Fünfzigstes Kapitel

Mr. Jingles und Hiob Trotters letzter Austritt. Abwicklung eines Geschäfts in Grays Inn Square und ein lautes Klopfen an Mr. Perkers Tür.

Als Arabella nach mancherlei zarten Vorbereitrungen und vielen Versicherungen von Mr. Pickwick, daß durchaus kein Grund vorhanden sei, den Mut sinken zu lassen, das unbefriedigende Resultat seines Besuchs in Birmingham erfahren hatte, brach sie in Tränen aus und klagte sich laut schluchzend an, die unglückselige Ursache einer Entfremdung zwischen Vater und Sohn geworden zu sein.

„Aber, mein liebes Kind“, tröstete sie Mr. Pickwick freundlich, „es ist doch nicht Ihre Schuld. Man konnte unmöglich voraussehen, daß der alte Herr die Verheiratung seines Sohnes so übel aufnehmen würde. Gewiß“, fügte er hinzu und schaute Arabella in das hübsche Gesichtchen, „gewiß hat er nicht die entfernteste Idee von dem Vergnügen, dessen er sich beraubt.“

„Ach, mein lieber Mr. Pickwick“, jammerte Arabella, „was sollen wir nur tun, wenn er fortfährt, uns zu grollen?“

„Warten Sie es mit Geduld ab, liebes Kind, bis er besser von der Sache denkt“, erwiderte Mr. Pickwick in vergnügtem Ton.

„Aber was soll aus Nathaniel werden, wenn sein Vater die Hand von ihm abzieht?“ schluchzte Arabella.

„Für diesen Fall, meine Liebe, will ich zu prophezeien wagen, daß er schon irgendeinen Freund finden wird, der ihm mit Vergnügen dabei behilflich sein wird, sich in der Welt fortzubringen.“

Das war zu deutlich, als daß es Arabella nicht hätte verstehen sollen. Sie schlang die Arme um Mr. Pickwicks Nacken, küßte ihn zärtlich und schluchzte noch lauter als zuvor.

„Nur Mut gefaßt!“ tröstete der alte Herr und faßte ihre Hand. „Wir wollen hier noch einige Tage verweilen und sehen, ob er schreibt oder den Brief Ihres Mannes in einem andern Licht auffaßt. Wo nicht, so habe ich schon ein Dutzend Pläne ausgesonnen, von denen jeder einzelne zu Ihrem Glück führen muß. Also, seien Sie ganz ruhig, mein Kind.“

Die jungen Leute befinden sich wirklich in einer peinlichen Lage, sagte sich Mr. Pickwick, als er sich am folgenden Morgen ankleidete. Ich will mal zu Perker gehen und ihn in der Sache um Rat fragen.

Da er noch einen andern sehnlichen Wunsch hatte, der ihn nach dem Grays Inn Square trieb, nämlich unverzüglich mit dem braven kleinen Anwalt seine Rechnung abzuschließen, nahm er in aller Geschwindigkeit sein Frühstück ein und führte seine Absicht so schleunig aus, daß es noch nicht zehn Uhr geschlagen hatte, als er Grays Inn erreichte.

Die Schreiber waren noch nicht da, und so vertrieb er sich die Zeit mit Hinaussehen aus dem Treppenfenster.

Das klare Licht eines schönen Oktobermorgens verlieh sogar den trüben alten Häusern ein wenig Glanz; einige der staubüberzogenen Fenster sahen fast fröhlich aus, als die Sonnenstrahlen auf ihnen glühten. Schreiber um Schreiber eilte durch die Eingänge, und alle blickten auf die Uhr der Halle und beschleunigten oder verlangsamten ihre Schritte, je nach der Zeit, zu der ihre Kanzleistunden begannen. Das Geräusch sich öffnender und schließender Türen hallte von allen Seiten wider, Köpfe erschienen wie durch Zauberschlag an den Fenstern; die Portiers stellten sich auf ihre Posten, die Scheuerfrauen mit ihren abgetretenen Schuhen schlurften davon, der Briefträger eilte von Haus zu Haus, und der ganze juristische Bienenschwarm war in geschäftiger Aufregung.

