Einundvierzigstes Kapitel


Einundvierzigstes Kapitel

Zeigt, wie Mr. Samuel Weller ins Unglück kommt.

In einem hohen, schlecht erleuchteten und noch schlechter gelüfteten Zimmer in der Portugalstreet, Lincolns Inn Fields, sitzen jahraus und jahrein, wie es der Zufall mit sich bringt, ein, zwei, drei oder vier perückte Herren hinter kleinen Schreibpulten, wie sie gewöhnlich die Richter auf dem Lande besitzen, die keinen Sinn für französischen Geschmack haben. Zu ihrer Rechten sieht man eine Box für die Advokaten, zu ihrer Linken eine Abteilung für die Insolventen und vor ihnen eine geneigte Ebene von Schmutzgesichtern. Diese Herren sind die Kommissäre des Insolvenzgerichtshofes, und der Ort, an dem sie ihre Sitzungen abhalten, ist der Insolvenzgerichtshof.

Dieser Gerichtshof hat und hatte schon seit undenklichen Zeiten das Schicksal, von der ganzen Sippschaft schäbig-eleganter Bankerotteure als gemeinschaftlicher Sammelpunkt und tägliches Stelldichein angesehen zu werden. Er ist immer voll. Der Bier- und Branntweindunst steigt unaufhörlich zur Decke empor und träufelt, von der Wärme verdichtet, gleich Tau an den Wänden herab. Hier sieht man an einem Tage mehr alte Trachten, als im ganzen Houndsditch in einem Jahre feilgeboten werden, und mehr ungewaschene Gesichter und schmutzige Barte, als alle Brunnen und Barbierstuben zwischen Tyburn und Whitechapel vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne zu reinigen imstande wären.

Nicht etwa, als habe irgendeiner von diesen Besuchern auch nur ein Jota von Geschäft hier abzuwickeln. Wäre dies der Fall, so hätte die Sache durchaus nichts Wunderbares an sich. Einige schlafen den größten Teil der Sitzung hindurch; andre führen kleine tragbare Diners bei sich, die entweder in Taschentücher eingewickelt sind oder aus ihren abgenutzten Taschen hervorragen, und kauen und horchen mit gleicher Lust; aber noch keinen hat man gesehen, der auch nur das entfernteste persönliche Interesse an einem Fall gehabt hätte, der je vorgebracht wurde. Was sie immer auch zu tun unternehmen, hier sitzen sie vom ersten Augenblick an bis zum letzten. Bei starkem Regenwetter kommen sie ganz durchnäßt, und dann dunstet es im Gerichtssaal wie in einer Pilzgrube.

Wer zufälligerweise hineingerät, könnte diesen Ort für einen dem Genius des Unflats geheiligten Tempel halten. Im ganzen Hause sieht man keinen Gerichtsboten, der einen ihm auf den Leib zugeschnittenen, Rock trüge, kein Gesicht, das auch nur einen Anstrich von Lebensfrische und Gesundheit hätte, außer einem kleinen rotbackigen Gerichtsdiener mit weißen Haaren, und sogar dieser scheint wie eine wurmdurchnagte Kirsche, die in Weingeist aufbewahrt wird, das gute Aussehen, auf das er von Natur keinen Anspruch hatte, der Hand der Kunst zu verdanken. Selbst die Advokatenperücken sind schlecht gepudert, und ihre Locken schmachten nach dem Haarkräusler.

Die Anwälte, die an einem großen, nackten Tische unter den Kommissären sitzen, sind jedenfalls die größten Merkwürdigkeiten. Die berufliche Ausstattung der Wohlhabenderen dieser Herren besteht in einem blauen Aktenbeutel und einem Jungen, der gewöhnlich auf den Glauben der Hebräer eingeschworen ist. Sie haben keine bestimmten Kanzleien, denn ihre Rechtsgeschäfte werden in den Wirtshäusern und in den Gefängnishöfen abgewickelt, in die sie sich scharenweise eindrängen und wo sie sich auf die den Omnibusjungen eigne Weise nach Kunden umsehen. Ihr Äußeres ist schmutzig und mit Staub bedeckt, und wenn ihnen überhaupt Laster zugeschrieben werden können, so ist vielleicht der Hang zum Trinken und Betrügen das hervorragendste. Ihre Wohnungen haben sie meist in den Vorstädten der sogenannten Rules, die hauptsächlich im Umkreis von einer Meile um den Obelisk in St. Georg Fields herum liegen. Ihre Gesichter sind nicht einnehmend und ihre Manieren befremdlich.

Mr. Salomo Pell, einer von dieser gelehrten Körperschaft, war ein fetter Mann mit einem blassen, welken Gesicht und trug einen Oberrock, der bald grün und bald braun schimmerte, mit einem Samtkragen von denselben Chamäleonsfarben. Seine Stirn war schmal, sein Gesicht breit, der Kopf groß und die Nase auf die Seite gedrückt, als hätte ihr die Natur im Ärger über die Neigungen, die sie bei der Geburt Mr. Pells an ihm entdeckte, einen Hieb versetzt, von dem . sie sich nicht wieder erholen konnte. Da Mr. Pell jedoch kurzhalsig und engbrüstig war, so beschränkte sich seine Respiration beinahe einzig auf dieses Organ, das dadurch, was ihm an Schönheit abging, an Nützlichkeit ersetzte. „Ich bring ihn schon durch“, sagte Mr. Pell.

„Glauben Sie?“ versetzte die Person, an die diese Versicherung gerichtet war.

„Ganz bestimmt“, beteuerte Mr. Pell, „aber wenn er an irgendeinen Winkeladvokaten geraten wäre, hätte ich nix für die Folgen stehen mögen.“ „So?“ rief der andre mit offenem Munde.

„Ja, ich hätte nix dafür stehen mögen“, wiederholte Mr. Pell, warf die Lippen auf, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf mit geheimnisvoller Miene.

Der Ort, an dem dieses Gespräch geführt wurde, war das Wirtshaus, das dem Insolvenzgerichtshofe gegenübersteht, und die Person, mit der es geführt wurde, niemand anders als Mr. Weller senior, der hierhergekommen war, um einem Freunde Trost und Stärkung zu bringen, dessen Crida an diesem Tage verhandelt werden sollte und dessen Anwalt er 111 diesem Augenblick um seine Meinung befragte.

„Und wo is Schorsch?“ fragte der alte Herr.

Mr. Pell winkte mit dem Kopfe nach einem Hinterzimmer, in das sich Mr. Weller alsbald begab und zur Beglückwünschung von einem halben Dutzend Kollegen aufs wärmste und schmeichelhafteste begrüßt wurde. Der Herr in Zahlungsschwierigkeiten, der aus spekulativer, aber unkluger Leidenschaft für das Befahren weiter Stationen in seine gegenwärtige Verlegenheit geraten war, trug ein äußerst heiteres Aussehen zur Schau und bekämpfte seine Aufregung erfolgreich mit Krabben und Porter.

Die Begrüßung zwischen Mr. Weller und seinen Freunden hielt sich ganz in den Schranken der Gewerbsfreimaurerei und bestand lediglich in einem die Runde mach enden Händedruck und einem gleichzeitigen Schnalzen mit dem kleinen Finger der Linken. Es gab einmal zwei berühmte Kutscher – sie sind jetzt tot, die armen Burschen –, die Zwillinge waren, und zwischen denen eine ungeheuchelte und innige Zuneigung bestand. Sie kamen seit zwanzig Jahren jeden Tag an der Dowerstreet aneinander vorüber und wechselten nie einen anderen Gruß als diesen, und doch, als der eine starb, welkte der andre dahin und folgte ihm bald nach.

„Na, Schorsch“, sagte Mr. Weller senior, seine Rockschöße zusammennehmend und sich mit der gewohnten Würde niedersetzend. „Wie steht’s? Alles in Ordnung hinten, und innen voll?“

„Alles in Ordnung, alter Kamerad“, erwiderte der Cridatar.

„Is die graue Stute in Flege gegeben?“ forschte Mr. Weller bewegt.

Schorsch nickte bejahend.

