senior, setzte sich sofort wieder auf seinen Stuhl und beobachtete Mienen und Benehmen des Kaimeisters zwar einigermaßen ängstlich, jedoch mit der Offenheit eines Mannes, der sich bewußt ist, nichts getan zu haben, was einer Entschuldigung oder Bemäntelung bedurft hätte.

Der alte Herr drehte den Brief um und um, besah ihn von vorn, von hinten und von der Seite, stellte eine mikroskopische Untersuchung des dicken Bübchens auf dem Siegel an, warf einen durchdringenden Blick auf Mr. Pickwick, setzte sich dann an das Schreibpult, zog die Lampe näher heran, erbrach das Siegel, öffnete den Brief, hielt ihn hoch an das Licht und schickte sich an zu lesen.

Gerade in diesem Augenblick stützte Mr. Bob Sawyer, dessen Witz einige Minuten lang geruht hatte, die Hände auf seine Knie und schnitt ein Gesicht, wie man es ungefähr auf den Porträts des seligen Mr. Grimaldi als Clown sehen kann. Statt daß aber Mr. Winkle senior, wie er meinte, tief im Lesen des Briefes versunken war, blickte er über den Rand desselben hinaus. Da er nun einigermaßen mit Recht schloß, besagte Grimasse habe den Zweck, ihn zu verhöhnen, so heftete er seine Augen mit solch ausdrucksvoller Strenge auf Bob, daß die Züge des seligen Mr. Grimaldi sich allmählich wieder in einen Ausdruck der Demut und Beschämtheit auflösten.

„Haben Sie etwas gesagt, Sir?“ fragte Mr. Winkle senior nach einer unheimlichen Pause.

„Nein, Sir“, erwiderte Bob, der nichts mehr von dem Clown an sich hatte, als einzig und allein die feurige Röte seiner Wangen.

„Sie haben wirklich nichts gesagt, Sir?“

„O nein, ganz gewiß nicht, Sir“, erwiderte Bob.

„Ich meinte doch, Sir“, versetzte der alte Herr mit unwilligem Ausdruck. „Sie haben mich doch angesehen, Sir?“

„Bitte um Verzeihung, Sir; ganz und gar nicht“, erwiderte Bob mit äußerster Höflichkeit.

„Na, das freut mich, Sir“, brummte Mr. Winkle senior, und nachdem er dem gedemütigten Bob mit großer Würde noch einen Zornblick zugeworfen, hielt er den Brief wieder ans Licht und begann mit vielem Ernst zu lesen.

Mr. Pickwick beobachtete ihn mit großer Spannung, als er von der untersten Linie der ersten Seite auf die oberste der zweiten und von der untersten der zweiten auf die oberste der dritten und von der untersten der dritten auf die oberste der vierten überging; aber nicht die geringste Veränderung in seinen Mienen gab ihm einen Schlüssel, mit welchen Gefühlen er die Nachricht von seines Sohnes Verheiratung aufnahm, die, wie Mr. Pickwick wußte, gleich in den ersten sechs Zeilen stehen mußte.

Er las den Brief vielmehr bis zum letzten Wort, legte ihn mit der ganzen Sorgfalt und Pünktlichkeit eines Geschäftsmannes wieder zusammen, und als Mr. Pickwick endlich einen Gefühlsausbruch erwartete, tunkte er seine Feder in das Tintenfaß und sagte so ruhig, als ob es sich um das allergewöhnlichste geschäftliche Ereignis handelte:

„Nathaniels Adresse, Mr. Pickwick?“

„Gegenwärtig ,Georg und Geier‘.“

„,Georg und Geier‘? Wo ist das?“

„George Yard, Lombardstreet.“

„In der City?“

„Ja.“

Der alte Herr schrieb methodisch die Adresse auf den Rücken des Briefes, legte ihn dann in sein Pult, verschloß es und sagte, als er aufstand und den Schlüsselbund in seine Tasche steckte:

„Sie haben ohne Zweifel nichts mehr hinzuzufügen, was uns aufhalten könnte, Mr. Pickwick?“

„Ganz und gar nichts, mein werter Herr“, bemerkte der warmherzige Mann in unmutigem Erstaunen, „ganz und gar nichts! – Aber beliebt es Ihnen nicht vielleicht, Ihre Meinung über dieses wichtige Ereignis im Leben unseres jungen Freundes mir gegenüber auszusprechen? Wollen Sie ihm nicht vielleicht durch mich die Versicherung Ihrer fortdauernden Liebe und väterlichen Unterstützung zukommen lassen? Haben Sie ihm nichts zu sagen, was ihn und die junge Dame, die angstvoll auf Trost und Ermutigung hofft, erfreuen und aufrecht halten könnte. Überlegen Sie es doch, mein werter Herr.“

„Ich werde es mir allerdings überlegen“, antwortete der alte Herr. „Für den Augenblick aber habe ich nichts zu sagen. Ich bin Geschäftsmann, Mr. Pickwick, und lasse mich nie Hals über Kopf über eine Sache aus; aber soweit sie mir jetzt bekannt ist, will sie mir durchaus nicht gefallen. Tausend Pfund ist nicht viel, Mr. Pickwick!“

„Sie haben vollkommen recht, Sir“, fiel Ben Allen ein, der gerade wach genug war, um sich zu erinnern, daß er seine tausend Pfund ohne die geringste Schwierigkeit durchgebracht hatte. „Sie sind ein gescheiter Mann. Bob, der Herr da ist wahrhaftig nicht auf den Kopf gefallen.“ „Ich schätze mich sehr glücklich, daß Sie mir diese Gerechtigkeit widerfahren lassen, Sir“, sagte Mr. Winkle senior mit einem verächtlichen Blick auf Ben Allen, der eben weise den Kopf schüttelte. „Die Sache ist die, Mr. Pickwick: Als ich meinem Sohn die Erlaubnis gab, auf ein Jahr zu reisen und sich in der Welt umzusehen – was er unter Ihren Auspizien getan hat –, damit er nicht wie ein soeben aus der Schule gekommener Gelbschnabel ins Leben treten und sich vom nächsten besten übers Ohr hauen lassen sollte, da habe ich dies durchaus nicht mit in Berechnung gezogen. Er weiß das sehr gut, und wenn ich jetzt die Hand von ihm abziehe, hat er kein Recht, sich zu wundern. Er soll von mir hören, Mr. Pickwick. Gute Nacht, Sir. Margarethe, öffnen Sie die Tür.“

Bob Sawyer hatte die ganze Zeit über seinen Freund mit dem Ellenbogen gestoßen, damit er ein begütigendes Wort einlegen solle, und demgemäß brach jetzt Ben, ohne die geringste Einleitung, in eine Art kurzer, aber nachdrucksvoller Beredsamkeit aus.

„Sir“, sagte er und sah dabei den alten Herrn mit höchst trüben Augen an. „Sir, Sie sollten sich schämen.“

„Als der Bruder der jungen Dame sind Sie natürlich ein vortrefflicher Richter in der Sache“, unterbrach ihn Mr. Winkle senior. „Gut, schon genug. Ich bitte, kein Wort mehr, Mr. Pickwick. Gute Nacht, meine Herren.“

Mit diesen Worten nahm der Alte den Leuchter, öffnete die Tür und bewegte sich gemessen dem Gang zu.

„Sie werden diesen Schritt noch bereuen, Sir“, sagte Mr. Pickwick und biß die Zähne zusammen, um seinen Zorn niederzuhalten, denn er fühlte, wie wichtig dieser Auftritt für seinen jungen Freund sein mußte.

„Ich bin vorderhand andrer Meinung“, erwiderte Mr. Winkle senior kaltblütig. „Noch einmal, meine Herren, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“

Mr. Pickwick ging mit zornigen Schritten auf die Straße. Bob Sawyer, durch die Entschiedenheit des alten Herrn gänzlich niedergedrückt, nahm denselben Weg; Mr. Ben Allens Hut war unmittelbar darauf die Treppe hinuntergerollt, und sein Körper folgte sogleich nach. Alle drei gingen dann stumm und ohne Abendessen zu Bett, und Mr. Pickwick sagte sich vor dem Einschlafen, wenn er gewußt hätte, daß Mr. Winkle senior so durch und durch Geschäftsmann sei, würde er höchstwahrscheinlich niemals mit einem solchen Auftrag zu ihm gefahren sein.

Achtundvierzigstes Kapitel


Achtundvierzigstes Kapitel

Mr. Pickwick trifft einen alten Bekannten.

Der Morgen, der um acht Uhr über Mr. Pickwicks Haupt hereinbrach, war keineswegs danach angetan, seinen Mut zu heben oder die Niedergeschlagenheit, in die ihn sein unvorhergesehener Mißerfolg versetzt hatte, zu vermindern. Der Himmel war düster und trübe, die Luft feucht und rauh, die Straße naß und kotig. Schwerfällig hing der Rauch über den Schornsteinen, als gebräche es ihm an Mut, aufzusteigen, und der Regen fiel langsam und verdrossen herab, als hätte er keine rechte Lust, sich zu ergießen. Im Hof stand der Haushahn, ohne einen Funken seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit, verdrießlich auf einem Bein in einem Winkel, lind der Eselhengst döste gesenkten Hauptes unter dem schmalen Dach des Holzschuppens; nach seinem grüblerischen, jammervollen Gesichtsausdruck zu urteilen, erwog er Selbstmord. Auf der Straße sah man nichts als Regenschirme, und die einzigen Töne, die sich vernehmen ließen, waren das Schlapfen von Überschuhen und das Plätschern der Dachrinnen.

Das Frühstück wurde sehr wenig durch Unterhaltung gewürzt, und selbst Mr. Bob Sawyer empfand den Einfluß des Wetters und die Nachwehen des letzten Tages. Er war, wie er sich ausdrückte, zerschmettert. Ebenso ging es Mr. Ben Allen und besonders Mr. Pickwick.

In der Erwartung, das Wetter werde sich aufhellen, wurde das neueste Londoner Abendblatt mit einem Eifer und Interesse gelesen, wie sich dies nur in Fällen äußerster Verwahrlosung denken läßt; mit gleicher Beharrlichkeit wurde jeder Zoll des Bodens auf und ab geschritten, alle Augenblicke zum Fenster hinausgesehen und jedes mögliche Zerstreuungsmittel ausfindig gemacht. Endlich, zu Mittag, ohne daß das Wetter sich geändert hätte, zog Mr. Pickwick entschlossen die Klingel und bestellte einen Wagen.

Obgleich die Straßen schmutzig waren, der Sprühregen heftiger als bisher fiel und Kot und Nässe durch die offenen Fenster des Wagens hereinspritzten, so daß die drinnen Sitzenden fast ebensosehr dadurch belästigt wurden wie die beiden auf dem Rücksitz, war man doch jedenfalls in frischer Luft, und das Gefühl, unterwegs zu sein und Bewegung zu haben, was so unendlich angenehmer ist als das Eingeschlossensein in einer trüben Stube, von der aus man nur den Regen herabträufeln sehen kann, nötigte ihnen allen das Geständnis ab, daß sie durch den Tausch viel gewonnen hätten und eigentlich selbst nicht wüßten, wie sie dazu gekommen waren, solange mit dem Aufbruch zu zögern.

Als sie in Coventry anhielten, um die Relais zu wechseln, stieg der Dampf in solchen Wolken von den Pferden auf, daß der Hausknecht ganz unsichtbar wurde und man ihn wie aus dem Nebel heraus erklären hörte, er erwarte bei der nächsten Preisverteilung die erste goldene Medaille von dem Rettungsverein dafür, daß er dem Postillion den Hut abgenommen habe; denn von dem Rande desselben ströme, versicherte er, eine solche Wassermasse herab, daß er unfehlbar ertrunken wäre, wenn er ihm ihn nicht, kraft großer Geistesgegenwart, schnell vom Kopfe gerissen und das Gesicht mit einem Strohwisch abgetrocknet hätte.

„Eine erbauliche Fahrt das“, meinte Bob Sawyer, schlug sich den Rockkragen hoch und verhüllte sich den Mund mit dem Schal, um die Düfte eines soeben heruntergeschluckten Glases Branntwein zu kondensieren.

Die nächste Station war Daventry, die folgende Towcester, und es regnete immer heftiger.

„Ich konstatiere“, bemerkte Bob Sawyer zum Kutschenfenster hinein, als sie vor dem „Türkenkopf“ in Towcester anhielten, „ich konstatiere, daß man so nicht Weiterreisen kann.“

„Ja, wahrhaftig“, bestätigte Mr. Pickwick, der eben aus einem Schläfchen erwachte, „ich fürchte, Sie sind durch und durch naß.“

„Ja, das bin ich“, knurrte Bob und schüttelte sich, daß es nur so sprühte, „naß wie ein Neufundländer, den man ins Wasser geworfen hat.“

„Ich halte es auch für rein unmöglich, heute nacht weiterzureisen“, mischte sich Ben ein.

„Also gut“, gab Mr. Pickwick nach, „bleiben wir hier; aber irgendwie muß ich einen Brief nach London absenden, damit er morgen in aller Frühe bestellt wird. Wenn das nicht möglich sein sollte, müssen wir unter allen Umständen weiterfahren.“

Der Wirt lächelte vergnügt. Nichts sei leichter, als einen Brief in einen Bogen Packpapier einzuschlagen und entweder mit der Post oder mit der Nachtdiligence nach Birmingham weiterzubefördern, meinte er.

„Gut“, sagte Mr. Pickwick, „dann bleiben wir also hier.“

Licht wurde gebracht, die Glut geschürt und ein frisches Scheit hineingeworfen. In zehn Minuten deckte ein Kellner den Tisch zum Mittagessen, das Feuer flackerte lustig, und alles sah aus, als ob die Reisenden schon seit mehreren Tagen erwartet worden wären.

Mr. Pickwick setzte sich an einen Seitentisch und schrieb schnell ein paar Zeilen an Mr. Winkle, in denen er ihm kurz meldete, er sei durch das Unwetter zurückgehalten worden, werde sich aber unfehlbar am folgenden Tag in London einfinden. Dort wolle er ihm über den Erfolg seiner Reise weiterberichten.

Sam übergab den Brief der Wirtin, und nachdem er sich selbst am Küchenfeuer getrocknet hatte, wollte er zurückkehren, um seinem Herrn die Stiefel auszuziehen; da erblickte er zufällig durch eine halboffene Tür hindurch einen rothaarigen Herrn, der einen großen Pack Zeitungen auf dem Tisch vor sich liegen hatte und den Leitartikel in einer derselben mit sichtlichem Ingrimm las, wobei seine Nase und sein ganzes Gesicht sich zu einem geringschätzigen Ausdruck von Verachtung verzogen.

„Hallo!“ rief Sam. „Ich nehme an, den Kopf und das Gesicht da sollte ich wohl kennen; auch das Augenglas und den breitkrempigen Deckel! Das war doch in Eatanswill – oder ich will katholisch werden.“

Dann wurde er plötzlich von einem heftigen Husten befallen, der die Aufmerksamkeit des Herrn erregte und die gedankentiefen, durchgeistigten Züge Mr. Potts, Herausgebers der „Eatanswiller Gazette“, sehen ließ.

„Pardon, Sir“, sagte Sam, „mein Herr ist hier, Mr. Pott.“

„Pst, pst!“ rief der Publizist, zog Sam ins Zimmer und schloß die Tür, wobei sich geheimnisvolle Besorgnis in seinen Mienen abmalte. „Nennen Sie meinen Namen nicht. Hier ist alles gelb. Wenn der leicht erregbare Pöbel wüßte, daß ich hier bin, er würde mich in Stücke reißen.“

„Meinen Sie wirklich?“

„Ja, ich würde das Opfer der Volkswut werden. Übrigens, junger Mann, was macht Ihr Herr?“

„Er is auf der Reise nach London begriffen und übernachtet hier mit ’n paar Freunden.“

„Ist Mr. Winkle dabei?“ fragte Pott mit leichtem Stirnrunzeln.

„Nö“, erwiderte Sam, „Mr. Winkle bleibt jetzt zu Hause; er is verheiratet.“

„Verheiratet?“ rief Pott mit schreckenerregender Heftigkeit, schwieg dann eine Weile, lächelte düster und ’setzte in tiefem, rachsüchtigem Tone hinzu: „Das geschieht ihm recht.“

Da seine Frage, ob Mr. Pickwicks Freunde blau seien, von Sam, der so wenig von der Sache wußte wie irgend jemand, bejahend beantwortet wurde, entschloß er sich, ihn zu Mr. Pickwick zu begleiten, der ihn aufs herzlichste begrüßte und darauf bestand, daß sie alle gemeinsam zu Mittag speisen sollten.

„Und wie steht’s denn in Eatanswill?“ fragte der liebenswürdige alte Herr, als Pott einen Stuhl ans Feuer gerückt und die ganze Gesellschaft die nassen Stiefel aus- und trockene Pantoffeln angezogen hatte. „Existiert der ,Independent‘ noch?“

„Der ,Independent, Sir“, erwiderte Pott, „schleppt noch immer sein elendes, erlöschendes Dasein hin, verabscheut und verachtet selbst von den Wenigen, denen seine schmachvolle, erbärmliche Existenz bekannt ist, erstickt in demselben Schmutz, mit dem er so reichlich um sich wirft.

Taub und blind gemacht durch die faulen Dünste seines eigenen Unrats, versinkt dieses Mistblatt, sich seiner Verkommenheit nicht einmal bewußt, rasch in dem verräterischen Schlamme, der, obgleich er ihm bei den niedrigen und verderbten Klassen der Gesellschaft einen festen Standpunkt zu geben scheint, gleichwohl über sein verruchtes Haupt hinauswächst und es bald auf ewig verschlingen wird.“

Nachdem der Zeitungsheld dieses Manifest – einen Teil seines Leitartikels der letzten Woche – mit Heftigkeit von sich gegeben, schwieg er, um Atem zu schöpfen, und blickte Bob Sawyer majestätisch an.

„Sie sind ein noch junger Mann, Sir“, sagte er nach einer Weile.

Bob Sawyer nickte.

„Und Sie auch, Sir“, fuhr Pott, zu Mr. Ben Allen gewendet, fort.

Ben lächelte stumm.

„Und Sie sind auch beide tief durchdrungen von den blauen Prinzipien, zu deren Aufrechterhaltung und Verfechtung ich mich, solange ich lebe, der Bevölkerung dieser vereinigten Königreiche gegenüber anheischig gemacht habe?“

„Natürlich“, erwiderte Bob Sawyer, „ich verstehe nur die Sache nicht recht, ich bin …“

„Doch nicht gelb, Mr. Pickwick?“ unterbrach ihn Pott und wich mit seinem Stuhl zurück. „Ihr Freund ist doch nicht gelb, Sir?“

„Nein, nein“, versicherte Bob, „ich bin in diesem Augenblick mehr schottisch – gewürfelt, sozusagen ein Gemisch von allen möglichen Farben.“

„Also ein Schwankender“, erklärte Pott feierlich, „ein Schwankender. Ich möchte Ihnen eine Reihe von acht Artikeln vorlegen, Sir, die in der ,Eatanswiller Gazette‘ erschienen sind. Ich glaube behaupten zu dürfen, daß Sie dann bald Ihre Ansichten auf eine feste und solide Basis gründen würden, Sir.“

„Und ich“, antwortete Bob, „glaube behaupten zu dürfen, daß ich sehr blau würde, noch lange, ehe ich sie ganz gelesen hätte.“

Mr. Pott blickte Bob Sawyer noch einige Sekunden lang zweifelnd an, wandte sich dann zu Mr. Pickwick und fragte:

„Sie haben doch die literarischen Artikel gelesen, die im Laufe der letzten drei Monate in der ,Eatanswiller Gazette‘ erschienen sind und eine allgemeine, ich kann wohl sagen universelle Aufmerksamkeit und Bewunderung erregt haben?“

„Ich muß gestehen“, entschuldigte sich Mr. Pickwick, durch die Frage einigermaßen verlegen, „ich muß gestehen, ich war anderweitig so in Anspruch genommen, daß ich wirklich keine Zeit hatte, sie zu lesen.“

„Sie sollten so etwas nicht unterlassen, Sir“, ermahnte Pott mit strenger Miene.

„Ja, Sie haben recht“, gestand Mr. Pickwick.

„Sie sind in der Form einer ausführlichen Kritik eines Werkes über die chinesische Metaphysik erschienen“, fuhr Pott fort.

„Was Sie sagen?! Und hoffentlich aus Ihrer Feder?“

„Aus der meines Rezensenten, Sir“, antwortete Pott mit Würde.

„Und wahrscheinlich sehr gelehrt abgefaßt?“

„Ja, ungeheuer“, antwortete Pott, unendlich weise um sich blickend. „Er ochste aber auch gehörig, um sich eines technischen, aber bezeichnenden Terminus zu bedienen; er las zu diesem Behuf auf mein Verlangen in, der ,Encyclopaedia britannica‘ nach.“

„Wirklich?“ staunte Mr. Pickwick. „Ich wußte gar nicht, daß dieses unschätzbare Werk auch Nachweise über die chinesische Metaphysik enthält.“

„Ja, Sir“, erklärte Pott, legte seine Hand auf Mr. Pickwicks Knie und blickte mit einem Lächeln geistiger Überlegenheit um sich, „er las über die Metaphysik unter dem Buchstaben M und über China unter dem Buchstaben C nach und machte so einen eigenen Artikel zurecht.“

Die Züge des Publizisten nahmen bei dieser Erinnerung an den gelehrten Erguß etwas so Überwältigendes an, daß einige Minuten verstrichen, bevor Mr. Pickwick sich kühn genug fühlte, das Gespräch fortzusetzen. Endlich, als sich das Gesicht Potts allmählich wieder zu seinem gewöhnlichen Ausdruck geistiger Überlegenheit glättete, wagte er es, die Unterhaltung durch die Frage anzuknüpfen:

„Dürfte ich wohl erfahren, welch großer Zweck Sie so weit von Hause weggeführt hat?“

„Derselbe Zweck, der mich bei all meiner Arbeitslast anstachelt und beseelt“, erwiderte Pott mit ruhigem Lächeln, „das Wohl meines Vaterlandes.“

„Ich dachte mir gleich, es sei irgendeine öffentliche Mission.“

„Ja, Sir, das ist es auch“, bejahte Pott, beugte sich zu Mr. Pickwick nieder und flüsterte ihm mit tiefer, hohler. Stimme zu:

„Die Gelben haben morgen abend in Birmingham einen Ball.“

„Was Sie nicht sagen!“ rief Mr. Pickwick.

„Ja, Sir, und ein Souper.“

„Ah.“

Pott nickte mit unheilverkündender Miene.

Obgleich sich Mr. Pickwick stellte, als wäre er durch diese Eröffnungen sehr überrascht, so war er doch mit der Lokalpolitik zuwenig vertraut, als daß er sich schlechterdings von der Wichtigkeit der schrecklichen Verschwörung einen richtigen Begriff hätte machen können, auf die hier angespielt wurde. Mr. Pott bemerkte es auch, zog die letzte Nummer der „Eatanswiller Gazette“ aus der Tasche und las zur näheren Aufklärung seines Freundes folgenden Artikel vor:

„WINKELGELBTUM

Ein Ungeziefer, ein böser, schädlicher Wurm von Kollega hat vor kurzem sein schwarzes Gift ausgespien, in dem eitlen, hoffnungslosen Versuch, den guten Namen unseres ausgezeichneten und vortrefflichen Deputierten, Mr. Slumkeys, Hochwohlgeboren, zu besudeln – desselben Slumkey, von dem wir lange, bevor er seine gegenwärtige hohe Stellung errungen, vorausgesagt, er werde werden, was er jetzt ist, ein Ehrenpfeiler seines Landes, sein stolzester Ruhm, sein kühnster Verteidiger und seine herrlichste Zierde. Unser ungezieferartig denkender Kollega, sagen wir, hat sich lustig gemacht über einen plattierten, herrlich gearbeiteten Kohlenkübel, der diesem glorreichen Mann von seinen begeisterten Wählern überreicht worden ist und zu dessen Ankauf, wie der namenlose Wicht lästert, Mr. Slumkey, Hochwohlgeboren, selbst heimlich mehr als drei Viertel der ganzen Summe zugeschossen habe. Wie!? Sieht denn dieses kriechende Geschmeiß nicht, daß selbst wenn dies wahr wäre, Mr. Slumkey, Hochwohlgeboren, uns in einem um so freundlicheren und strahlenderen Lichte erscheinen müßte? Sieht sein Stumpfsinn nicht einmal so viel ein, daß der liebenswürdige, rührende Wunsch, dem Sehnen seiner Wähler entgegenzukommen, ihn den Herzen und Seelen derjenigen seiner Mitbürger nur noch teurer machen muß, die nicht verächtlicher sind als Schweine, oder, mit anderen Worten, die nicht ebenso niederträchtig sind wie unser Kollega? Aber das sind eben die elenden, betrügerischen Kunstgriffe des Winkelgelbtums! Verrat ist sein Losungswort. Wir verkünden es kühnlich und sagen es frei heraus, jetzt, wo wir uns unter den Schutz des ganzen Landes und seiner Behörden stellen dürfen – wir verkünden es kühnlich, daß in diesem Augenblick geheime Vorbereitungen getroffen werden zu – einem Balle der Gelben, der in einer gelben Stadt mitten im Herzen und Zentrum einer gelben Bevölkerung gehalten, von einem gelben Arrangeur geleitet, von vier ultragelben Parlamentsmitgliedern besucht werden soll, und zu dem man den Zutritt nur vermöge gelber Einlaßkarten erlangen kann. Möge unser feindlicher Kollega sich winden in unmächtigem Grimm, wenn wir es niederschreiben: ,Wir werden auch dabeisein.‚“

„Sehen Sie, Sir“, sagte Pott und faltete ganz erschöpft das Blatt zusammen, „so stehen die Sachen.“

In diesem Augenblick fingen der Wirt und der Kellner an, das Mittagessen aufzutragen, was Mr. Pott nötigte, den Finger auf die Lippen zu legen, zum Zeichen, daß er sein Leben in Mr. Pickwicks Hände gelegt habe. Die Herren Bob Sawyer und Benjamin Allen, die während der Verlesung des Artikels und der darauf folgenden Erörterung unehrerbietigerweise eingeschlafen waren, wurden durch das bloße Geflüster des Zauberwortes „Mittagessen“ erweckt und entwickelten dabei einen gesegneten Appetit.

Im Verlauf des Essens und der darauffolgenden Sitzung erklärte Mr. Pott, der sich zuweilen zu häuslichen Themen herabließ, seinem Freunde Mr. Pickwick, die Luft in Eatanswill sei seiner Gemahlin nicht gut bekommen, und sie mache deswegen eine Reise in die verschiedenen fashionablen Bäder, um ihre gewohnte Gesundheit und Munterkeit wiederzuerlangen – eine höchst zarte Verschleierung der Tatsache, daß Mrs. Pott ihre oft wiederholte Scheidungsdrohung endlich ausgeführt und ihr Bruder, der Leutnant, mit ihrem Manne eine Übereinkunft abgeschlossen hatte, kraft deren sie sich nebst ihrer getreuen Leibwache von ihrem Gatten trennte und die Hälfte seines jährlichen Einkommens aus dem Verlag der „Eatanswiller Gazette“ erhielt.