Nach einigen Minuten erschien Mr. Lowten, begrüßte Mr. Pickwick und schloß die Kanzlei auf.

„Das Geschäft ist in Ordnung, das wissen Sie doch“, sagte er, als er mit großer Umständlichkeit sein Pult aufgeräumt, die Federn geschnitten und seinen Arbeitsrock angezogen hatte.

„Welches Geschäft?“ fragte Mr. Pickwick. „Die Kostensache für die Bardell?“

„Nein, das wegen des Burschen, den wir auf Ihre Rechnung aus der Fleet auslösten und der nach Demerara soll.“

„Ach so, Mr. Jingle“, sagte Mr. Pickwick hastig. „Nun, wie ist es gegangen?“

„Alles in schönster Ordnung. Der Agent in Liverpool schreibt, Sie hätten ihm früher so viele Gefälligkeiten erwiesen, daß es ihm ein Vergnügen sei, ihn auf Ihre Empfehlung hin unterzubringen.“

„Bravo, das freut mich“, frohlockte Mr. Pickwick.

„Aber der andre ist ein Mordspinsel.“

„Welcher andre?“

„Na, der Bediente oder Freund Jingles, oder was er sonst ist; Sie wissen doch, der Trotter.“

„Ah so“, sagte Mr. Pickwick lächelnd. „Den hätte ich gerade für das Gegenteil gehalten.“

„Ich auch. – Schon nach dem wenigen, was ich von ihm gesehen habe“, erwiderte Lowten. „Aber was sagen Sie dazu, daß er ebenfalls nach Demerara geht? Perkers Anerbieten von achtzehn Schilling wöchentlich mit der Aussicht auf mehr, wenn er sich gut aufführe, machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn. Er sagte, er müsse unbedingt mit Jingle gehen. Sie baten beide Mr. Perker, noch einmal zu schreiben, und jetzt ist er glücklich nicht halb so gut untergebracht wie ein Verbrecher in Neusüdwales.“

„Ein närrischer Kerl“, sagte Mr. Pickwick mit strahlendem Gesicht, „wahrhaftig, ein ganz närrischer Kerl.“

„Oh, es ist noch mehr als närrisch, es ist einfach blödsinnig“, erwiderte Lowten verächtlich und schnitzelte an seiner Feder herum. „Er sagt, Jingle sei der einzige Freund, den er je gehabt habe, deswegen könne er ihn jetzt nicht verlassen, und ähnliches dummes Zeug. Freundschaft ist ja recht schön, wir zum Beispiel sind in der ,Elster‘ alle gut befreundet, aber jeder zahlt für sich selbst. Das fehlte einem noch, daß man sich eines andern wegen etwas abgehen lassen sollte. Der Mensch darf meiner Ansicht nach nur zwei Neigungen haben: die erste, zu Nummer eins, das heißt, zu sich selbst, und die zweite zu den Weibern. Das ist meine Meinung. Hahaha!“

Mr. Lowten schloß mit einem lauten, halb lustigen und halb höhnischen Gelächter, das er jedoch schnell abbrach, als er Mr. Perker kommen hörte. Mit merkwürdiger Behendigkeit schwang er sich auf seinen Stuhl und schrieb eifrig.

Die Begrüßung zwischen Mr. Pickwick und seinem Anwalt war warm und herzlich. Der Gelehrte hatte sich indes kaum in den Armstuhl geworfen, als Jingle und Hiob Trotter gemeldet wurden.

„Na“, sagte Perker, „Sie kennen diesen Herrn wohl nicht?“ als beide eintraten und bei Mr. Pickwicks Anblick verlegen auf der Schwelle stehenblieben.

