Neunundvierzigstes Kapitel

Eine wichtige Veränderung in der Familie Weller. Mr. Stiggins fällt in Ungnade.

Mr. Pickwick hielt es für unzart, Bob Sawyer oder Ben Allen so ohne weiteres zu dem jungen Paare zu führen, und da er Arabellas Gefühle möglichst zu schonen wünschte, machte er den Vorschlag, er und Sam sollten in der Nähe des „Georg und Geier“ absteigen, während beide jungen Herren sich vorderhand irgendwo anders einquartierten. Mr. Ben Allen und Bob Sawyer begaben sich daher in ein abgelegenes Bierhaus am äußeren Ende des Borough, wo ihre Namen in früheren Tagen sehr häufig an der Spitze langer und verwickelter Rechnungen, mit weißer Kreide geschrieben, hinter der Schenkverschlagtür zu lesen gewesen waren.

„Potztausend, Mr. Weller!“ rief das hübsche Hausmädchen, als ihr Sam an der Tür begegnete.

„Jawohl, wie er leibt und lebt, mein schönes Kind“, erwiderte Sam und blieb ein wenig zurück, um seinen Herrn außer Hörweite kommen zu lassen. „Was für ’n süßes, angenehmes Geschöpf Sie sin, Mary.“

„Jaja, weiß schon, Mr. Weller; schwatzen Sie nicht solchen Unsinn“, wehrte Mary ab. „Es liegt schon seit vier Tagen ein Brief für Sie da; Sie waren kaum eine halbe Stunde fort, als er kam, und auf der Adresse steht: ,Höchst dringend‘.“

„Wo is er denn, meine Liebe?“ fragte Sam.

„Ich habe ihn zu mir gesteckt, damit er nicht verlorengeht“, erwiderte Mary. „Da ist er; ’s is mehr, als Sie verdient haben.“ – Dabei zog sie den Brief hinter einem wunderhübschen kleinen Musselinbusenstreif hervor und überreichte ihn Sam, der ihn mit ebensoviel Galanterie wie Innigkeit küßte, sich neben die Angebetete auf eine Fensterbank setzte, den Brief erbrach und einen Blick auf seinen Inhalt warf. „Hallo!“ rief er plötzlich. „Was is denn das?“

„Doch nichts Schlimmes?“ fragte Mary und blickte ihm über die Schulter.

„Gott, haben Sie schöne Augen!“ rief Sam.

„Kümmern Sie sich nicht um meine Augen. Lesen Sie lieber Ihren Brief“, sagte das hübsche Stubenmädchen und lächelte dabei schelmisch.

Sam aber stärkte sich mit einem Kuß und las wie folgt:

„Markih Grännbih
in Dorking
am Mittfoch.

Mein liber Semmih!

Es tuht mier sehr leit aber ich habe daß fergnügen das ich dir eine schlechte nachricht fön deiner Stiefmutter geben muss aber si hat sich erkeltit weil si dummerweise im nassen grass im rehgen geseßen hat um ein schefer zu zu hören woh ehrst in dehr sinkenden nacht auf hören konnte weil er sich mitt Brendi unt Wasser angefoichtet hatte unt sich nicht senkrecht halten konnte als biß ehr wihder ettwaß klahr geworden wahr waß mehere stunden dauerte unt der Dokter sahgte wen si gleich warmen Brendi unt Wasser drauf getrunken hette stadt fohrhehr denn hette eß ihr Nichts gemacht nu haben wihr tzwahr iere reder augenblicklig geschmiehrt unt alleß angewant um ier wihder in gank zu bringen unt dein fahter hatte di hoffnunk das si wihder aufn Damm komm würde wie gewönlich aber alß es si wider um der Egge bog da kariolte si dehn Berg runter mit eine geschwindichkeit woh mann noch nihmals gesehen hat unt trozdehm der Dokter ier gleich den hemmschu anlehgen taht half eß doch alleß nich den si betzahlte di letzte runde tzwantzich Minuten fohr seks Ur gestern ahbent unt hatt allso di grooße reise weit unter dehr gewönlichen zeit gemacht waß filleicht auch dafon gekomm is das si unterwehks nichts eingepakt hat dein fahter meint wenn du komm willst unt mihr Besuchen Semmih denn wirt ehr eß alls eine grohße froide ansen denn ich bin so gantz aleine Semmih Nohtabehne weil wihr so nie Sachen mitnander abtzumachen haben da wirt dein Prinntzpahl dihr gewiß nichts in wehk lehgen Semmih denn ich kenne ihm beßer unt sennde im meinen Rehßpeckt unt bin auf Ewich dein