Während der große Publizist bei diesen und ähnlichen Themen verweilte und die Unterhaltung von Zeit zu Zeit mit verschiedenen Auszügen aus den Resultaten seiner nächtlichen Studien belebte, fragte ein griesgrämiger Passagier aus dem Fenster einer von London angelangten Postkutsche heraus, ob er, für den Fall, daß er übernachten wolle, die nötigen Bequemlichkeiten, nämlich Bett und Bettstelle, bekommen könne. „Gewiß, Sir“, erwiderte der Wirt.

„Bestimmt?“ fragte der Fremde, der von Natur aus ungemein argwöhnisch zu sein schien.

„Sie können sich darauf verlassen, Sir“, beteuerte der Wirt.

„Nun gut, Postillion, ich bleibe hier. Schaffner, meinen Mantelsack.“

Der fremde Gentleman wünschte sodann den andern Passagieren auf eine etwas spitze Weise gute Nacht und stieg aus.

Er war von untersetzter Statur und hatte straffes schwarzes Haar, das nach Stachelschweins- oder Stiefelbürstenart zugeschnitten war und wie gesträubt emporstand. Sein Auftreten war pomphaft und drohend, sein Benehmen gebieterisch, die Augen blickten scharf und unruhig, und sein ganzes Wesen verkündete große Zuversichtlichkeit sowie das Bewußtsein unermeßlicher Überlegenheit über alle Menschen.

Man wies ihn in das Zimmer, das ursprünglich für den patriotischen Mr. Pott bestimmt gewesen war, und der Kellner konstatierte, als er kaum die Lichter angezündet hatte, in dumpfem Erstaunen das sonderbare Zusammentreffen, daß der Gentleman in seinen Hut griff, eine Zeitung hervorzog und mit demselben Ausdruck unwilliger Verachtung, die eine Stunde zuvor auf Potts majestätischen Zügen gelegen, zu lesen begann. Er bemerkte auch, daß, während Mr. Potts Verachtung durch eine Zeitung, betitelt „Eatanswiller Independent“, rege gemacht worden war, der zermalmende Hohn dieses Gentlemans durch eine Zeitung erweckt wurde, die sich die „Eatanswiller Gazette“ nannte.

„Schicken Sie den Wirt!“ befahl der Fremde.

„Sehr wohl, Sir.“

Der Wirt wurde gerufen und erschien.

„Sind Sie der Wirt?“ fragte der Gentleman.

„Zu dienen, Sir.“

„Kennen Sie mich?“

„Habe nicht das Vergnügen, Sir“, erklärte der Wirt.

„Mein Name ist Slurk!“

Der Wirt neigte den Kopf ein wenig.

„Slurk, Sir“, wiederholte der Gentleman hochmütig. „Kennen Sie mich jetzt, Mann?“

Der Wirt kratzte sich am Kopf, blickte zur Decke empor, sah dann den Fremdling an und lächelte gezwungen.

„Kennen Sie mich, Mann?“

Der Wirt strengte sich gewaltig an und erwiderte endlich: „Nein, Sir, ich kenne Sie nicht.“

„Gott im Himmel“, rief der Fremde und schlug mit der Faust auf den Tisch, „und das nennt man Popularität! – Das also – das ist der Dank für jahrelange Mühe und Arbeit zu Nutz und Frommen der Massen. Ich steige durchnäßt und müde aus; keine enthusiastische Menge drängt sich, ihren Vorkämpfer zu begrüßen; die Glocken der Kirchen sind stumm; selbst der Name erweckt kein Echo in der erstarrten Brust. Es ist genug“, setzte Mr. Slurk hinzu und ging in großer Aufregung auf und ab. „Soll die Tinte in der Feder vertrocknen und die Sache den Gang des Verderbens gehen!“

„Haben Sie Brandy mit Wasser befohlen, Sir?“ wagte der Wirt eine Andeutung.

„Rum!“ erwiderte Mr. Slurk verbittert. „Haben Sie irgendwo ein Feuer?“

„Man kann sogleich eins anzünden“, beeilte sich der Wirt zu erwidern.

„Das wird aber erst heizen, wenn es Zeit ist, ins Bett zu gehen“, unterbrach ihn Mr. Slurk. „Ist jemand in der Küche?“

„Keine Seele. – Es war hübsch warm dort. Die Leute sind alle fort und haben die Tür für die Nacht geschlossen.“

„Dann will ich“, sagte Mr. Slurk, „meinen Grog am Küchenfeuer trinken“, nahm seinen Hut und die Zeitung, folgte feierlich dem Wirt nach diesem niederen Gelasse, warf sich auf eine Bank am Herde, nahm seine höhnische Miene wieder an und begann in Ruhe zu lesen und zu trinken. In diesem Augenblick flog der Dämon der Zwietracht über den „Türkenkopf“, erblickte zufällig den behaglich am Küchenfeuer gelagerten Slurk, während Mr. Pott, vom Wein erhitzt, in einem andern Zimmer saß, schoß mit unbegreiflicher Schnelligkeit herab, fuhr Mr. Bob Sawyer in den Kopf und stiftete ihn an, folgendermaßen zu sprechen:

„Wir haben das Feuer ausgehen lassen. Nach dem Regen ist es unangenehm kalt hier.“

„Ja, das ist wahr“, gab Mr. Pickwick schauernd zu.

„Es wäre, meine ich, kein schlechter Einfall, am Küchenfeuer eine Zigarre zu rauchen“, fuhr Bob Sawyer fort, in dem der Dämon immer stärker wirkte.

„Ich denke auch, es müßte ganz behaglich sein“, meinte Mr. Pickwick. „Was sagen Sie dazu, Mr. Pott?“

Mr. Pott nickte bereitwillig, und sämtliche vier Reisende begaben sich, jeder mit seinem Glas in der Hand, nach der Küche, indes Sam Weller die Prozession anführte, um den Weg zu zeigen.

Der Fremdling las noch immer, sah plötzlich auf und fuhr zusammen. Mr. Pott desgleichen.

„Was ist denn?“ fragte Mr. Pickwick flüsternd.

„Da! Das Ungeziefer!“ erwiderte Pott.

„Was für ein Ungeziefer?“ fragte Mr. Pickwick, besorgt, er könne auf eine greise Küchenschabe oder eine wassersüchtige Spinne getreten sein. „Dort, das Ungeziefer!“ flüsterte Pott wieder, faßte Mr. Pickwick am Arm und deutete auf den Fremden. „Das Ungeziefer da – Slurk vom ,Independenten‘.“

„Wir würden vielleicht besser tun, uns zurückzuziehen“, meinte Mr. Pickwick halblaut.

„Niemals, Sir, niemals!“ erwiderte Pott giftig, setzte sich schnell auf die gegenüberliegende Bank, zog aus einem kleinen Pack Zeitungen eine heraus und begann, wie sein Feind, zu lesen.

Er las natürlich den „Independenten“, Mr. Slurk ebenso natürlich die „Gazette“, und jeder der Herren drückte unverhohlen seine Verachtung durch bitteres Gelächter und sarkastische Ausrufe aus. Bald schritten sie zu noch offeneren Meinungsäußerungen, wie „abgeschmackt“ – „erbärmlich“ – „ekelhaft“ – „Lumperei“ – „Schmutz“ – „Mist“ – „Schlamm“ – „Sumpfwasser“ und dergleichen.

Mr. Sawyer sowohl wie Ben Allen hatten diese Symptome von Eifersucht und Haß mit großem Ergötzen mit angesehen, und als die beiden Gegner zu ermatten begannen, wandte sich der boshafte Bob Sawyer mit großer Höflichkeit an Slurk und sagte:

„Dürfte ich vielleicht um das Blatt bitten, Sir, wenn Sie es gelesen haben?“

„Sie werden in dem elenden Ding da sehr wenig finden, was des Lesens lohnt“, erwiderte Slurk mit einem satanischen Stirnrunzeln gegen Pott. „Sie können dieses da inzwischen haben“, sagte Pott leichenblaß und mit vor Wut zitternder Stimme. „Haha! Die Frechheit dieser Bagage wird Ihnen viel Spaß machen.“

Die Worte „Frechheit“ und „Bagage“ waren förmlich herausgeschrien, und die Mienen der beiden Publizisten wurden immer herausfordernder.

„Die Gemeinheit dieses Lumpenhundes ist geradezu ekelhaft“, fuhr Pott, zu Bob Sawyer gewendet, fort und warf dabei Slurk einen giftigen Blick zu.

Slurk lachte nur schrill, blätterte seine Zeitung um und sagte, der Schafskopf amüsiere ihn köstlich.

„Was für ein schamloser Ignorant der Kerl ist!“ rief Pott, dessen Gesicht allmählich blaurot vor Wut wurde.

„Haben Sie von den Albernheiten dieses Menschen schon etwas gelesen, Sir?“ fragte Slurk Mr. Bob Sawyer.

„Nein“, erwiderte Bob, „ist es so schlecht?“

„Wenn es Ihnen möglich ist, sich durch ein paar Sätze voll Gemeinheit, Niedertracht, Verlogenheit, Infamie, Schurkerei und Unsinn durchzulesen“, sagte Slurk und reichte das Blatt Mr. Sawyer hinüber, „so werden Sie sich vielleicht dadurch belohnt finden, daß Ihnen der Stil dieses ungrammatikalischen Schwätzers ein Lachen abnötigt.“

„Was haben Sie da gesagt, Sir?“ fuhr Pott auf, am ganzen Leibe zitternd.

„Was geht denn das Sie an, Sir?“ erwiderte Slurk.

„Ungrammatikalischer Schwätzer haben Sie gesagt, nicht wahr, Sir?“ keuchte Pott.

„Ja, Sir, das habe ich gesagt, und blauer Idiot füge ich hinzu, Sir, wenn Sie das lieber hören. Hahaha!“

Mr. Pott erwiderte auf diese Beleidigung kein Wort, faltete nur bedächtig seine Nummer des „Independenten“ auseinander, legte sie sorgfältig flach auf den Boden, trampelte mit den Füßen darauf herum, spuckte dann feierlich darauf und warf sie ins Feuer.

„Sehen Sie, Sir“, sagte er dann, als er vom Kamin zurückkam, „ebenso würde ich auch die Viper behandeln, die dieses Gift erzeugt, wäre ich nicht zu ihrem Glück durch die Gesetze des Landes daran gehindert.“

„Bitte, genieren Sie sich gar nicht, Sir“, rief Slurk dagegen und sprang auf. „Es wird niemandem einfallen, die Gesetze wegen einer solchen Sache anzurufen. Versuchen Sie es doch, Sir!“

„Hört, hört!“ johlte Bob Sawyer.

„Prachtvoll, ausgezeichnet!“ rief Ben Allen.

„Versuchen Sie es doch, Sir“, wiederholte Slurk mit lauter Stimme.

Mr. Pott warf ihm einen verachtungsvollen Blick zu, der einen Amboß hätte zermalmen können.

„Versuchen Sie es doch, Sir!“ rief Slurk noch lauter.

„Ich will nicht, Sir“, versetzte Pott.

„So, so! Sie wollen nicht?“ höhnte Slurk. „Sie haben es gehört, meine Herren! Er will nicht. Nicht etwa, daß er sich fürchtete; ah, woher denn; er will bloß nicht. Hahaha!“

„Ich betrachte Sie, Sir“, schäumte Mr. Pott, „ich betrachte Sie als eine Viper. Ich halte Sie für einen Menschen, der sich durch sein freches, schandbares und widerliches Benehmen in der Öffentlichkeit seines Rechtes in der Gesellschaft begeben hat. In meinen Augen, Sir, sind Sie sowohl persönlich wie politisch weiter gar nichts als eine Viper.“

Der entrüstete Independent wartete das Ende dieser persönlichen Anklage nicht ab, sondern nahm seinen wohlgefüllten Mantelsack, schwang ihn, als Pott sich eben abwandte, über dem Kopf und ließ ihn dann gerade mit der Ecke, in der eine dicke Haarbürste eingepackt lag, auf das Haupt seines Gegners niedersausen, so daß dieser mit furchtbarem Getöse zu Boden stürzte.

„Meine Herren!“ rief Mr. Pickwick, als Pott wieder aufsprang und sich der Kohlenschaufel bemächtigte. „Meine Herren, bedenken Sie doch um Himmels willen – Hilfe – Sam! Aber ich bitte Sie, meine Herren, vergessen Sie sich doch nicht so weit!“

Dabei warf sich der menschenfreundliche alte Herr heldenmütig zwischen die wutentbrannten Streiter, gerade im rechten Augenblick, um auf die eine Seite seines Leibes den Mantelsack und auf die andre die Kohlenschaufel zu bekommen. Ob nun die Repräsentanten der öffentlichen Meinung von Eatanswill ganz blind vor Leidenschaft waren, oder ob sie als kluge, scharfsinnige Köpfe sogleich den Vorteil einsahen, einen Dritten, der die Streiche auffing, zwischen sich zu haben – eines ist gewiß, sie nahmen nicht die mindeste Notiz von Mr. Pickwick und handhabten Mantelsack wie Kohlenschaufel auf das furchtbarste. Mr. Pickwick hätte sein menschenfreundliches Dazwischentreten ohne Zweifel schwer büßen müssen, wäre nicht Mr. Weller auf sein Geschrei hereingestürzt, um dem Kampf sofort dadurch ein Ende zu machen, daß er einen leeren Sack ergriff und ihn dem rasenden Pott über Kopf und Schultern zog.

„Nehmen Sie dem andern Tollhäusler den Mantelsack weg“, rief er dabei Bob Sawyer zu, der entzückt zugesehen und nur eine Lanzette hervorgeholt hatte, um dem ersten, der ohnmächtig werden würde, zur Ader zu lassen. „Wollen Sie endlich aufhören, Sie Jammerlappen, oder ich drehe Ihnen den Kragen um.“

Atemlos und eingeschüchtert durch diese fürchterliche Drohung ließ sich der Independent entwaffnen, und Mr. Weller schüttelte vorsichtig Mr. Pott wieder aus dem Sack.

„So, jetzt gehen Sie beide ruhig ins Bett“, sagte er, „oder ich stecke Sie beide mitnander in den Sack und binde ihn oben zu. Von eurer Sorte werde ich noch mit ’nem ganzen Dutzend fertig. – Und Sie, Herr, haben vielleicht die Jüte, jefälligst mitzukommen.“

Mit diesen Worten nahm Sam seinen Herrn beim Arm und führte ihn fort, während die beiden feindlichen Journalisten vom Wirt und dem Kellner in ihre Schlafzimmer eskortiert wurden. Sie stießen dabei die blutdürstigsten Drohungen aus und ließen vage Andeutungen auf ein Duell am nächsten Tage fallen, waren jedoch am andern Morgen in aller Frühe, jeder in einer besonderen Kutsche, abgereist, als alles noch in tiefstem Schlaf lag.

Siebenunddreißigstes Kapitel


Siebenunddreißigstes Kapitel

Mr. Samuel Weller wird zum Postillion d’amour ernannt und versieht sein Amt als solcher höchst gewissenhaft.

Am ganzen folgenden Tag behielt Sam Mr. Winkle scharf im Auge, und so unangenehm dieser strenge Gewahrsam für Mr. Winkle auch war, so hielt er es doch für besser, sich darein zu fügen, als sich der Gefahr auszusetzen, an Händen und Füßen gebunden nach Bath geschafft zu werden. Zum Glück trat abends um acht Uhr Mr. Pickwick in eigener Person ins Gastzimmer des „Busches“ und sagte, Sam zulächelnd, alles sei in Ordnung und er brauche jetzt nicht länger Schildwache zu stehen.

„Ich hielt es für besser, selbst zu kommen“, fügte er zu Mr. Winkle gewendet hinzu, während ihm Sam seinen Überrock und Reiseschal abnahm, „um mich, bevor ich die Verwendung Sams in dieser Sache zugebe, zu vergewissern, daß es Ihnen mit der jungen Dame auch vollkommen ernst ist.“

„So wahr ich lebe“, beteuerte Mr. Winkle voll Feuer.

„Bedenken Sie wohl“, sagte Mr. Pickwick mit strahlenden Augen, „daß wir sie im Hause unseres vortrefflichen gastlichen Freundes getroffen haben. Es wäre ein schlechter pank, wenn Sie mit der Neigung dieser jungen Dame ein leichtfertiges, unüberlegtes Spiel treiben wollten. Ich würde das nie zugeben, Sir – niemals.“

„Ich habe doch keine solche Absicht“, rief Mr. Winkle mit Wärme. »Ich habe mir die Sache schon lange wohl überlegt und fühle, daß all mein Glück in Arabella beschlossen ist.“

„Dann steckt es in ’nem sehr kleinen Behälter, Sir“, fiel Mr. Weller mit scherzhaftem Lächeln ein.

Mr. Winkle blickte, über diese Unterbrechung gelinde entrüstet, auf, und Mr. Pickwick verwies seinem Bedienten unwillig, mit einem der edelsten Gefühle des Menschenherzens Spott zu treiben.

Mr. Winkle erzählte sodann, was in bezug auf Arabella Wischen ihm und Mr. Ben Allen vorgegangen, erklärte, er Busse unbedingt mit der jungen Dame zusammenkommen, um ihr seine Leidenschaft in aller Form zu gestehen, und drückte seine auf gewisse dunkle Winke und Andeutungen des besagten Ben gegründete Überzeugung aus, sie werde jedenfalls in der Nähe der Dünen eingesperrt gehalten; das sei alles, was er wisse oder vermute.

Mit diesem schwachen Leitfaden ausgerüstet, sollte nun Mr. Weller am nächsten Morgen eine Entdeckungsreise antreten! Es wurde festgesetzt, daß Mr. Pickwick und Mr. Winkle, die kein übertriebenes Vertrauen auf ihre eigenen Kräfte besaßen, einstweilen die Stadt durchwandern und zufällig bei Mr. Bob Sawyer vorsprechen sollten, um dort vielleicht über die junge Dame etwas zu sehen oder zu hören zu bekommen.

Sam Weller ging also am nächsten Morgen auf die Suche, keineswegs eingeschüchtert durch die entmutigenden Aussichten, die vor ihm lagen. Er wandelte eine Straße hinauf und eine hinab – das heißt besser gesagt, einen Hügel hinauf und einen andern hinunter, da bekanntlich in Clifton alles Hügel ist – ohne auf irgend etwas zu stoßen, was das geringste Licht auf den Gegenstand seiner Forschungen gewerfen hätte. Mannigfaltig waren die Zwiegespräche, c];e Sam mit Bedienten einleitete, die Pferde spazierenritten, und mit Kindermädchen, die mit ihren Kindern in den Gassen herumschlenderten; allein er vermochte aus diesen beiden Arten von Menschenkindern nichts herauszulocken, was den mindesten Bezug auf seine so schlau betriebenen Nachforschungen gehabt hätte. Es gab wohl in sehr vielen Häusern sehr viele junge Damen, bei denen die männlichen und weiblichen Dienstboten scharfsichtig genug gemerkt hatten, daß sie in irgend jemand sterblich verliebt oder jedenfalls im Begriff seien, bei der nächsten besten Gelegenheit es zu werden – da aber unter diesen jungen Damen keine Miß Arabella war so blieb Sam so weise wie zuvor. Er arbeitete sich gegen einen starken Seewind die Dünen hindurch, voll Verwunderung, warum es in diesem Teile des Landes nötig sei, mit beiden Händen den Hut festzuhalten, und kam endlich in eine schattige Gegend, wo ihm mehrere kleine Landhäuser von ruhigem, abgeschlossenem Aussehen in die Augen fielen. Am Ende einer langen Sackgasse faulenzte ein Reitknecht in Halblivree, der sich offenbar einbildete, er stehe im Begriff, mit einem Spaten und einem Schiebkarren etwas zu arbeiten.

Sam dachte, er könne mit diesem Reitknecht ebensogut sprechen wie mit irgendeinem andern Menschen, zumal da er etwas müde vom Gehen war und gegenüber von dem Schiebkarren einen recht angenehmen breiten Stein zum Sitzen erblickte. Er schlenderte also das Gäßchen hinab, setzte sich und leitete mit der ihm eigentümlichen Ungezwungenheit ein Gespräch ein.

„Morgen, alter Freund“, begann er. „Nachmittag, wollen Sie wohl sagen“, erwiderte der Stallknecht.

„Sie haben recht, alter Freund“, sagte Sam, „ich wollte Nachmittag sagen. „Wie geht’s Ihnen?“

„Nicht viel besser, weil ich Sie sehe“, erwiderte übelgelaunt der Reitknecht.

„Das is höchst sonderbar“, meinte Sam, „Sie sehen doch so xmgemein lustig aus und scheinen überhaupt so ’n munterer Bursche zu sein, daß es ’ne wahre Lust ist, Ihnen anzusehen.

Der verdrießliche Groom machte ein noch verdrießlicheres Gesicht, jedoch nicht grämlich genug, um irgendeine Wirkung auf Sam hervorzubringen, der sogleich sehr angelegentlich zu fragen begann, ob sein Herr nicht Walker heiße?

„Nein“, antwortete der Groom.

„Oder Brown?“

„Nein.“

„Oder Wilson?“

„Auch nicht.“

„Gut“, erwiderte Sam, „denn habe ich mir ebend geirrt, und er hat nich die Ehre meiner Bekanntschaft; ich dachte schon vorher, daß er die nich hat. Bleiben Sie bloß nich etwa aus Höflichkeit gegen mir hier draußen“, setzte er hinzu, als der Groom den Karren hineinschob und sich anschickte, das Tor zu schließen, „’s geht nichts über die Bequemlichkeit, alter Knabe; ich entschuldige Ihnen gerne.“

„Und ich möchte Ihnen gerne für ’ne halbe Krone den Schädel einschlagen“, brummte der griesgrämige Stallknecht und schloß den eisernen Torflügel.

„Könnte es nich so billig geschehen lassen“, entgegnete Sam. „Würde Ihnen wenigstens ’ne lebenslängliche Verköstigung eintragen und wäre daher zu wohlfeil. Melden Sie im Hause meine Empfehlungen. Sagen Sie Bescheid, sie sollen nich mit dem Essen auf mich warten und auch nichts aufheben; es wird doch bloß kalt, bis ich komme.“

Der Groom schnitt ein falsches Gesicht, murmelte etwas zwischen den Zähnen und schlug ärgerlich die Tür hinter sich zu, der zärtlichen Bittf Sams, ihm wenigstens eine Locke von seinen Haaren zur Erinnerung da zu lassen, nicht die geringste Beachtung schenkend.

Sam blieb auf dem großen Stein sitzen, besann sich, was wohl jetzt am besten zu tun wäre, und wälzte eben in seinem Geist den Plan herum, fünf Meilen im Umkreis von Bristol an alle Türen anzuklopfen, indem er täglich etwa einhundertfünfzig oder zweihundert erledigte, um dadurch Miß Arabella ausfindig zu machen, als ihm der Zufall unerwartet etwas in den Weg warf, was er bei jahrelangem Sitzen auf Stein nicht hätts herausgrübeln können.

Zu beiden Seiten der Gasse, in welcher er saß, sah man mehrere Gartentore, die jeweils zu einem Hause führten. Da diese Gärten groß, lang und dicht mit Bäumen bepflanzt waren, so standen die Häuser nicht bloß ziemlich weit voneinander entfernt, sondern waren auch zum größten Teile beinahe unsichtbar. Sam betrachtete gerade geistesabwesenden Blicks das staubige Tor zunächst demjenigen, durch das der Groom verschwunden, und war in tiefes Nachsinnen über die Schwierigkeiten seines Unternehmens versunken, als das Tor sich öffnete und ein Mädchen auf die Gasse heraustrat, um einige Teppiche auszuschütteln.

Sam war so durchaus mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er höchstwahrscheinlich weiter keine Notiz von der jungen Dame genommen, sondern vielleicht nur den Kopf aufgerichtet und bemerkt hätte, sie habe ein recht hübsches Figürchen, wäre nicht seine Galanterie gewaltig durch die Bemerkung erregt worden, daß sie keinen Gehilfen hatte und die Teppiche für ihre schwache Kraft offenbar zu schwer schienen. Mr. Weller war in seiner Art ein höchst galanter Gentleman, und kaum hatte er diesen Umstand gewahrt, als er sich schleunigst von dem breiten Stein erhob und auf die Dame zuschritt.

„Mein liebes Kind“, sagte er mit großer Ehrerbietung, auf sie zuschlendernd, „Sie schaden offenbar Ihrer über alle Maßen schönen Figur, wenn Sie die Teppiche alleine ausschütteln. Werde Ihnen helfen.“

Die junge Dame, die sich züchtig gestellt hatte, als wüßte sie nichts von der Nähe eines Gentleman, drehte sich bei dieser Anrede um – ohne Zweifel, um das Anerbieten eines ihr völlig Unbekannten abzulehnen, aber statt zu sprechen, fuhr sie zurück und stieß einen halbunterdrückten Schrei aus. Sam war nicht viel weniger verblüfft, denn in dem Angesicht der wohlgestalteten jungen Dame erkannte er die wohlbekannten Züge des hübschen Hausmädchens von Mr. Nupkins. „Hoho, Mary, mein Schatz“, rief er. „Sieh einer an, der Mr. Weller“, erwiderte Mary, „wie Sie einen erschrecken können!“

Sam erwiderte nichts, wenigstens nicht mit Worten, denn Mary sagte nach einer kurzen Pause: „Lassen Sie mich, Sie Schlimmer.“ Der Umstand, daß ihm sein Hut wenige Augenblicke zuvor vom Kopfe gefallen war, ließ darauf schließen, daß Küsse und Umarmungen vorgefallen sein mußten. „Aber wie sin Sie denn hierhergekommen?“ fragte Mary, als das Gespräch, das diese Unterbrechung erlitten, wieder seinen Anfang nahm.

„Bloß, um nach Ihnen zu sehen, mein Schätzchen“, erwiderte Mr. Weller, bei dem die Leidenschaft den Sieg über die Wahrheitsliebe davontrug. „Woher haben Sie denn gewußt, daß ich hier bin? Wer kann Ihnen bloß gesagt haben, daß ich in Ipswich zu einer anderen Herrschaft gegangen bin, die dann hierher übergesiedelt ist, Mr. Weller?“

„Das möchten Sie wohl gern wissen“, sagte Sam mit pfiffigem Blick, „das möchten Sie gerne wissen. Wer, meinen Sie wohl, hat’s mir gesagt?“ „Mr. Muzzle vielleicht?“ fragte Mary.

„Nö, nö“, erwiderte Sam mit feierlichem Kopfschütteln, „Muzzle nicht.“

„Dann muß es die Köchin gewesen sein.“

„Versteht sich.“

„So was habe ich meinen Lebtag nicht gehört“, rief Mary aus.

„Ich auch nicht“, sagte Sam. „Aber mein Schatz“ – hier wurden Sams Manieren ungemein zärtlich –, „mein Schatz, ich habe da grade ’n Geschäft, wo äußerst pressant is. Es is da einer von meines Prinzipals Freunden – Mr. Winkle –, Sie erinnern sich doch, was?“

„Der mit dem grünen Rock?“ fragte Mary. „Ja, ja, weiß schon.“

„Na“, fuhr Sam fort, „der is schauderhaft verliebt. Rappelt förmlich.“

„Jessas!“ rief Mary interessiert.