„Guten Grund dazu“, versetzte Jingle und trat vor. „Mr. Pickwick – aufs tiefste Dankgefühl verpflichtet – Leben gerettet – einen Menschen aus mir gemacht – sollen es nie bereuen, Sir.“

„Es freut mich, Sie so reden zu hören“, sagte Mr. Pickwick. „Sie sehen bereits viel besser aus.“

„Alles Ihr Werk – Sir – große Veränderung, Fleet – ungesunder Ort – sehr ungesund“, versetzte Jingle und schüttelte den Kopf. Er war anständig und reinlich gekleidet, ebenso Hiob, der kerzengerade hinter ihm stand und Mr. Pickwick wie versteinert anstarrte. „Wann gehen sie nach Liverpool?“ fragte Mr. Pickwick halblaut seinen Anwalt.

„Heute abend, Sir, um sieben Uhr“, erwiderte Hiob und trat einen Schritt vor. „Mit der City-Postkutsche, Sir.“

„Haben Sie Ihre Plätze schon?“

„Ja, Sir.“

„So sind Sie also fest entschlossen, zu gehen?“

„Ja, Sir.“

„Was die nötige Ausrüstung für Jingle betrifft“, sagte Perker laut zu Mr. Pickwick, „so habe ich veranlaßt, daß ihm eine kleine Summe von seinem Vierteljahrsgehalt abgezogen wird, um diese Ausgabe zu decken, was in einem Jahre geschehen sein wird. Ich bin entschieden dagegen, mein lieber Herr, daß Sie irgend etwas für ihn tun, wofern er es nicht durch Fleiß und gute Aufführung verdient.“

„Wird gewiß geschehen“, unterbrach ihn Jingle mit großer Entschiedenheit. „Klarer Kopf jetzt – Mann von Welt – werden schon durchkommen.“

„Durch die Befriedigung seiner Gläubiger, die Auslösung seiner Garderobe, die Unterstützung, die Sie ihm im Gefängnis zukommen ließen, –und die Bezahlung der Überfahrtskosten“, fuhr Perker, ohne die mindeste Rücksicht auf Jingles Bemerkung zu nehmen, fort, „haben Sie bereits über fünfzig Pfund verloren.“

„Nicht verloren“, rief Jingle hastig. „Alles bezahlen – fleißig arbeiten – sparen – jeden Heller. Gelbes Fieber vielleicht – wäre etwas anderes – aber sonst …“

Mr. Jingle versagte die Stimme, er schlug sich heftig auf die Brust, fuhr mit der Hand über die Augen und setzte sich wieder.

„Er will damit sagen“, erläuterte Hiob und trat wieder einen Schritt vor, „daß er, wenn ihn das Fieber nicht wegrafft, das Geld zurückbezahlen wird. Bleibt er am Leben, so tut er es gewiß, Mr. Pickwick. Ich will selbst darauf sehen, daß es geschieht; aber ich weiß, daß er es tun wird, Sir“, fügte er mit großem Nachdruck hinzu. „Ich könnte darauf schwören.“

„Schon gut, schon gut“, wehrte Mr. Pickwick ab, der bereits Perker ein ganzes Dutzend zorniger Blicke zugeworfen, um ihm zu bedeuten, er möge doch die Aufzählung seiner Wohltaten unterlassen, was jedoch der kleine Anwalt geflissentlich nicht beachtet hatte. „Sie müssen sich nur hüten, keine so verzweifelten Kricketmatches mehr einzugehen, Mr. Jingle, oder Ihre Bekanntschaft mit Sir Thomas Blazo zu erneuern; dann zweifle ich nicht, daß Sie Ihre Gesundheit erhalten werden.“

Mr. Jingle lächelte über diesen Scherz, sah aber doch ein wenig verlegen aus, und so gab Mr. Pickwick dem Gespräch rasch eine andre Wendung. „Wissen Sie nicht vielleicht“, fragte er, „was aus Ihrem andern Freunde geworden ist, den ich in Rochester kennenlernte?“

„Trübsinns-Jemmy?“ fragte Jingle.