„Na, denn is ja alles gut“, sagte Mr. Weller. „Die Kutsche auch beiseite geschafft?“

„In ’nen sichern Verwahrungsort gebracht“, versetzte Schorsch, riß einem halben Dutzend Krabben die Köpfe ab und verschlang sie ohne weitere Präliminarien.

„Famos“, bemerkte Mr. Weller. „Immer schön die Bremse anziehen, wenn’s bergab geht. Is der Frachtzettel deutlich?“

„Sie meinen das Inventar, Sir“, sagte Pell, erratend, was Mr. Weller sagen wollte, „alles so klar und bestimmt, wie es nur Tinte und Feder machen können.“

Mr. Weller nickte auf eine Weise, die seine innere Billigung aller dieser Anordnungen aussprach, und sagte dann, auf seinen Freund Schorsch deutend, zu Mr. Pell:

„Wann, nehmen Sie an, geht er vom Start?“

„Nu“, versetzte Mr. Pell, „er is der dritte auf der Liste, und ich glaube, es werd ungefähr in aner halben Stund an ihn kommen. Ich hab mein Schreiber die Weisung gegeben, er soll erüberkommen und melden, wenn ä Parteienwechsel vorkommt.“

Mr. Weller betrachtete den Anwalt bewundernd von Kopf bis zu Fuß und sagte dann mit Emphase:

„Was wollen Sie trinken?“

„Nu, wirklich“, zierte sich Mr. Pell, „Sie sind sehr – mei Ehrenwort, es ist nicht meine Gewohnheit – es ist noch so früh am Tage, daß ich wirklich – doch, Sie können mir für drei Pence Rum bringen, meine Liebe.“

Die Kellnerin war dem Befehl bereits zuvorgekommen, setzte Mr. Pell ein Glas Brandy vor und verschwand.

„Meine Herren“, sagte Mr. Pell und sah sich rund in der Gesellschaft um, „auf gutes Gelingen für Ihren Freund! Ich will mich nicht rühmen, meine Herren, das ist nix meine Gewohnheit, aber ich muß bemerken, daß, wenn Ihr Freund nicht das Glück gehabt hätte, zu mir zu kommen – na, ich sag lieber nix. Meine Herren, auf Ihre Gesundheit!“

Mr. Pell leerte sein Glas in einem Augenblick, schnalzte mit den Lippen und sah die versammelten Kutscher, die offenbar eine Art göttlichen Wesens in ihm verehrten, nacheinander mit großer Selbstgefälligkeit an.

„Nun, laß mer sehen“, sagte er dann. „Was wollt ich sagen, meine Herren?“

„Sie sagten gerade, daß Sie gegen ein zweites vom gleichen nichts einzuwenden haben“, fiel Mr. Weller mit würdevoller Heiterkeit ein.

„Haha!“ lachte Mr. Pell. „Nicht übel, nicht übel. Versteht sein Fach, der Mann. Um diese Morgenstunde könnte es auch nicht schaden . .. Nu, ich weiß nicht, meine Liebe – Sie können es ja repetieren, wenn es Ihnen gefällig ist. – Hem hem!“

Das „Hem“ war ein feierliches und würdevolles Husten das sich Mr. Pell bei Wahrnehmung einer unziemlichen Neigung einiger seiner Zuhörer zur Fröhlichkeit erlauben zu müssen glaubte.

„Der letzte Lordkanzler, meine Herren, hielt große Stücke auf mir“, begann er dann.

„Und vertraute ihm auch bannich viel an“, fiel Mr. Weller ein.

„Hört, hört“, rief der Cridatar aus. „Und warum hätte er auch nich sollen?“

„Ja – hm!“ bemerkte ein Mann mit einem hochroten Gesicht, der bis jetzt noch nichts gesagte hatte und auch gar nicht danach aussah, als wollte er mehr sagen. „Warum hätte er auch nich sollen?“

Ein Beifallsgemurmel lief durch die Gesellschaft.

„Ich erinnere mich, meine Herren“, nahm Mr. Pell seine Rede wieder auf, „daß ich einmal bei ihm zu Mittag gegessen hab – mir waren nur unser zwei; aber es war alles so splendid, als ob mer zwanzig Personen erwartet hätt; das große Siegel lag rechts auf einem Drehtisch, und ein Mann mit einer Zopfperücke und ’n Harnisch bewachte das Zepter mit gezücktem Schwert und seidenen Strümpfen, was immer der Fall ist, meine Herren, Tag und Nacht. – ,Pell‘, sagte er, der Lordkanzler, ,keine falsche Bescheidenheit, Pell. Sie sin ä Mann von Talent; Sie bringen alles im Insolvenzgerichtshofe durch, Pell, und das Land derf stolz auf Ihnen sein.‘ Das waren seine eigenen Worte. – ,Mylord‘, erwiderte ich, ,Sie schmeicheln.‘ – ,Pell‘, sagte er, ,wenn ich schmeichle, so will ich verdammt sein.'“

„Sagte er das wirklich?“ fragte Mr. Weller.

„Ja, das sagte er“, beschwor Pell.

„Na, denn“, bemerkte Mr. Weller, „hätte das Parlament von wegen Fluchen einschreiten sollen, und wenn es ’n armer Kerl gewesen wäre, um den es sich drehte, denn wäre es sicher auch passiert.“

„Aber lieber Freund“, erklärte Mr. Pell, „es war doch im Vertrauen gesprochen.“

„In was?“

„Im Vertrauen.“

„Na gut“, versetzte Mr. Weller nach einigem Nachdenken, „wenn er sich im Vertrauen verdammt hat, denn is das natürlich ganz was anderes.“

„Natürlich war es was anderes“, sagte Mr. Pell. „Der Unterschied fällt in die Augen, wie Sie gleich sehen werden.“

„Ändert die Sache gänzlich“, bemerkte Mr. Weller. „Nu mal weiter!“

„Nein, ich fahr nicht fort“, erwiderte Mr. Pell mit gedämpftem, geheimnisvollem Ton. „Sie haben mich daran erinnert, Sir, daß die Unterredung eine geheime war; eine geheime und vertrauliche, meine Herren. Meine Herren, ich bin ä Mann vom Fach. Mag sein, daß ich in den Augen meiner Kollegen dadurch gehoben wurde, möglich auch, daß es nich der Fall war. Die meisten Leute wissen das. Ich sag kein Wort. Bemerkungen sind schon in dem Zimmer gemacht worden, die den Ruf meines vornehmen Freundes angetastet haben. Sie werden mich entschuldigen, meine Herren, ich war unvorsichtig. Ich seh ein, daß ich nicht recht daran getan hab, das Thema ohne seine Beistimmung zu berühren.“ Und Mr. Pell steckte seine Hände in die Taschen und klimperte mit grimmigem Stirnrunzeln und furchtbarer Entschlossenheit mit drei Halbpencestücken.

Plötzlich stürmten der Junge und der blaue Beutel, die unzertrennliche Gefährten waren, ins Zimmer herein und sagten – wenigstens der Junge, der blaue Beutel schwieg –, die Sache komme im Augenblick zur Verhandlung. Sofort eilte die ganze Gesellschaft auf die Straße und brach sich in dem Gerichtshof Bahn – eine Maßnahme, die in gewöhnlichen Fällen eine Zeit von fünfundzwanzig bis dreißig Minuten in Anspruch nehmen würde.

Mr. Weller, ein starker Mann, warf sich ohne weiteres ins Gedränge, mit der verzweifelten Hoffnung, um jeden Preis einen Platz zu erobern, der für ihn angemessen wäre. Der Erfolg entsprach jedoch seinen Erwartungen nicht ganz, denn sein Hut, den er abzunehmen vergessen hatte, wurde ihm von einem Unsichtbaren, dem er ziemlich stark auf die Zehen getreten hatte, über die Augen geschlagen. Offenbar bereute aber der Täter seine Heftigkeit sofort, denn er zog gleich darauf, einen unbestimmten Ausruf der Überraschung murmelnd, den alten Herrn in die Vorhalle und befreite ihn durch einen heftigen Ruck von seiner Maske.

„Samuel?“ rief Mr. Weller, dieser Art in. den Stand gesetzt, seinen Befreier zu sehen. Sam nickte.