„Wäre alles recht schön, aber was hilft’s, wenn wir das junge Frauenzimmer nich auftreiben können?“ sagte Sam und stattete unter mancherlei Abschweifungen über Marys Schönheit und die unaussprechlichen Qualen, die er ausgestanden, seit er sie zum letztenmal gesehen habe, einen getreuen Bericht über Mr. Winkles derzeitige Lage ab.

„’s is nicht zu glauben“, rief Mary.

„Is es auch nich“, erwiderte Sam, „und ich laufe darum wie der ewige Jude – der Wandersportsmann, wo Se auch wohl schon von gehört haben, mein Schatz, wo immer mit der Zeit um die Wette läuft und nich sterben kann – und suche nach Miß Arabella Allen.“

„Was für eine Miß?“ fragte Mary höchst erstaunt.

„Miß Arabella Allen.“

„Jessas“, rief Mary, nach dem Gartentore deutend, das der griesgrämige Stallknecht hinter sich verschlossen hatte. „Das is ihr Haus dort, und sie is schon seit sechs Wochen hier. Die obere Hausmagd, wo zugleich das Stubenmädchen von der gnä Frau is, hat’s mir neulich zur Waschküche raus gesagt, als die Herrschaft noch geschlafen hat.“

„Sapperlot, also grade neben Ihnen?“ rief Sam.

„Freilich, freilich.“

Mr. Weller war durch diese Nachricht so überwältigt, daß er es für unumgänglich notwendig hielt, mit beiden Armen seine schöne Auskunfterteilerin zu umschlingen, und erst nach verschiedenen kleinen Liebespassagen hatte er sich wieder gehörig gesammelt, um zur Sache zurückkommen zu können.

„Donnerwetter“, sagte er endlich, „wenn das nicht über die Hutschnur geht, denn geht überhaupt nichts mehr drüber, wie der Lordmajor sagte, als der Erste Staatssekretär nach dem Essen die Gesundheit von seiner Frau ausbrachte. – Also grade neben Ihrem Haus? Na, und ich habe eine Botschaft für ihr auszurichten, mit der habe ich mir schon den ganzen Tag abgeschunden.“

„Aber die können Sie jetzt noch nicht ausrichten“, erklärte Mary, „weil sie bloß abends im Garten spazierengeht, und jedesmal bloß ganz kurze Zeit; ausgehen tut sie überhaupt nicht ohne die alte Dame.“

Sam sann einige Augenblicke nach und entwarf folgenden Operationsplan: Er wollte in der Dämmerung, zu der Zeit also, in welcher Arabella täglich ihre Spaziergänge machte, wiederkommen. Mary sollte ihn in den Garten ihrer Herrschaft einlassen, und dann wollte er, geschützt durch die überhängenden Zweige eines großen Birnbaumes, unbemerkt über die Mauer klettern, seinen Auftrag ausrichten und, wenn irgend möglich, für den folgenden Abend zur gleichen Zeit eine Zusammenkunft zwischen dem Fräulein und Mr. Winkle vereinbaren.

Nachdem er diesen Plan mit großer Eile auseinandergesetzt, half er Mary bei ihrem lange hinausgeschobenen Geschäft des Teppichausschütteins. Das Teppichausschütteln ist nicht halb so unschuldig wie es aussieht; das Schütteln selbst zwar mag etwas ganz Harmloses sein, aber das Zusammenlegen ist eine sehr verfängliche Sache. Solange das Schütteln dauert und beide Parteien auf Teppichlänge voneinander getrennt sind, ist es eine so unschuldige Ergötzlichkeit, wie man sich nur eine denken kann; wenn aber das Zusammenlegen beginnt und die Entfernung der Schüttelnden von der Hälfte der früheren Länge zu einem Viertel derselben, sodann zu einem Achtel, endlich zu einem Sechzehntel und, wenn der Teppich lang genug ist, zu einem Zweiunddreißigstel zusammenschrumpft, wird es höchst gefährlich. Wir vermögen nicht genau zu bestimmen, wie viele Teppiche im vorliegenden Falle zusammengelegt wurden, aber das können wir zu behaupten wagen, daß Sam das hübsche Mädchen so viele Male küßte, als Teppiche da waren.

Mr. Weller labte sich mit Maß und Ziel in der nächsten Kneipe, bis es dunkel zu werden anfing, und kehrte sodann in die Sackgasse zurück. Nachdem ihn Mary in den Garten gelassen und ihm mehrfache Ermahnungen in betreffs Haisund Beinbruch erteilt hatte, kletterte er auf den Birnbaum, um Miß Allen zu erwarten.

Er mußte so lange unruhig ausharren, daß er schon glaubte, sie werde nicht mehr kommen, als er auf einmal leichte Fußtritte auf dem Kies vernahm und bald darauf Arabella erblickte, wie sie nachdenklich den Garten herabkam. Als sie in die Nähe des Baumes gelangte, begann Sam, um seine Anwesenheit so zart wie möglich zu erkennen zu geben, allerhand diabolische Töne auszustoßen, wie man sie allenfalls bei jemand natürlich finden könnte, der von frühester Kindheit an fortwährend an Halsentzündung, Krupp und Keuchhusten gelitten hat.

Die junge Dame warf einen hastigen Blick nach der Stelle, von wo die furchtbaren Laute kamen, und ihr anfänglicher Schreck wurde keineswegs dadurch vermindert, daß sie einen Mann zwischen den Zweigen erblickte. Sie wäre sicherlich entflohen und hätte Lärm geschlagen, allein glücklicherweise nahm ihr die Furcht alle Kraft, sich zu rühren, und sie sank auf einen zum Glück dastehenden Gartenstuhl nieder.

„Wird die doch einfach ohnmächtig“, monologisierte Sam in großer Verlegenheit. „Is aber auch ’n dolles Ding, daß diese jungen Frauenzimmer immer mit Gewalt in Ohnmacht fallen wollen, wo es gar nicht angebracht ist. He da, Fräuleinchen, Fräulein Beinsäger, hören Sie denn nich!“

War es nun der Zauber dieses Wortes oder die Kühle der Abendluft oder eine dunkle Erinnerung an Mr. Wellers Stimme, was Arabella wieder zum Leben brachte – jedenfalls erhob sie den Kopf und fragte mit matter Stimme: „Wer ist da, und was wollen Sie?“

„Pst“, warnte Sam, schwang sich auf die Mauer und kauerte sich dort auf einen möglichst kleinen Raum zusammen, „bloß ich bin’s, mein Fräulein, bloß ich.“

„Mr. Pickwicks Bedienter?“ fragte Arabella ernst. „Aufzuwarten, mein Fräulein. Mr. Winkle is hier, und zwar gänzlich meschugge, mein Fräulein.“

„Ah“, sagte Arabella und trat näher an die Mauer. „Ja freilich“, versicherte Sam. „Wir meinten schon gestern nacht, wir müßten ihm ’ne Zwangsjacke anlegen; er rast den ganzen Tag und sagt, wenn er Sie nich vor morgen nacht zu sehen bekommt, ersäuft er sich oder stellt sonst was an.“ „Um Gottes willen!“ rief Arabella und rang die Hände. „Ja, das hat er gesagt, mein Fräulein“, setzte Sam kaltblütig hinzu. „Es is ’n Mann von Wort, und ich bin überzeugt, daß er es tut. Der Beinsäger mit der Brille hat ihm von Ihnen erzählt?“

„Mein Bruder?“ fragte Arabella, der ein Licht aufging. „Ich weiß nich recht, welcher von beiden Ihr Bruder is“, erwiderte Sam. „Is es der Schmutzigere?“

„Jaja, Mr. Weller“, erwiderte Arabella, „aber weiter, weiter; schnell, schnell.“

„Nun gut, mein Fräulein. Er hat also von ihm alles erfahren, und mein Prinzipal meint, wenn er Sie nich sobald wie möglich zu sehen kriegt, würde der Beinsäger so viel Extrablei in den Kopf bekommen, daß die Entwicklung der Organe dadurch beschädigt wird, wenn man se nachher in Spiritus legt.“

„Gott im Himmel, was kann ich denn tun, diesen schrecklichen Streit zu verhindern?“ jammerte Arabella.

„Die Vermutung, daß ’ne frühere Neigung vorliegt, is an der ganzen Geschichte schuld, ’s wäre wirklich das beste, wenn Sie ihn sehen würden, Miß.“

„Aber wie und wo?“ rief Arabella. „Ich darf das Haus nicht allein verlassen. Mein Bruder ist so unfreundlich wie unvernünftig. Ich weiß, wie auffallend Ihnen diese Sprache erscheinen muß, Mr. Weller, aber ich bin sehr, sehr unglücklich –“ und dabei fing die arme Arabella so bitterlich zu weinen an, daß es Sam ganz ritterlich ums Herz wurde.

„Mag es auffallend sein, wie es will, Miß“, rief er feurig, „aber ich kann Ihnen nur sagen, daß ich nich bloß bereit, sondern auch willens bin, alles zu tun, was die Sache zu ’nem guten Ende zu führen vermag. Und wenn man einen von den Beinsägern zum Fenster rauswerfen muß, bin ich der Mann dazu.“

Bei diesen Worten krempelte Sam, um seine Bereitwilligkeit zu bekräftigen, mit augenscheinlicher Gefahr, von der Mauer herabzufallen, seine Ärmel auf.

So schmeichelhaft diese Beweise von gutem Willen auch sein mochten, so weigerte sich doch Arabella zu Sams größter Verwunderung entschieden, davon Gebrauch zu machen. Lange sträubte sie sich mit Entschlossenheit gegen die von Sam so pathetisch verlangte Zusammenkunft mit Mr. Winkle, endlich aber, als die Unterhaltung durch die unwillkommene Ankunft einer dritten Person unterbrochen zu werden drohte, gab sie ihm unter mannigfachen Versicherungen ihrer Dankbarkeit eiligst zu verstehen, es sei doch möglich, daß sie am nächsten Abend um eine Stunde später in den Garten kommen könne. Sam begriff vollkommen, Arabella trippelte, nachdem sie ihn mit ihrem süßesten Lächeln beglückt, anmutig davon und ließ ihn, von Bewunderung ihrer körperlichen und geistigen Vorzüge erfüllt, allein.

Nachdem Mr. Weller sicher von der Mauer herabgeklettert war und nicht vergessen hatte, seinen eigenen Angelegenheiten in diesem Departement einige Augenblicke zu widmen, kehrte er so schnell wie möglich in den „Biisch“ zurück, wo seine lange Abwesenheit bereits großes Kopfzerbrechen und Unruhe erregt hatte.

„Wir müssen bedächtig zu Werke gehen“, meinte Mr. Pickwick, nachdem er Sams Bericht mit Aufmerksamkeit angehört, „nicht um unsrer selbst, sondern um der jungen Dame willen. Wir müssen sehr vorsichtig sein.“

Wir?“ sagte Mr. Winkle mit scharfer Betonung.

Mr. Pickwicks Gesicht verdüsterte sich vor Unwillen über den Ton dieser Bemerkung, nahm jedoch bald wieder den ihm eigentümlichen wohlwollenden Ausdruck an, als er erwiderte: „Allerdings, Sir, wir, denn ich werde Sie begleiten „

„Sie?“

„Allerdings, ich„, entgegnete Mr.Pickwick voll Milde. „Als die Dame Ihnen das Rendezvous bewilligte, hat sie einen vielleicht natürlichen, aber immerhin sehr unklugen Schritt getan. Wenn ich dabei bin, als Ihr beiderseitiger Freund, der alt genug ist, beider Vater sein zu können, dann kann sich die Stimme der Verleumdung später nicht gegen sie erheben.“

Mr. Pickwicks Augen funkelten von gerechtem Entzücken über seine Vorsicht, als er so sprach. Mr. Winkle war durch diesen Beweis zartsinniger Verehrung für die junge Dame tief gerührt und ergriff die Hand des Meisters mit einem Gefühl, das an Ehrfurcht grenzte.

„Ja, Sie müssen mitgehen!“ rief er.

„Natürlich gehe ich mit“, erwiderte Mr. Pickwick. „Sam, halte meinen Überrock und Schal in Bereitschaft und bestelle auf morgen abend, etwas früher als unbedingt notwendig wäre, einen Wagen, damit wir rechtzeitig an Ort und Stelle sind.“

Mr. Weller griff an seinen Hut, um seinen Gehorsam auszudrücken, und entfernte sich, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen.

Der Wagen fuhr zur bestimmten Stunde vor, und Mr. Weller nahm, nachdem er Mr. Pickwick und Mr. Winkle pflichtgemäß hineingeholfen, seinen Sitz auf dem Bock neben dem Kutscher ein. Verabredetermaßen stiegen sie etwa eine Viertelmeile vor dem Ort des Stelldicheins ab, befahlen dem Kutscher, ihre Rückkehr zu erwarten, und machten den übrigen Weg zu Fuß.

Zu dieser Höhe war das Unternehmen gediehen,, als Mr. Pickwick unter manchem Lächeln und verschiedenen andern Anzeichen großer Befriedigung aus einer seiner Rocktaschen eine Blendlaterne hervorzog, mit der er sich ausdrücklich für den Fall versehen hatte, sie anzündete und ihre großen mechanischen Vorzüge im Weitergehen zur nicht geringen Verwunderung der paar Leute, die ihnen begegneten, Mr. Winkle erklärte. „Bei meiner letzten nächtlichen Gartenexpedition wäre mir ein solches Ding sehr zustatten gekommen, nicht wahr, Sam?“ sagte er und sah sich mit vergnügtem Lächeln nach seinem Bedienten um, der hinter ihm hertrollte.

„Sehr hübsche Dinger das, Sir, wenn man sie recht gebraucht“, erwiderte Mr. Weller, „aber wenn man nich gesehen sein will, glaube ich, daß sie nützlicher sin, wenn das Licht ausgelöscht is, als wenn es brennt.“

Mr. Pickwick schien Sams Bemerkung einzuleuchten, denn er steckte seine Laterne wieder in die Tasche und ging schweigend weiter.

„Nach da runter“, sagte Sam, „lassen Sie mich den Weg zeigen. Das is die Gasse, Sir.“

Es war bereits ziemlich dunkel, und Mr. Pickwick nahm ein- oder zweimal die Laterne heraus, die einen sehr hellen Lichtkreis, jedoch bloß von einem Fuß im Durchmesser, auf den Weg warf. Es war recht hübsch anzusehen, schien aber die Wirkung zu haben, die Gegenstände in der Umgebung noch dunkler erscheinen zu lassen.

Endlich kamen sie an den großen Stein, und hier empfahl Sam seinem Gebieter und Mr. Winkle, sich zu setzen, indes er rekognoszieren und sich vergewissern wolle, ob Mary noch Warte.

Nach einer Abwesenheit von fünf oder zehn Minuten kam er mit der Nachricht zurück, das Tor sei offen und alles ruhig. Mr. Pickwick und Mr. Winkle schlichen ihm verstohlen nach und befanden sich bald im Garten. Hier sagten alle drei gar manches Mal „Pst“, und keiner schien eine genaue Vorstellung von dem zu haben, was zunächst zu geschehen habe.

„Ist Miß Allen schon im Garten, Mary?“ fragte Mr. Winkle sehr aufgeregt.

„Ich weiß nicht, Sir“, erwiderte das hübsche Hausmädchen „Am besten würde es sein, wenn Mr. Weller Ihnen auf den Baum hilft, und Mr. Pickwick könnte inzwischen so freundlich sein, aufzupassen, ob keiner die Straße entlang kommt. Ich würde inzwischen am andern Ende vom Garten aufpassen. Aber, grundgütiger Himmel, was ist das da?“

„Die verdammte Latüchte wird uns noch alle ins Unglück stürzen“, sagte Sam ärgerlich. „Nehmen Sie sich doch in acht, Herr; Sie werfen doch „n ganz hellen Lichtschein in das Fenster vom hintern Zimmer da.“

„Weiß Gott“, sagte Mr. Pickwick und wandte sich schnell ab, „das habe ich nicht beabsichtigt.“

„Jetzt is ’s im nächsten Hause“, eiferte Sam.

„Donnerwetter“, rief Mr. Pickwick, sich abermals umwendend.

„Jetzt im Stall, und die Leute werden meinen, es brennt drin“, sagte Sam, „machen Sie doch die Klappe zu, Herr, können Sie denn nich?“ „Es ist doch die sonderbarste Laterne, die ich je in meinem Leben gesehen habe“, rief Mr. Pickwick, ganz verblüfft über die Wirkungen, die er so unabsichtlich hervorbrachte. „Ein so starker Reflektor ist mir noch nicht vorgekommen.“

„Er wird wohl zu stark für uns werden, wenn Sie ’n so weiterleuchten lassen“, erwiderte Sam, als Mr. Pickwick nach mehreren vergeblichen Versuchen den Schieber endlich zubrachte. „Da kommt die junge Dame. Also los, Mr. Winkle, schnell hoch!“

„Halt, halt!“ sagte Mr. Pickwick, „ich muß zuerst mit ihr sprechen. Hilf mir hinauf, Sam.“

„Nur sachte“, warnte Sam, seinen Kopf an die Mauer lehnend und machte aus seinem Rücken eine Plattform. „Treten Sie zuerst auf diesen Blumentopf, Sir. Jetzt schnell hinauf.“

„Ich fürchte, ich tue dir weh, Sam“, sagte Mr. Pickwick.

„Sorgen Sie sich nich um mich, Sir. Geben Sie ihm die Hand, Mr. Winkle. Nur feste, Sir; so ist’s richtig.“

Unter Anstrengungen, die bei einem Herrn von seinen Jahren und seinem Gewicht fast übernatürlich zu nennen waren, gelang es endlich Mr. Pickwick, Sams Rücken zu erklimmen; Sam richtete sich allmählich in die Höhe, und Mr. Pickwick hielt sich am Rande der Mauer fest, indes Mr. Winkle seine Beine festhielt, so daß des Meisters Brille gerade noch den Mauerrand überragte.

„Verehrtes Fräulein“, begann Mr. Pickwick, als er über die Mauer schaute und auf der andern Seite Arabella erblickte, „erschrecken Sie nicht, mein Fräulein – ich bin’s.“

„Bitte, bitte, gehen Sie doch, Mr. Pickwick“, erwiderte Arabella. „Sagen Sie ihnen, sie sollen alle fortgehen, ich bin in der tödlichsten Angst. Lieber, lieber Mr. Pickwick, bleiben Sie nicht länger. Sie werden ganz gewiß herunterfallen und nicht mehr aufstehen können.“

„Seien Sie ohne Sorgen, liebes Kind“, beschwichtigte Mr. Pickwick. „Ich versichere Ihnen, es ist nicht die geringste Gefahr vorhanden. – Steh fest, Sam“, setzte er hinzu und blickte unter sich.

„Sehr wohl, Sir“, erwiderte Mr. Weller, „bleiben Sie nur nich länger, als es gerade notwendig is. Sie sind’n bißchen schwer.“

„Nur noch einen Augenblick, Sam. – Ich wünschte Ihnen nur zu sagen, mein Kind, daß ich meinem jungen Freund nicht gestattet haben würde, Sie auf diesem heimlichen Wege zu besuchen, wenn Ihre Verhältnisse ihm einen andern Ausweg übriggelassen hätten. Damit Ihnen nun die Ungebührlichkeit dieses Schrittes keine Unruhe verursache, mein liebes Kind, mag es Ihnen zur Befriedigung dienen, zu wissen, daß ich in der Nähe bin; mehr habe ich nicht zu sagen, meine Liebe.“

„Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden für Ihre rücksichtsvolle Güte, Mr. Pickwick“, schluchzte Arabella, sich mit ihrem Taschentuch die Tränen trocknend.

Sie hätte wahrscheinlich noch mehr gesagt, wenn nicht Mr. Pickwick infolge eines falschen Trittes auf Sams Schulter blitzschnell verschwunden wäre. Er stand jedoch im Augenblick wieder auf, ermahnte Mr. Winkle, sich zu beeilen und die Zusammenkunft nicht zu versäumen, und rannte sofort mit dem Mut und dem Feuer eines Jünglings auf die Gasse, um Schildwache zu stehen. Mr. Winkle, hochbeglückt, war im Nu auf der Mauer, und hielt oben nur inne, um Sam zu sagen, er solle für seinen Herrn Sorge tragen.

„Unbesorgt, Sir“, erwiderte Sam. „Überlassen Sie ihn nur mir.“

„Wo ist er? Was macht er denn jetzt, Sam?“ fragte Mr. Winkle.

„Gott segne seine alten Gamaschen“, erwiderte Sam, mit einem Blick nach der Gartentür. „Dort in der Gasse steht er mit seiner Blendlaterne Schildwache, wie ’n liebenswürdiger Pulververschwörer. Hab mein Lebtag nichts Schöneres gesehen. Der Teufel soll mich holen, wenn sein Herz nicht wenigstens fünfundzwanzig Jahre nach seinem Leibe auf die Welt gekommen is.“

Mr. Winkle nahm sich nicht die Zeit, die Lobrede auf seinen Freund und Meister anzuhören, war schnell die Mauer hinabgesprungen, hatte sich vor Arabella auf die Knie geworfen und setzte ihr die Aufrichtigkeit seiner Neigung mit einer Beredtsamkeit auseinander, die Mr. Pickwicks selbst würdig gewesen wäre.

Während dies im Freien vor sich ging, saß ein ältlicher Herr von großem, wissenschaftlichem Rufe, der zwei oder drei Häuser vom Garten hinweg wohnte, in seinem Studierzimmer und schrieb eine naturwissenschaftlidle Abhandlung, wobei er von Zeit zu Zeit aus einer achtunggebietenden Flasche, die auf dem Tische stand, seine Lippen und seine Arbeit mit einem Glas Bordeaux befeuchtete. Während seiner geistigen Geburtswehen blickte der gelehrte Herr bald auf den Teppich, bald zur Decke empor, bald an die Wand, und wenn ihm weder Teppich noch Dedce, noch Wand den erforderlichen Grad von Begeisterung zu liefern vermoditen, so sah er zum Fenster hinaus.

In einer dieser Pausen starrte er gedankenschwer in d’e dichte Finsternis hinaus, als er zu seiner höchlichen Überraschung ein glänzendes Licht in geringer Entfernung über die Erde hin durch die Luft gleiten und beinahe augenblicklich wieder verschwinden sah. Nach kurzer Zeit wiederholte sich das Phänomen, nicht bloß ein oder zwei, sondern mehrere Male. Der gelehrte Herr legte seine Feder nieder und begann darüber nachzudenken, weldien natürlichen Ursachen diese Erscheinung wohl zuzuschreiben sei.

Meteore konnten es nicht sein, dazu waren sie zu niedrig. Johanniswürmer auch nicht wegen der Höhe. Es waren keine Irrlichter, keine Leuchtkäfer, es war kein Feuerwerk. Was konnte es wohl sein? Irgendein außerordentliches und wunderbares Phänomen, das noch kein Naturforscher vor ihm gesehen – eine Erscheinung, deren Entdeckung ihm allein vorbehalten war und die seinen Namen unsterblidl machen mußte, wenn er sie zu Nutz und Frommen der Nachwelt aufzeichnete. Von dieser Idee begeistert, ergriff der gelehrte Herr seine Feder wieder und brachte verschiedene Bemerkungen über diese unvergleichbare Erscheinung mit Angabe des Tages, der Stunde, der Minute und Sekunde, in der sie sichtbar gewesen, zu Papier – Stoff genug, um ein umfangreiches, von großem Forschungsgeist und tiefer Gelehrsamkeit zeugendes Werk zu schreiben, zum Erstaunen aller atmosphärischen Weisen in sämtlichen Teilen des zivilisierten Erdballes.

Er warf sich in seinen Lehnsessel zurück, ganz durchtränkt von Betrachtungen künftiger Berühmtheit. Das geheimnisvolle Lidit zeigte sich wiederum, und zwar glänzender als zuvor; allem Anschein nach tanzte es die Gasse auf und ab, kreuzte herüber und hinüber und bewegte sich in so exzentrischen Bahnen, wie ein Komet!

Der gelehrte Herr war Hagestolz, hatte daher keine Frau, die er hereinrufen konnte, damit sie sich mit ihm wundere, und läutete deshalb seinem Bedienten.

„Pruffle“, sagte er, „es ist heute abend etwas ganz Außerordentlidies in der Luft. Siehst du es dort?“ fügte er hinzu, zum Fenster hinausdeutend, als das Licht wieder sichtbar wurde.

„Ja, Sir.“

„Was denkst du davon, Pruffle?“

„Was ich davon denke?“

„Nun ja. Du bist auf dem Lande aufgewachsen. Welcher Ursache würdest du diese Lichter zuschreiben?“

Der gelehrte Herr setzte lächelnd voraus, Pruffle werde antworten, er wisse die Ursache dieser Lichter nicht anzugeben. Pruffle sann nach. „Ich denke, es sind Diebe“, sagte er endlich.

„Du bist ein Dümmkopf und kannst dich entfernen“, schrie ihn der gelehrte Herr an.

„Sehr wohl, Sir“, erwiderte Pruffle und ging.

Allein dem gelehrten Herrn ließ der Gedanke keine Ruhe, die scharfsinnige Abhandlung, die er bereits projektiert, möchte für die Welt verlorengehen, was unvermeidlich hätte der Fall sein müssen, wenn die Ansicht des scharfsinnigen Pruffle nicht im Keim erstickt wurde. Er setzte daher den Hut auf und ging schnell in den Garten hinab, entschlossen, der Sache bis auf den Grund nachzuspüren.

Kurz, ehe der gelehrte Herr kam, war Mr. Pickwick so schnell wie möglich die Gasse herabgelaufen und hatte falschen Lärm geschlagen, es komme jemand des Weges, wobei er zufällig die Laterne vor sich hinhielt, um nicht in den Graben zu fallen. Mr. Winkle kletterte flugs wieder über die Mauer, Arabella eilte ins Haus, das Gartentor wurde geschlossen, und die Abenteurer eilten, so schnell sie konnten, die Gasse hinab, als sie auf einmal durch das Erscheinen des gelehrten Herrn erschreckt wurden, der gerade sein Gartentor aufschloß.

„Halt!“ flüsterte Sam, der natürlich voranging, „machen Sie jetzt mal ’ne Sekunde Licht, Herr.“

Mr. Pickwick tat, wie ihm geheißen. Sam, der einen Kopf sehr vorsichtig, bloß ein paar Schritte von ihm entfernt, aus dem Gartentore herausblicken sah, versetzte ihm mit der geballten Faust einen kleinen Schlag, so daß er mit hohlem Klang gegen das Tor flog. Nachdem er mit großer Schnelligkeit und Gewandtheit diese Tat vollführt, nahm er Mr. Pickwick auf den Rücken und folgte Mr. Winkle die Gasse hinab mit einer bei seiner Bürde wahrhaft erstaunlichen Geschwindigkeit.

„Haben Sie sich jetzt wieder erholt, Sir?“ fragte er, als ef das Ende erreicht hatte.