„Ja.“

Jingle schüttelte den Kopf. – „Ein geriebener Bursche – ein närrischer Kauz – ein Lügengenie – Hiobs Bruder.“

„Mr. Trotters Bruder?!“ rief Mr. Pickwick. „Ja, wahrhaftig, wenn ich Hiob so in der Nähe ansehe, entdecke ich eine gewisse Ähnlichkeit.“

„Man hat uns immer für ähnlich gehalten, Sir“, sagte Hiob mit einem verschmitzten Blick, „nur war ich von jeher ernsthafter Natur, und er niemals. Er wanderte nach Amerika aus, Sir, weil man ihm hier zu sehr auf die Finger sah, als daß er sich hätte behaglich fühlen können, und seitdem hat man nichts wieder von ihm gehört.“

„Deswegen habe ich also die ,Seite aus dem Roman des wirklichen Lebens‘ nicht bekommen, die er mir eines Morgens versprach, als er auf der Rochesterbrücke stand und offenbar mit Selbstmordgedanken umging?“ sagte Mr. Pickwick lächelnd. „Ich brauche wohl nicht zu fragen, war sein trübseliges Benehmen natürlich oder bloß erkünstelt?“

„Er konnte sich in jede Rolle hineinfinden, Sir“, sagte Hiob, „und Sie dürfen von Glück sagen, daß Sie so mit heiler Haut davongekommen sind. Bei näherem Umgang würde er noch ein weit gefährlicherer Bekannter für Sie geworden sein, als“ – er blickte auf Jingle, stockte und setzte endlich hinzu – „als – als – ich selbst sogar.“

„Sie haben ja eine recht hoffnungsvolle Familie, Mr. Trotter“, sagte Perker und versiegelte den Brief, den er soeben beendet hatte.

„Jawohl, Sir, allerdings“, versetzte Hiob. „Na“, fuhr der kleine Mann lachend fort, „Sie werden hoffentlich aus der Art schlagen. Übergeben Sie diesen Brief dem Agenten, wenn Sie nach Liverpool kommen, und nehmen Sie den Rat von mir an, meine Herren, in Westindien nicht gar zu gerissen aufzutreten. Verscherzen Sie sich diese Gelegenheit, so verdienen Sie beide gehenkt zu werden, und ich glaube auch fest, daß dies geschehen wird. Jetzt aber muß ich bitten, mich mit Mr. Pickwick allein zu lassen, denn wir haben noch vieles zu besprechen, und unsere Zeit ist kostbar.“

Bei diesen Worten sah Perker nach der Tür mit einer Miene, die deutlich den Wunsch ausdrückte, die Herren möchten den Abschied so kurz wie möglich machen.

Von Mr. Jingles Seite war er auch kurz genug. Er dankte dem kleinen Anwalt in wenigen herausgestoßenen Worten für die Güte und Bereitwilligkeit, mit der er ihm Beistand geleistet, wandte sich dann an seinen Wohltäter und stand einige Sekunden da, unentschlossen, was er sagen oder wie er sich benehmen solle. Hiob Trotter erlöste ihn aus seiner Verlegenheit, indem er ihn, mit einer demütigen, dankbaren Verbeugung gegen Mr. Pickwick, sachte am Arme nahm und hinausführte.

„Ein würdiges Paar“, sagte Perker, als sich die Tür hinter ihnen schloß.