Toby Veller.“

„Was für ’n unverständlicher Brief!“ murmelte Sam, versank in tiefes Nachdenken und las das Schreiben noch einmal genau durch, von Zeit zu Zeit innehaltend. Dann faltete er es langsam zusammen und sagte traurig:

„So is also das arme Geschöpf tot! Tut mir leid um sie. Sie war kein böses Weib nich; wenn sie nur die Hirten in Frieden gelassen hätten. Bin recht betrübt drüber.“

Mr. Weller sagte diese Worte in so ernstem Ton, daß das hübsche Stubenmädchen die Augen niederschlug und gleichfalls eine sehr traurige Miene annahm.

„Und doch“, fuhr Sam fort und steckte den Brief mit einem Seufzer in die Tasche, „es hat mal so sein müssen. – Läßt sich nich mehr ändern, wie die alte Dame sagte, als sie den Bedienten geheiratet hatte – was, Mary?“

Mary schüttelte den Kopf und seufzte nur.

„Ich muß meinen Herrn um Urlaub bitten“, sagte Sam nach einer Weile. „Adje, Mary.“

„Adieu!“ seufzte das hübsche Stubenmädchen und wandte den Kopf ab.

„Was, Sie geben mir nich mal zum Abschied die Hand?“ sagte Sam vorwurfsvoll.

Das hübsche Mädchen reichte ihm die Hand, die, wenn auch die Hand eines Stubenmädchens, dennoch eine sehr kleine Hand war, und stand auf, um zu gehen.

„Ich werde nich lange wegbleiben“, tröstete sie Sam.

„Ach, Sie sind immer weg“, schmollte Mary. „Kaum kommen Sie, Mr. Weller, da gehen Sie auch schon wieder.“

Sam zog die kleine Schönheit näher an sich und knüpfte ein flüsterndes Gespräch mit ihr an, das sie veranlaßte, ihr Gesichtchen abzuwenden. Als sie sich trennten, war es unumgänglich notwendig für sie geworden, auf ihr Zimmer zu gehen und ihre Haube und ihre Locken zu ordnen, bevor sie daran denken konnte, sich vor ihrer Gebieterin sehen zu lassen, und als sie zu dieser vorbereitenden Zeremonie die Treppe hinaufhuschte, beglückte sie Sam noch mit einem freundschaftlichen Lächeln über das Geländer hinab.

Es schlug gerade sieben Uhr, als Samuel Weller vom Bock einer Postkutsche in Dorking, einige hundert Schritte vom „Marquis von Granby“ entfernt, abstieg. Der Abend war kalt und trübe, die kleine Straße sah düster und traurig aus, und das mahagonifarbige Gesicht des edlen und tapfern Marquis schien einen finstereren und melancholischeren Ausdruck zu haben als sonst, wenn es wehmütig knarrend vom Winde hin und her geworfen wurde. Die Fenstervorhänge waren herabgelassen, die Läden teilweise geschlossen und von dem Haufen Müßiggänger, die gewöhnlich an der Tür versammelt herumstanden, war keine Spur zu sehen.

Da Sam niemand erblickte, den er vorher hätte ausholen können, ging er leise ins Haus, schaute sich um und erblickte in der Dämmerung seinen Vater.

Der Witwer saß in dem kleinen Zimmer hinter dem Schenkverschlag an einem kleinen runden Tisch, rauchte eine Pfeife und starrte mit unverwandtem Blick ins Feuer. Offenbar hatte das Begräbnis erst an diesem Tage stattgefunden, denn von seinem Hut, den er aufbehalten hatte, wallte ein etwa anderthalb Ellen langes Band nachlässig über die Stuhllehne herab.

Mr. Weller war offenbar in sehr tiefe Betrachtungen versunken, denn obgleich ihn Sam mehrere Male beim Namen rief, fuhr er doch mit demselben starren Gesicht zu rauchen fort und blickte erst auf, als ihm sein Sohn endlich die Hand auf die Schulter legte.