„Du bist ja ’n recht zärtlicher Knabe, daß du deinem Vater in seinen alten Tagen den Deckel über die Ohren drischst.“

„Konnte nich wissen, wer’s war“, rechtfertigte sich der Sohn. „Du nimmst doch nich etwa an, daß ich dir am Gewicht von deine Latschen erkennen kann?“

„Das is ja nu wahr, Sammy“, gab Mr. Weller, vollständig besänftigt, zu. „Aber was treibst du hier? Dein Herr kann doch hier nichts ausrichten. Die stoßen dem Verdikt nich wieder um; machen die nich, Sammy.“

Und Mr. Weller schüttelte den Kopf mit der Feierlichkeit eines Rechtsgelehrten.

„Was is das nu wieder für dummes Zeug!“ rief Sam. „Immer nur Verdikte und Alibis und dergleichen. Wer sagt denn was von Verdiktumstoßen?“

Mr. Weller gab keine Antwort, sondern schüttelte nur den Kopf mit einer noch gelehrteren Miene.

„Kümmer dich nich um Sachen, wo du nich verstehen tust“, sagte Sam ungeduldig, „und quatsch nich. Ich war übrigens gestern abend im ,Marquis von Granby‘.“

„Haste die Markise von Granby gesehen, Sammy?“ fragte Mr. Weller mit einem Seufzer. „Jawoll.“

„Wie sah der Seelenhirte aus?“

„Sonderbar“, versetzte Sam. „Ich glaube, er richtet sich allmählich selbst zugrunde mit zuviel Ananasgrog und andern starken Medizinen.“ „Glaubste?“ fragte Mr. Weller senior mit ernstem Ton. „‚türlich.“

Mr. Weller ergriff die Hand seines Sprößlings, drückte sie und ließ sie dann wieder fallen. Es lag während dieses Verfahrens ein Ausdruck auf seinem Gesicht, nicht von Besorgnis oder Angst, sondern von aufdämmernder süßer Hoffnung. Ein Schimmer von Ergebung und sogar von Heiterkeit ging über sein Gesicht, als er langsam sagte:

„Ich bin mir die Sache nich gewiß, Sam; ich möchte nich gerade sagen, daß ich ganz positiv darin bin; ich könnte mir schließlich täuschen; aber ich nehme doch beinahe an, mein Junge, ich nehme beinahe an, daß der Vizehirt sich ’n Leberleiden angesoffen hat.“

„Sah er so schlimm aus?“ fragte Sam.

„Du, der is ganz ungewöhnlich blaß. Bloß um die Nase rum nich. Die glüht wie noch nie. Sein Appetit is aber bloß soso; bloß saufen kann er wie ’ne Eins.“

Mr. Wellers Geist schienen sich auch einige Gedanken an den von ihm so geliebten Rum aufzudrängen, denn er sah trübe und nachdenklich drein; aber bald sammelte er sich wieder, wie ein lebendiges Alphabet von Augenzwinkern verriet, dem er nur zu huldigen pflegte, wenn er besonders vergnügt war.

„Aber jetzt mal“, sagte Sam, „zu meinen Angelegenheiten. Spitz die Ohren und unterbrich mich nich, bis ich fertig bin.“

Nach dieser kurzen Einleitung erzählte Sam so gedrängt wie möglich die letzte merkwürdige Unterredung, die er mit Mr. Pickwick gehabt hatte. „Sitzt da allein, der arme Deubel“, rief Mr. Weller senior aus, „und kein Mensch kümmert sich um ihn! Das geht so nich weiter, Samuel, geht einfach nich.“

„Natürlich nich“, pflichtete Sam bei, „das wußte ich schon, bevor ich herkam.“

„Die fressen ihn da bei lebendigem Leibe auf, Sammy.“

Sam nickte zustimmend.

„Rein geht er grün, Sammy“, sagte Mr. Weller metaphorisch, „und rauskommt er so furchtbar braun, daß ihn seine besten Freunde nich mehr kennen werden, ’ne gebratene Taube is da nichts gegen, Sammy.“

Wieder nickte Sam Weller.

„Sollte aber nich sein, Samuel“, bemerkte Mr. Weller ernst.

„Darf einfach nich sein“, bekräftigte Sam. „Du bist ’n famoser Prophet; wie der rotbackige Nix, wo auf den Sixpencebüchern abkonterfeit ist.“ „Wer war denn das, Sammy?“

„Ach, egal, wer es war“, erwiderte Sam, „ein Kutscher war es nich, und das muß dir genügen.“

„3ch kannte mal ’nen Hausknecht dieses Namens“, sagte Mr. Weller nachdenklich.

„Der war es nich“, erwiderte Sam. „Der Schendlmän, wo ich meine, war Prophet.“

„Was is eigentlich ’n Prophet?“ fragte Mr. Weller mit forschendem Blick.

„Na, so ’n Mensch, wo die Zukunft voraussagt.“

„Schade, daß ich den nich gekannt habe, Sammy“, meinte Mr. Weller, „vielleicht hätte der mir ’n kleines Licht von wegen dem Leberleiden aufstecken können, wo ich ebend drüber sprach. Wo er nu aber tot is und keinem sein Geschäft hinterlassen hat, ist da ebend nichts zu machen. Rede weiter, Sammy“, seufzte Mr. Weller.

„Na“, bemerkte Sam. „Du hast doch aber die Zukunft vorausgesagt. Von wegen dem, was dem Gouverneur passieren wird, wenn er alleine bleibt. Weißt du denn kein Mittel nich, wie man für ihn sorgen könnte?“

„Nö, weiß keins, Sammy“, erwiderte Mr. Weller mit nachdenklichem Gesicht, „außer“, und der Schein eines inneren Lichtes überstrahlte sein Gesicht, als er seine Stimme zu einem Geflüster dämpfte und seinen Mund so nahe wie möglich dem Ohr seines Sprößlings näherte, „außer, er läßt sich in ’nem Kastenbett heimlich rausschaffen oder würde sich als altes Weib mit ’nem grünen Schleier verkleiden.“

Sam Weller nahm beide Vorschläge mit unerwarteter Verachtung auf und wiederholte seine Frage.

„Nö“, sagte der alte Herr, „wenn er dich nich bei sich lassen will, denn sehe ich absolut kein Mittel. Nichts zu machen, Sammy, nichts zu machen!“

„Na, denn will ich dir mal was sagen“, versetzte Sam. „Pump mir fünfundzwanzig Fund.“

„Wozu denn?“

„Is doch gleichgültig. Kannst mich doch denn vielleicht so nach fünf Minuten mahnen; vielleicht bezahle ich denn nich und werde frech gegen dir. Ich meine, du wirst doch denn nich etwa dran denken, daß du dein eigenen Sohn wegen Schulden schnappen und nach der Fleet bringen lassen wirst; oder würdest du das womöglich doch machen, du unnatürlicher Landstreicher?“

In Mr. Wellers senior Blick leuchtete ein Blitz des Einverständnisses auf. Er setzte sich auf eine steinerne Bank und lachte, bis er ganz blau war.

„Was ist das doch für ’n alter Holzgötze!“ rief Sam, unwillig über diesen Zeitverlust. „Was hockst du da und verdrehst die Visage zu ’nem Türklopfer, wo doch so viel zu tun is. Wo is das Geld?“

„Im Kutschkasten, Sammy, im Kutschkasten. Da, halt mal meinen Hut, Sammy!“ erwiderte Mr. Weller, sich sammelnd, gab seinem Körper einen Schwung auf die Seite und förderte vermöge einer geschickten Wendung seiner rechten Hand aus seinem Rock nach entsetzlicher Anstrengung schnaufend eine dicke Brieftasche in Großoktavformat zutage, die mit einem starken ledernen Riemen umwickelt war. Aus dieser nahm er ein paar Peitschenschnüre, drei oder vier Schnallen, eine Musterkarte und endlich ein Röllchen schmieriger Banknoten, von dem er die verlangte Summe ablöste und seinem Sohn einhändigte.