„Ich hoffe, daß sie es werden“, erwiderte Pickwick. „Was meinen Sie? Ist Aussicht auf bleibende Besserung vorhanden?“

Perker zuckte die Achseln; als er aber Mr. Pickwicks unruhigen und mißvergnügten Blick bemerkte, sagte er:

„Aussicht ist allerdings vorhanden, und ich hoffe, es wird alles gut ausgehen. Sie sind jetzt fraglos sehr zerknirscht, aber Sie müssen doch bedenken, daß die Erinnerung an ihre kürzlich erstandenen Leiden noch ganz frisch bei ihnen ist. Was aus ihnen werden wird, wenn sie nach und nach verschwindet, ist eine Frage, die ich sowenig beantworten kann wie Sie. Selbst indes, mein lieber Herr“, fügte er hinzu und legte seine Hand auf Mr. Pickwicks Schulter, „mag es ausfallen, wie es will, Ihre Absicht bleibt immer gleich ehrenhaft. Ob jene Art von Wohlwollen, die so unendlich behutsam und vorsichtig zu Werke geht, daß sie sich nur selten in Anwendung bringen läßt – damit der Wohltäter nur ja nicht betrogen und dadurch in seiner Eigenliebe gekränkt werde –, wirkliche Menschenfreundlichkeit ist oder bloß ein verfälschter Nachdruck davon, überlasse ich klügeren Köpfen zu ermitteln. Wenn übrigens die zwei Burschen morgen schon einen nächtlichen Einbruch begingen, meine Meinung von Ihrer Handlungsweise, Pickwick, würde dieselbe bleiben.“

Mit diesen Bemerkungen, die mit weit mehr lebhaftem Mitgefühl und Ernst gesprochen waren, als es bei den Herren Juristen sonst der Fall zu sein pflegt, rückte Mr. Perker seinen Stuhl an sein Pult und ließ sich von Mr. Pickwick erzählen, wie die Sache mit Mr. Winkle senior ausgefallen war.

„Lassen Sie ihm eine Woche Zeit“, sagte er und nickte prophetisch mit dem Kopf.

„Meinen Sie, er wird mürbe werden?“ fragte Mr. Pickwick.

„Hoffentlich. Wenn nicht, so müssen wir auf die Überredungsgabe der jungen Dame bauen, etwas, was jeder andre, bloß Sie nicht, gleich im Anfang getan hätte.“

Mr. Perker nahm eine Prise und schnitt groteske Gesichter, mit denen er offenbar andeuten wollte, was die Überredungskünste junger Damen alles zuwege zu bringen imstande wären, als man in der Schreibstube reden hörte und unmittelbar darauf Lowten klopfte, mit sehr geheimnisvoller Miene eintrat und die Tür vorsichtig hinter sich zumachte.

„Was gibt’s denn?“ fragte Perker.

„Man fragt nach Ihnen, Sir.“

„Wer?“

Lowten sah Mr. Pickwick an und hustete.

„Wer fragt nach mir? Können Sie denn nicht sprechen, Mr. Lowten?“

„Hm, ja, Sir. Es sind die Herren Dodson und Fogg.“

„Richtig, ja!“ sagte der kleine Anwalt und sah hastig auf die Uhr. „Ich habe sie auf halb zwölf hierher bestellt, um Ihre Angelegenheit mit ihnen abzumachen, Mr. Pickwick. Ich gab ihnen eine Anweisung, gegen die sie mir Ihr Entlassungsdekret aus dem Gefängnis schickten. Die Leute kommen sehr ungelegen, mein lieber Herr, was wollen Sie tun? Gehen Sie vielleicht einen Augenblick in das andre Zimmer, nicht?“

Das andre Zimmer war indes dasselbe, in dem sich die Herren Dodson und Fogg befanden, und Mr. Pickwick erklärte daher entschlossen, er werde bleiben, wo er sei, zumal die Herren Dodson und Fogg allen Grund hätten, sich vor ihm zu schämen, und er nicht die geringste Ursache, vor ihnen die Flucht zu ergreifen.