„Ich habe dir schon ’n halbdutzendmal gerufen“, sagte Sam leise und hängte seinen Hut an einen Nagel, „aber du hörtest mir nich.“ „Nein, Sam, habe dir nich gehört“, erwiderte Mr. Weller und sah aufs neue gedankenschwer ins Feuer. „War ganz in eine Träumerei versunken.“ „Worüber hast du denn nachgesonnen?“ fragte Sam und zog seinen Stuhl ans Feuer.

„Habe an sie gedacht, Sammy“, erwiderte Mr. Weller senior und nickte mit dem Kopf in Richtung des Friedhofs von Dorking. „Dachte eben daran, Sammy“, fuhr er in tiefem Ernst fort, „daß es mir im ganzen sehr leid tut, daß sie abgefahren is.“

„Gehört sich auch“, meinte Sam.

Mr. Weller nickte, richtete seine Augen abermals auf die Glut, hüllte sich in eine Wolke und versank wiederum in tiefes Nachdenken. Nach einer langen Pause lichtete er mit einer Handbewegung den Rauch und sagte: „Sie hat noch so sehr vernümftig gesprochen, Sammy. ,Weller‘, sagte sie, ,ich fürchte, ich habe nich ganz an dir gehandelt wie ich hätte sollen; du bist ’n sehr guter Mann, und ich hätte dir dein Leben angenehmer machen sollen. Jetzt, wo es zu spät is, da fange ich an einzusehen, wenn ’ne verheirate Frau fromm sein will, denn soll sie damit anfangen, ihre häuslichen Pflichten zu erfüll’n und die, wo mit ihr leben, glücklich und fröhlich zu machen. Ich habe Zeit und Geld an Leute verschwendet, wo noch weniger wert waren als wie ich; aber ich hoffe, wenn ich nicht mehr sein werde, Weller, denn wirstu an mir denken, wie ich war, bevor daß ich diese Leute kennengelernt habe und wie ich eigentlich von Natur aus gewesen bin.‘ – ‚Susanne‘, sagte ich, denn ich war sehr ergriffen, Samuel, kann es nich leugnen, mein Junge, ,Susanne‘, sagte ich, ,du bist mir ’n sehr gutes Weib gewesen, deswegen sprich nich mehr von. Kopf hoch, mein Schatz, du wirst es gewiß noch erleben, daß ich diesem Stiggins den Schädel poliere.‘ – Sie lächelte darüber, Samuel“, fuhr der alte Herr fort und erstickte einen Seufzer, „aber denn starb sie doch!“

„Na“, sagte Sam nach einer langen Pause, die damit hinging, daß der alte Herr beständig den Kopf schüttelte und in stummer Feierlichkeit rauchte, „sterben müssen wir ja alle, Gouverneur! Die Vorsehung hat es nun mal so eingerichtet.“

„Jaja“, versetzte sein Vater mit ernstem Gesicht. „Was würde auch sonst aus den Totengräbern werden, Sammy!“

Verloren in dem durch diese Betrachtungen sich eröffnenden unermeßlichen Feld von Vermutungen, legte er seine Pfeife auf den Tisch und schürte mit nachdenklichem Gesicht das Feuer; da öffnete sich leise die Tür und eine wohlbeleibte Köchin in Trauerkleidung, die bisher in der Schenkstube beschäftigt gewesen, trat ins Zimmer, nickte Sam mehrere Male freundlich zu und kündigte ihre Anwesenheit durch ein leises Husten an.

„Hallo!“ rief Mr. Weller senior, ließ das Schüreisen fallen und rückte hastig mit seinem Stuhl weg. „Was gibt’s?“

„Trinken Sie doch eine Tasse Tee“, schmeichelte das wohlbeleibte Frauenzimmer.

„Ach was“, versetzte Mr. Weller in barschem Tone. „Ich wollte, Sie wären – wo der Pfeffer wächst“, fügte er leise hinzu.

„Ach du meine Güte! Wie doch das Unglück die Leute verändert!“ sagte das Frauenzimmer mit einem verzweifelten Blick zur Decke.

„Jaja, schon gut“, murmelte Mr. Weller.