„Und nu, Sammy“, sagte der alte Herr, als Peitschenschnüre, Schnallen und Musterkarte wieder eingepackt und die Brieftasche wohlverwahrt war. „Nu, Sammy, kenne ich ’nen Herrn hier, wo den übrigen Teil von unserem Geschäft im Augenblick besorgen wird. – Ein Glied der Gesetzgebung, Sammy! Sein ganzer Körper is mit Gehirn vollgepackt – wie beim Frosch – bis in die Fingerspitzen! ’n Freund vom Lordkanzler, Sammy; dem brauchst du bloß kurz sagen, was du willst, und denn versorgt der dir fürs ganze Leben.“

„Und ich sage dir“, murrte Sam, „nichts davon!“

„Nichts wovon?“

„Na, nichts von solchen verfassungswidrigen Mitteln“, erwiderte Sam. „Sieh mal, der Hast-du-was-Corpus is nach dem Perpendikel-Mobilum eine von den segensreichsten Erfindungen, wo jemals gemacht worden sind. Ich habe sogar in den Zeitungen von gelesen.“

„Was soll das nu wieder?“ fragte Mr. Weller.

„Na“, erklärte Sam, „ich will doch eben die Erfindung begünstigen und mich auf die Art einbuchten lassen. Aber bloß kein Getuschel beim Lordkanzler; ich will das nich haben. Ich würde denn nämlich Manschetten haben, von wegen das Wiederrauskommen.“

Den Gefühlen seines Sohnes hierin beipflichtend, suchte Mr. Weller alsbald den Gelehrten Mr. Samuel Pell auf und teilte ihm seinen Wunsch mit, unverzüglich gegen einen gewissen Samuel Weller einen Verhaftungsbefehl wegen fünfundzwanzig Pfund und der Gerichtskosten ergehen zu lassen, wofür die Gebühren Mr. Samuel Pells im voraus entrichtet werden sollten.

Der Anwalt war sehr aufgeräumt, denn der zahlungsunfähige Rosselenker war durchgerutscht. Er lobte Sams Anhänglichkeit an seinen Herrn außerordentlich, erklärte, daß ihn das ganz an seine eignen Gefühle der Ergebenheit gegen seinen Freund, den Kanzler, erinnere, und führte dann Mr. Weller senior unverzüglich nach dem „Temple“, um ihn daselbst die Richtigkeit seiner Schuldforderung beschwören zu lassen, ein Akt, der auch unter Beihilfe des blauen Beutels, den der Junge nachtrug, vollzogen wurde.

Mittlerweile war Sam dem freigesprochnen Herrn und seinen Freunden in aller Form als Sprößling Mr. Wellers von Belle Savage vorgestellt und zur Feier des Anlasses, sich mit der übrigen Gesellschaft gütlich zu tun, eingeladen worden, was er natürlich ohne Zieren annahm.

Die Fröhlichkeit der Herren vom Rosselenkerberuf trägt gewöhnlich einen ernsten und ruhigen Charakter; aber der gegenwärtige Anlaß war ein zu festlicher, als daß sie diesmal nicht eine entsprechende Abweichung von diesem Prinzip hätten eintreten lassen.

Nach mehreren lautgebrüllten Toasten auf den Oberkommissär und Mr. Salomo Pell, der an diesem Tage so bewunderungswürdige Fähigkeiten entwickelt hatte, machte ein Herr mit einem buntscheckigen Gesicht und einer blauen Halsbinde den Vorschlag, es solle jemand einen Rundgesang anstimmen. Natürlich folgte auf diese Zumutung das Ersuchen, der Buntscheckige möge doch selbst singen, wenn es ihm so sehr darum zu tun sei; aber dies lehnte der Buntscheckige standhaft und einigermaßen beleidigt ab, worauf wie das in solchen Fällen nichts Ungewöhnliches ist, eine Art Wortwechsel folgte.

„Meine Herren!“ sagte endlich der Rosselenker. „Um die Eintracht des köstlichen Festes nich zu stören, wird vielleicht Mr. Samuel Weller die Gesellschaft erfreuen.“

„Na, meine Herren“, erwiderte Sam, „ich bin es eigentlich nich gewöhnt, ohne Musikbegleitung zu singen; aber nichts übern ruhiges Leben, wie der Mann sagte, als er die Wächterstelle auf ‚m Leuchtturm annahm.“

Nach diesen einleitenden Worten stimmte er unverzüglich folgende wilde und schöne Romanze an, die wir, in der Voraussetzung, daß sie nicht allgemein bekannt sein dürfte, hier wiedergeben. Wir bitten, eine besondere Aufmerksamkeit der genialen Einschaltung der Endsilben zu schenken, die es nicht nur dem Sänger ermöglicht, an dieser Stelle Atem zu schöpfen, sondern auch das Versmaß sehr unterstützt.

Romanze

Kühn Turpin einst auf der Hounslowhaid
Seine kühne Mähre ritt – hem,
Als er den Wagen des Erzbischofs
Ihm entgegenkommen sieht – hem.
Er sprengt sofort im Galopp herbei
Und steckt seinen Kopf hinein – hem.
Und der Bischof sagt: „Ist ein Ei ein Ei,
So muß das Turpin sein – hem.“

(Chor)

Und der Bischof sagt: „Ist ein Ei ein Ei,
So muß das Turpin sein – hem.“

2

Und Turpin sagt: „Da friß dein Wort
Mit dem bleiernen Kügelein“ – hem,
Setzt ihm ein Pistol an den Mund
Und jagt ihm den Schuß hinein – hem.
Der Kutscher hat das Schießen satt
Und sprengt im Galopp davon – hem.
Doch Dick jagt ihm eins ins Genick,
Da hält der Bursche schon – hem.

(Chor sarkastisch)
Doch Dick jagt ihm eins ins Genick,
Da hält der Bursche schon – hem.

„Das Lied is für den ganzen Stand ’ne Beleidigung“, fiel der Buntscheckige ein. „Ich bitte um den Namen des Kutschers.“

„Unbekannt“, erwiderte Sam. „Hatte keine Karte nich in der Tasche.“

„Ich protestiere gegen das Hereinziehen der Politik“, rief der Buntscheckige erregt. „Ich behaupte, daß das Lied ’ne politische Anspielung is, und was dasselbe is, einfach erstunken und erlogen is. Glaube es einfach nich, daß der Kutscher davonfuhr, sondern daß er im gerechten Kampfe erschossen wurde – oder auf der Jagd, wie ’n Fasan, und rate es niemand, mir zu widersprechen.“

Da der Buntscheckige mit großer Energie und Bestimmtheit sprach und die Ansichten der Gesellschaft über diesen Gegenstand voneinander abzuweichen schienen, so drohte wieder ein neuer Wortwechsel auszubrechen, als gerade im rechten Augenblick die Herren Weller und Pell erschienen.

„All right, Sammy“, sagte Mr. Weller.

„Die Verhaftung wird um vier Uhr stattfinden“, ergänzte Mr. Pell. „Ich hoffe, Sie werden während der Zeit nicht davonlaufen; nicht wahr? Haha!“

„Vielleicht läßt sich mein grausamer Papa bis dahin noch erweichen“, versetzte Sam mit breitem Grinsen.

„Ausgeschlossen“, sagte Mr. Weller senior.

„Bitte, bitte!“ bat Sam.

„Gibt’s nich“, erwiderte der unerbittliche Gläubiger.

„Ich will Monatsraten zu sechs Pence eingehen“, erbot sich Sam.

„Glatt abgelehnt“, entgegnete Mr. Weller.

„Hahaha! Sehr gut, sehr gut!“ lachte Mr. Salomo Pell und legte seine kleine Rechnung vor. „Wahrhaftig ein sehr lustiger Fall. Benjamin, schreib das ab.“ Und wieder lächelte Mr. Pell, als er Mr. Wellers Aufmerksamkeit auf den Betrag der Summe lenkte.

„Danke schöön, danke schöön“, sagte er, als er eine von den schmutzigen Banknoten in Empfang nahm, die Mr. Weller aus seiner Brieftasche hervorgezogen hatte. „Drei Zehner und ein Zehner macht fünf. Sehr verbunden, Mr. Weller. Ihr Sohn ist ein sehr verdienstvoller junger Mann; in der Tat, Sir, ein sehr schöner Charakterzug bei einem jungen Manne – wirklich, ein sehr schöner Zug“, fügte er hinzu, sah sich mit süßem Lächeln in der Gesellschaft um und steckte das Geld ein.