„Ganz gut, mein lieber Herr, ganz gut“, erwiderte Perker, „soviel muß ich Ihnen jedoch sagen: Wenn Sie glauben, daß Dodson oder Fogg auch nur die geringste Verlegenheit an den Tag legen wird, so sind Sie der sanguinischste Mensch, der mir je vorgekommen ist. Führen Sie die Leute herein, Lowten.“

Mr. Lowten verschwand mit einem Grinsen und öffnete sogleich der Firma Dodson und Fogg die Tür.

„Sie kennen Mr. Pickwick bereits, dächte ich“, begann Perker zu Dodson und wies mit der Feder nach der Richtung, wo der Gelehrte saß. „Ah, Mr. Pickwick, wie befinden Sie sich?“ sagte sofort Dodson mit lauter Stimme.

„Oh, Mr. Pickwick! Wie geht’s“, rief Fogg. „Doch wohl, wie ich hoffe, Sir? Will’s meinen, daß ich den Herrn kenne“, wendete er sich zu Perker, nahm einen Stuhl und lächelte.

Mr. Pickwick nickte zur Erwiderung auf diese Begrüßung nur unmerklich mit dem Kopf, und als er Fogg einen Pack Akten aus der Rocktasche ziehen sah, stand er auf und trat ans Fenster.

„Mr. Pickwick braucht sich nicht zu entfernen, Mr. Perker“, sagte Fogg, löste den roten Bindfaden, der das Paket zusammenhielt, und lächelte noch süßer als zuvor. „Mr. Pickwick kennt unsre Verhandlungen ziemlich genau, und ich dächte, wir haben hier keine Geheimnisse voreinander. Hihihi!“

„Hahaha!“ lachte Dodson.

„Mr. Pickwick wird sich gewiß sehr freuen“, fuhr Fogg aufgeräumt fort und ordnete die Papiere, „zu hören, daß unsere Kosten auf hundertunddreiunddreißig Pfund, sechs Schilling und vier Pence festgesetzt wurden, Mr. Perker. – Bitte, wollen Sie sich überzeugen.“

Während Fogg und Perker die Köpfe zusammensteckten und ihre Akten verglichen, wandte sich Dodson in verbindlichem Tone zu Mr. Pickwick:

„Sie scheinen mir nicht mehr ganz so kräftig auszusehen wie damals, als ich zum letztenmal das Vergnügen hatte, Sie zu sehen, Mr. Pickwick.“

„Kann schon sein, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick, der die ganze Zeit über die beiden Associés zornig angefunkelt hatte, ohne daß dies den mindesten Eindruck auf sie gemacht hätte. „Es ist auch kein Wunder, Sir, denn ich bin in der letzten Zeit der Spielball von ein paar Schurken gewesen, Sir.“

Perker hustete heftig und fragte Mr. Pickwick, ob er nicht vielleicht die Zeitung lesen wolle – eine Zumutung, die dieser auf das entschiedenste zurückwies.

„Jaja“, sagte Dodson, „das will ich gern glauben, es ist eine sehr gemischte Gesellschaft in der Fleet. Wo haben Sie dort gewohnt, Mr. Pickwick?“

„Mein Zimmer“, erwiderte der schwer gekränkte Gelehrte, „befand sich im Restaurationsgang.“

„So, so“, sagte Dodson. „Meines Wissens ist dies ein sehr angenehmer Teil des Gebäudes.“

„Ja, sehr“, entgegnete Mr. Pickwick trocken.

Die Unterhaltung war ganz danach angetan, einen Mann von erregbarem Temperament aufs äußerste zu reizen, aber Mr. Pickwick bezwang heldenhaft seinen Ingrimm. Als aber Perker einen Scheck ausfüllte und Fogg ihn mit einem triumphierenden Lächeln, das sich sogar dem strengen Gesichte Dodson mitteilte, einsteckte, da fühlte er, wie ihm das Blut vor Zorn in die Wangen stieg.