„Ich habe in meinem Leben noch keinen so übellaunischen Menschen gesehen, seit mein seliger Mann tot ist“, fing das wohlbeleibte Frauenzimmer wieder an, hüstelte abermals und blickte Mr. Weller senior liebreich an.

„Halten Sie den Schnabel, ich kann jetzt ihr Gesabbel nicht hören“, fuhr der alte Herr auf, „vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, uns alleine zu lassen, ja? – Samuel, zeig ihr den Weg und mach die Tür hinter ihr zu.“

Das wohlbeleibte Frauenzimmer verstand diesen zarten Wink, ging schnell hinaus und machte selbst die Tür hinter sich zu. Mr. Weller senior, dem große Schweißtropfen auf der Stirn standen, warf sich in seinen Stuhl zurück und sagte:

„Sammy, wenn ich hier noch ’ne Woche alleine bleiben würde, bloß ’ne Woche, mein Junge, denn würde mich das Weibsbild, noch bevor die Woche um is, mit aller Gewalt heiraten.“

„Soso, is sie denn so verliebt in dich?“ fragte Sam.

„Ach was, verliebt!“ antwortete der alte Herr, „ich kann sie mir einfach nich vom Leibe halten. Wenn ich mich in ein feuerfesten Kasten mit Patentschloß einsperren würde, die würde doch Mittel und Wege finden, an mich ranzukommen, Sammy.“

„Is doch was Feines, wenn man so umworben wird“, meinte Sam lächelnd.

„Darauf bilde ich mir aber nu gar nichts ein, Sammy“, erwiderte Mr. Weller und schürte heftig das Feuer, „es is eine schauderhafte Lage. Man vertreibt mich von Haus und Hof. Kaum daß deiner armen Stiefmutter die Luft ausgegangen war, da schickt mir auch schon so ’n altes Weib „n Topf mit Marmelade und ’ne andre ’nen Krug mit Schelee und noch ’ne andre kocht mir ’ne großmächtige Kanne voll Kamillentee und bringt sie mir auch noch eigenhändig.“ Mr. Weller schwieg einen Augenblick verdrossen, blickte sich dann um und flüsterte: „Das waren alles Witwen, Sammy, eine wie die andere; bloß die Kamillenfee nich, die war ’ne unverheiratete junge Dame von dreiundfünfzig.“

Sam antwortete nur mit einem schalkhaften Lächeln.

„Kurz und gut, Sammy, ich sage dir, ich fühle, ich bin nirgends mehr sicher wie auf ‚m Bock.“

„Und warum denkst du, daß du da sicherer bist als sonstwo?“

„Weil ein Kutscher ein prifilegiertes Individjum is“, erwiderte Mr. Weller und sah seinen Sohn fest an. „Weil ein Kutscher machen kann, was andere Leute nich können, weil ein Kutscher auf achtzig Meilen in der Runde mit allen Frauenzimmern auf freundschaftlichstem Fuß stehen kann, ohne daß es ein Menschen einfällt, daß er eine davon heiraten will. Welcher andere Mann kann das von sich sagen, Sammy?“

„Ja, es is was dran“, gab Sam zu.

„Wenn dein Gouverneur Kutscher gewesen wäre“, räsonierte Mr. Weller weiter, „bildest du dir ein, die Geschworenen würden ihn denn verurteilt haben? Warum nich? Weil es gegen ihr Gewissen gewesen wäre. Ein orntlicher Kutscher is eine Art Verbindungsglied zwischen dem ledigen und dem ehelichen Stande. Jeder richtige Mann weiß das.“

Mit diesen Worten stopfte Mr. Weller seine Pfeife aufs neue, zündete sie an, verlieh seinem Gesicht abermals einen gedankenvollen Ausdruck und fuhr gelassen fort: „Also, was ich sagen wollte, mein Junge, weil ich es nu mal nich für ratsam ansehe, daß ich hierbleiben tue und mich mit Gewalt heiraten lasse, weil ich aber auch nich aus die menschliche Gesellschaft raustreten will, bin ich zu den Entschluß gekommen, wieder meine alte Droschke zu fahren, und mein Quartier werde ich wieder in Bell-Savage aufschlagen. Das is und bleibt mein angeborenes Element, Sammy.“

„Und was soll aus dem Geschäft hier werden?“ fragte Sam.