„’n Riesenjux, was?“ lachte Mr. Weller, „’n wahres Wunderkind.“

„Wundert sich nur ein bißchen wenig, Sir“, warf Mr. Pell ein.

„Hat nichts zu sagen, Sir“, versetzte Mr. Weller mit Würde. „Weiß, was die Glocke geschlagen hat, Sir.“

Als der Gerichtsdiener erschien, hatte sich Sam bereits so außerordentlich beliebt gemacht, daß sämtliche Herren den Entschluß faßten, ihn in corpore ins Gefängnis wandern zu sehen. Man brach auf; Kläger und Beklagter gingen Arm in Arm; der Gerichtsdiener schritt voran, und acht wohlgenährte Kutscher bildeten den Nachtrab. Am Sergeants Inn-Kaffeehause machte die ganze Gesellschaft nochmals halt, um Erfrischungen zu sich zu nehmen.

In der Fleetstreet trat durch den Eigensinn der acht Herren in der Nachhut, die durchaus zu viert nebeneinander gehen wollten, eine kleine Störung ein, und man fand es für notwendig, den Buntscheckigen zurückzulassen, der darauf bestand, sich mit einem Zettelträger zu boxen, und erst nach Ausfechtung dieses Kampfes nachkam. Außer diesen unbedeutenden Zufällen ereignete sich unterwegs nichts Denkwürdiges. Als die Herren das Fleettor erreichten, nahmen sie vom Kläger Abschied und brachten dem Beklagten drei donnernde Lebehochs.

Als Sam zum ungeheuren Erstaunen Rokers und zur augenscheinlichen Verwirrung des phlegmatischen Mr. Neddy eingeliefert worden war, schritt er unverzüglich auf das Zimmer seines Herrn zu und pochte an die Tür.

Mr. Pickwick rief: „Herein!“

Sam trat ein, nahm den Hut ab und lächelte.

„Was, du, Sam, mein guter Junge?“ rief Mr. Pickwick, sichtlich erfreut, seinen Getreuen wiederzusehen. „Es lag nicht in meiner Absicht, gestern durch meine Worte deine Gefühle zu verletzen, mein braver Junge. Lege ab, Sam, ich will mich jetzt näher erklären.“

„Muß das gleich sein, Sir?“ fragte Sam.

„Jawohl“, antwortete Mr. Pickwick. „Warum denn nicht?“

„Na, ich würde es ebend lieber später abmachen, Sir. Ich habe da noch ’n kleines Geschäft zu erledigen. Nichts Besonderes, aber ich muß mir erst mal um ein Bett für meine Person kümmern. Ich bin nämlich diesen Nachmittag wegen Schulden verhaftet worden.“

„Du, wegen Schulden verhaftet?“ rief Mr. Pickwick, in einen Stuhl sinkend.

„Ja. Wegen Schulden, Sir, und der Mann, wo mir setzen ließ, will mich nich mehr rauslassen, bis Sie gehen.“

„Gütiger Himmel! Was willst du damit sagen?“ rief Mr. Pickwick aus.

„Na, genau das, was ich gesagt habe, Sir. Und wenn es – vierzig Jahre dauert, denn bin ich ebend solange Gefangener, und es is mir sehr recht so. Und wenn sie in Newgate sitzen würden, denn würde es dasselbe sein. So, nu is es draußen, und damit Schluß; verflucht noch mal!“

Mit diesen Worten, die er mit großer Emphase und Heftigkeit hervorstieß, warf Sam Weller in einem außergewöhnlichen Zustand von Aufregung seinen Hut auf den Boden, verschränkte die Arme und sah seinen Herrn herausfordernd an.

Zweiundvierzigstes Kapitel


Zweiundvierzigstes Kapitel

Mr. Winkles geheimnisvolles Benehmen. Der Kanzleigefangene wird endlich erlöst.

Mr. Pickwick war von Sams Treue und Anhänglichkeit zu sehr gerührt, um über seinen raschen Schritt, nämlich Schuldhaft auf unbestimmte Zeit, Zorn oder Mißfallen zu äußern. Der einzige Punkt, worüber er beharrlich Aufschluß verlangte, war der Name des Gläubigers; aber gerade darin wollte sein Diener absolut nicht mit der Sprache heraus.

„Es hat ja doch keinen Zweck, Sir“, sagte Sam immer wieder von neuem. „Er ist ein niederträchtiger, gemeiner, geiziger, rachsüchtiger Kerl, mit einem Herz, das is nich zu erweichen, wie der brave Priester von dem alten wassersüchtigen Schenlemän sagte, der wo sein Geld lieber seiner Frau hinterließ, anstatt daß er eine Kapelle davon bauen ließ. Jedenfalls werde ich mir nich erniedrigen und meinen gewissenlosen Feind um den Gefallen bitten, daß er das Geld annimmt. Ich halte mir an Prinzipien. Sie machen es ja auch nich anders. Das erinnert mich übrigens an den Mann, wo sich aus Prinzip selber umbrachte; Sie werden ja sicher davon wissen, Sir.“ Hier unterbrach sich Mr. Weller und warf seinem Herrn einen eigentümlichen Blick aus den Augenwinkeln zu.

,Das ist durchaus nicht sicher, Sam“, sagte Mr. Pickwick, dem trotz seines Verdrusses über Sams Hartnäckigkeit allmählich ein Lächeln ankam. „Der Ruhm des fraglichen Herrn ist noch nicht bis zu meinen Ohren gedrungen.“

„Nicht doch, Sir!“ rief Mr. Weller. „Da staune ich ja über Sie, Sir; er war Schreiber in einem Regierungsbüro, Sir.“

„War er das?“ fragte Mr. Pickwick.

„Jawoll, war er“, fuhr Sam fort, „und außerdem ein sehr angenehmer Schenlemän. Er sparte sein Geld aus Prinzip, zog jeden Tag ein neues Hemd an, auch aus Prinzip, sprach niemals keinen von seinen Verwandten an, auch aus Prinzip, weil er Angst hatte, daß sie ihn anpumpen möchten; na jedenfalls, er war alles in allem wirklich ein angenehmer Mensch. Weil er also ein sehr orntlicher Schenlemän war, aß er jeden Tag in derselben Kneipe, wo es ein Essen für einen Schilling und neun Pence gab. Aber der aß immer die doppelte Menge, wie der Wirt oft mit Tränen in den Augen sagte, und im Winter schürte er mindestens für vier Pence Feuer an, und denn wollte er alle Zeitungen zuerst haben; na, und denn saß er nach dem Essen noch drei Stunden auf dem besten Platz und verzehrte nichts, sondern schlief. Und denn ging er ’n paar Straßen weiter und aß vier Brezeln zu ’ner Tasse Kaffee, und denn ging er schließlich nach Hause und legte sich ins Bett. Einen Abend wurde er sehr kränklich und schickte nach dem Doktor. ,Was haben Sie zuletzt gegessen?‘ fragte der Doktor. ,Brezeln‘, sagte der Patient. ,Daran liegt’s‘, sagte der Doktor, ,ich schicke Ihnen gleich ’ne Schachtel mit Pillen. Und essen Sie niemals nich keine Brezeln wieder.‘ – ,Soweit kommt das noch!‘ sagt der Patient und richtet sich im Bett auf, ,ich habe fünfzehn Jahre lang jeden Nachmittag vier Brezeln aus Prinzip gegessen. Sie sind gesund und für den Preis sättigen sie gut.‘ – ,Für Sie sind sie aber zu teuer und außerdem ungesund. Wenn Sie nicht mit den Brezeln aufhören, denn is in sechs Monaten Feierabend mit Ihnen. Dafür verbürge ich mich‘, sagt der Doktor. ,Und was glauben Sie, wieviel Brezeln auf einmal tödlich für mir wären? Vielleicht für ’ne halbe Krone?‘ fragt der Patient. ,Essen Sie für drei Schilling Brezeln, Sir, und Sie gehen auf der Stelle ein‘, sagt der Doktor und geht weg. Am andern Morgen steht doch der Patient auf und läßt für drei Schilling Brezeln holen, und denn röstet er sie, ißt sie auf und schießt sich ’ne Kugel in ’n Kopf.“

„Warum tat er denn das?“ fragte Mr. Pickwick erstaunt. „Ja, Sir, warum tat er das?“ wiederholte Sam. „Na, wegen dem Grundsatz, daß Brezeln gesund sind! Und denn wollte er zeigen, daß er sich durch keinen Menschen nich von abbringen ließ!“

Durch solche Schliche und Kniffe umging Mr. Weller die kitzlige Frage.