„Vollkommen“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Na, dann kommen Sie“, fuhr Sam fort und stellte seinen Herrn wieder auf die Füße. „Gehen Sie zwischen uns beiden, Sir. Wir haben keine halbe Meile mehr zu laufen. Stellen Sie sich vor, es ginge zum Schoppen, Sir. Nur munter vorwärts.“

So ermutigt, machte Mr. Pickwick den möglichst besten Gebrauch von seinen Beinen, und man kann zuversichtlich behaupten, daß nicht leicht ein Paar schwarze Gamaschen je schneller über den Boden hüpften, als die Mr. Pickwicks bei diesem denkwürdigen Anlasse.

Der Wagen wartete, die Pferde waren frisch, die Straßen glatt, der Kutscher voll guten Willens, und die ganze Gesellschaft langte sicher im „Busch“ an, ehe Mr. Pickwick verschnauft hatte.

„Schnell hinein mit Ihnen, Sir“, mahnte Sam, als er seinem Herrn heraushalf. „Nach dem Tempo dürfen Sie keine Sekunde auf der Straße bleiben. Bitte um Verzeihung, Sir“, fuhr er fort, an die Hutkrempe greifend, als Mr. Winkle ausstieg. „Hoffe, ’s war keine frühere Neigung nich vorhanden?“

„Es ist alles in Ordnung“, flüsterte ihm Mr. Winkle ins Ohr, „ganz in Ordnung, lieber Sam“, worauf Mr. Weller sich zum Zeichen des Verständnisses dreimal tüchtig an die Nase schlug, lächelte, blinzelte und mit dem Ausdruck der lebhaftesten Freude im Gesicht die Treppen hinanschritt.

Was den gelehrten Herrn betrifft, so bewies er in einer meisterhaften Abhandlung, die wundervollen Lichter seien Wirkung der Elektrizität, und bewies dies unwiderleglich durch den umständlichen Bericht, wie ihm, als er den Kopf zur Tür hinausgesteckt, ein blitzendes Leuchten vor den Augen getanzt und er gleich darauf einen Schlag erhalten, der ihn eine volle Viertelstunde seiner Sinne beraubt habe. Dieses Traktat versetzte sämtliche gelehrten Gesellschaften in grenzenlose Erregung und sicherte dem Autor als Licht und Zierde der Wissenschaft später großen Ruhm.

Achtunddreißigstes Kapitel


Achtunddreißigstes Kapitel

Führt Mr. Pickwick in eine neue und interessante Phase im großen Drama des Lebens.

Der Trinitytermin nahte heran, und nach Verlauf seiner ersten „Woche kehrte Mr. Pickwick mit seinem Freunde nach London zurück, geradenwegs in sein altes Quartier im „Georg und Geier“.

Am dritten Morgen nach der Ankunft, als sämtliche Glocken in der City, jede einzelne neun und alle zusammen neunhundert, schlugen und Sam eben im Hof frische Luft schöpfte, rasselte ein sonderbares frisch angestrichenes Vehikel vor, aus dem mit großer Behendigkeit, die Zügel einem neben ihm sitzenden vierschrötigen Mann zuwerfend, ein sonderbarer Herr heraussprang, der vortrefflich zu dem Fuhrwerk zu passen schien.

Das Fahrzeug war nämlich nicht ganz Gig und ebensowenig ein Stanhope. Es war nicht, was man in der Regel einen Cart nennt, keine Kalesche und kein Kabriolett, und doch hatte es etwas vom Charakter aller dieser Maschinen. Es war hellgelb angestrichen, die Deichsel und die Räder schwarz betupft, und der Kutscher saß in orthodoxem Jagdstile und Polstern, die etwa zwei Fuß höher waren als die Wagenleiter. Das Pferd, ein ziemlich munterer Brauner, hatte etwas Schmuckes und Bissiges an sich, das vortrefflich sowohl zu dem Wagen wie zu dem Herrn paßte.

Der Herr selbst war ungefähr Vierziger und trug schwarze Haare und einen sorgfältig gekämmten Schnurrbart; sein ganzer Anzug war auffallend und mit einer Menge Schmuck übersät, jeder Stein wenigstens dreimal so groß, als man gewöhnlich zu tragen pflegt; das Ganze krönte ein zottiger Überrock. In eine Tasche dieses Überrocks steckte der Herr beim Aussteigen seine linke Hand, während er aus der andern mit seiner rechten ein seidenes Sacktuch zog, mit dem er ein paar Staubflecken von seinen Stiefeln abwischte, es sodann in der Hand zusammendrückte und sodann weiter in den Hof vorging.

Es war Sams Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß, als dieser Herr abstieg, ein schäbig aussehender Mann in braunem Paletot mit etlichen fehlenden Knöpfen daran, der vorher dem Wirtshaus gegenüber auf und ab gewandelt war, auf einmal herüberkam und sich zu dem Ankömmling gesellte. Da Sam hinsichtlich des Zweckes eines Besuchs seitens dieses Gentlemans so seinen Verdacht hatte, ging er ihm in den „Georg und Geier“ voran, wandte sich dann rasch um und pflanzte sich mitten auf der Haustorschwelle auf.

„Na, Bursche!“ sagte der Herr in dem zottigen Rock mit herrischem Ton und versuchte ihn zugleich wegzustoßen.

„Na, also was denn?“ entgegnete Sam, den Stoß mit reichlichen Zinsen zurückgebend.

„Komm Er mir nicht so, Mensch. Laß Er das gefälligst, ja!“ schimpfte der Eigentümer des zottigen Rocks, seine Stimme erhebend, und wurde sehr blaß. „Hierher, Smouch.“

„Na gut, wo fehlt’s denn?“ murrte der Mann im knopflasen Überzieher, der sich während dieses kurzen Zwiegesprächs allmählich durch den Hof herangeschlichen hatte.

„Bloß eine Unverschämtheit von diesem jungen Burschen“, erklärte der Prinzipal, Sam einen neuen Stoß versetzend.

„Lassen S‘ das bleiben“, murrte Smouch und gab Sam ebenfalls einen recht derben Puff.

Das hatte die Wirkung, die der erfahrene Mr. Smouch beabsichtigte; denn während ihn Sam, um das Kompliment so schnell wie möglich zurückzugeben, an den Türpfosten drückte, schlich sich der Prinzipal hinein und gelangte in die Schenkstube, wohin ihm Sam unter allerhand bezeichnenden Bemerkungen gegen Mr. Smouch alsbald nachfolgte.

„Servus, liebes Kind“, sagte der Prinzipal mit kannibalischer Ungezwungenheit und neusüdwälischer Artigkeit zu der jungen Dame in der Schenkstube. „Wo ist Mr. Pickwicks Zimmer?“

„Zeigen Sie es ihm“, befahl das Mädchen einem Kellner, ohne den sonderbaren Gast eines weiteren Blickes zu würdigen.

Der Kellner ging die Treppe hinauf, der Herr mit dem zottigen Rock folgte, und dicht hinter ihm Sam, der unterwegs, zum unaussprechlichen Ergötzen des Gesindes und anderer Zuschauer, durch allerhand Gebärden seine überschwengliche Verachtung und einen herausfordernden Trotz an den Tag legte. Mr. Smouch, der an einem trockenen Husten litt, blieb unten im Gang.

Mr. Pickwick lag in tiefem Schlummer, als sein, früher Gast, von Sam gefolgt, ins Zimmer trat. Das Geräusch, das sie machten, weckte ihn auf. „Wasser zum Rasieren, Sam!“ rief er hinter den Bettvorhängen hervor.

„Rasieren Sie sich nur gleich, Mr. Pickwick“, sagte der Gast, den obersten Bettvorhang zurückschiebend. „Ich habe auf Verlangen der Bardell einen Exekutionsbefehl gegen Sie. – Da ist er. Unterzeichnet vom Gericht. Hier meine Karte. Ich dächte, Sie gingen mit mir.“ Dabei warf er seine Karte auf die gesteppte Bettdecke und zog einen goldnen Zahnstocher aus der Westentasche.

„Namby ist mein Name, Offiziant des Sheriffs“, sagte er, als Mr. Pickwick seine Brille unter dem Kissen hervorzog und aufsetzte, um die Karte zu lesen. „Namby, Bell Alley, in der Colemansstreet.“

Hier mischte sich Sam Weller, der seine Augen fortwährend wie gebannt auf Mr. Nambys glänzenden Biberhut geheftet hatte, ins Gespräch: „Sind Sie ’n Quäker?“ fragte er.

„Wirst es mit der Zeit schon erfahren, wer ich bin“, erwiderte der entrüstete Offiziant. „Ich will dir eines schönen Tags schon Mores lehren, mein sauberer Bursche.“

„Hut ab!“ sagte Sam als Antwort und schlug Mr. Namby geschickt und kräftig den Hut vom Kopf. Vor Schrecken verschluckte der Offiziant beinahe seinen goldnen Zahnstocher.

„Sie haben es gesehen, Mr. Pickwick“, sagte er, bestürzt nach Luft schnappend, „ich bin in der Ausübung meiner Amtspflicht von Ihrem Bedienten in Ihrem Zimmer tätlich insultiert worden. Ich bin in Gefahr und rufe Sie zum Zeugen auf.“

„Bezeugen Sie nichts, Sir“, unterbrach Sam. „Machen Sie die Augen fest zu, Sir; ich werde ihn zum Fenster hinauswerfen; nur schade, daß er nich hoch fallen kann.“

„Sam!“ verwies Mr. Pickwick in ärgerlichem Tone, als sein Bedienter allerhand feindselige Vorbereitungen traf. „Wenn du noch ein Wort sprichst oder diesem Manne die geringste Beleidigung zufügst, entlasse ich dich auf der Stelle.“

„Aber Sir – „, entgegnete Sam.

„Halt deinen Mund“, versetzte Mr. Pickwick, „und hebe den Hut wieder auf.“

Letzteres verweigerte Sam auf das entschiedenste, was ihm von seinem Herrn einen strengen Verweis eintrug, und schließlich hob der Beamte, der große Eile hatte, seinen Hut selbst auf. Die Drohungen, die er dabei ausstieß, ließen Mr. Weller sehr kalt und veranlaßten ihn nur zu der Bemerkung, daß, wenn Mr. Namby sich erkühnen sollte, seinen Hut wieder aufzusetzen, er ihm diesen bis ans Ende der nächsten Woche immer wieder herunterschlagen werde. Mr. Namby der sich von einem solchen Prozeß nicht viel Ersprießliches zu versprechen schien, zog es vor, Mr. Weller nicht in Versuchung zu führen, rief nach einer Weile Smouch herein und sagte ihm, die Verhaftung sei geglückt und er solle warten, bis Mr. Pickwick sich vollends angekleidet hätte, und stolzierte dann hinaus. Schließlich mußte Sam eine Droschke holen, und das Triumvirat fuhr nach der Colemansstreet. Glücklicherweise war das nicht weit, denn Mr. Smouch, der an sich schon kein eben bezauberndes Talent für Unterhaltung besaß, war bei dem trockenen Husten, der ihn beständig quälte, in einem so engen Raum ein entschieden unangenehmer Gesellschafter.

Der Wagen fuhr in die sehr enge und düstere Straße und hielt vor einem Haus mit eisernen Gittern an sämtlichen Fenstern an; die Türpfosten schmückte die Aufschrift: „Namby, Agent der Sheriffe von London.“ Das innere Tor wurde von einem Gentleman geöffnet, anscheinend einem verwahrlosten Zwillingsbruder Mr. Smouchs, der kraft seines Amtes mit einem gewaltigen Schlüssel bewaffnet war, und Mr. Pickwick in das „Gastzimmer“ gewiesen.

Dieses Gastzimmer war eine einfache Stube, deren Hauptvorzüge in ihrem frischen Sand auf dem Fußboden und veraltetem Tabaksrauch bestanden. Mr. Pickwick verbeugte sich gegen die drei Personen, die drinnen saßen, befahl Sani, Mr. Perker zu holen, zog sich in einen dunklen Winkel zurück und betrachtete von da aus mit beträchtlicher Neugierde seine Gefährten.

Einer davon war ein Bursche von neunzehn oder zwanzig Jahren, der, obgleich es erst zehn Uhr war, bereits Wacholderbranntwein mit Wasser trank und eine Zigarre dazu rauchte – Vergnügungen, denen er, nach seinem roten Gesicht zu schließen, die letzten zwei Jahre seines Lebens so ziemlich ununterbrochen gehuldigt haben mußte. Ihm gegenüber saß, mit der Stiefelspitze in der Kohlenglut herumstochernd, ein vierschrötiger Bursche von etwa dreißig Jahren, mit bleichem Gesicht und heiserer Stimme, der offenbar seine Weltkenntnis und faszinierende Ungeniertheit in Kneipen und an ordinären Billards erworben hatte. Der dritte Bewohner des Zimmers war ein Mann in mittleren Jahren mit einem sehr abgetragnen, schwarzen Rock und so verstörtem Aussehen, als erwartete er jemand.

„Sie können diesen Morgen mein Rasiermesser haben, Mr. Ayresleigh“, sagte der Mann am Kamin zu ihm und zwinkerte dabei seinem Freund, dem jungen Burschen, zu.

„Danke bestens; ich werde es nicht brauchen. Ich hoffe, etwa in einer Stunde frei zu werden“, erwiderte der Angeredete hastig, spähte durch die Fensterscheibe und wandte sich enttäuscht und seufzend wieder ab. Als er dann das Zimmer verließ, brachen die zwei andern in ein lautes Gelächter aus.

„Ein Mordsspaß“, sagte der Gentleman, der das Rasiermesser angeboten hatte und Price zu heißen schien.

„Man möcht’s kaum glauben“, wendete er sich dann lachend an Mr. Pickwick, „eine Woche schon hat sich dieser Mensch nicht rasiert, weil er immer meint, in einer halben Stunde frei zu sein.“

„Der arme Mann!“ erwiderte Pickwick. „Hat er denn gar keine Aussicht, aus seiner schwierigen Lage loszukommen?“

„Keine Spur“, erwiderte Price. „Ich möcht hundert gegen eins wetten, daß er zehn Jahre lang auf keine Straße mehr kommt.“

Dabei schnalzte Mr. Price verächtlich mit dem Finger und schellte.

„Geben Sie mir ’n Bogen Papier, Crookey“, sagte er zu dem Wärter, der seiner Kleidung und ganzen Erscheinung nach ein Mittelding zwischen einem bankrotten Viehmäster und einem zahlungsunfähigen Pächter zu sein schien, „und ein Glas Branntwein mit Wasser. Hören Sie? Ich will meinem Vater schreiben und muß eine kleine Anregung haben, sonst kann ich dem Alten kein Loch in den Bauch reden.“

Mr. Pickwick, den diese Sprache sowie das ganze Benehmen der zwei Burschen nicht wenig anekelte, wurde auf sein Verlangen in ein Privatzimmer geführt, das mit einem Teppich, einem Tisch, mehreren Stühlen, einem Kredenztisch und Sofa möbliert und mit einem Spiegel sowie mehreren alten Bildern geschmückt war. Hier hatte er den Genuß, solange sein Frühstück bereitet wurde, unmittelbar über seinem Haupte Mrs. Namby Klavier spielen zu hören, und als endlich aufgetragen wurde, erschien auch Mr. Perker.

„Aha, mein lieber Herr“, rief der kleine Mann, „endlich in die Falle gegangen? Ich gräme mich indes nicht sehr darüber, denn jetzt werden Sie doch endlich das Törichte Ihres Vorhabens einsehen. Ich habe mir den Betrag der Prozeßkosten sowie der Entschädigungsgelder notiert, und es wäre am gescheitesten, wir machten die Sache mit einem Male und ohne Zeitverlust ab. Namby wird wohl jetzt zurückgekommen sein. Was meinen Sie, mein lieber Herr, soll ich den Scheck gleich ausfüllen?“

„Perker“, erwiderte Mr. Pickwick voll Ernst, „ich muß Sie bitten, mich nichts mehr davon hören zu lassen. Ich sehe nicht ein, warum ich noch länger hier bleiben soll, und will deswegen heute nacht noch ins Gefängnis geführt werden.“

„In die Whitecrosstreet können Sie unmöglich, mein werter Herr“, stellte ihm Perker vor. „Da sind sechzig Betten in einer Abteilung und die Riegel sechzehn Stunden täglich vorgeschoben.“

„Also dann in ein anderes Gefängnis, wenn es möglich ist. wo nicht, so muß ich mich eben doch dort bequemen, so gut es geht.“

„Sie können in die Fleet gehen, mein lieber Herr, wenn Sie überhaupt entschlossen sind, wohin zu gehen“, meinte Perker.

„Also gut“, sagte Mr. Pickwick, „gleich nach dem Frühstück.“

„So warten Sie doch noch ein wenig, mein lieber Herr; es hat doch keine so schreckliche Eile“, sagte der gutmütige kleine Anwalt. „Wir müssen erst ein Habeas corpus erwirken und bis vier Uhr nachmittags warten. Früher ist kein Richter anzutreffen.“

„Auch recht“, sagte Mr. Pickwick mit unerschütterlichem Gleichmut, „dann können wir um zwei Uhr hier noch ein Beefsteak nehmen. Bestelle es, Sam, damit es pünktlich kommt.“

Da Mr. Pickwick trotz aller Vorstellungen und Beweisgründe Perkers fest blieb, erschienen und verschwanden die Beefsteaks zur bestimmten Zeit, und gleich darauf wurde die Fahrt nach Chancery Lane angetreten.

Im Vorzimmer von Sergeants Inn waren zwei Richter, einer von der Kings Bench und einer von Common Pleas, anwesend, und es schienen gewaltig viele Geschäfte abgemacht zu werden, wenigstens nach der Menge Advokatenschreiber, die mit Aktenstößen herein- und hinauseilten, zu schließen. Als die Herren an dem niedrigen Bogengang hielten, der den Eingang in die Inn bildet, zankte sich Mr. Perker einige Minuten lang mit dem Kutscher wegen des Fahrgeldes herum und Mr. Pickwick trat zur Seite, um dem Gedränge der Hinein- und Herausströmenden auszuweichen, und blickte mit einiger Neugierde um sich.

Drei oder vier Gentlemen von schäbig elegantem Aussehen, die vor den vorbeigehenden Anwälten an die Hüte griffen und ein Geschäft zu haben schienen, dessen Art er sich vergeblich zu erraten bemühte, erregten besonders seine Aufmerksamkeit.

Es waren das höchst sonderbar aussehende Leute. Der eine war schlank und ein bißchen lahm, hatte einen schmierigen schwarzen Rock an und ein weißes Halstuch; ein andrer war untersetzt und beleibt und ebenso gekleidet wie der erste, nur daß er ein großes, schwarz-rotes Halstuch trug; ein dritter, klein von Gestalt, hatte ein finniges Gesicht und sah aus wie ein Trunkenbold. Sie alle schlenderten, die Hände auf dem Rücken, mit aufmerksamen Blicken auf und ab und flüsterten von Zeit zu Zeit einigen von den Herren, die mit den Papieren in den Saal stürzten, etwas ins Ohr. Mr. Pickwick erinnerte sich, sie schon oft unter dem Torweg, wenn er gerade vorüberging, herumlungern gesehen zu haben, und war neugierig, welche Art Beruf diese schmierigen Gentlemen wohl haben möchten.

Eben wollte er Namby der sich dicht bei ihm hielt und an einem großen goldnen Ring an seinem kleinen Finger saugte, darüber befragen, als Perker zu ihm gestürmt kam und ihm mit der Bemerkung, man habe keine Zeit zu verlieren, den Weg in den Saal wies. Als er sich anschickte ihm zu folgen, trat der Lahme zu ihm, zog höflich den Hut und hielt ihm eine beschriebene Karte hin. Mr. Pickwick, um die Gefühle des Mannes nicht durch eine Weigerung zu verletzen, nahm sie freundlich an und steckte sie in seine Westentasche.

„Hier herein, bitte“, sagte Perker und wandte sich, bevor er in die Amtsstube trat, um, ob seine Gefährten auch hinter ihm seien. „Hier herein, mein lieber Herr. Ja, was wollen denn Sie?“

Die Frage galt dem Lahmen, der sich ohne Mr. Pickwicks Wissen angeschlossen hatte. Statt der Antwort zog der Mann mit größter Höflichkeit den Hut und deutete auf Mr. Pickwick.

„Nein, nein“, wehrte Perker lächelnd ab, „wir bedürfen Ihrer ganz und gar nicht, guter Freund.“

„Bitte um Entschuldigung, Sir“, erwiderte der Lahme, „aber der Herr hat meine Karte angenommen. Ich hoffe, Sie werden Verwendung für mich haben, Sir. Der Herr hat mir zugenickt, Sir! Ich berufe mich auf den Herrn selbst. Nicht wahr, Sie haben mir zugenickt, Sir?“

„Lächerlich, Unsinn. Sie haben niemand zugenickt, Pickwick. Ein bloßes Mißverständnis“, sagte Perker.

„Der Herr hat mir seine Karte angeboten“, erklärte Mr. Pickwick und zog sie aus der Tasche. „Ich habe sie angenommen, wie der Herr zu erwarten schien; ich war in der Tat einigermaßen neugierig, sie gelegentlich näher zu betrachten – ich – „

Der kleine Advokat brach in ein lautes Gelächter aus, gab dem Lahmen die Karte zurück, sagte ihm, es sei ein Mißverständnis, und flüsterte Mr. Pickwick, als der Mann sich wutentbrannt abwandte, ins Ohr, es sei dies nur ein „Bürge“.

„Ein was?“ rief Mr. Pickwick.

„Ein Bürge“, wiederholte Perker.

„Ein Bürge?“

„Ja, mein lieber Herr; es gibt ungefähr ein halbes Dutzend solcher Leute hier. Sie verbürgen sich für jede beliebige Summe und verlangen nur eine halbe Krone. Nicht wahr, ein sonderbares Geschäft?“ fügte Perker hinzu und labte sich mit einer Prise Tabak.

„Wie?!“ rief Mr. Pickwick, ganz erschrocken über diese Entdeckung. „Verstehe ich recht? Erwerben diese Leute wirklich dadurch ihren Lebensunterhalt, daß sie hier herumlungern und vor den Richtern des Landes Meineide schwören? – Für eine halbe Krone ein Verbrechen?“

„Meineid müssen Sie es nicht gerade nennen, mein lieber Herr“, erwiderte der kleine Anwalt, „dieser Ausdruck ist ein wenig zu hart. Es ist eine Rechtsfiktion, mein lieber Herr, weiter nichts.“ Dabei zuckte Mr. Perker die Achseln, lächelte, nahm eine zweite Prise und ging voraus in die Gerichtsschreiberei.

Es war das ein Raum von ganz besonders schmutzigem Aussehen, mit sehr niedriger Decke und getäfelten Wänden, dabei so finster, daß man bei hellichtem Tag auf den Schreibtischen große Talglichter brannte. Eine Tür führte in das Privatzimmer des Richters, um die sich eine Menge von Anwälten und Schreibern drängte, die hereingerufen wurden, sobald die Reihe an sie kam. Sooft diese Tür sich öffnete, um eine Partei hinauszulassen, machte die nächstfolgende Partei jedesmal gewaltsame Versuche sich vorzudrängen, was immer nebst den lauten Zwiegesprächen zwischen den Gentlemen, die auf den Anblick des Richters harrten, und allerhand persönlichen Zwistigkeiten ein betäubendes Getöse hervorrief. In einer Loge hinter einer hölzernen Schranke am andern Ende des Zimmers stand ein Schreiber mit der Brille auf der Nase, der die Advokatenschreiber beeidigte und die Protokolle darüber haufenweise von Zeit zu Zeit dem Richter zur Unterschrift in sein Privatzimmer schickte. Dabei gab es an der Schranke des bebrillten Herrn ein Stoßen und Drängen, wie manchmal am Eingang des Theaters, wenn Ihre Majestät dasselbe mit Allerhöchst Ihrer Gegenwart beehrt. Ein andrer Held von der Feder übte seine Lunge von Zeit zu Zeit damit, daß er die Namen der Beeidigten laut ausrief, um ihnen vom Richter unterzeichnete Affidavits zurückzustellen, was natürlicherweise wieder zu mehrfachen Püffen und Stößen Veranlassung gab, und da alles dies zu gleicher Zeit geschah, so herrschte ein beispielloses Durcheinander und Getöse.

Zwischendurch hörte man den Mann mit der Brille‘ in gleichmäßigem Tonfall und ohne Unterbrechung die Eidesformel und was dazu gehörte wiederholen:

„Nehmen Sie das Buch in die rechte Hand dies ist Ihr Name und Handschrift Sie schwören daß der Inhalt Ihres Affidavits wahr ist so wahr mir Gott helfe Sie müssen einen Schilling bezahlen herausgeben kann ich nicht.“

Es währte lange genug, bis Mr. Pickwick dran kam und der Bewachung des Gerichtsdieners mit dem Bemerken, ihn dem Vorsteher des Fleetgefängnisses zu überantworten und so lange in Verwahrung zu halten, bis die Entschädigungssumme an Mrs. Bardell nebst Prozeßkosten auf Heller und Pfennig bezahlt sein würde, übergeben wurde.

„Da soll ihnen die Zeit lang werden“, sagte Mr. Pickwick lachend. „Sam, hole eine Droschke. Perker, mein werter Freund, auf Wiedersehen!“

„Ich werde mit Ihnen gehen, um mich von Ihrer glücklichen Ankunft zu überzeugen“, erwiderte Perker.

„Ich danke Ihnen vielmals“, lehnte Mr.Pickwick ab, „aber ich möchte mich nur von Sam begleiten lassen. Sobald ich mich häuslich eingerichtet habe, werde ich Ihnen schreiben und bitte dann um Ihren Besuch. Inzwischen leben Sie wohl.“

Sam setzte sich auf den Bock und sie fuhren ab.

„Ein ganz außerordentlicher Mann das“, sagte Perker und blieb stehen, um seine Handschuhe anzuziehen,

„Er hätte einen famosen Bankerottier abgegeben, Sir“ bemerkte Mr. Lowten, der in der Nähe stand. „Der würde die Kommissäre was plagen, bis sie schwarz würden.“

Inzwischen rumpelte die Kutsche in die Fleetstreet, und der Gerichtsdiener führte Mr. Pickwick und Sam ins Gefängnis. Dort wandten sie sich nach links und gelangten durch eine offene Tür in eine Vorhalle, aus der ein schweres Tor, von einem vierschrötigen Kerkermeister mit dem Schlüssel in der Hand bewacht, ins Innere des Gefängnisses führte.

Hier warteten sie, bis der Gerichtsdiener seine Papiere abgegeben hatte, und man sagte Mr. Pickwick, er habe sich so lange zu gedulden, bis er sich der dem Eingeweihten wohlbekannten Zeremonien unterworfen, das heißt, zu einem Porträt gesessen hätte.

„Zu meinem Porträt gesessen?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja, Sir, damit wir Ihr Konterfei haben“, erklärte der stämmige Schließer. „Wir verstehen uns aufs Abkonterfeien, brauchen nur einen Augenblick dazu und treffen immer richtig. Tun Sie ganz, als ob Sie zu Hause wären, Sir.“

Mr. Pickwick willfahrte der Aufforderung, setzte sich, und Mr. Weller, der sich hinter seinem Stuhle aufgestellt, flüsterte ihm zu, das mit dem „Porträtsitzen“ sei bloß ein andrer Ausdruck für die Beaugenscheinigung von Seiten der verschiedenen Schließer, damit diese die Gefangenen von Besuchern unterscheiden könnten.