„Das Geschäft, Samuel? Das Haus und alles, was niet- und nagelfest is, wird verscheuert, und von dem Erlös, da wollte deine Stiefmutter kurz vor ihren Tod, daß davon zweihundert Fund für dich angelegt werden in … in … wie heißen bloß die Dinger?“

„Was für Dinger?“ fragte Sam.

„Na die Dinger, wo immer so schwanken.“

„Omnibusse“, riet Sam.

„Unsinn, Omnibusse!“ brummte Mr. Weller. „Die Dinger, wo mit der Nationalschuld und den Schatzanweisungen zu tun haben.“

„Ach so, die Fonds?“

„Jawohl ja“, erwiderte Mr. Weller, „die Fonds; zweihundert Fund von dem Geld sollen für dich in Fonds angelegt werden, Samuel; in Obligatschonen zu viereinhalb Prozent.“

„Sehr gütig von der alten Dame, daß sie an mich gedacht hat“, sagte Sam. „Bin ihr sehr dankbar.“

„Der Rest wird auf meinen Namen angelegt“, fuhr Mr. Weller senior fort, „und wenn ich mal von der Heerstraße abberufen werde, denn fällt es dir auch zu. Also, mein Junge, bring nich alles auf einmal durch und nimm dir in acht, daß dir keine Witwe nich ausfindig machen tut, denn bist du nämlich verloren.“ Mr. Weller widmete sich nun wieder seiner Pfeife; sein Gesicht hatte sich etwas aufgehellt. Ganz offensichtlich hatte diese Eröffnung sein Gemüt beträchtlich erleichtert.

„Irgendwas klopft an die Tür“, sagte Sam.

„Laß ’n nur klopfen“, versetzte Mr. Weller senior mit Würde, „es sin nur Witwen.“

Das Klopfen wiederholte sich, wurde immer lauter, und da niemand „herein“ rief, wagte es der unsichtbare Gast nach einer Weile, die Tür zu öffnen und hereinzuspähen. Es war aber kein Frauenkopf, der sich da hereinstreckte, sondern die langen schwarzen Locken und das rote Gesicht Mr. Stiggins‘.

Mr. Weller fiel die Pfeife aus der Hand.

Der ehrwürdige Gentleman öffnete beinahe unmerklich nach und nach die Tür, bis die Öffnung weit genug war, um seinen langen Leib durchzulassen, und schlüpfte dann herein. Sofort wandte er sich zu Sam, hob zum Zeichen seiner unaussprechlichen Bekümmernis Hände und Augen empor, rückte den hochlehnigen Stuhl in seinen alten Winkel am Kamin, setzte sich auf die Ecke desselben und zog ein braunes Taschentuch hervor.

Alles das hatte Mr. Weller senior mit weit aufgerißnen Augen, die Hände auf die Knie gestemmt, und einem Gesicht, das das grenzenloseste Erstaunen ausdrückte, stumm mit angesehen. Sam saß ihm wortlos gegenüber und wartete mit brennender Neugier der Dinge, die da kommen sollten. Mr. Stiggins hielt sich sein braunes Taschentuch mehrere Minuten lang vor die Augen, stöhnte laut, bemeisterte aber endlich durch eine gewaltige Kraftanstrengung seine Gefühle, steckte das Tuch ein und knöpfte seinen Rock auf. Dann schürte er das Feuer, rieb sich die Hände und blickte Sam an. „Ach, mein junger Freund!“ brach er nach einer Pause mit sehr leiser Stimme das Stillschweigen. „Trauer und Betrübnis haben hier ihren Einzug gehalten.“ Sam nickte unmerklich.

„Auch für den Mann des Zorns! Es macht das Herz eines Auserwählten bluten.“

Sam hörte seinen Vater so etwas murmeln wie: er habe Lust, auch die Nase eines Auserwählten bluten zu machen. Mr. Stiggins aber achtete offenbar nicht darauf.

„Wissen Sie nicht, junger Mann“, flüsterte der Seelenhirt und rückte mit seinem Stuhl näher zu Sam, „ob sie dem Immanuel etwas vermacht hat?“

„Wer ist das?“ fragte Sam.