Mr. Pickwick mußte sich endlich von der Nutzlosigkeit aller seiner Vorstellungen überzeugen und erlauben, daß Sam sich für eine Woche bei einem kahlköpfigen Schuhflicker einlogierte, der in einem der oberen Gänge ein kleines schmales Zimmer bewohnte. In dieses ärmliche Kämmerchen schaffte Mr. Weller junior eine Matratze und ein Bett, die er von Mr. Roker mietete, und als er nachts darauf lag, fühlte er sich so heimisch, als ob er im Kerker aufgewachsen wäre und seit drei Menschenaltern samt Familie darin vegetiert hätte.

„Rauchen Sie immer, nachdem Sie zu Bett gegangen sin, alter Kauz?“ fragte er seinen Stubengenossen, als sie sich beide zur Ruhe gelegt hatten.

„Ja, allerdings, junger Grünschnabel“, versetzte der Schuhflicker.

„Gestatten Sie mir die Frage, warum schlagen Sie eigentlich Ihr Bett unter diesem tannenen Tisch auf?“

„Weil ich immer an ’n Himmelbett gewöhnt war, ehe ich hierher kam.“

Mr. Weller richtete sich aus seiner Lage ein wenig auf und schenkte daraufhin dem Äußern seines Gefährten eine weit längere Aufmerksamkeit, als er ihm bisher zuzuwenden Zeit oder Neigung gehabt hatte.

Es war ein schmutzig aussehender Mann – alle Schuhflicker sind es – und hatte einen starken struppigen Bart – alle Schuhflicker haben ihn –, und sein Gesicht war ein seltsames, gutmütiges Handwerkergesicht, mit einem Paar Augen, die einst sehr jovial dreingesehen haben mußten, denn sie glänzten noch jetzt. Die Zeit hatte den Mann auf sechzig und das Gefängnis auf der Himmel weiß wieviel Jahre gebracht. Er war klein, und da er durch den kuriosen Betthimmel in zwei Hälften erschien, sah er ungefähr gerade so groß aus, als er ohne Beine gewesen wäre. Er hatte eine große rote Tonpfeife im Mund stecken, aus der er kräftige Wolken blies, und starrte mit einem Ausdruck beneidenswerter Behaglichkeit in die brennende Kerze.

„Sin Sie schon lange hier?“ unterbrach Sam das Stillschweigen.

„Zwölf Jahre.“

„Ungehorsam gegen den Gerichtshof?“ Der Schuhflicker nickte.

„Na“, meinte Sam ernst, „warum beharren Sie auf Ihrem Starrsinn, Ihr kostbares Leben hier in diesem großartigen Pfandstall zu vergeuden? Warum kriechen Sie nich zu Kreuz?“

Der Schuhflicker schob lächelnd seine Pfeife in einen Mundwinkel, brachte sie dann wieder an ihren alten Platz zurück und schwieg.

„Warum tun Sie’s nich?“ fragte Sam eindringlich.

„Ach“, erwiderte der Schuhflicker, „das verstehen Sie nicht. Was glauben Sie wohl, hat mich zugrunde gerichtet?“

„Hm“, sagte Sam und schneuzte die Kerze, „vermutlich begann die Sache damit, daß Sie in Schulden kamen, nich wahr?“

„Bin nie einen Heller schuldig gewesen“, versetzte der Schuhflicker, „raten Sie noch mal.“

„Na, spekulierten vielleicht in Häusern, was hierzulande grade ausreicht, um wahnsinnig zu werden; oder haben gebaut, was ’n medizinischer Kunstausdruck für Unheilbarkeit is?“

Der Schuhflicker schüttelte den Kopf und sagte wieder: „Raten Sie noch mal.“

„Hoffentlich doch nich prozessiert?“ riet Sam argwöhnisch.

„In meinem Leben nie. Na also, die Sache ist die: Ich wurde durch eine Erbschaft ruiniert.“

„Ach Blech“, sagte Sam, „dummes Zeug. Ich wünschte mir ’n reichen Feind, wo mir auf diese Art zu ruinieren suchte. Ließe ihm ruhig gewähren.“ „Ich dachte mir’s gleich, Sie würden’s nicht glauben“, fuhr der Schuhflicker, ruhig seine Pfeife rauchend, fort. „An Ihrer Stelle ging’s mir ebenso; aber es ist trotzdem wahr.“

„Nanu!“ sagte Sam, schon durch den Blick, den ihm der Schuhflicker zuwarf, in seiner Zweifelsucht wankend gemacht.

„Es war so“, versetzte der Schuhflicker. „Ein alter Herr im Lande drunten, für den ich arbeitete, und von dem ich eine arme Verwandte heiratete – sie starb, Gott hab sie selig, und Dank sei ihm dafür gesagt –, wurde vom Schlag getroffen und ging heim.“

„Wohin?“ lallte Sam, schlaftrunken und von zahlreichen Eindrücken des Tages schläfrig gemacht.

„Was weiß ich, wohin er ging?“ erwiderte der Schuhflicker, im Hochgenuß seiner Pfeife durch die Nase sprechend. „Er ging zu den Toten.“

„Ach so, hm“, brummte Sam. „Gut.“

„Gut. Und hinterließ fünftausend Pfund, wovon er mir eintausend vermachte, weil ich seine Verwandte geheiratet hatte. Sie verstehen?“

„Ja, hm“, murmelte Sam.

„Und weil er ’ne Menge Nichten und Neffen hatte, die einander unaufhörlich das Vermögen mißgönnten, machte er mich zum Vollstrecker seines letzten Willens und gab mir das übrige in Verwahrung. – Na, und“, fuhr der Schuhflicker fort, „wie ich im Begriff war, einen gerichtlichen Bestätigungsschein ausfertigen zu lassen, legten die Nichten und Neffen, die sehr enttäuscht waren, daß sie nicht alles bekommen sollten, ein Caveat ein.“

„Ein was?“ fragte Sam.

„Eine gerichtliche Eingabe, die soviel sagen will wie: wir dulden’s nicht“, erklärte der Schuhflicker.

„Verstehe“, brummte Sam, „’ne Art Stiefbruder von dem hafis corpus. Gut.“

„Aber“, fuhr der Schuhflicker fort, „als sie fanden, daß sie untereinander selbst nicht einig werden und folglich auch keinen Protest gegen das Testament erheben konnten, zogen sie das Caveat wieder zurück, und ich zahlte sämtliche Vermächtnisse aus. Kaum hatte ich dies getan, als ein Neffe eine Schrift eingab, die Umstoßung des Testaments beantragte. Der Fall kam einige Monate darauf vor einen alten tauben Herrn in einem Hinterzimmer in der Gegend vom Paulskirchhof, und nachdem ihn vier Advokaten einen Tag lang schrecklich überlaufen hatten, um ihn noch künstlich zu betäuben, zog er die Sache acht bis vierzehn Tage lang in Überlegung und entlehnte seine Entscheidung aus sechs Bänden, die dahin ausfiel, daß der Erblasser im Kopf nicht recht in Ordnung gewesen sei und ich daher das ganze Geld wieder herausgeben und alle Kosten bezahlen müsse. Ich appellierte. Die Sache kam vor drei oder vier Schlafmützen, die die Verhandlung schon im ersten Gerichtshof mit angehört hatten, wo sie als Anwälte funktionierten. Das Urteil des alten Herrn wurde pflichtschuldigst bestätigt. Hierauf wanderte ich hierher und werde wohl zeitlebens hierbleiben. Meine Anwälte hatten sich schon lange vorher in den Besitz meiner ganzen tausend Pfund gesetzt, und was den Stand, wie sie es nennen, und die Kosten betrifft, so sitze ich hier für zehntausend, und werde hier sitzen, bis meine letzten Schuhe geflickt sind. Einige Herren haben davon gesprochen, die Sache dem Parlament vorzulegen, und ich glaube, sie würden es auch getan haben; aber sie hatten keine Zeit, zu mir zu kommen, und ich keine Erlaubnis, zu ihnen zu gehen, und der langen Episteln wurden sie müde, und so ließen sie die Sache fallen. Und das ist beim lebendigen Gott die Wahrheit, und kein Jota zuwenig oder zuviel, wie fünfzig Personen, sowohl innerhalb wie außerhalb dieser Mauern, ganz genau wissen.“

Der Schuhflicker schwieg, um zu sehen, welche Wirkung seine Erzählung hervorgerufen hatte; aber da Sam eingeschlummert war, klopfte er seine Pfeife aus, seufzte, legte sie beiseite, zog die Bettdecke über den Kopf und überließ sich gleichfalls dem Schlaf.