„Gut Sam“, sagte Mr. Pickwick, „dann wünschte ich, die Künstler kämen. Es ist das ein unangenehm exponierter Platz.“

„Sie werden wohl nich lange ausbleiben“, versetzte Sam. „Da hängt ’ne hölzerne Schwarzwälderuhr.“

„Das sehe ich“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Und ’n Vogelkäfig. Reusen in Reusen, ’n Gefängnis im Gefängnis. Nich wahr, Sir?“

Noch während Mr. Weller diese philosophische Betrachtung zum besten gab, gewahrte Mr. Pickwick, daß das „Sitzen“ bereits seinen Anfang genommen hatte, denn der stämmige Schließer hatte Platz genommen und betrachtete ihn nachlässig von Zeit zu Zeit, indes ein langer, schmächtiger Bursche, mit den Händen unter den Rockschößen, sich ihm gegenüber aufpflanzte und ihn unverwandt anstarrte. Ein dritter Gentleman von etwas grämlichem Aussehen, der offenbar beim Tee gestört worden war, denn er verfügte bei seinem Eintritt gerade über den letzten Rest seiner butter-bestrichenen Brotschnitte, stellte sich dicht daneben auf, stemmte die Hände in die Seiten und beschaute ihn so nahe wie möglich, während noch zwei andre mit aufmerksamen, gedankenschweren Gesichtern seine Züge studierten.

Mr. Pickwick rückte dabei des öftern unruhig hin und her, und die Sitzung schien ihm ganz und gar nicht zu behagen; er machte jedoch die ganze Zeit über keine Bemerkung, selbst gegen Sam nicht, der, an die Rückseite des Stuhles gelehnt, teils über die Lage seines Herrn, teils über das große Vergnügen nachdachte, das ihm ein feindlicher Angriff auf sämtliche Schließer gewähren würde, wenn er unter dem Schutz des Gesetzes und ohne Friedensbruch über einen nach dem andern herfallen dürfte.

Endlich war das Konterfei vollendet, und man bedeutete Mr. Pickwick, er könne sich jetzt ins Gefängnis verfügen.

„Wo werde ich heute nacht schlafen?“ fragte Mr. Pickwick.

„Das weiß ich selbst nicht recht“, erwiderte der vierschrötige Schließer, „aber morgen bekommen Sie ’n Schlafkameraden und können sich dann häuslich einrichten. In der ersten Nacht ist gewöhnlich noch nicht alles recht in Ordnung, aber morgen können Sie bekommen, was Sie wollen.“ Nach einigem Hin und Her erwies es sich indessen, daß einer der Schließer ein Bett zu vermieten hatte, und Mr. Pickwick war froh, es für die Nacht bekommen zu können.

„Wenn Sie mit mir kommen wollen, so will ich es Ihnen sogleich zeigen“, sagte der Mann. „Es ist zwar nicht besonders groß, aber pennen kann man herrlich drin. – Hier, Herr.“

Sie gingen durch das innere Tor, stiegen eine kurze Treppe hinab, der Schlüssel wurde hinter ihnen umgedreht, und Mr. Pickwick befand sich zum ersten Male in seinem Leben innerhalb der Mauern eines Schuldgefängnisses.

Neununddreißigstes Kapitel


Neununddreißigstes Kapitel

Wie es Mr. Pickwick in der Fleet erging, was für Schuldgefangene er daselbst antraf und wie er die Nacht zubrachte.

Mr. Tom Roker, der Gentleman, der Mr. Pickwick ins Gefängnis begleitet hatte, wandte sich unten auf der kurzen Treppe nach rechts und führte den Gelehrten durch ein offenstehendes eisernes Tor, sodann eine andre kurze Treppe hinauf in einen langen, engen, schmutzigen, niedrigen, mit Steinen bepflasterten Gang, der bloß durch ein einziges Fenster an jedem Ende ein höchst spärliches Licht erhielt.

„Dies“, sagte der Gentleman mit einem Blick über die Schulter und steckte die Hände in die Taschen, „dies ist der Weg zur Halle.“

„So“, erwiderte Mr. Pickwick, eine dunkle schmutzige Treppe hinabblickend, die zu einer Reihe dumpfer, düsterer unterirdischer Steingewölbe zu führen schien, „und dies da sind wohl die kleinen Keller, wo die Gefangenen ihre geringen Kohlenvorräte aufbewahren? Der Zugang ist recht abscheulich, aber zu diesem Zwecke mögen sie wohl brauchbar sein.“

„Na, warum sollten sie nicht brauchbar sein“, meinte der Gentleman, „es wohnen ja mehrere Leute ganz hübsch darin.“

„Mein Freund“, sagte Mr. Pickwick, „es wird Ihnen doch nicht Ernst damit sein, daß menschliche Wesen in diesen Löchern wohnen?“

„Na warum denn nicht?“ erwiderte Mr. Roker mit unwilliger Verwunderung, „Warum denn nicht?“

„Da unten leben also wirklich Menschen?“ rief Mr. Pickwick.

„Ja, sie leben da unten, und sehr oft sterben sie auch da unten“, erwiderte Mr. Roker. „Was liegt denn dran? Wer kann etwas dagegen einwenden? ’s is ’n ganz guter Platz zum Leben.“

Da Rocker bei diesen Worten sich etwas barsch gegen Mr. Pickwick umwandte und noch überdies in gereiztem Tone gewisse unfreundliche Äußerungen über seine Augen, seine Glieder und seine in den Adern zirkulierenden Flüssigkeiten vor sich hin murmelte, hielt es der treffliche Gelehrte für ratsam, das Gespräch nicht weiter zu verfolgen. Mr. Roker stieg wieder eine Treppe hinauf, die so schmutzig war wie die letzte, und die Herren Pickwick und Weller folgten ihm auf den Fersen.

„Hier“, zeigte Mr. Roker und schöpfte Atem, als sie eine andre Galerie von demselben Umfang wie die untere erreicht hatten, „hier ist der Kantinengang; es sind noch zwei darüber, und das Zimmer, wo Sie heute nacht schlafen werden, gehört dem Gefängniswärter; es ist hier; treten Sie ein.“

Nachdem Mr. Roker dies alles in einem Atem heruntergesagt, stieg er mit seinen Begleitern von neuem eine Treppe hinauf.

Diese erhielt ihr Licht von einigen niedrig angebrachten Fenstern, die auf einen mit Kies bedeckten und von einer hohen Backsteinmauer mit eisernen spanischen Reitern umgebenen offenen Raum hinabsahen. Es war das, wie aus Mr. Rokers Erklärung hervorging, der Ballspielplatz, und nach dem Bericht desselben Gentleman befand sich in dem zunächst an die Farringdonstreet stoßenden Teile des Gefängnisses ein ähnlicher, aber kleinerer Hofraum, der „gemalte Platz“ genannt, weil man an seinen Mauern früher mehrere Abbildungen von Kriegsschiffen unter vollen Segeln sowie andre Kunstleistungen hatte bewundern können, durch die sich weiland ein eingesperrter Maler in seinen Mußestunden verewigt hatte.

Nachdem Mr. Roker diese Erklärung, augenscheinlich mehr um seine Seele von einem wichtigen Geheimnis zu erleichtern, als in der spezifischen Absicht, Mr. Pickwick aufzuklären, von sich gegeben hatte, ging er mit ihm in eine andre Galerie, öffnete eine Tür und schloß ein Zimmer von keineswegs einladendem Aussehen auf, in dem acht bis neun eiserne Bettstellen standen.

„Hier“, sagte er, hielt die Tür offen und warf Mr. Pickwick einen triumphierenden Blick zu, „hier ist ein Zimmer.“

Mr. Pickwicks Gesicht verriet indes ein so geringes Maß von Zufriedenheit, daß Mr. Roker in den Mienen Samuel Wellers, der bis jetzt ein würdevolles Schweigen beobachtet hatte, nach Verständnis suchte.

„Hier ist ein Zimmer, junger Mann“, wiederholte er. „Ich sehe es“, erwiderte Sam mit freundlichem Kopfnicken. „Was meinen Sie? So ein Zimmer würden Sie im Farringdonhotel nicht finden“, sagte Mr. Roker mit selbstgefälligem Lächeln.

Statt aller Antwort drückte Mr. Weller auf eine lässige und unstudierte Weise ein Auge zu, was entweder bedeuten konnte, er denke auch so, oder er denke nicht so, oder er habe überhaupt noch nicht darüber nachgedacht, wie es sich der Beobachter eben auslegen möge. Nachdem er diese Handlung vollbracht und sein Auge wieder geöffnet hatte, fragte er Mr. Roker, welches die merkwürdige Bettstelle sei, in der es sich nach seiner reizvollen Beschreibung so herrlich schlafen lasse.

„Diese da“, bedeutete Mr. Roker, auf eine rostige Bettlade in einem Winkel zeigend. „Jedermann schläft darin ein, er mag wollen oder nicht.“ „Dann wären ja“, erwiderte Sam, mit einem Blick ausgeprägten Widerwillens auf das fragliche Möbel, „dann wären ja Mohnköpfe nichts dagegen.“ „Das ist wahr“, versetzte Mr. Roker. „Und“, fügte Sam mit einem Seitenblick auf seinen Herrn hinzu, ob er bei diesem nicht etwa Merkmale eines erschütterten Entschlusses zu erkennen vermöchte, „die andern Herren, die hier noch schlafen, sind doch hoffentlich Gentlemen?“

„Versteht sich“, sagte Mr. Roker. „Einer von ihnen trinkt Tag für Tag zwölf Kannen Ale und läßt seine Pfeife nie kalt werden, nicht mal beim Essen.“

„Muß „n Kapitalkerl sein“, meinte Sam.

„Ja, freilich, ich bin es doch selbst.“

Keineswegs eingeschüchtert durch diese Nachricht, kündigte Mr. Pickwick seinen Entschluß an, die Wunderkräfte des narkotischen Bettes für die Nacht zu erproben; Mr. Roker bedeutete ihm, er könne sich ohne weitere Umstände oder Formalitäten zu jeder beliebigen Stunde zur Ruhe begeben, und ließ ihn sodann mit Sam auf dem Gange stehen.

Es wurde dunkel, das heißt, an diesem niemals hellen Platze wurden aus Artigkeit gegen den Abend, der sich außerhalb eingestellt hatte, einige Gaslichter angezündet. Da es ziemlich heiß war, so hatten die Bewohner einiger von den zahlreichen, auf beiden Seiten auf den Gang mündenden Stuben ihre Türen mehr oder weniger weit aufgemacht, und Mr. Pickwick schaute im Vorübergehen mit großer Neugierde und vielem Interesse hinein. Im ersten saßen vier oder fünf Burschen, durch eine Wolke von Tabaksrauch beinahe unsichtbar, in lärmender Unterhaltung bei halbleeren Bierkannen und spielten mit schmierigen Karten „Alle vier“. Im nächsten Zimmer erblickte er einen einsamen Bewohner, der beim Schein eines schwachen Talglichts einen Pack beschmutzte, vergilbte und vor Alter beinahe zerfallene Papiere studierte und zum hundertsten Mal ein langes Verzeichnis seiner Beschwerden an einen bedeutenden Mann niederschrieb, dessen Augen es niemals lesen, dessen Herz nie dadurch gerührt werden sollte. In einem dritten wohnte ein Mann mit seinem Weibe und einem ganzen Haufen Kinder und bereitete für die jüngsten ein ärmliches Nachtlager auf der Erde oder auf ein paar Stühlen. Im vierten, fünften, sechsten und siebenten wiederholte sich das Geschrei, das Biertrinken, der Tabaksrauch und das Kartenspiel in verstärktem Maße.

Auf den Gängen selbst, und besonders auf den Treppen, standen eine Masse Leute herum, einige, weil ihnen ihre Zimmer zu leer und zu einsam, andre, weil sie ihnen zu voll und zu heiß waren, die meisten aber, weil sie keine Ruhe fanden, sich unbehaglich fühlten und das Geheimnis nicht besaßen, mit Bestimmtheit zu wissen, was sie mit sich selbst anfangen sollten. Es waren Leute von allen Klassen da, vom Arbeiter im blauen Kittel bis zum ruinierten Verschwender im feinen tuchenen Schlafrock mit zerrissenen Ellenbogen; aber alle hatten dieselbe Art, sich zu benehmen, eine gewisse leichtfertige Galgenvogelsorglosigkeit, ein großtuerisches, vagabundisches Wesen, das sich mit Worten schlechterdings nicht beschreiben läßt, wovon aber jeder, der Lust hat, sogleich Einsicht nehmen kann, wenn er einen Fuß in das nächste beste Schuldgefängnis setzt und die Gruppen, die er erblickt, mit genügendem Interesse betrachtet.

„Sam“, sagte Mr. Pickwick und lehnte sich an das.eiserne Geländer oben am Treppenabsatz, „es will mir scheinen als ob die Schuldhaft kaum eine Strafe genannt werden könnte.“

„Wirklich nich, Herr?“

„Du siehst doch, wie diese Burschen trinken, rauchen und schreien. Ihre Lage kann ihnen unmöglich sehr zu Herzen gehen.“

„Das is es eben, Herr“, erwiderte Sam. „Die machen sich freilich nicht viel daraus. Sie haben alle Tage blauen Montag, saufen ’n ganzen Tag Porter und kegeln; aber ’s gibt auch noch andre, wo kein Bier trinken und nich Kegel schieben können und gerne bezahlen würden, wenn sie das Geld dazu hätten, und wo ganz traurig werden. Ich will Ihnen sagen, was es is, Sir; denen, wo den ganzen Tag über in den Kneipen rumkugeln, denen schadet es nichts, aber denen, wo immer arbeiten, wenn sie Arbeit finden, denen schadet es viel zuviel. Es is gar zu ungleich, wie mein Vater zu sagen pflegte, wenn sein Grog nich gerade halb Rum und halb Wasser war; es is gar zu ungleich, und darum ist die Sache oberfaul.“ „Mir scheint, du hast recht, Sam“, sagte Mr. Pickwick nachdenklich, „du hast sogar völlig recht.“

„Vielleicht gibt es dann und wann auch ’n paar ehrliche Leute, denen es gefällt“, bemerkte Mr. Weller mit gedankenvoller Miene, „aber ich habe noch von keinem nich gehört, ausgenommen von dem kleinen Mann mit dem schmutzigen Gesicht und dem braunen Rock, und da war es die Macht der Gewohnheit.“

„Wer war denn das?“ fragte Mr. Pickwick.

„Das is doch ebend die Sache, die kein Mensch niemals nich erfahren hat“, erwiderte Sam.

„Hm, und was hat er getan?“

„Tja, dasselbe, was manche viel berühmtere Leute auch schon gemacht haben, Sir“, erwiderte Sam, „hat seine Ausgaben und seine Einnahmen nich ins Gleichgewicht bekommen.“

„Das heißt vermutlich, er hat Schulden gemacht?“

„Ganz genau, Sir. Und so kam er denn im Lauf der Zeit demzufolge hierher. Es war nich viel – Exekution wegen rund neun Pfund geradeaus, multipliziert mit fünf für Unkosten, und doch mußte er siebzehn Jahre lang hierbleiben. Wenn er Runzeln im Gesicht bekam, so wurden sie mit Schmutz verstopft, denn sowohl seine schmierige Visage wie der braune Rock waren ganz dieselben, am Ende dieser Zeit wie am Anfang. Er war ’n stilles, harmloses kleines Männchen, das sich immer was zu schaffen machte oder Ball spielte und nie gewann, bis ihm endlich die Schließer liebgewannen und ihn jeden Abend auf ihr Zimmer kommen ließen, wo er mit ihnen schwatzen und ihnen Geschichten erzählen mußte und dergleichen. Eines Abends war er wie gewöhnlich auch da, und ganz alleine mit ’nem alten Freunde, wo gerade die Schlüssel hatte, da fing er auf einmal an und sagte: ,Bill, ich habe den Markt draußen nu schon siebzehn Jahre nich mehr gesehen.‘ (Dazumal war gerade der Fleetmarkt.) ,Ich weiß wohl‘, sagte der Schließer und rauchte seine Pfeife. – ,Ich möchte ihn gar zu gerne auf eine Minute wieder sehen, Bill‘, fuhr der Kleine fort. – ,Glaub’s wohl‘, sagte der Schließer und dampfte mächtig, um sich den Anschein zu geben, als ob er den kleinen Mann nich verstünde. – ,Aber‘, sagte dieser immer dringlicher, ,ich habe es mir nu mal in den Kopf gesetzt. Laß mich die Straße noch mal vor meinem Tode sehen, und wenn midi der Schlag nich rührt, bin ich in fünf Minuten wieder da.‘ – .Aber‘, sagte der Schließer, ,wat soll aus mir werden, wenn der Schlag dich wirklich rührt?‘ – ,Na‘, erwiderte das kleine Männchen, ,wer mir findet, der wird mir schon wiederbringen, ich habe doch meine Karte in der Tasche: Nummer zwanzig Restaurationsgang.‘ Und das war wirklich so, denn wenn er mit einem Neuangekommenen Bekanntschaft machen wollte, zog er jedesmal ’ne kleine, biegsame Karte, wo sonst nichts draufstand, aus der Tasche. Drum nannten sie ’n auch nur die ,Nummer zwanzig‘. Der Schließer sah ihn scharf an und sagte zuletzt feierlich: ,Zwanzig, ich will dir trauen; du wirst deinen alten Freund nich in Verlegenheit bringen.‘ – ,Nein, mein Schatz‘, antwortete das kleine Männchen, ,ich hoffe, ’s steckt was Besseres hier unten‘, und dabei schlug er sich mit Macht auf sein kleines Westchen, und in jedem Auge stand ihm ’ne Träne, was ganz außerordentlich war, denn er galt dafür, daß niemals Wasser sein Gesicht berührte. Dann schüttelte er dem Schließer die Hand, ging raus – „

„– und kam nie wieder“, ergänzte Mr. Pickwick.

„Vollkommen danebengehauen, Sir!“ entgegnete Mr.Weller. „Denn er kam zwei Minuten vor der Zeit zurück und kochte vor Wut und sagte, beinah hätte ihn ’ne Droschke überfahren und er war so was nich gewöhnt und wenn er nich an den Bürgermeister schreiben würde, dann würde es dreizehn schlagen. Sie beschwichtigten ihn endlich, aber fünf ganze Jahre nachher noch hat er nie mehr auch nur ’n Blick zum Tor rausgeworfen.“

„Und nach Verlauf dieser Zeit ist er wohl gestorben?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nö, auch das nich“, erwiderte Sam. „Er bekam ’n Gelüste, in dem neuen Wirtshaus über der Straße das Bier zu versuchen, und dort war ’n so hübsches Zimmer, daß er sich’s in den Kopf setzte, jeden Abend dahin zu gehen, was er lange Zeit tat und immer regelmäßig etwa ’ne Viertelstunde vor Torschluß wiederkam. Das war nun allens ganz hübsch und gut, aber dann wurde er so fidel, daß er nich an die Zeit dachte und sich gar nichts mehr daraus machte, daß es immer später und später wurde, bis er zuletzt einen Abend am Tor ankam, wie sein guter Freund eben zuschließen wollte und hatte schon den Schlüssel umgedreht. – ,He, Bill, halt!‘ rief er ihm zu. – ,Bist du denn noch nicht zu Hause, Nummer zwanzig?‘ sagte der Schließer, ,ich dachte, du bist schon lange da.‘ – ,Ach, wo werd ich denn‘, sagte der Kleine lächelnd. – ,Denn will ich dir mal was sagen, guter Freund‘, sagte der Schließer und machte das Tor langsam und bedächtig wieder auf, ,ich habe mit großem Leidwesen gesehen, daß du in letzter Zeit in schlechte Gesellschaft geraten bist. Ich will ja nicht zu hart mit dir verfahren, aber wenn du dir nich an orntliche Leute halten tust und zur regelmäßigen Stunde wiederkommen tust, denn schließe ich dir ganz und gar aus, so wahr ich hier stehe.‘ Na, und da fing der kleine Mann an, mächtig zu zittern und zu beben, und seitdem ging er nie mehr aus dem Gefängnis raus.“ Als Sam geendet, ging Mr. Pickwick langsam die Treppe wieder hinab, und nachdem er einige Male auf dem bemalten Platz, wo er, da es jetzt dunkel war, beinahe allein sein konnte, gedankenvoll auf und ab geschritten, sagte er, es scheine ihm hohe Zeit zu sein, zu Bett zu gehen; Sam solle in einem nahen Wirtshaus eine Unterkunft suchen und am andern Morgen beizeiten wiederkommen, um für die Herbeischaffung der Garderobe aus dem „Georg und Geier“ Sorge zu tragen. Mr. Weller schickte sich an, diesem Befehl mit so viel Anstand, als er aufbringen konnte, nachzukommen, legte aber nichtsdestoweniger einen bedeutenden Widerwillen an den Tag. Er ging sogar so weit, durch allerhand wirkungslose Winke anzudeuten, daß es passender wäre, wenn er sich für heute nacht auf den Kiesboden hinstreckte; da er indes Mr. Pickwick für alle solche Anspielungen hartnäckig taub fand, zog er sich endlich zurück.

Mr. Pickwick war äußerst gespannt und fühlte sich höchst unbehaglich – nicht wegen Mangels an Gesellschaft, denn das Gefängnis war sehr voll, und mit einer Flasche Wein hätte er sich ohne weiteres Einführungszeremoniell die beste Kameradschaft einiger auserwählter Geister erkaufen können –, allein er fühlte sich einsam unter dem rohen Gesindel, und der Gedanke, ohne Aussicht auf Befreiung eingekerkert zu sein, benahm ihm allen frohen Mut. Dessenungeachtet fiel es ihm aber nicht im entferntesten ein, sich damit loszumachen, daß er den Betrügereien Dodson und Foggs Vorschub leistete.

In dieser Stimmung begab er sich noch einmal in den Restaurationsgang und spazierte langsam auf und ab. Der Platz war unerträglich schmutzig und der Tabaksdampf beinahe erstickend. Die Leute warfen unaufhörlich die Türen zu, wenn sie aus und ein gingen, und das Geräusch ihrer Stimmen und Fußtritte hallte beständig durch den Gang. Eine junge Frau mit einem Kind auf den Armen, das vor Magerkeit und Elend kaum kriechen zu können schien, ging mit ihrem Manne, der keinen andern Platz hatte, um ihren Besuch zu empfangen, den Gang auf und ab. Als sie an Mr. Pickwick vorbeikamen, konnte er die Frau bitterlich schluchzen hören, und einmal brach sie in ein so heftiges Jammern aus, daß sie sich an der Wand halten mußte, indes der Mann das Kind in seine Arme nahm und sie zu beruhigen versuchte.

Mr. Pickwicks Herz war wirklich zu voll, um dies zu ertragen, er ging die Treppen hinauf und ins Bett.

Obgleich nun das Zimmer des Gefängniswärters in bezug auf Möblierung und Einrichtung durchaus unwohnlich und um mehrere hundert Grad schlechter war als das gemeinste Krankenzimmer in einem Grafschaftsgefängnis, so hatte es doch für den Augenblick den Vorzug, ganz verlassen zu sein. Mr. Pickwick setzte sich am Fuß seiner kleinen eisernen Bettstatt nieder und begann zu berechnen, wieviel der Gefängniswärter wohl jährlich aus diesem schmutzigen Zimmer lösen könne. Nachdem er auf mathematischem Wege herausgebracht, daß es vielleicht so viel eintrage, wie eine kleine Straße in den Vorstädten Londons, fing er an, sich zu wundern, welche Versuchung wohl eine trübsinnige Fliege, die auf seinen Beinkleidern herumkroch, verlockt haben möge, in ein Gefängnis zu kommen, während sie doch unter so vielen lustigen Wohnungen die Wahl habe – eine Betrachtung, die ihn zu dem unabweislichen Schluß leitete, das Insekt müsse verrückt sein. Nachdem er über diesen Punkt ins reine gekommen, fing er an, sich bewußt zu werden, daß er schläfrig sei. Er zog daher seine Nachtmütze aus der Tasche, die er morgens einzustecken die Vorsicht gebraucht hatte, kleidete sich gemächlich aus, ging ins Bett und schlummerte.

„Bravo! Fersen höher! Hoppla! Hopsa! Zephyr! Ich will mich hängen lassen, wenn nicht das Opernhaus Ihre eigentliche Hemisphäre ist. Holla ho!“ Diese und ähnliche, mit tobendem Geschrei hervorgelärmten und von lautem, schallendem Gelächter begleiteten Ausdrücke erweckten Mr. Pickwick aus einem jener gesunden Schlummer, die in Wirklichkeit nur eine halbe Stunde andauern, dem Schläfer aber drei bis vier Wochen lang gewährt zu haben scheinen.

Die Stimme hatte kaum aufgehört, als das Zimmer mit solcher Heftigkeit erschüttert wurde, daß die Fenster klirrten und die Bettladen erzitterten. Mr. Pickwick schrak auf und blieb, einige Minuten lang in stummes Erstaunen über die seinen Augen sich darstellende Szene versunken, aufrecht sitzen.

In seinem eignen Zimmer nämlich führte ein Mann in einem grobgesäumten grünen Rock, manchesternen Kniehosen und grauen wollenen Strümpfen die populärste Art eines Hornpipetanzes mit einer spitzbübisch-burlesken Karikatur von Anmut und Grazie auf, die, verbunden mit dem eigentümlichen Charakter seines Kostüms, unaussprechlich phantastisch war. Ein andrer Mann, offenbar sehr betrunken und wahrscheinlich von seinem Kameraden in ein Bett geworfen, saß zwischen den Tüchern und trillerte, soweit es ihm sein Gedächtnis gestattete, ein komisches Lied mit sentimentalem Text, indes ein dritter, gleichfalls auf einem Bette, den beiden Künstlern mit tiefer Kennermiene zujubelte und sie durch das Übermaß von Empfindung, das Mr. Pickwick bereits aus dem Schlafe gestört hatte, anfeuerte.

Dieser letzte war ein bewunderungswürdiges Muster von einer Klasse Leute, die in ihrer gänzlichen Vollkommenheit nur an solchen Orten zu sehen sind und – im unvollkommenen Zustand gelegentlich auch in der Gegend von Viehställen und in öffentlichen Häusern zu treffen sind, aber ihre volle Blume erst in diesen Mistbeeten, die von der Gesetzgebung wohlweislich einzig und allein zu ihrer Erziehung geschaffen zu sein scheinen, entfalten.

Er war ein langer Kerl von olivenbrauner Gesichtsfarbe, hatte lange, dunkle Haare und einen sehr dicken, buschigen Schnurrbart, der unter dem Kinn zusammenlief. Er trug kein Halstuch, da er den ganzen Tag Tennis gespielt hatte, und sein offner Hemdkragen enthüllte die volle Üppigkeit seines Nackens. Auf dem Kopf hatte er eine gewöhnliche französische Mütze zu achtzehn Pence sitzen, mit bunten Troddeln daran, die zu dem gemeinen Barchentrock sich sehr hübsch ausnahmen. Seine Beine, lang und dünn, schmückten ein Paar Oxforder Pumphosen, geeignet, die Symmetrie seiner Glieder ins gehörige Licht zu setzen. Da sie indes etwas nachlässig geschnallt und außerdem auch unvollständig zugeknöpft war, so fiel sie in einer Reihe nicht eben sehr anmutsvoller Falten über ein Paar Schuhe gerade so weit herab, um ein Paar schmutzige weiße Strümpfe sehen zu lassen. In dem ganzen „Wesen des Mannes sprach sich eine gewisse gaunerhafte, vagabundenmäßige Lebhaftigkeit und eine Art großtuerischen Spitzbubentums aus, die wenigstens eine Goldmine wert war.