„Wir sind fertig, Mr. Dodson“, sagte Fogg und zog seine Handschuhe an. „Wir können gehen.“

„Gut“, sagte Dodson und stand auf, „ich bin bereit.“

„Ich schätze mich ungemein glücklich“, bemerkte Fogg, durch die Anweisung sichtlich in die beste Laune versetzt, „Mr. Pickwicks werte Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich hoffe, Sie werden von uns nicht mehr ganz so übel denken, Mr. Pickwick, wie damals, als ich das erstemal das Vergnügen hatte.“

„Das hoffe ich ebenfalls“, fügte Dodson edelmütig hinzu. „Mr. Pickwick kennt uns jetzt ohne Zweifel besser. Was auch Ihre Meinung von Leuten unseres Standes sein mag, Sir, ich kann Ihnen versichern, daß ich wegen der Ausdrücke, deren Sie sich gegen uns in unserer Kanzlei bedienen zu müssen glaubten, keinen Groll gegen Sie hege.“

„Auch ich nicht, seien Sie versichert. – Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, mein Herr“, fiel Fogg ein, nahm seinen Regenschirm unter den Arm und streckte die Hand zur Versöhnung dem ergrimmten Gelehrten hin, der sofort beide Hände unter seine Rockschöße steckte und den Advokaten mit Verachtung von oben bis unten maß.

„Lowten!“ rief Perker. „Begleiten Sie die Herren hinaus.“

„Warten Sie noch einen Augenblick, Perker“, sagte Mr. Pickwick, „ich will sprechen.“

„Mein lieber Herr, bitte, lassen Sie die Sache doch schon auf sich beruhen“, bat der kleine Anwalt, der während der ganzen Szene wie auf Nadeln gesessen hatte. „Bitte, Mr. Pickwick …“

„Ich lasse mir nicht den Mund verbieten, Sir“, fuhr Mr. Pickwick heftig auf. „Mr. Dodson, Sie haben soeben einige Bemerkungen an mich gerichtet!“

Dodson drehte sich um, neigte verbindlich das Haupt und lächelte freundlich.

„Bemerkungen!“ wiederholte Mr. Pickwick atemlos. „Und Ihr Associe hat mir die Hand hingereicht, und Sie haben beide einen verzeihenden, infamen Ton gegen mich angeschlagen, der denn doch jedes Maß von Unverschämtheit übersteigt!“

„Was sagen Sie da, Sir?“ riefen Dodson und Fogg wie aus einem Munde.

„Sie wissen ganz gut, daß ich das Opfer Ihrer Ränke und Kniffe geworden bin!“ fuhr Mr. Pickwick erregt fort. „Wissen Sie, daß Sie mich ins Gefängnis gebracht und ausgeplündert haben? Wissen Sie, daß Sie die Anwälte für die Klägerin im Prozeß Bardell kontra Pickwick waren?“ „Ja, Sir, das wissen wir“, erwiderte Dodson gelassen.

„Gewiß, gewiß, Sir“, fügte Fogg hinzu und schlug – vielleicht zufällig – auf seine Tasche.

„Ich sehe, daß Sie sich mit Vergnügen daran erinnern“, sagte Mr. Pickwick und versuchte zum erstenmal in seinem Leben zu hohnlächeln, was ihm jedoch gänzlich mißlang. „So sehr ich mir schon längst gewünscht habe, Ihnen mit dürren Worten sagen zu können, was ich von Ihnen denke, so würde ich dennoch mit Rücksicht auf die Anwesenheit meines Freundes Perker sogar diese Gelegenheit haben vorübergehen lassen, hätten Sie nicht diesen unverantwortlichen Ton gegen mich angeschlagen und sich diese schamlose Vertraulichkeit erlaubt; ich sage schamlose Vertraulichkeit, Sir!“

Mr. Pickwick wandte sich dabei mit so wütender Gebärde gegen Fogg, daß dieser eiligst an die Tür retirierte.