Am folgenden Morgen war Sam im Kämmerchen des Schuhflickers eifrig damit beschäftigt, seinem Herrn die Schuhe zu wichsen und die schwarzen Gamaschen auszubürsten, und Mr. Pickwick saß allein beim Frühstück, als jemand an seine Tür klopfte und, ehe er noch „Herein“ rufen konnte, ein Kopf sichtbar wurde, der, mit einem Kranz von Haar eingefaßt und mit einer Mütze von Baumwollsamt bedeckt, ohne große Schwierigkeit Mr. Smangle erkennen ließ.

„Sagen Sie, erwarten Sie nicht jemand?“ fragte der würdige Gentleman mit ein paar Dutzend Bücklingen. „Drei Herren – verteufelt nobel – haben unten nach Ihnen gefragt und auf dem Gang an jede Tür geklopft.“

„Meiner Treu, wie töricht wieder“, sagte Mr. Pickwick aufstehend. „Es sind Freunde von mir, die ich schon gestern erwartete.“

„Freunde von Ihnen?“ rief Smangle und ergriff Mr. Pickwicks Hand. „Sprechen Sie nicht weiter. Bei Gott, von diesem Augenblick an sind es auch Freunde von mir und Freunde von Mivins. Ein infernalisch scharmanter, nobler Bursche, der Mivins, nicht wahr?“

„Ich kenne den Herrn zu wenig“, wich Mr. Pickwick zögernd aus, „als daß ich …“

„Ich weiß“, unterbrach Mr. Smangle und klopfte Mr. Pickwick auf die Schulter. „Ich weiß. Aber Sie werden ihn besser kennenlernen. Sie werden entzückt sein über ihn. Dieser Mann, Sir“, fügte er geheimnisvoll hinzu, „hat Anlagen zum Komiker, die dem Drury-Lane-Theater Ehre machen würden.“

„Das sind alles äußerst merkwürdige Eigenschaften“, sagte Mr. Pickwick, „aber ich fürchte, meine Freunde werden, während wir hier miteinander plaudern, in großer Verlegenheit sein, wenn sie mich nicht finden.“

„Ich will ihnen den Weg zeigen“, erbot sich Smangle, zur Tür eilend. „Guten Tag. Ich möchte sie nicht stören, während sie hier sind, Sie verstehen. – Apropos, könnten Sie mir nicht bis gegen Ende der nächsten Woche eine halbe Krone vorstrecken?“

Mr. Pickwick konnte sich kaum eines Lächelns erwehren, zwang sich jedoch, ernst zu bleiben, legte das Geldstück in Mr. Smangles Handfläche, worauf dieser unter Zwinkern und Gebärden, die auf Geheimhaltung des großen Mysteriums hindeuten sollten, verschwand, um die drei Fremden aufzusuchen, mit denen er im nächsten Augenblick zurückkehrte, und nachdem er dreimal gehustet und ebensooft genickt hatte, um Mr. Pickwick zu verstehen zu geben, er werde nicht vergessen, das Darlehen pünktlich zurückzuzahlen, schüttelte er allen verbindlich die Hand und schraubte sich hinaus.

„Meine lieben, lieben Freunde“, sagte Mr. Pickwick, den Herren Tupman, Winkle und Snodgraß nacheinander immer wieder die Hand drückend, „ich bin entzückt, Sie zu sehen.“

Das Triumvirat war tief ergriffen. Mr. Tupman schüttelte kläglich das Haupt; Mr. Snodgraß zog fassungslos sein Taschentuch hervor, und Mr. Winkle trat ans Fenster und schluchzte laut.

„Morgen, meine Herren“, rief Sam, der in diesem Augenblick mit den Schuhen und Gamaschen eintrat, „nur weg mit die Melancholie, wie der kleine Junge sagte, als seine Schullehrerin starb. Willkommen im Kolleg, meine Herren.“

„Dieser närrische Bursche“, erklärte Mr. Pickwick freundlich, als Sam niederkniete, um ihm die Gamaschen zuzuknöpfen, „dieser närrische Bursche hat sich selbst einsperren lassen, um in meiner Nähe zu sein.“

„Was?“ riefen die drei Freunde.

„Ja, meine Herren“, sagte Sam, „ich bin – halten Sie gefälligst Ihren Fuß ruhig, Sir –, ich bin ’n Gefangener, meine Herren. Pappengeblieben, wie die Dame sagte.“

„Ein Gefangener!“ fuhr Mr. Winkle erschreckt auf.

„Hallo, Sir!“ versetzte Sam und sah auf. „Was gibt’s, Sir?“

„Und ich hatte gehofft, Sam, daß … Nichts, nichts“, stotterte Mr. Winkle verlegen. – In seinem Benehmen lag dabei etwas so Hastiges und Unentschlossenes, daß Mr. Pickwick unwillkürlich einen fragenden Blick auf seine beiden Freunde warf.

„Wir wissen nichts“, antwortete Mr. Tupman laut auf diese stumme Frage. „Er ist schon seit zwei Tagen außerordentlich aufgeregt und überhaupt wie ausgewechselt. Wir fürchteten, es könnte etwas vorgefallen sein, aber er leugnet hartnäckig.“

„Nein, nein“, beteuerte Mr. Winkle, unter Mr. Pickwicks durchdringendem Blick errötend, „es ist wirklich nichts; ich versichere Ihnen, es ist nichts, werter Freund. Ich werde wegen einer Privatangelegenheit binnen kurzem die Stadt verlassen müssen und hatte gehofft, Sie würden erlauben, daß Sam mich begleitet.“

Mr. Pickwicks Gesicht drückte noch größeres Erstaunen aus als zuvor.

„Ich glaubte“, stammelte Mr. Winkle, „Sam würde nichts dagegen haben; aber natürlich, wenn er Gefangener ist, so ist die Sache unmöglich, und ich muß eben allein reisen.“

Noch während Mr. Winkle sprach, fühlte Mr. Pickwick mit einigem Erstaunen, daß die Finger seines Dieners an den Gamaschen zitterten, als ob er überrascht oder bestürzt wäre. Sam sah auch auf Mr. Winkle, als dieser schwieg, und wenn auch der Blick, den die beiden wechselten, nur eine Sekunde dauerte, so schienen sie einander doch zu verstehen.

„Weißt du etwas von dieser Sache, Sam?“ fragte er daher mit scharfem Ton.

„Nö, nichts, Sir“, versetzte Mr. Weller, mit außerordentlicher Emsigkeit mit den Gamaschen beschäftigt.

„Bestimmt nicht, Sam?“

„Nun, Sir“, antwortete Mr. Weller, „so viel ist gewiß, daß ich bis jetzt noch nie etwas darüber gehört habe. Wenn ich auch manches errate“, fügte er mit einem Blick auf Mr. Winkle hinzu, „so bin ich nicht befugt, es zu sagen, denn ich könnte auch falsch geraten haben.“

„Und ich habe kein Recht, weiter in die Privatangelegenheiten meines Freundes zu dringen, und wenn wir auch noch so vertraut sind“, meinte Mr. Pickwick nach kurzem Stillschweigen. „Laßt mich nur noch so viel sagen, daß ich von all dem nicht das mindeste verstehe. Nun damit genug über diesen Punkt.“

Nun war aber noch so viel zu besprechen, daß der Vormittag schnell verfloß, und als Mr. Weller um drei Uhr auf dem kleinen Tisch eine Hammelkeule und eine ungeheure Fleischpastete mit verschiedenen Platten Gemüse und Flaschen Porter aufstellte, fühlte sich jeder in die Stimmung versetzt, dem Mahle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn es auch die unappetitliche Küche des Gefängnisses war, in der das Fleisch gekauft und zubereitet und die Pastete gebacken worden war.