Diese Figur war die erste, die bemerkte, daß Mr. Pickwick zuschaute; sie winkte hierauf dem „Zephyr“ zu und bat ihn mit drolliger Gravität, den Herrn nicht aufzuwecken.

„Gott segne den ehrenwerten Gentleman in Zeit und Ewigkeit“, rief der „Zephyr“ aus, drehte sich um und legte die äußerste Überraschung an den Tag. „Der Gentleman ist bereits erwacht. Heda, Shakespeare! Wie befinden Sie sich, Sir? Was machen Marie und Sara, Sir? Und die liebwerte alte Madam zu Hause, Sir? – Wollen Sie die Güte haben, dem ersten Paketchen, das Sie ihr schicken, meine Komplimente beizufügen.“

„Belästigen Sie den Gentleman nicht mit gewöhnlichen Höflichkeiten, wo Sie sehen, daß er ungemein durstig ist“, verwies der Schnurrbart in scherzhaftem Ton. „Warum fragen Sie den Gentleman nicht, was er befehle?“

„Beim Himmel, das habe ich ganz vergessen“, erwiderte der andre. „Was belieben Sie zu trinken, Sir? Wünschen Sie Portwein, Sir? Oder Xeres, Sir? Auch das Ale kann ich empfehlen, Sir, oder vielleicht ziehen Sie lieber Porter vor, Sir? Gestatten Sie, daß ich Ihre Nachtmütze aufhänge, Sir!“

Mit diesen Worten schnappte der Gentleman genanntes Bekleidungsstück von Mr. Pickwicks Kopf weg und setzte es im Nu dem Betrunkenen auf, der im festen Glauben, eine zahlreiche Versammlung zu ergötzen, fortfuhr, in möglichst melancholischen Tönen sein Lied herunterzuleiern. Jemand mit Gewalt die Nachtmütze vom Kopf reißen und einem unbekannten Schmutzfinken aufsetzen, mag an und für sich ein geistreicher Witz sein, gehört aber unstreitig in die Klasse der handgreiflichen Spaße. Auch Mr. Pickwick betrachtete die Sache von diesem Gesichtspunkt aus, sprang, ohne seine Absicht im mindesten vorher zu verkünden, wie der Blitz aus dem Bett und versetzte dem „Zephyr“ einen derben Schlag auf die Brust, riß dann seine Mütze wieder an sich und nahm kühn eine defensive Stellung an.

„Nur heran!“ rief er dabei, keuchend sowohl vor Zorn als infolge des ungewohnten Kraftaufwandes. „Nur heran, ihr beiden!“

Diese freundliche Einladung begleitete der Treffliche mit wiederholten Schwingungen seiner geballten Fäuste, um seinen Gegnern durch Entwicklung seiner Kunstfertigkeit Schrecken einzujagen.

War es Mr. Pickwicks höchst unerwartete Tapferkeit oder die verwickelte Art, wie er aus dem Bett gesprungen und unaufhaltsam den Hornpipemann überfallen hatte, was seine Gegner konsternierte – kurz und gut, konsterniert waren sie, und statt den Versuch zu machen, ihn zu erschlagen, wie Mr. Pickwick unbedingt von ihnen vorausgesetzt, wurden sie auf einmal still, starrten einander an und begannen dann aus vollem Halse zu lachen.

„Wacker! Bravo!“ rief der „Zephyr“. „Sie gefallen mir. Hüpfen Sie nur jetzt wieder ins Bett, sonst erkälten Sie sich. Sie werden doch hoffentlich nicht böse auf uns sein.“ Zugleich streckte er ihm eine Hand hin, ähnlich dem gelben Fingerklumpen, den man hier und da über dem Laden eines Handschuhmachers hängen sieht.

„Oh, gewiß nicht“, versicherte Mr. Pickwick, plötzlich sehr munter, denn jetzt, wo die Aufregung vorüber war, begann er Kälte in seinen Füßen zu verspüren.

„Gestatten Sie mir die Ehre, Sir“, sagte der Gentleman mit dem Schnurrbart und reichte ihm ebenfalls die Rechte hin.

„Mit Vergnügen, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick und stieg nach einem langen, feierlichen Händeschütteln wieder in sein Bett.

„Mein Name ist Smangle, Sir“, stellte sich der Mann mit dem Schnurrbart vor.

„Ah, schön“, sagte Mr. Pickwick.

„Und meiner Mivins“, sagte der Mann mit den Strümpfen.

„Freut mich, es zu vernehmen“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Hern“, hustete Mr. Smangle.

„Sagten Sie etwas, Sir“, fragte Mr. Pickwick.

„Nein, Sir.“

„Dann habe ich mich geirrt, Sir“, versetzte Mr. Pickwick.

Alles dies ließ sich sehr nett an; um aber auf einen noch freundlicheren Fuß mit dem neuen Bekannten zu gelangen, versicherte Mr. Smangle Mr. Pickwick zu wiederholten Malen, daß er eine bedeutende Hochachtung vor ihm hege.

„Kommen Sie durch den ,Hof hierher, Sir?“ fragte er dann unvermittelt.

„Durch was?“ fragte Mr. Pickwick.

„Durch den ,HoP – Portugalstreet – Sie wissen schon.“

„O nein.“

„Das Geld ausgegangen vielleicht?“ forschte Mivins.

„Ich hoffe nicht“, erwiderte Mr. Pickwick. „Ich weigere mich bloß, Schadenersatz zu bezahlen, und bin deswegen hier.“

„So, so“, sagte Mr. Smangle. „Mein Verderben war Papier.“

„So sind Sie vielleicht Buchhändler, Sir?“ fragte Mr. Pickwick unschuldig.

„Buchhändler? Gott bewahre. Nichts so Niederträchtiges. Kein Geschäftsmann. Wenn ich Papier sage, meine ich damit Wechsel.“

„Aha, jetzt verstehe ich Sie“, sagte Mr. Pickwick.

„Gott straf mich, ein Gentleman muß Unglücksfälle zu ertragen verstehen“, fuhr Smangle fort. „Was ist auch schließlich dran? Ich bin hier im Fleetgefängnis; nun gut, bm ich deswegen schlimmer dran als vorher?“

„Nein, nicht um ein Haar“, bekräftigte Mr. Mivins.

Und er hatte ganz recht. Mr. Smangle war sogar weit besser daran, zumal er sich nicht um einen Wohnort umzusehen brauchte.

„Lassen wir das jetzt“, sagte er, „das ist trockene Arbeit Spülen wir den Mund mit einem Tröpfchen Glühwein aus, der letzte Ankömmling hat zu bezahlen. Mivins wird ihn holen, und ich helfe ihn austrinken. Das ist, Gott straf mich, ehrliche Arbeitsteilung.“

Mr.Pickwick, der keine Lust hatte, sich abermaligen Handgreiflichkeiten auszusetzen, nahm den Vorschlag mit Vergnügen an und gab Mr. Mivins Geld, und dieser verlor, da es nahe an elf Uhr war, keine Zeit und eilte schnurstracks in die Kantine.

„Was haben Sie ihm denn gegeben?“ flüsterte Smangle in dem Augenblick, als sein Freund das Zimmer verlassen hatte.

„Einen halben Sovereign.“

„Ein verteufelt liebenswürdiger Gentleman, der Mivins“, lobte Mr. Smangle, „höllisch liebenswürdig. Ich kenne keinen bessern Kameraden, aber – hm …“

„Sie werden doch nicht sagen wollen, daß der Herr imstande wäre, das Geld für sich selbst zu verwenden?“

„O nein, Gott bewahre, das sage ich nicht; ich sage doch ausdrücklich, daß er ein Gentleman ist“, erwiderte Mr. Smangle. „Aber ich denke, wenn vielleicht jemand hinunterginge, um zu sehen, ob er nicht zufälligerweise seinen Schnabel in den Krug steckt oder am Ende auf der Treppe das Geld verliert, so könnte es nicht schaden. Heda, Sie, gehen Sie mal hinunter und sehen Sie nach dem Herrn.“

Diese Aufforderung galt einem kleinen, schüchtern dreinblickenden, nervenschwachen Manne, dessen ganze Erscheinung große Armut verriet, und der sich die Zeit über offenbar völlig betäubt über die Neuheit seiner Lage auf einem der Betten zusammengeduckt hatte.

„Sie wissen doch die Restauration? Laufen Sie hinunter und sagen Sie dem Herrn, Sie kämen, um ihm den Krug herauftragen zu helfen. Doch warten Sie mal – ich will Ihnen etwas sagen – ich will Ihnen sagen, wie wir ihn drankriegen werden“, fügte Smangle mit pfiffigem Blick hinzu.

„Nun, wie denn?“ fragte Mr. Pickwick.

„Lassen Sie ihm sagen, daß er für das übrige Geld Zigarren kaufen solle. Eine famose Idee! Laufen Sie schnell hinunter und melden Sie es ihm. – Sie sollen nicht zugrunde gehen, ich werde sie rauchen.“

Dieses Manöver war so ausnehmend scharfsinnig erdacht und wurde mit solch unerschütterlicher Ruhe und Kaltblütigkeit ausgeführt, daß Mr. Pickwick es nicht verhindert hätte, wenn es auch in seiner Macht gestanden wäre. In kurzer Zeit kam Mr. Mivins mit dem Sherry zurück, den Mr. Smangle in zwei kleine zersprungene, schmutzige Krüge schüttete und dabei die kluge Bemerkung machte, ein Gentleman dürfe unter solchen Umständen nicht heikel sein; –_ wenigstens er für seine Person schäme sich nicht, aus einem irdenen Kruge zu trinken. Um seine Aufrichtigkeit sogleich zu beweisen, tat er der Gesellschaft Bescheid mit einem Zuge, der seinen Krug zur Hälfte leerte.

Nachdem nun auf diese Weise ein so vortreffliches Einverständnis erzielt worden, begann Mr. Smangle seine Zuhörer mit einem Bericht von verschiedenen romantischen Abenteuern zu unterhalten, die er seinerzeit bestanden, und ließ dabei allerhand interessante Anekdoten von einem Vollblutpferde einfließen sowie von einer prachtvollen Jüdin, beide von ausnehmender Schönheit und sehr beliebt bei dem hohen und niederen Adel des Königreichs.

Lange bevor diese eleganten Auszüge aus der Biographie eines Gentlemans zu Ende waren, hatte sich Mr. Mevins ins Bett begeben und schnarchte, dem schüchternen Fremdling und Mr. Pickwick den vollen Genuß von Mr. Smangles Erlebnissen gönnend.

Übrigens wurden auch die zwei letztgenannten Herren von den ergreifenden Passagen, die man ihnen vortrug, nicht genügend erbaut. Mr. Pickwick war schon geraume Zeit in einem Zustande von Halbschlummer und hatte nur noch eine dunkle Vorstellung davon, daß der Betrunkene aufs neue mit seinem komischen Lied losbrach und von Mr. Smangle vermittels des Wasserkruges höflich bedeutet wurde, die Zuhörerschaft mit Gesang zu verschonen. Er nickte jedoch gleich wieder ein und hatte dabei noch das verschwommene Bewußtsein, daß Mr. Smangle immer noch eine lange Geschichte erzähle, die sich hauptsächlich darum drehte, daß er bei gewissen ausführlich geschilderten Gelegenheiten ein« große Zeche gemacht und, ohne sich etwas zu vergeben, nichts bezahlt habe.

Vierzigstes Kapitel


Vierzigstes Kapitel

Worin sich, wie im vorhergehenden, das alte Sprichwort bewährt, daß das Unglück den Menschen mit sonderbaren Schlafkameraden zusammenführt.

Als Mr. Pickwick am nächsten Morgen die Augen öffnete, war das erste, was er erblickte, Samuel Weller, der auf einem kleinen schwarzen Felleisen saß und offenbar gänzlich in Betrachtung der stattlichen Figur des lustigen Mr. Smangle versunken war, der seinerseits, bereits halb angekleidet auf dem Bette sitzend, mit dem verzweifelt hoffnungslosen Versuche beschäftigt war, Mr. Weller durch unverwandtes Anstarren aus der Fassung zu bringen. Hoffnungslos insofern, als Sam nach einem umfassenden Blick auf Mr. Smangles Mütze, Füße, Kopf, Gesicht, Beine und Schnurrbart unverdrossen fortfuhr, ihn mit allen Zeichen lebhafter Zufriedenheit zu mustern, ohne auf Mr. Smangles persönliche Gefühle dabei mehr Rücksicht zu nehmen als bei der Betrachtung einer hölzernen Statue oder einer Strohpuppe.

„Na, haben Sie sich jetzt endlich mein Gesicht gemerkt?“ murrte Mr. Smangle schließlich mit finsterem Stirnrunzeln.

„Seien Sie diesbezüglich ganz außer Sorge“, erwiderte Sam heiter.

„Und Sie, seien Sie nicht unverschämt gegen einen Gentleman, Sir“, sagte Mr. Smangle.

„Bin ich auch nich“, erwiderte Sam. „Wenn Sie mir sagen wollen, wann er aufwacht, so werde ich mir ganz extrafein gegen ihm benehmen.“

Da in dieser Bemerkung offenbar eine versteckte beleidigende Absicht lag, geriet Mr. Smangle in Zorn.

„Mivins!“ rief er heftig.

„Was gibt’s?“ erwiderte eine Stimme unter einer Bettdecke hervor.

„Wer zum Teufel ist dieser Bursche da?“

„Was weiß ich?“ gähnte Mr. Mivins verschlafen. „Darum muß ich Sie fragen. Hat er hier etwas zu tun?“

„Nein.“

„Dann werfen Sie ihn doch die Treppe hinunter und sagen Sie ihm, er solle sich nicht einfallen lassen, wieder heraufzukommen, sonst prügle ich ihn windelweich“, brummte Mr. Mivins und begann aufs neue einzuschlummern.

Um dem Gespräch eine versöhnlichere Wendung zu geben, hielt es Mr. Pickwick für angezeigt, sich ins Mittel zu legen.

„Sam“, sagte er.

„Sir?“

„Ist seit gestern Abend nichts Neues vorgefallen?“

„Nichts Besonderes, Sir“, erwiderte Sam, mit einem Seitenblick auf Mr. Smangles Schnurrbart. „Die dicke Atmosphäre scheint dem Wachstum von Unkraut auf ’ne beunruhigende Art günstig zu sein; sonst ist aber alles ganz ruhig.“

„Ich will aufstehen“, sagte Mr. Pickwick. „Gib mir meine Wäsche.“

Was für feindliche Absichten Mr. Smangle auch gehegt haben mochte, seine Gedanken erhielten schnell eine andre Richtung durch das Auspacken des Mantelsacks, dessen Inhalt ihn auf einmal mit einer höchst günstigen Meinung nicht bloß von Mr. Pickwick, sondern auch von Sam zu erfüllen schien, den er schnell Gelegenheit nahm, laut genug, um von diesem exzentrischen Manne gehört zu werden, für ein vollkommenes Original, und daher ganz für einen Mann nach seinem Herzen zu erklären. Was Mr. Pickwick betraf, kannte seine Zuneigung keine Grenzen mehr. „Kann ich Ihnen mit irgend etwas dienen, werter Herr?“ fragte er.

„Wüßte nicht, danke ganz ergebenst“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Haben Sie nichts der Wäscherin zu schicken? Ich kenne eine herrliche Wäscherin, nicht weit von hier, die zweimal in der Woche zu mir kommt, und – beim Teufel, wie schön sich das trifft! – heute ist gerade ihr Tag. Soll ich etwas von Ihren Sachen zu den meinigen legen? Es macht mir durchaus keine Mühe. Der Henker soll mich holen, was müßte man von der menschlichen Natur denken, wenn nicht ein Gentleman in Bedrängnis einem andern in derselben Lage aushelfen wollte?“ Dabei rückte Mr. Smangle so nahe wie möglich an das Felleisen, und seine Blicke erstrahlten in glühendster, uneigennütziger Freundschaft. – „Oder haben Sie vielleicht etwas zum Ausbürsten für den Aufwärter?“

„Ganz und gar nicht, mein Wertester“, antwortete Sam für seinen Herrn. „Vielleicht würde es angenehmer für alle Teile sein, wenn einer von uns das Bürsten übernähme, ohne den Mann zu bemühen, wie der Schulmeister sagte, als die jungen Schenlmän sich nich vom Büttel durchprügeln lassen wollten.“

„Haben Sie denn gar nichts, was ich in meinem Köfferchen der Wäscherin schicken könnte?“ fragte Smangle und wandte sich entmutigt von Sam zu Mr. Pickwick.

„Nich das mindeste, Sir“, antwortete Sam abermals. „Ich fürchte, der kleine Koffer muß von Ihren eignen Sachen schon übervoll sein.“

Dabei warf er einen solch ausdrucksvollen Blick auf die besonderen Einzelheiten von Mr. Smangles Anzug, daß dieser sich umdrehte und wenigstens für den Augenblick alle Absichten auf Mr. Pickwicks Börse und Garderobe aufgab. Grimmig begab er sich auf den Tennisplatz, wo er als ein leichtes und gesundes Frühstück ein paar von den in der letzten Nacht gekauften Zigarren rauchte.

Mr. Mivins, der Nichtraucher war und für den kein Kaufmann mehr eine Feder, kein Wirt eine Kreide anrührte, blieb im Bett und „schlief sich eins zum Frühstück“, wie er sich ausdrückte.

Nachdem Mr. Pickwick in einem kleinen Kabinett neben der Kantine, das den imponierenden Namen „Das Lauschestübchen“ führte, und dessen jeweiliger Gast gegen eine kleine Vergütung den unaussprechlichen Vorteil genoß, die ganze Unterhaltung nebenan mithören zu können, etwas zu sich genommen und Mr. Weller mit einigen notwendigen Aufträgen fortgeschickt hatte, ging er auf sein Zimmer zurück, um sich mit Mr. Roker wegen seiner künftigen Einrichtung zu besprechen.

„Einrichtung? So, so!“ sagte der Schließer und zog ein großes Buch zu Rate. „Einrichtung und Bequemlichkeiten genug, Mr. Pickwick. Ihre gemeinsame Zelle trägt Nummer siebenundzwanzig im dritten Stock.“

„Wie? Was sagen Sie?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ihre gemeinsame Zelle“, wiederholte Mr. Roker. „Verstehen Sie mich nicht?“

„Nicht ganz“, erwiderte Mr. Pickwick lächelnd.

„’s ist doch so klar wie dicke Tinte“, erklärte Mr. Roker. „Sie haben ’ne gemeinsame Zelle auf Nummer siebenundzwanzig im dritten Stock mit ein paar andern.“

„Sind es viele?“ fragte Mr. Pickwick bedenklich.

„Drei.“

Mr. Pickwick hustete.

„Der eine is ’n Pfarrer“, sagte Mr. Roker und füllte dabei eine Rubrik aus, „der andre ein Metzger.“

„Was?“

„Ein Metzger“, wiederholte Mr. Roker, mit dem Kiel seiner Feder an das Pult schlagend, damit sie besser Tinte lassen sollte. „Und was der für ein reicher vornehmer Mann war! Sie erinnern sich doch noch an Tom Martin, was, Neddy?“ fragte er einen andern Mann in der Stube, der soeben mit einem fünfundzwanzigklingigen Taschenmesser den Schmutz von seinen Schuhen abschabte.

„Und ob“, erwiderte der Angeredete triumphierend.

„So wahr ein Gott lebt“, fuhr Mr. Roker langsam den Kopf hin und her wiegend fort, als wolle er sich irgendeine friedliche Szene aus seiner früheren Jugend vergegenwärtigen, „’s is mir noch, als wäre es erst gestern gewesen, wie er bei Foggs under the Hill die Werft hinunterkarriolte. Ich seh ihn noch, wie er zwischen zwei Polizisten den Strand heraufkommt, ein wenig nüchtern gemacht durch den Sturz, mit einem Essigumschlag und einem braunen Pflaster über seinem rechten Augenlid.“

Der Gentleman, an den diese Worte gerichtet waren, schien schweigsamer und gedankenvoller Natur zu sein, denn er beschränkte sich darauf, bloß die Fragen nachzusprechen. Mr. Roker schüttelte die poetische schwermütige Gedankenrichtung, in die er sich hatte drängen lassen, ab, ließ sich zu den gewöhnlichen Geschäften des Lebens hernieder und nahm seine Feder aufs neue zur Hand.

„Wissen Sie auch, wer der dritte Gentleman ist?“ fragte Mr. Pickwick, nicht sehr Befriedigt durch diese Schilderung seines künftigen Zellengenossen.

„Was ist dieser Simpson eigentlich, Neddy?“ fragte Mr. Roker seinen Kollegen.

„Was für ’n Simpson?“

„No, der in Numero siebenundzwanzig im dritten Stock?“

„Mhm, der“, erwiderte Neddy, „der ist eigentlich nichts. War früher Roßkamm, jetzt aber haben sie ihm das Handwerk gelegt.“

„Aha, dachte mir’s gleich“, versetzte Mr. Roker, schloß das Buch und gab Mr. Pickwick einen Streifen Papier in die Hand, „hier ist das Billett, Sir.“

Sehr verblüfft durch das summarische Verfahren ging Mr. Pickwick in das Gefängnis zurück und überlegte, was er tun sollte. Da er ,es immerhin für ratsam hielt, bevor er weitere Schritte einleitete, mit den drei Gentlemen, denen er als Stubengenosse zugewiesen war, in persönlichen Verkehr zu treten, begab er sich schnell in den dritten Stock.

Nachdem er einige Zeit im Gang herumgetappt und bei der schwachen Beleuchtung vergebens die verschiedenen Zellennummern zu entziffern versucht hatte, wandte er sich endlich an einen Bierjungen, der gerade seiner gewöhnlichen Morgenbeschäftigung nachging, die zinnernen Kannen wieder zusammenzuholen.

„Wo ist Nummer siebenundzwanzig, Kleiner?“

„Fünf Türen weiter unten“, erwiderte der Junge. „Außen an die Türe is mit Kreide ’n Galgen angemalt, wo einer dran hängt und dabei Pfeife raucht.“

Mr. Pickwick ging langsam den Gang hinab, bis er an das oben beschriebene Porträt eines Gentleman gelangte, auf dessen Gesicht er mit dem Knöchel seines Zeigefingers das erste Mal ganz sachte, dann aber etwas vernehmlicher anklopfte. Nachdem er diesen Prozeß mehrere Male vergeblich wiederholt, wagte er es, die Tür zu öffnen und hineinzublicken.

Es war bloß ein einziger Bewohner anwesend, der sich, soweit er es ohne Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren, tun konnte, zum Fenster hinauslehnte und mit großer Beharrlichkeit bemüht war, auf den Hut eines seiner Freunde im unteren Stockwerk hinabzuspucken. Da weder Sprechen, Husten, Niesen, Klopfen, noch irgendeine andere übliche Art, die Aufmerksamkeit eines Menschen zu erregen, von. Erfolg begleitet war, schritt Mr. Pickwick nach einer Weile zürn Fenster und zupfte den Gentleman sachte am Rockflügel. Dieser zog Kopf und Schultern mit großer Schnelligkeit zurück, musterte Mr. Pickwick von oben bis unten und fragte ihn. in grämlichem Tone, was er zum Henker denn wolle. „Wenn ich nicht irre“, sagte Mr. Pickwick und zeigte sein Billett, „so ist dies Nummer siebenundzwanzig im dritten Stock.“

„Na, und?“

„Ich bin hierher gekommen, weil man. mir dies Papier gegeben hat.“

„Zeigen Sie’s her!“ brummte der Gentleman.

„Roker hätte Sie auch anderswo unterbringen können“, meinte dann Mr. Simpson – denn dieser war es – nach einer peinlichen Pause.

Mr. Pickwick dachte auch so, hielt es jedoch unter allen Umständen für eine Forderung gesunder Politik, zu schweigen.

Mr. Simpson sann einige Augenblicke nach, steckte dann den Kopf wieder zum Fenster hinaus, tat einen gellenden Pfiff und rief mehrmals ein Wort. Was dieses bedeuten sollte, konnte Mr. Pickwick nicht erraten, doch schien es ihm ein Spitzname auf Mr. Martin zu sein, da eine Menge Gentlemen unten sogleich anfingen, „Metzger“ zu schreien und dabei den quiekenden Ton nachzumachen, der dieser nützlichen Klasse der menschlichen Gesellschaft geläufig zu sein pflegt.

Mr. Pickwick fand seine Mutmaßung alsbald bestätigt, denn wenige Sekunden später stürzte beinahe atemlos ein für seine Jahre übermäßig dicker Gentleman in einem zunftmäßigen blauen Frack und mit Stulpenstiefeln und zirkelrundem Zehenleder ins Zimmer, und hinter ihm ein anderer Herr, in abgeschabtes Schwarz gekleidet, eine Mütze von Seehundsfell auf dem Kopf und den Rock abwechselnd vermittels einer Nadel und eines Knopfes bis ans Kinn geschlossen. Seinem plumpen roten Gesicht nach zu schließen, war er ein trunksüchtiger Kaplan.

Nachdem die beiden Herren, einer nach dem andern, Mr. Pickwicks Billett gelesen hatten, drückte der eine seine Meinung dahin aus, es sei ein verdammter Streich, und der gjidre erklärte, er werde das nicht zulassen, und dann sahen sie gemeinsam Mr. Pickwick mit unhöflichem Schweigen an.

„Lästige Sache das, gerade wo wir so hübsche Betten haben“, murrte der Kaplan, mit einem Blick auf drei schmutzige Matratzen, die in weißwollene Decken gewickelt waren und den Tag über in einer Ecke des Zimmers neben einem Tisch lagen, auf dem ein altes zerbrochenes Waschbecken, eine Gießkanne und ein Seifenschälchen von gemeiner gelber Töpferarbeit, mit einer blauen Blume darauf, stand. „Verdammt lästig.“

Mr. Martin erging sich in noch stärkeren Ausdrücken, und Mr. Simpson schlug, nachdem er eine Menge ausfüllender Adjektive ohne die begleitenden Substantiva über die Gesellschaft losgelassen, seine Ärmel zurück und begann, das Gemüse für das Mittagessen zu waschen. „Ich dächte, es ließe sich doch noch helfen“, meinte der Metzger nach einer längeren bangen Pause. „Was verlangen Sie dafür, daß Sie sich packen?“

„Bitte um Verzeilning“, erwiderte Mr. Pickwick. „Wie sagten Sie? Ich verstehe nicht recht.“

„Wie wir Sie ausbezahlen sollen?“ erklärte der Metzger. „Die gewöhnliche Taxe ist zwei Schillinge und sechs Pence. Wir wollen Ihnen drei geben.“

„Und einen Spanner“, fügte der geistliche Herr hinzu.