„Nehmen Sie sich in acht, Sir!“ rief Dodson, verschanzte sich, obgleich er der größte von allen Anwesenden war, dennoch wohlweislich hinter Fogg und sprach mit käsebleichem Gesicht über dessen Kopf hinweg. „Lassen Sie sich nicht verleiten, Mr. Fogg, zurückzuschlagen!“

„Nein, nein, ich werde mich hüten“, hauchte Fogg und wich ängstlich zurück, zum offenbaren Vorteil seines Associés, der dadurch, immerwährend gedeckt, immer mehr instand gesetzt wurde, die Ausgangstür zu gewinnen.

„Sie sind“, nahm Mr. Pickwick seine Strafpredigt wieder auf, „Sie sind ein vortreffliches Paar von niederträchtigen, spitzbübischen, rechtsverdreherischen Gaunern!“

„Nun, sind Sie nicht endlich fertig?“ fiel Perker ein.

„Ja“, versetzte Mr. Pickwick, „ich bin fertig. Es ist alles in den Worten Inbegriffen: es sind ein paar niederträchtige, spitzbübische, rechtsverdreherische Gauner.“

„Jetzt“, sagte Perker in versöhnlichem Ton, „jetzt, meine werten Herren, hat er alles gesagt, was er zu sagen hatte; ich bitte, gehen Sie endlich. – Lowten, ist die Tür offen?“

Mr. Lowten konnte ein Lachen kaum unterdrücken und nickte bloß.

„Also – guten Morgen! – Guten Morgen! – Bitte, meine verehrten Herren! – Mr. Lowten, die Tür!“ rief der kleine Mann, die Herren Dodson und Fogg hastig aus dem Zimmer treibend. „Dahin, meine verehrten Herren! – Bitte, halten Sie sich nicht länger auf! – Aber zum Donnerwetter, Mr. Lowten! – Die Tür! Die Tür! – Warum öffnen Sie nicht?“

„Wenn es Gesetze in England gibt, Sir“, rief Dodson und setzte seinen Hut auf, „so sollen Sie mir dafür büßen.“

„Sie sind ein paar niederträchtige –“

„Das werden Sie uns teuer bezahlen, Sir“, sagte Fogg und drohte Mr. Pickwick mit der Faust.

„– diebische, rechtsverdreherische Gauner“, wiederholte der Gelehrte, ohne sich im geringsten einschüchtern zu lassen.

„Gauner!“ rief er den beiden Advokaten noch über das Treppengeländer nach, riß sich von Lowten und Perker los, sprang ans Fenster und schrie noch einmal hinaus: „Gauner!“

Als er den Kopf wieder zurückzog, umschwebte ein mildes Lächeln seine Züge; ruhig setzte er sich nieder und erklärte, er habe sich jetzt von einer großen Last befreit und fühle sich wieder vollkommen behaglich und vergnügt.

Perker sprach kein Wort, bis er seine Dose geleert und Lowten fortgeschickt hatte, um sie wieder füllen zu lassen; dann aber brach er in ein lautes Gelächter aus, das volle fünf Minuten dauerte, und sagte, als er wieder zu Atem kam, er sollte eigentlich sehr unwillig sein, aber für den Augenblick könne er der Sache keine ernste Seite abgewinnen; er werde übrigens schon noch einmal wirklich böse werden.

„Jetzt will ich auch mit Ihnen abrechnen“, sagte Mr. Pickwick.

„Etwa auch auf diese Weise?“ fragte Perker lachend. „Aber was ist denn nur heute los?“

Ein wütendes Klopfen ertönte nämlich an der Entreetür. Es war kein gewöhnliches doppeltes Klopfen, sondern eine fortlaufende ununterbrochene Kette von lauten Schlägen, die gar nicht aufhören wollten.

„Jaja, ich komme ja schon“, rief Mr. Lowten, der sich eben in einer dunkeln Nebenkammer die Hände gewaschen hatte. „Der schlägt ja rein die Tür ein“, lief hinaus, öffnete und erblickte …