„Die Kapelle. Unsrer Kapelle, unsrer Herde, Mr. Samuel.“ „Sie hat dem Hirten nichts vermacht und dem Pferch auch nichts und den Tieren drin ebensowenig; nicht mal den Hunden hat sie was vermacht.“

Mr. Stiggins blickte Sam listig an, warf einen Seitenblick auf den alten Herrn, der mit geschloßnen Augen dasaß und zu schlafen schien, rückte seinen Stuhl langsam näher und flüsterte:

„Auch mir nichts, Mr. Samuel?“

Sam schüttelte den Kopf.

„Ich sollte doch denken, irgend etwas“, sagte Stiggins erblassend. „Besinnen Sie sich, Mr. Samuel, nicht einmal ein kleines Andenken?“ „Nicht mal soviel, wie Ihr oller Schirm da wert is.“ „Aber vielleicht“, fuhr Mr. Stiggins nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens zögernd fort, „vielleicht hat sie mich dem Mann des Zornes zur Fürsorge empfohlen, Mr. Samuel?“

„Nach allem, was er mir gesagt hat, könnte das wohl der Fall sein“, erwiderte Sam, „er hat soeben von Ihnen gesprochen.“

„Wirklich?“ rief Stiggins strahlend. „Ah, gewiß ist eine Wandlung mit ihm vorgegangen! Wir könnten so gut miteinander leben; nicht wahr, Mr. Samuel? Ich würde für seine Geschäfte sorgen, solange Sie fort sind, und ganz gewiß gut sorgen. Nicht? Wie?“

Sam nickte, und Mr. Weller senior gab eine sonderbare Art Gekrächz von sich.

Stiggins deutete diesen Ton als ein Zeichen der Reue und Gewissensangst, blickte ermutigt umher, rieb sich die Hände, weinte, lächelte, weinte wieder, ging dann leise auf den Fußspitzen durch das Zimmer nach dem ihm wohlbekannten Schrank in der Ecke, nahm ein Glas heraus und warf bedachtsam vier Stück Zucker hinein. Dann blickte er abermals um sich, stöhnte jämmerlich, schlich hinaus in die Speisekammer, füllte das Glas halb mit Ananasrum, kam schnell zurück, trat an den Kessel, der lustig über dem Feuer brodelte, mischte seinen Grog, rührte um, schlürfte, setzte sich, tat sofort einen langen herzhaften Schluck und hielt inne, um Atem zu schöpfen.

Mr. Weller senior, der bisher immer noch verschiedne kuriose Versuche gemacht hatte, sich schlafend zu stellen, sprach bei dem allen kein Wort. Als aber Mr. Stiggins innehielt, um Atem zu holen, stürzte er auf ihn zu, riß ihm das Glas aus der Hand, schüttete ihm den Rest ins Gesicht, packte ihn am Kragen und fing an, ihn mit Fußtritten und Faustschlägen zu traktieren.

„Sammy!“ rief er dabei seinem Sohn zu. „Drück mir den Hut fest auf den Kopf.“

Samuel gehorchte, und der alte Gentleman mit dem langen wehenden Trauerbande hämmerte mit erneuter Munterkeit auf Mr. Stiggins los und jagte ihn durch das ganze Zimmer, durch den Gang und zur Haustür hinaus auf die Straße, wobei seine Wut sich immer mehr steigerte, sooft er seinen Stulpenstiefel zu einem neuen Tritt erhob.

Es war ein schöner erheiternder Anblick, den rotnasigen Herrn unter Mr. Wellers Griffen sich winden und vor Angst zittern und beben zu sehen, als in rascher Reihenfolge Schlag auf Schlag fiel. Noch prächtiger aber war es anzuschauen, wie ihn Mr. Weller gewaltsam den Kopf in einen vollen Pferdetrog tunkte und ihn so lang unter Wasser hielt, bis er halb erstickt war.

„Da!“ sagte Mr. Weller und legte seine ganze Energie in einen höchst kunstvollen letzten Fußtritt, als Mr. Stiggins luftschnappend aus dem Trog emportauchte, „jetzt schick mir noch einen von den faulen Hirten her, daß ich den auch zu Brei schlage und nachher ersäufe. Sammy, hilf mir in die Stube und reich mir ’n Gläschen Brandy. Ich bin ganz außer Atem, mein Junge.“