„Also gut, wir bezahlen Ihnen wöchentlich drei Schilling und sechs Pence, wenn Sie uns allein lassen“, resümierte Mr. Martin, „damit werden Sie denn doch wohl zufrieden sein?“

„Und obendrein noch ein Maß Bier, hier zu trinken“, stimmte Mr. Simpson ein.

„Ja, und zwar gleich jetzt“, rief der Kaplan.

„Ich bin wirklich mit den Regeln dieses Hauses noch so vollkommen unbekannt“, entschuldigte sich Mr. Pickwick, »daß ich Sie immer noch nicht recht verstehe. Kann ich denn eine andre Wohnung bekommen? Ich glaubte, das ginge nicht.“

Bei dieser Frage blickte Mr. Martin seine zwei Freunde höchst verwundert an, und dann deutete jeder der Gentlemen mit seinem rechten Daumen über seine linke Schulter. Dieses Freimaurerzeichen, das sich in Worten mit dem schwachen Ausdruck „links“ nur höchst unvollkommen bezeichnen läßt, hat, wenn es von einer Anzahl Damen oder Herren, die miteinander im Einverständnis sind, vollzogen wird, eine sehr anmutige und lustige Wirkung; ihr Ausdruck ist der eines munteren mutwilligen Sarkasmus.

„Ob Sie können?“ wiederholte Mr. Martin mit einem mitleidigen Lächeln.

„Wenn ich mich so wenig aufs Leben verstünde, würde ich meinen Hut fressen und die Schnalle hinunterschlucken“, rief der geistliche Herr. „Ich auch“, fügte der Metzger feierlich hinzu.

Nach dieser einleitenden Vorrede erklärten die drei Zellengenossen Mr. Pickwick in einem Atem, Geld vermöge in der Fleet genau dasselbe wie außerhalb dieser Anstalt; er könne sich damit alles, was er wünsche, sogleich beschaffen, und wenn er zahlen könne und wolle, brauche er nur einen Wunsch auszudrücken, um binnen einer halben Stunde ein wohleingerichtetes und möbliertes Zimmer für sich allein zu beziehen. Hierauf trennten sich beide Parteien mit großer Befriedigung. Mr. Pickwick verfügte sich abermals ins Zimmer des Aufwärters, und die drei Kameraden begaben sich in die Kantine, um daselbst die fünf Schilling zu verzehren, um die ihn der geistliche Herr zu diesem Zweck mit bewunderungswürdiger Geistesgegenwart angepumpt hatte.

„Wußte ich’s doch“, sagte Mr. Roker, aus vollem Halse lachend, als Mr. Pickwick ihm seinen Wunsch vortrug. „Habe ich’s nicht gesagt, Neddy?“ Der philosophische Eigner des universellen Federmessers knurrte bejahend.

„Habe mir’s doch gleich gedacht, daß Sie ein eigenes Zimmer verlangen würden. Sie wünschen doch anständige Möbel? Sie möchten ohne Zweifel das meinige mieten? Es ist eine feine Wohnung?“

„Mit großem Vergnügen“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Auf dem Gang zur Kantine liegt ein vortreffliches Zimmer, das einem Kanzleigefangenen gehört. Ich will es Ihnen gegen ein Pfund wöchentlich ablassen. Sie finden das hoffentlich nicht teuer?“

„Durchaus nicht“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Na, dann kommen Sie mal mit“, sagte Mr. Roker fröhlich, seinen Hut aufsetzend, „die Sache ist in fünf Minuten im reinen. Warum haben Sie’s denn nicht gleich gesagt, daß Sie was Hübsches verlangen?“

Die Angelegenheit war, wie der Schließer vorhergesagt, bald abgemacht. Der Kanzleigefangene hatte lange genug hier verweilt, um Freunde und Vermögen, Heimat und Glück zu verlieren und das Recht auf ein eigenes Zimmer einzubüßen. Da er außerdem an dem kleinen Ungemach litt, oft nichts zu beißen zu haben, nahm er Mr. Pickwicks Vorschlag, ihm das Zimmer abzutreten, mit Vergnügen an und überließ ihm gerne den ungestörten Besitz desselben gegen eine Vergütung von zwanzig Schilling in der Woche, mit welcher Summe er sich anheischig machte, alle Personen auszukaufen, die man in das Zimmer verweisen würde.

Als der Handel abgemacht war, betrachtete Mr. Pickwick den Mann mit schmerzlicher Teilnahme. Dieser trug einen alten Schlafrock und Pantoffeln und war ein langer hagerer Geselle von leichenhafter Gesichtsfarbe, mit eingesunkenen Wangen und lebhaften, unruhigen Augen. Seine Lippen waren blutlos und die Backenknochen standen stark hervor. Gott helfe ihm! Der Eisenzahn des Gefängnisses und der Entbehrung hatte ihn seit zwanzig Jahren langsam zernagt und zerfeilt.

„Aber wo werden Sie dann wohnen, Sir?“ fragte Mr. Pickwick, als er das Geld für die erste Woche im voraus auf den wackeligen Tisch legte. Der Mann raffte mit zitternder Faust das Geld zusammen und erwiderte, er wisse es noch nicht; er müsse sich eben umsehen, wo er sein Bett aufschlagen könne.

„Ich fürchte, Sir“, sagte Mr. Pickwick und faßte den Unglücklichen freundlich und mitleidsvoll am Arme, „ich fürchte, Sie kommen an irgendeinen lärm- und geräuschvollen Ort. Bitte, betrachten Sie dies Zimmer als Ihr eigenes so oft Sie der Ruhe bedürfen, oder wenn Ihre Freunde Sie besuchen.“

„Freunde?“ wiederholte der Mann mit röchelnder Stimme. „Wenn ich tot in der Tiefe des dunkelsten Schachtes oder im engen Sarge eingeschlossen läge, oder in dem finstern garstigen Graben verfaulte, dessen Schlamm die Grundmauern dieses Gefängnisses umgibt, ich könnte nicht vergessener und unbeachteter sein als jetzt. Ich bin ein Toter – tot für die Gesellschaft, doch ohne daß mir das Mitleid zuteil wird, das man denen schenkt, deren Seelen bereits vor den ewigen Richterstuhl berufen sind. Besuche von Freunden? Mein Gott! Ich bin an diesem Orte hier von der Blüte meines Lebens zum schwachen Greis verwelkt und niemand wird seine Hand auf mein Bett legen, wenn ich tot darin liege, und sprechen: ,Es ist ein Gottessegen, daß er dahingegangen ist!'“

Die Aufregung, die ein ungewohntes Licht über das Gesicht des Unglücklichen verbreitet hatte, solange er sprach, legte sich wieder, er schlug verstört und hastig seine abgezehrten Hände zusammen und verließ schnell das Zimmer.

„Der Mann ist etwas mürrisch“, entschuldigte Mr. Roker lächelnd, „sie sind hier wie die Elefanten; sie fühlen’s dann und wann, und das macht sie wild.“

Nach dieser tiefsinnigen Sentenz traf Mr. Roker seine Anordnungen mit solcher Schnelligkeit, daß das Zimmer binnen kurzem mit einem Teppich, sechs Stühlen, einem Tisch, einem Sofabett, einem Teekessel und verschiedenen Kleinigkeiten ausstaffiert war, für die der äußerst billige Preis von siebenundzwanzig Schilling und sechs Pence in der Woche zu bezahlen war.

„Kann ich sonst noch mit was dienen, Sir?“ fragte er dann, zufrieden um sich blickend und voll Vergnügen mit dem ersten Wochenzins in der Tasche klimpernd.

„Ja“, sagte Mr. Pickwick nach tiefem Nachsinnen. „Gibt es wohl Leute hier, die mir meine Aufträge in der Stadt oder sonst meine Angelegenheiten besorgen könnten?“

„Also keine Gefangenen?“

„Nein, sie müssen auch in die Stadt gehen können.“ „Verstehe“, sagte Mr. Roker. „Da ist zum Beispiel ein armer Teufel, der einen Freund auf der Armenseite hat und froh sein würde, einen solchen Dienst zu bekommen. Er arbeitet schon seit zwei Monaten dort in der Fron. Soll ich nach ihm schicken?“

„Ja, wenn Sie die Güte haben wollen“, erwiderte Mr. Pickwick. „Doch halt. – Die Armenseite, sagten Sie? Ich möchte sie gerne in Augenschein nehmen. – Ich will selbst zu ihm gehen.“

Die Armenseite in einem Schuldgefängnis ist, wie schon der Name besagt, der Wohnort für die armseligste und dürftigste Klasse von Schuldnern. Ein Gefangener dort bezahlt weder Wohnung noch Kost, bekommt ein schmales Essen, das aus einigen kleinen Legaten bestritten wird. Bis vor einigen wenigen Jahren war in der Mauer des Fleetgefängnisses eine Art eiserner Käfig angebracht, in das«in Mensch von verhungertem Aussehen gesteckt wurde, der von Zeit zu Zeit mit einer Geldbüchse rasselte und in kläglichem Tone rief: „Erbarmet euch der armen Schuldner! Erbarmet euch der armen Schuldner!“ Was in die Kasse einging, wurde unter die armen Gefangenen geteilt, die einander bei diesem erniedrigenden Geschäft ablösten.

Diese Gewohnheit ist nun abgeschafft und der Käfig entfernt. Man gestattet es den Schuldnern nicht mehr, einfach am Gefängnistor die Passanten um Unterstützung anzubetteln. Vielmehr ist es jetzt von Gesetzes wegen so geregelt, daß die handfesten, ruchlosen Verbrecher Kleidung und Nahrung erhalten, während die mittellosen Schuldner wahlweise verhungern oder erfrieren dürfen. – Der Respekt und die Bewunderung kommender Geschlechter sind uns deswegen sicher.

Mit diesen Betrachtungen stieg Mr. Pickwick die enge Treppe hinan, an deren Fuß Roker ihq verlassen hatte, und arbeitete sich allmählich hinauf; er war indes so aufgeregt, daß er in das Zimmer, in das man ihn gewiesen, hineinstürmte, ehe er noch eine deutliche Vorstellung von dem Platz, wo er war, oder von dem Zweck seines Besuches hatte.

Der allgemeine Anblick der Stube rief ihn auf einmal wieder zu sich; doch hatte er kaum seinen Blick auf einen Mann geworfen, der vor dem staubigen Kamin kauerte, als ihm der Hut entsank und er starr und regungslos vor Staunen dastand.

In zerlumpten Fetzen, ohne Rock, das grobe Hemd gelb und zerrissen, die Haare über die Stirn herabhängend, das Gesicht von Leiden entstellt und vor Hunger eingefallen, saß Mr. Alfred Jingle da; den Kopf hatte er auf die Hand gestützt, die Augen starr aufs Feuer geheftet, und seine ganze Erscheinung verriet Jammer und Elend in seiner schauderhaftesten Gestalt.

Nicht weit von ihm stand nachlässig an die Wand gelehnt ein kräftiger Landmann und flickte mit den Riemen einer abgenutzten Jagdpeitsche den Stulpenstiefel, der seinen rechten Fuß zierte – den linken hatte er in einen Pantoffel gestellt. Pferde, Hunde und Saufgelage hatten den Mann soweit gebracht. An dem einzelnen Stiefel trug er einen verrosteten Sporn, den er gelegentlich in die leere Luft stieß, während er dabei mit der Reitgerte auf den Stiefel schlug und Ausdrücke murmelte, wie sie der Jäger braucht, um sein Pferd aufzumuntern. Er bildete sich in diesem Augenblick offenbar ein, auf irgendeinem verzweifelten Kirchturmrennen zu sein. Der arme Teufel! Er war einst bei keinem Wettrennen auf dem flinksten Pferde seines teuren Rennstalles nur halb so geschwind über die Erde dahingeflogen, wie er die Laufbahn durchgemacht hatte, die jetzt in der Fleet endete.

In der entgegengesetzten Ecke des Zimmers saß ein alter Mann auf einem kleinen Holzbock. Er hatte seine Augen auf den Boden geheftet und in seinem Gesicht lag ein Ausdruck der tiefsten, hoffnungslosesten Verzweiflung. Ein junges Mädchen, seine kleine Enkelin, bemühte sich mit tausend kindlichen Kunstgriffen, seine Aufmerksamkeit zu erregen, allein er sah und hörte sie nicht. Die Stimme, die einst Musik für sein Ohr, und die Augen, die einst sein Licht gewesen, ließen ihn jetzt ungerührt. Seine Glieder schlotterten krankhaft, und sein Geist war wie gelähmt.

Noch zwei oder drei andre Männer standen in einer Gruppe zusammen und schwatzten laut miteinander. Eine hagere, bleiche Frau – die Gattin eines Gefangenen – begoß mit großer Sorgfalt den elenden Stumpf einer verwelkten Pflanze, die offenbar nie wieder einen grünen Schößling treiben konnte.

Das war der Anblick, der sich Mr. Pickwick darbot, als er voll Erstaunen um sich schaute. Ein Geräusch an der Tür weckte ihn wieder. Er wandte sich um und erkannte in dem neuen Ankömmling trotz aller seiner Lumpen, all seines Schmutzes und Elends die Züge Mr. Hiob Trotters.

„Mr. Pickwick!“ rief Hiob laut.

„Was!?“ fuhr Jingle in die Höhe. „Sir! Ja, wahrhaftig – kurioser Ort – sonderbare Dinge – mir ganz recht geschehen – ganz recht.“

Mit diesen Worten steckte Mr. Jingle seine Hände an den Ort, wo früher seine Hosentasche gewesen war, ließ dann den Kopf auf die Brust sinken und fiel in seinen Stuhl zurück.

Mr. Pickwick war im Innersten ergriffen, die zwei Leute sahen so unglaublich elend aus. Der heißhungrige Blick Jingles auf ein Stück rohes Hammelfleisch, das Hiob mitgebracht hatte, verriet mehr über ihre Lage, als eine zweistündige Auseinandersetzung vermocht hätte.

Mr. Pickwick sah Jingle freundlich an und sagte: „Ich möchte Sie gerne allein sprechen. Wollen Sie einen Augenblick mit mir herauskommen?“ „Sehr gern“, erwiderte Jingle und stand hastig auf. „Kann nicht weit gehen – keine Gefahr, daß man sich hier überläuft – dichtes Gehege – schöner Boden – romantisch, aber nicht ausgedehnt – offen für allgemeine Besichtigung – die Familie immer in der Stadt – der Hausvogt verzweifelt vorsichtig.“

„Sie haben Ihren Rock vergessen“, sagte Mr. Pickwick, als sie auf die Treppe hinauskamen, und schloß die Tür hinter sich zu.

„Ach nein“, sagte Jingle. „Teures Leben – Onkel Tom – konnte mir nicht helfen – mußte essen, Sie wissen ja. Naturbedürfnisse – das ist’s.“ „Was meinen Sie damit?“

„Alles fort, werter Herr – der letzte Rock – konnt’s nicht ändern – lebte von ein Paar Stiefeln – ganze vierzehn Tage. Seidener Regenschirm – elfenbeinener Griff – letzte Woche – vorbei – auf Ehre. Fragen Sie Hiob – weiß es.“

„Drei Wochen von einem Paar Stiefeln und einem seidenen Regenschirm gelebt?“ rief Mr. Pickwick, der von solchen Dingen nur bei Schiffbrüchen gehört oder in Constables Miscellany gelesen hatte.

„Freilich“, nickte Jingle. „Pfandleiher – bloß das halbe Geld – elende Summen – soviel wie nichts – lauter Spitzbuben.“

„So“, sagte Mr. Pickwick, dem bei dieser Erklärung leichter ums Herz wurde, „Sie haben also Ihre Garderobe bloß versetzt?“

„Ja, alles – Hiob ebenfalls – alle Hemden fort – tut nichts – erspart den Wäscherlohn – bald alles vorbei – auf der Bahre liegen – verhungern – sterben – Untersuchung – Anatomie – armer Gefangener – die einfachsten Bedürfnisse – fort mit ihm – die Herren von der Jury – Gefängnisarbeit – ganz in Ordnung – natürlicher Tod – Leichenbeschauer –Armenhausbegräbnis – recht geschehen – alles vorbei – Vorhang herunter.“

Jingle erledigte dieses sonderbare Summarium seiner Lebensaussichten mit seiner gewohnten Zungenfertigkeit und mit verschiedenen Gesichtsverzerrungen, um ein Lächeln zu erzwingen; Mr. Pickwick bemerkte indes deutlich, daß ihm seine Sorglosigkeit nichts weniger als von Herzen kam. Er sah ihm voll, aber nicht unfreundlich ins Gesicht und gewahrte, daß dem Komödianten die Augen voll Tränen standen.

„Guter Mensch“, sagte Jingle und faßte seine Hand mit abgewandtem Gesicht. „Undankbarer Schurke – kindisch zu jammern – kann’s nicht lassen – böses Fieber – schwach – krank – hungrig. Alles wohl verdient, aber viel gelitten – sehr viel.“

Ganz unfähig, den Schein länger zu wahren, und durch die ungewohnte Aufregung schwindelig, setzte sich der arme Vagabund auf die Treppe nieder, bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und schluchzte wie ein Kind.

„Kommen Sie, kommen Sie“, sagte Mr. Pickwick tiefgerührt, „wir wollen sehen, was sich machen läßt. Heda, Hiob; wo steckt er?“

„Hier, Sir“, meldete sich Mr. Trotter und trat vor. – Er hatte schon in seinen besten Zeiten tief eingesunkene Augen, jetzt aber sah er aus, als ob dieser Teil seines Gesichts gänzlich verschwunden sei. – „Hier, Sir.“

„Kommen Sie her“, sagte Mr. Pickwick, bemüht, streng dreinzusehen, wiewohl ihm vier große Tränen auf die Weste träufelten. „Nehmen Sie das, Sir!“

„Was nehmen?“ – Unter den obwaltenden Umständen hätte man bei diesen Worten an einen Hiob oder wenigstens, wie einmal die Menschen sind, an einen derben, tüchtigen Puff denken sollen; denn Mr. Pickwick war von dem Elenden, der jetzt gänzlich in seiner Hand war, hinters Licht geführt, betrogen und blamiert worden. Aber es war etwas Klingendes, das jetzt in Hiobs Hand fiel, und dessen Hingabe aus irgendeinem Grund das Auge des guten alten Herrn funkeln und sein Herz schwellen machte, als er hinwegeilte.

Auf seinem Zimmer angelangt, traf Mr. Pickwick Sam an, der die komfortablen Einrichtungen des Zimmers mit einer Art grimmigen Vergnügens, das sehr lustig anzusehen war, in Augenschein nahm. Da‘ Mr. Weller eine entschiedene Abneigung gegen das Verbleiben seines Herrn an einem solchen Orte hegte, schien er es für eine hohe moralische Pflicht zu halten, nichts, was hier getan, gesagt, geraten oder vorgeschlagen wurde, mit allzu großem Beifall zu beehren.

„Schön, nicht wahr, Sam?“ sagte Mr. Pickwick.

„Na, macht sich“, erwiderte Mr. Weller.

„Und recht behaglich, Sam?“

„Ja, so ziemlich, Sir“, erwiderte Sam, geringschätzig umherblickend.

„Hast du Mr. Tupman und unsre andern Freunde gesehen?“

„Jawoll. Habe sie gesehen, Herr, und sie wollen morgen kommen. Wundert mich sehr, daß sie nich heute schon da waren.“

„Hast du die Sachen gebracht, die ich verlangt habe?“

Mr. Weller deutete stumm auf verschiedene Pakete, die er so hübsch wie möglich in eine Ecke der Stube gelegt hatte.

„Sehr gut, Sam“, sagte Mr. Pickwick zögernd, „höre jetzt, was ich dir zu sagen habe, Sam.“

„Aber klar“, erwiderte Mr. „Weller, „schießen Sie los.“ „Ich habe vom ersten Augenblick an gefühlt, Sam“, begann Mr. Pickwick sehr umständlich, „daß dies kein Platz für einen jungen Menschen ist.“

„Für ’nen Alten aber auch nich, Sir.“

„Da hast du ganz recht, Sam, aber alte Leute können durch ihre eigne Unbedachtsamkeit und ein allzu großes Vertrauen auf andre hierher gebracht werden, und junge durch die Selbstsucht derer, denen sie dienen. Jedenfalls ist es für einen jungen Menschen viel besser, nicht hierzubleiben. Verstehst du mich, Sam?“

„Ich? Nö“, versetzte Sam, sich dumm stellend.

„So überlege dir’s.“

„Jawoll“, erwiderte Sam nach einer kurzen Pause. „Ich glaube zu merken, wo Sie hinaus wollen, und wenn ich hierbei wirklich auf dem rechten Wege bin, so muß ich meine Meinung dahin aussprechen, daß Sie mir zu dicke kommen, wie der Kutscher zu dem Schneegestöber sagte, wo ihm auf seiner Fahrt beunruhigte.“

„Ich sehe, du verstehst, Sam. Abgesehen von meinem Wunsche, dich in den nächsten Jahren nicht an einem Orte wie diesem müßig herumlungern zu sehen, fühle ich auch, daß es eine ungeheure Abgeschmacktheit wäre, wenn ein Schuldner im Fleetgefängnis einen eignen Bedienten halten wollte. – Sam, wir müssen uns für eine Zeitlang trennen.“

„Hm, für ’ne Zeitlang, meinen Sie?“ versetzte Mr. Weller etwas sarkastisch.

„Ja; für die Dauer meines hiesigen Aufenthalts. Deinen Lohn zahle ich dir fort. Einer von meinen drei Freunden wird dich gern aufnehmen, wäre es auch nur aus Achtung gegen mich. Und wenn ich je diesen Ort wieder verlasse“, fuhr Mr. Pickwick mit erkünstelter Heiterkeit fort, „wenn es je der Fall ist, so hast du mein Wort, daß du augenblicklich wieder in meine Dienste treten kannst.“

„Ich will Ihnen mal meine Ansicht von der Sache sagen, Sir“, erwiderte Mr. „Weller ernst und feierlich. „Es geht nich, und deshalb lassen Sie mich gefälligst nichts mehr davon hören.“

„Es ist mein fester, unabänderlicher Wille, Sam“, erklärte Mr. Pickwick.

„So? Soso! Ist das so, Sir?“ fragte Sam streng. „Na, sehr schön; denn geht es mir genauso.“

Mit diesen Worten stülpte sich Mr. Weller mit großer Entschiedenheit seinen Hut auf den Kopf und verließ das Zimmer.

„Sam!“ rief ihm Mr. Pickwick nach. „Sam! Komm noch einmal her.“

Aber die sich entfernenden Schritte verhallten in dem langen Gange. Sam Weller war fort.

Fünftes Kapitel


Fünftes Kapitel

Ein Tag im Freien. Neue Freunde. Eine Einladung aufs Land.

Viele Schriftsteller haben eine ebenso törichte wie unredliche Abneigung gegen die Angabe der Quellen, aus denen sie manch schätzbare Nachricht schöpfen. Uns liegt das fern. Unser einziges Bestreben geht dahin, unsern Pflichten als Berichterstatter gewissenhaft nachzukommen, und wie verlockend es auch sein mag, auf das Verdienst der Erfindung dieser Begebenheiten Anspruch zu machen, so verbietet uns doch die Wahrheitsliebe, mehr als das Verdienst einer zweckmäßigen Zusammenstellung und unparteiischen Erzählung in Anspruch zu nehmen. Die Pickwick-Protokolle sind unsre Quellen, und wir, sozusagen, die Wasserleitungsaktiengesellschaft. Die Arbeiten andrer haben uns mit einer ungeheuren Menge Material versehen, und wir übergeben sie der nach der Bekanntschaft mit den Pickwickiern dürstenden öffentlichkeit wahrheitsgetreu und unverfälscht.

In diesem Sinne, und uns streng an die Überlieferung haltend, gestehen wir offen, daß wir die Einzelheiten dieses und des folgenden Kapitels dem Tagebuch des Mr. Snodgraß verdanken – Einzelheiten, die wir nun, da unser Gewissen entlastet ist, der Welt ohne weiteren Kommentar vorlegen wollen.

Die ganze Bevölkerung von Rochester und den umliegenden Ortschaften erhob sich am folgenden Morgen bei Tagesgrauen in einem Zustande der höchsten Unruhe und Aufregung von ihren Betten. Eine große Truppenschau sollte stattfinden und das Falkenauge des Kommandeurs die Manöver von einem halben Dutzend Regimentern inspizieren: Festungswerke waren errichtet, die Zitadelle sollte angegriffen und genommen und eine Mine gesprengt werden.

Mr. Pickwick war, wie unsre Leser wohl bereits aus dem kurzen Auszug aus seiner Beschreibung von Chatham ersehen haben werden, ein enthusiastischer Bewunderer der Armee. Nichts konnte ihn mehr in Entzücken versetzen, nichts mit den besonderen Gefühlen eines jeden seiner Gefährten so sehr übereinstimmen als ein solcher Anblick. Bald waren sie auf den Beinen und wanderten dem Schauplatze der Handlung zu, nach dem bereits von allen Seiten her eine ungeheure Menschenmenge strömte.

Alles deutete darauf hin, daß etwas höchst Wichtiges und Bedeutungsvolles vor sich gehen sollte. Wachposten waren ausgestellt, um den Exerzierplatz für die Truppen frei zu halten, Offiziersburschen schafften auf den Batterien Platz für die Damen, Sergeanten rannten mit Pergamentbänden umher, und Oberst Bulder galoppierte in feldmarschmäßiger Adjustierung auf und nieder, ließ sein Pferd kurbettieren und steigen und schrie sich ohne besonderen Grund heiser und blau. Offiziere flogen hin und her, sprachen mit dem Oberst, erteilten ihren Sergeanten Befehle und eilten von hinnen; sogar die Gemeinen sahen hinter ihren blanken Gewehrläufen so wichtig und geheimnisvoll aus, daß man über die hohe Bedeutung der Vorgänge keinen Augenblick in Zweifel sein konnte.

Mr. Pickwick und seine drei Gefährten stellten sich in die vordersten Reihen und harrten geduldig der Dinge, die da kommen sollten. Das Gedränge wuchs von Sekunde zu Sekunde, und die Anstrengungen, die sie machen mußten, um sich auf ihren Plätzen zu behaupten, nahmen in den zwei folgenden Stunden ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Bald drängte plötzlich alles von hinten nach vorn, wodurch Mr. Pickwick einige Ellen weit vorwärts geschleudert wurde und dabei eine Hast und Elastizität entwickelte, die mit dem würdevollen Ernst, den man an ihm gewohnt war, in grellem Widerspruch stand. Bald ertönte ein gebieterisches „Zurück!“, und das Ende eines Gewehrkolbens fiel entweder auf Mr. Pickwicks Zehe nieder, um ihm den Wink verständlicher zu machen, oder stemmte sich gegen seine Brust, um dem Befehle größeren Nachdruck zu verleihen. Dann wieder machten sich Spaßvögel das Vergnügen, mit Aufgebot ihrer ganzen Kraft gegen Mr. Snodgraß anzudrängen und ihn zu ersuchen, das Drücken doch gefälligst sein zu lassen, und einmal, als Mr. Winkle als Zeuge solcher Ungebührlichkeit seine höchste Entrüstung aussprach, schlug ihm ein Schalk von hinten den Hut über die Augen und forderte ihn auf, seinen Kopf in die Tasche zu stecken. Diese und andre handgreifliche Witze, verbunden mit der unerklärlichen Abwesenheit Mr. Tupmans, der plötzlich spurlos verschwunden war, machten ihre Lage im ganzen eher unbehaglich als angenehm und beneidenswert.

Endlich durchlief das Gemurmel die Menge, das in solchen Fällen gewöhnlich die höchste Spannung verrät. Alle Augen richteten sich nach dem Ausfalltor. Sekunden atemloser Erwartung; Fahnen flatterten lustig im Wind; Waffen glänzten in der Sonne, und Kolonne um Kolonne rückte in die Ebene vor. Die Truppen machten halt und formierten sich in Reih und Glied, Kommandoworte liefen durch die Reihen; allgemeines Präsentieren und Klirren von Gewehren, und der Kommandant, gefolgt von Oberst Bulder und zahlreichen Offizieren, galoppierte die Front auf und nieder. Die Trompeten schmetterten, die Pferde bäumten sich und wedelten mit den Schweifen; die Hunde heulten, die Menge schrie, die Truppen sammelten sich, und soweit das Auge reichte, sah man auf beiden Seiten nur eine endlose Reihe von roten Röcken und weißen Hosen, starr und regungslos.

Mr. Pickwick hatte so viel Mühe, in dem wogenden Gedränge seine Stellung zu behaupten und, wie durch ein Wunder, den Hufen der Pferde zu entgehen, daß er unmöglich Zeit fand, zu beobachten, was sich vor seinen Augen abspielte, bis die Evolutionen soweit gediehen waren. Als er aber schließlich wieder fest auf den Beinen stand, kannten seine Freude und sein Entzücken keine Grenzen.

„Kann es etwas Schöneres, etwas Herrlicheres geben?“ fragte er Mr. Winkle.

„Nein“, erwiderte der Angeredete, dem schon seit einer Viertelstunde ein untersetzter Mann auf den Zehen stand.

„In der Tat, ein großartiger, ein überwältigender Anblick“, rief Mr. Snodgraß, in dessen Brust plötzlich das Feuer der Dichtkunst aufloderte. „Die tapfern Verteidiger des Vaterlandes im Strahlenglanz vor den friedlichen Bürgern zu sehen, die Gesichter glühend – nicht von kriegerischer Wildheit, nein, von gesitteter Disziplin –, die Augen flammend, nicht von dem rohen Feuer der Raublust oder der Rachgier, nein, von dem sanften Lichte der Humanität und Intelligenz.“

Mr. Pickwick ging vollkommen in den Geist dieser Lobrede ein, konnte ihr jedoch nicht buchstäblich beipflichten, denn das sanfte Licht der Intelligenz brannte doch ziemlich schwach in den Augen der Krieger – als der Ruf ertönte: „Augen grrad aus!“, und die Zuschauer einige Tausend Sehorgane vor sich hatten, die ohne allen Ausdruck gerade vor sich hin starrten.

„Wir haben uns hier trefflich postiert“, sagte Mr. Pickwick, sich nach allen Seiten umschauend. Die Menge hatte sich nämlich nach und nach verlaufen, und die Herren waren beinahe allein.

„Vortrefflich“, bestätigten Mr. Snodgraß und Mr. Winkle.

„Was geschieht jetzt?“ fragte Mr. Pickwick und setzte seine Brille auf.

„Ich – ich – glaube fast“, sagte Mr. Winkle und wurde blaß, „ich glaube fast, sie wollen schießen.“

„Unsinn“, versetzte Mr. Pickwick hastig.

„Ich – ich – glaube wirklich, es ist so“, bestätigte Mr. Snodgraß etwas unruhig.

„Unmöglich“, widersprach Mr. Pickwick. Aber kaum war das Wort seinem Munde entflohen, da legte das ganze halbe Dutzend Regimenter die Gewehre an, als hätten sie alle ein und dasselbe Ziel, nämlich die Pickwickier, und gaben die fürchterlichste Salve ab, die je die Erde erschütterte oder einen ältlichen Herrn aus der Fassung brachte.

In dieser schreckensvollen Lage, auf der einen Seite dem verderblichen Feuer blanker Gewehrläufe ausgesetzt und auf der ändern von den anrückenden Truppen bedrängt, zeigte Mr. Pickwick die ganze Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung, die von einem großen Geiste unzertrennlich sind. Er faßte Mr. Winkles Arm, drängte sich zwischen ihn und Mr. Snodgraß und bat die Herren ernstlich, zu bedenken, daß, außer der Möglichkeit, durch den Lärm des Gehörs beraubt zu werden, vom Schießen unmittelbar keine Gefahr zu gewärtigen sei.

„Aber – aber – angenommen, einer von den Soldaten würde sich zufälligerweise vergreifen und scharf laden?“ stellte ihm Mr. Winkle vor, schon bei dem bloßen Gedanken erbleichend. „Ich habe ein Zischen gehört – ssswt – hart an meinen Ohren vorbei.“

„Sollten wir uns nicht lieber flach auf den Boden werfen?“ fragte Mr. Snodgraß.

„Nein, nein, es ist schon vorüber“, antwortete Mr. Pickwick. Seine Lippen bebten, und seine Wangen erbleichten, aber kein Wort der Furcht oder Bestürzung entfloh den Lippen des unsterblichen Mannes.

Mr. Pickwick hatte recht; das Feuer wurde eingestellt, aber kaum blieb ihm Zeit, sich wegen der Richtigkeit seiner Meinung Glück zu wünschen, als Leben in die Reihen der Krieger kam. Der heisere Ruf des Kommandos lief die Front entlang, und ehe sich noch einer der Herren in Mutmaßungen über das neue Manöver ergehen konnte, rückte das ganze halbe Dutzend Regimenter mit gefälltem Bajonett im Sturmschritt auf die Stelle zu, die Mr. Pickwick und seine Freunde einnahmen.

Der Mensch ist sterblich, und es gibt einen gewissen Punkt, über den Mannesmut nicht hinaus kann. Einen Augenblick starrte Mr. Pickwick die anrückenden Truppen durch seine Brille an, drehte ihnen dann den Rücken – um den Ausdruck, er floh, erstens als ungebührlich zu vermeiden, und zweitens, weil die Figur des Gelehrten sich durchaus nicht zu dieser Art von Rückzug eignete – und trabte von dannen, immerhin jedoch so schnell, wie es die Beschaffenheit seiner Beine erlaubte. Ja, er beeilte sich so sehr, daß er das Fürchterliche seiner Lage in seinem ganzen Umfange nicht eher erfaßte, als bis es zu spät war.

Die Truppen, die Mr. Pickwick vor wenigen Sekunden durch ihren Anmarsch außer Fassung gebracht hatten, rückten vorwärts, um den Scheinangriff der Belagerer der Zitadelle zu erwidern, und die Folge davon war, daß der Meister und seine beiden Jünger sich plötzlich zwischen zwei Linien von unabsehbarer Ausdehnung eingeschlossen sahen. Die eine rückte im Sturmschritt vor, und die andere erwartete mutig den Angriff.

„Hoi!“ schrien die Offiziere der Sturmkolonnen.

„Weg da!“ riefen die Offiziere der Verteidigungslinie.

„Wohin denn?“ kreischten die bestürzten Pickwickier.

„Hoi! Hoi! Hoi!“ war die ganze Antwort.

Es war ein Augenblick grauenvoller Verwirrung; die Erde bebte unter den Tritten der stürmenden Truppen. Ein ersticktes Gelächter; das halbe Dutzend Regimenter war nur noch ein halbes Tausend Meter entfernt, und die Sohlen von Mr. Pickwicks Stiefeln schwebten in den Lüften.

Mr. Snodgraß und Mr. Winkle hatten jeder mit bewunderungswürdiger Gewandtheit einen unfreiwilligen Purzelbaum geschlagen, und das erste, was sie sahen, war ihr hochverehrter Meister, der in einiger Entfernung seinem in lustigen Sätzen dahinrollenden Hute nachlief.

Es gibt wenige Augenblicke im menschlichen Leben, in denen man mit seinem Mißgeschick so wenig auf Verständnis oder Mitleid stößt, als wenn man seinem Hut nachläuft. Es gehört keine geringe Kaltblütigkeit und ein hoher Grad von Beurteilungskraft dazu, einen fortrollenden Hut wieder einzufangen. Eile ist unangebracht: man überrennt ihn; verfällt man in das entgegengesetzte Extrem, verliert man ihn. Da heißt es, den Flüchtling genau im Auge behalten, behutsam und vorsichtig sein, die Gelegenheit scharf abpassen, ihm allmählich vorkommen, dann plötzlich die Hand ausstrecken, ihn bei der Krempe packen und fest auf das Haupt stülpen. Und dabei nur ja freundlich lächeln, als mache einem der Vorfall genausoviel Spaß wie dem lieben Zuschauer!

Eine zarte Brise wehte, und Mr. Pickwicks Hut rollte spielend dahin. Der Wind blies stärker und Mr. Pickwick desgleichen, und lustig schoß der Hut dahin, wie das Fischlein in der klaren Flut, und wäre wohl außer seines Herrn Bereich gerollt, hätte nicht in dem Augenblick, als Mr. Pickwick eben im Begriffe stand, ihn seinem Schicksale zu überlassen, eine höhere Hand eingegriffen.

Mr. Pickwick war nämlich völlig erschöpft und, wie gesagt, eben im Begriff, die Jagd aufzugeben, als der Hut mit einiger Heftigkeit an das Rad eines Wagens getrieben wurde, der neben einem halben Dutzend andrer Fuhrwerke stand, und zwar an der Stelle, auf die der Gelehrte zusteuerte. Seinen Vorteil wahrnehmend, sprang Mr. Pickwick rasch vor, versicherte sich seines Eigentums, stülpte es auf seinen Kopf und hielt inne, um Atem zu schöpfen. Noch keine halbe Minute hatte er so dagestanden, da hörte er sich laut beim Namen rufen und erkannte mit einem Male die Stimme Mr. Tupmans. Er blickte auf und sah ein Bild, das ihn mit Verwunderung und Freude erfüllte.

In einer offnen Halbchaise, deren Pferde ausgespannt waren, um mehr Platz auf dem engen Raum zu schaffen, saß ein stattlicher alter Gentleman in einem blauen Rock mit Wanken Knöpfen, Manchesterbeinkleidern und Stulpenstiefeln, zwei junge Damen mit Schleier und Federhüten, ein junger Herr, der in eine der beiden jungen Damen mit Schleier und Federhüten verliebt zu sein schien, eine Dame von schwer abzuschätzendem Alter – wahrscheinlich die Tante der Vorerwähnten – und Mr. Tupman, so behaglich und ungeniert, als ob er von jeher zur Familie gehört hätte. Hinten auf der Chaise war ein Korb von ansehnlicher Größe aufgepackt – einer von jenen Körben, die in einem kontemplativen Geiste Vorstellungen von kaltem Geflügel, Zungen und Weinflaschen erwecken –, und auf dem Bock saß in einem Zustand von Schlaftrunkenheit ein fetter rotbackiger Junge, den kein spekulativer Beobachter einen Augenblick betrachten konnte, ohne in ihm nicht mit Sicherheit eine Person zu erkennen, die dazu berufen sein mußte, den Inhalt des vorerwähnten Korbes zur geneigten Zeit zutage zu fördern.

Mr. Pickwick hatte kaum einen hastigen Blick auf diese anziehenden Gegenstände geworfen, als er abermals von seinem treuen Schüler begrüßt wurde.

„Pickwick, Pickwick“, rief Mr.Tupman, „geschwind, kommen Sie herauf.“

„Kommen Sie, mein Herr. Bitte, kommen Sie doch“, sagte auch der stattliche Gentleman. „Joe! – Der verdammte Junge, jetzt schläft er wieder – Joe, laß den Tritt hinunter.“

Der fette Junge schob sich langsam vom Bock, ließ den Tritt nieder und hielt einladend den Wagenschlag offen. In diesem Augenblicke erschienen Mr. Snodgraß und Mr. Winkle.

„Platz genug für alle, meine Herren. Zwei innen; einer außen. Joe, mach Platz auf dem Bock. Nun, Sir, kommen Sie!“ – Der stattliche Gentleman streckte seinen Arm aus und half zuerst Mr. Pickwick und dann Mr. Snodgraß in den Wagen. Mr. Winkle stieg auf den Bock, der Junge setzte sich daneben und versank sofort in Schlummer.

„Meine Herren“, sagte der stattliche Gentleman, „außerordentliches Vergnügen. Kenne Sie sehr gut, meine Herren, wenn Sie sich auch vielleicht meiner nicht mehr erinnern, Brachte letzten Winter mehrere Abende in Ihrem Klub zu – traf diesen Morgen unvermutet meinen Freund Mr. Tupman und war sehr erfreut, ihn zu sehen. Nun, Sir, und wie befinden Sie sich? Sehen vortrefflich aus – auf Ehre!“

Mr. Pickwick dankte für das Kompliment und schüttelte dem freundlichen Herrn mit den Stulpenstiefeln herzlich die Hand.

„Nun, und wie geht es Ihnen, Sir?“ fragte der stattliche Gentleman und wandte sich mit väterlicher Teilnahme an Mr. Snodgraß. „Vortrefflich? – Nun, das ist schön – das ist schön. Und wie geht es Ihnen, Mr. Winkle. Gut? Freut mich zu hören. Freut mich wirklich ungemein. Meine Töchter, meine Herren – meine Deerns, und dies ist meine Schwester, Miß Rachel Wardle. Sie ist immer noch Fräulein, so leid es ihr auch tut. Fräulein! – Sie verstehen. Ha?“ Der stattliche Gentleman stieß Mr. Pickwick vertraulich mit dem Ellenbogen in die Rippen und lachte herzlich.

„Aber Bruder!“ flötete Miß Wardle mit einem bittenden Blick.

„Freilich, freilich“, erwiderte der stattliche Gentleman. „Stimmt doch, oder nicht? Pardon, meine Herren, hier mein Freund Mr. Trundle. So, und jetzt kennen sich die Herrschaften, und da können wir’s uns ja bequem machen und sehen, was da drüben alles vorgeht; dächte ich jedenfalls!“

Der stattliche Gentleman setzte seine Brille auf, Mr. Pickwick nahm sein Fernglas, und alles stand aufrecht im Wagen und sah über die Schulter des Vordermannes den Evolutionen der Truppen zu.

Das Manöver war in vollem Gang. Man sah eine Reihe Soldaten über die Köpfe einer andern wegfeuern und davonrennen, Karrees bilden und die Offiziere in die Mitte nehmen. Dann wurde an Strickleitern auf der einen Seite der Schanze hinab- und auf der ändern wieder hinaufgeklettert, man riß Barrikaden von Schanzkörben nieder, kurz, benahm sich so tapfer wie nur irgend möglich. Ungeheure Kanonen wurden mit Instrumenten, die wie riesige Schornsteinfegerwische aussahen, geladen, und die Vorbereitungen, bis sie losgeschossen wurden, und endlich gar das Abbrennen selbst waren mit einem so entsetzlichen Lärm verbunden, daß die Lüfte vom Angstgeschrei der Damen widerhallten. Die jungen Misses Wardle waren so erschrocken, daß Mr. Trundle eine von ihnen stützen mußte, während Mr. Snodgraß der ändern seine Schulter lieh und Mr. Wardles Schwester einen solchen Nervenschock bekam, daß es Mr. Tupman für unumgänglich notwendig hielt, seinen Arm um ihre Taille zu legen, um sie aufrecht zu halten. Alles war in der größten Aufregung, nur der fette Junge nicht, der so sanft fortschlief, als wäre der Kanonendonner ein Wiegenlied.

„Joe, Joe!“ rief der stattliche Gentleman, als die Zitadelle genommen war und Belagerer und Belagerte sich zum Essen lagerten. „Verdammter Junge, schläft er schon wieder. Bitte, möchten Sie ihn nicht ein bißchen in die Waden zwicken, Sir, anders ist er nicht zu erwecken. So, besten Dank, Sir. Den Korb ausgepackt, Joe!“

Der fette Junge rutschte vom Bock herunter und begann den Korb auszuleeren, wobei er einen größeren Eifer entfaltete, als man bei seiner Trägheit von ihm hätte erwarten können.

„Jetzt müßten wir allerdings zusammenrücken“, sagte der stattliche Gentleman.

Darauf wurden zunächst viele Witze über die weiten ärmel der Damen gemacht, die jetzt wohl sehr zerdrückt werden würden, und die Damen erröteten ausgiebig über die scherzhaften Einladungen, sie möchten sich doch den Herren auf den Schoß setzen, bis endlich die ganze Gesellschaft richtig Platz in dem Wagen gefunden hatte und der stattliche Gentleman den Inhalt des Korbes aus den Händen des fetten Jungen entgegennahm, der zu diesem Zweck hinten auf die Achse gestiegen war.

„Jetzt, Joe, Messer und Gabeln!“

Die Messer und Gabeln wurden übergeben und die Damen und Herren im Wagen und Mr. Winkle außen auf dem Bock mit diesen nützlichen Werkzeugen versehen.

„Teller, Joe, Teller!“

Die Teller wurden auf gleiche Weise verteilt.

„Jetzt, Joe, das Geflügel. Verdammter Junge, schläft er schon wieder. Joe, Joe!“ – Einige Winke mit einem Stock auf den Kopf, und der fette Junge erwachte langsam aus seiner Schlaftrunkenheit. – „Geschwind, gib die Eßwaren her!“

Es lag etwas in dem Klange der letzten Worte, was den Schmalz Jüngling lebendig machte. Er sprang auf und starrte mit schwerem Auge, aus den dicken Pausbacken hervorblinzelnd, heiß und gierig auf die Speisen, die er dem Korbe entnahm.

„Nun, mach fix!“ rief Mr. Wardle, denn der fette Junge warf äußerst verliebte Blicke auf einen Kapaun, von dem er sich kaum trennen zu können schien. Mit einem tiefen Seufzer und einem glühenden Blick auf den wohlgemästeten Vogel übergab er ihn endlich mit widerstrebender Hand seinem Herrn.

„So ist’s recht – sieh genau nach. Jetzt die Zunge – die Taubenpastete. Den Kalbsbraten und den Schinken nicht vergessen – und die Hummern. Nimm den Salat aus dem Tuche, so, und die Servietten.“ Dies waren die hastigen Befehle, die Mr. Wardles Lippen entströmten, während er die genannten Gegenstände in Empfang nahm und jedem eine Menge Teller in die Hand gab oder auf die Knie setzte.

„Na, ist das nicht fein?“ fragte der heitere Mann, als das Werk der Zerstörung begonnen hatte.

„Fein!“ sagte Mr. Winkle und zerlegte sein Huhn auf dem Bock.

„Glas Wein gefällig?“

„Wenn ich bitten darf.“

„Ich will Ihnen lieber eine Flasche hinaufreichen, oder?“

„Sie sind sehr gütig.“

„Joe!“

„Ja, Sir?“ Joe schlief diesmal nicht, weil er soeben ein Kalbfleischpastetchen stibitzt hatte.

„Flasche Wein dem Herrn auf dem Bock. Wohl bekomm’s, Sir.“

„Danke.“

Mr. Winkle leerte sein Glas und stellte die Flasche neben sich.

„Darf ich mir gestatten, mein Herr?“ sagte Mr. Trundle zu Mr. Winkle.

„Prosit!“ antwortete Mr. Winkle. Die beiden Herren stießen miteinander an, und die ganze Gesellschaft beteiligte sich.

„Wie die liebe Familie mit dem fremden Herrn kokettiert!“ flüsterte Miß Wardle, die Tante, mit echtem Altjungfernneid ihrem Bruder zu.

„Wüßte nicht“, sagte aufgeräumt der alte Herr. „Finde es ganz natürlich; sozusagen – nichts Außergewöhnliches. Mr. Pickwick, etwas Wein gefällig?“

Mr. Pickwick, inzwischen tief in den Bauch einer Taubenpastete eingedrungen, nahm dankend an.

„Liebe Emilie“, verwies die Jungfer Tante mit Gouvernantenmiene, „sprich doch nicht so laut, Kind.“

„Aber Tante!“

„Die Tante und der kleine alte Herr wollen, glaube ich, allein das Recht haben zu reden“, flüsterte Miß Isabella Wardle ihrer Schwester Emilie zu. Die jungen Damen lachten herzlich, und die alte bemühte sich, liebenswürdig auszusehen, konnte es aber nicht zuwege bringen.

„Junge Mädchen sind so lebhaft“, sagte sie zu Mr. Tupman mit einer Miene des Bedauerns, als ob Lebhaftigkeit Konterbande und, ohne höhere Erlaubnis, sündhaft und verbrecherisch wäre.

„Gewiß, wohl“, entgegnete Mr. Tupman in einem Ton, der der erwarteten Antwort nicht ganz entsprach. „Es ist entzückend.“

„Hm!“ erwiderte die jungfräuliche Tante etwas verstimmt.

„Darf ich mir erlauben?“ fragte Mr. Tupman säuselnd, berührte Tante Rachels reizendes Händchen und hielt die Flasche empor. „Darf ich mir erlauben?“

„Ach, mein Herr!“

Mr.Tupmans Augen leuchteten vielsagend, und Miß Rachel drückte Besorgnis aus, man könnte schon wieder Kanonen losschießen, in welchem Falle sie natürlich abermals auf den Beistand des Herrn rechnen würde.

„Halten Sie meine Nichten für hübsch?“ flüsterte sie zärtlich.

„Ausnehmend, wenn ihre Tante nicht hier wäre“, versetzte der gewandte Pickwickier mit einem Glutblick.

„Oh, Sie Schlimmer! – Aber wirklich, wenn ihr Teint ein wenig lebhafter wäre, glauben Sie nicht, sie würden nicht übel aussehen? – Bei künstlichem Licht, meine ich.“

„Sicherlich“, erwiderte Mr. Tupman zerstreut.

„Oh, Sie Spötter – ich weiß, worauf Sie anspielen.“

„Worauf denn?“ fragte Mr. Tupman, der sich einen Augenblick gar nichts gedacht hatte.

„Sie wollten sagen, Isabella hält sich, schlecht – ihr Männer seid so scharfe Beobachter. Ja, ja, es ist so; man kann es nicht leugnen, und gewiß, wenn es etwas gibt, was ein Mädchen entstellt, so ist es eine schlechte Haltung. Wie oft habe ich ihr gesagt, wenn sie nur ein bißchen älter sein wird, wird es sie geradezu verunstalten. Ja, ja, Sie sind ein Spötter!“

Mr. Tupman hatte nichts dagegen, so wohlfeil zum Rufe eines Frauenkenners zu kommen. Er setzte eine schlaue Miene auf und lächelte geheimnisvoll.

„Welch ein sarkastisches Lächeln!“ sagte Miß Rachel im Tone der Bewunderung. „Ich versichere Ihnen, ich fürchte mich vor Ihnen.“

„Sie fürchten sich vor mir!?“

„Oh, Sie können mir nichts verbergen; ich weiß, was dieses Lächeln zu bedeuten hat. – Oh, wie gut!“

„Was denn?“ fragte Mr.Tupman, der selbst nicht den mindesten Begriff davon hatte.

„Sie meinen“, flüsterte die liebenswürdige Tante, „Sie meinen, Isabellas schlechte Haltung ist ebenso schlimm wie Emiliens Dreistigkeit. Ja, ja, sie ist sehr vorlaut! Sie können sich nicht denken, was mir das zuweilen für Sorgen macht – ich weine oft stundenlang deswegen. – Mein lieber Bruder ist so gut, so arglos, daß er es gar nicht sieht. Ach, wenn er es gewahr würde, es müßte ihm sicher das Herz brechen. Ich wollte, ich könnte mir einreden, es wäre nur eine schlechte Angewohnheit. Ach, wenn es so wäre!“ – Die zärtliche Verwandte stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte hoffnungslos den Kopf.

„Ich möchte wetten, die Tante spricht von uns“, flüsterte Miß Emilie Wardle ihrer Schwester zu. „Sie sieht so boshaft aus.“

„Glaubst du?“ fragte Isabella. „Hm! Tante, liebe Tante!“

„Was, mein Liebling?“

„Ich fürchte so, du wirst dich erkälten, Tante. Binde dir doch ein seidenes Tuch um dein liebes altes Gesicht. Du mußt dich in acht nehmen, denk an deine Jahre!“

So wohlverdient diese kleine Züchtigung auch sein mochte, soviel Rachsucht klang aus ihr. Auf welche Weise sich die Entrüstung der Tante wieder Luft gemacht haben würde, ist schwer zu erraten, aber zum Glück gab Mr.Wardle unabsichtlich der Aufmerksamkeit der Gesellschaft eine andre Richtung, indem er laut nach Joe rief.

„Verdammter Junge, schläft er schon wieder.“

„Ein höchst seltsamer Knabe das“, bemerkte Mr. Pickwick, „ist er immer so schläfrig?“

„Schläfrig?!“ sagte der alte Herr. „Er schläft den ganzen Tag. Er schläft beim Gehen ein und schnarcht, wenn er bei Tisch serviert.“

„Sehr seltsam“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Ja, in der Tat, seltsam“, versetzte der alte Herr. „Ich bin stolz auf den Jungen – ich würde mich unter keiner Bedingung von ihm trennen, wahrhaftig; es ist ein Naturspiel! He, Joe – Joe, räum die Sachen ab und mach eine neue Flasche auf – hörst du?“

Der fette Junge erwachte, öffnete die Augen, würgte das ungeheure Stück Taubenpastete hinunter, an dem er gerade gekaut hatte, als ihn der Schlaf übermannt, und kam langsam dem Befehl seines Herrn, auf die Überbleibsel des Mahles schielend, nach und räumte das Geschirr in den Korb. Eine frische Flasche erschien und wurde alsbald geleert; der Korb kam wieder auf seinen alten Platz, der fette Junge stieg auf den Bock, die Brillen und Ferngläser wurden abermals hervorgenommen, und die Manöver der Armee begannen aufs neue. Die Geschütze brüllten, die Damen kreischten, eine Mine flog zur allgemeinen Befriedigung auf, und Militär und Gesellschaft traten den Heimweg an.

„Ich hoffe“, sagte der alte Herr beim gemeinsamen Händen schütteln, als das Schauspiel zu Ende war, „ich hoffe, wir sehen uns also morgen.“

„Ganz bestimmt“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Sie haben doch meine Adresse?“

„Manor Farm, Dingley Dell“, sagte Mr. Pickwick, sein Taschenbuch zu Rate ziehend.

„Stimmt“, versetzte der alte Herr, „und ich gedenke, Sie vor einer Woche nicht fortzulassen. Sie müssen alles besichtigen, was irgend sehenswert ist. Wenn Ihnen am Landleben etwas liegt, so kommen Sie nur zu mir, dort finden Sie es in Hülle und Fülle. Joe – verdammter Junge, schläft er schon wieder – Joe, hilf Tom einspannen.“

Die Pferde wurden eingespannt, der Kutscher bestieg seinen Bock, der fette Junge rutschte an seine Seite, man verabschiedete sich allerseits, und der Wagen rollte von dannen. Als die Pickwickier sich umwandten, um einen letzten Blick auf die Scheidenden zu werfen, fielen die Strahlen der untergehenden Sonne eben auf deren Gesichter und beleuchteten die Gestalt des fetten Jungen. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken, und er schlummerte fest.