Den Nachtisch bildeten ein paar Flaschen vorzüglichen Weines, die Mr. Pickwick aus dem Kaffeehaus Hörn in Doktors Commons hatte holen lassen. Die paar Flaschen hätte man eigentlich richtiger ein halbes Dutzend nennen können, und als der Wein getrunken und der Tee vorüber war, läutete die Gefängnisglocke zum Zeichen, daß sich die Besuche zu entfernen hätten.

War nun Mr. Winkles Benehmen am Morgen unerklärlich gewesen, so wurde es jetzt geradezu unirdisch und feierlich, als er sich, von Gefühl und Anteilnahme überwältigt, wohl ein halbes dutzendmal zum Abschied anschickte.

Er blieb zurück, bis Tupman und Snodgraß verschwunden waren, und drückte Mr. Pickwick mit einem Gesicht die Hand, auf dem feste Entschlossenheit mit der Quintessenz des Grames einen furchtbaren Bund geschlossen hatte.

„Gute Nacht, lieber, lieber Freund“, murmelte er dabei Zwischen den Zähnen.

„Gott segne Sie, mein guter Junge“, rief gerührt Mr. Pickwick.

„Nun also, was ist denn?“ erscholl Mr. Tupmans Stimme im Gang.

„Jaja, gleich, gleich“, antwortete Mr. Winkle. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Noch einmal wurde gute Nacht gesagt, und noch einmal, und nach diesem noch ein halbes dutzendmal, und immer noch hielt Mr. Winkle die Hand seines Freundes fest und sah ihm mit demselben seltsamen Ausdruck ins Gesicht.

„Ist denn wirklich nichts vorgefallen?“ fragte Mr. Pickwick, als ihm vor lauter Schütteln schon der Arm weh tat. „Nichts“, erwiderte Mr. Winkle.

„Nun denn, gute Nacht“, sagte Mr. Pickwick, bemüht, seine Hand loszumachen.

„Mein Freund, mein Wohltäter, mein verehrter Meister!“ murmelte Mr. Winkle, ihn noch am Handgelenk erwischend, „beurteilen Sie mich nicht zu hart, wenn Sie hören, daß ich, durch unüberwindliche Hindernisse dazu genötigt …“

„Wird’s bald!“ rief Mr. Tupman, sich wieder an der Tür zeigend. „Kommen Sie, oder sollen wir eingeschlossen werden?“

„Jaja, ich bin bereit“, erwiderte Mr. Winkle und riß sich mit furchtbarer Anstrengung los.

Als Mr. Pickwick den Herren mit stummem Erstaunen den Gang nachblickte, erschien Sam Weller oben an der Treppe und flüsterte einen Augenblick Mr. Winkle etwas ins Ohr.

„Gewiß, gewiß, verlassen Sie sich auf mich“, war die laute Antwort.

„Danke Ihnen, Sir; aber Sie vergessen es doch nich, Sir?“ bemerkte Sam eindringlich.

„In keinem Fall“, erwiderte Mr. Winkle.

„Na, also viel Glück, Sir“, sagte Sam und griff an seinen Hut. „Hätte mir riesig gefreut, es Ihnen gleichtun zu können, Sir, aber die Herrschaft kommt natürlich zuerst.“

„Es ist sehr brav von Ihnen, Sam, daß Sie hierbleiben“, versetzte noch Mr. Winkle, und dann ging das Kleeblatt die Treppe hinunter und verschwand.

„Höchst sonderbar“, brummte Mr. Pickwick, kehrte in sein Zimmer zurück und setzte sich nachdenklich an den Tisch. „Was kann der junge Mann nur vorhaben?“

Er hatte eine Weile nachgegrübelt, als die Summe Mr. Rokers, des Schließers, fragte, ob man eintreten dürfe. „Ich bringe Ihnen hier ein weicheres Kissen, Sir“, sagte er, „statt des einstweiligen, das Sie gestern nacht gehabt haben.“

„Danke bestens. Wollen Sie nicht ein Glas Wein trinken?“

„Sie sind sehr gütig, Sir“, erwiderte Mr. Roker. „Ihre Gesundheit, Sir.“

„Danke.“

„Ich bedaure, Ihnen Sagen zu müssen, daß es mit Ihrem Gefährten diesen Abend sehr schlecht steht, Sir“, bemerkte Roker, stellte das geleerte Glas nieder und betrachtete aufmerksam das Futter seines Hutes.

„Was? Mit dem Kanzleigefangenen?“

„Er wird nicht mehr lange Kanzleigefangener sein, Sir.“

„Das Blut gerinnt in meinen Adern“, rief Mr. Pickwick. „Was meinen Sie damit?“

„Er ist schon lange schwindsüchtig gewesen, und diesen Abend hat er außerordentlich“ Atembeschwerden bekommen. Der Arzt sagt schon seit einem halben Jahre, nur eine Luftveränderung könne ihn retten.“

„Großer Gott, so ist dieser Mann ein halbes Leben lang von der Gerechtigkeit langsam hingemordet worden?“

„Davon verstehe ich nichts, Sir“, erwiderte Roker, den Hut zwischen beiden Händen an der Krempe wägend. „Es wäre ihm vermutlich an jedem andern Orte auch so gegangen. Diesen Morgen kam er ins Krankenzimmer. Der Doktor sagte, man müsse ihm soviel wie möglich stärkende Sachen geben, und der Vorsteher schickte ihm Wein, Fleischbrühe und dergleichen aus seinem eignen Hause. Des Vorstehers Schuld ist es nicht, das wissen Sie, Sir.“

„Natürlich nicht“, erwiderte Mr. Pickwick schnell.

„Ich befürchte aber“, meinte Roker kopfschüttelnd, „es ist alles umsonst. Ich hab eben Neddy eine Wette von zwei Gläsern Schnaps gegen eins angeboten; aber er wollte nicht und hatte auch ganz recht. – Gute Nacht, Sir.“

„Halt“, rief Mr. Pickwick mit ernstem Ton. „Wo ist das Krankenzimmer?“

„Gerade über Ihrem Schlafgemach, Sir. Ich will’s Ihnen zeigen, wenn Sie mitkommen wollen.“

Mr. Pickwick nahm in Eile schweigend seinen Hut.

Der Schließer ging still voran, drückte leise eine Türklinke auf und forderte ihn auf, einzutreten. Es war ein großes, kahles, ödes Zimmer mit einer Menge eiserner Halbbettstellen, auf deren einer der Schatten eines Menschen lag – bleich und geisterhaft. Er atmete hart und schwer und ächzte vor Schmerzen, sooft sich seine Brust hob und senkte. Am Bette saß ein kleiner alter Mann in einer Schuhflickerschürze und las mit Hilfe einer Hornbrille laut in der Bibel. Es war der unglückliche Erbe.

„Öffnen Sie das Fenster“, flüsterte der Kranke.

Das Gepolter der Wagen und Karren, das Gerassel der Räder, das Geschrei der Männer und Kinder, der ganze Lärm des Lebens und Webens einer geschäftigen Menge wogte in dumpfem Gemurmel in das Zimmer. Wie fernes Summen erhob sich von Zeit zu Zeit ein schallendes Gelächter oder schlug das Bruchstück eines fröhlichen Liedes, von einem lustigen Haufen gesungen, auf einen Augenblick ans Ohr und verhallte dann im allgemeinen Lärm der Stimmen und Fußtritte – die Brandung der rastlosen See des Lebens da draußen. Es sind jederzeit melancholische Töne für einen ruhigen Zuhörer; aber wie trübselig müssen sie dem Ohre eines Menschen klingen, der an einem Sterbebette wacht.

„Es fehlt an Luft hier“, stöhnte der Kranke mit schwacher Stimme. „Der Ort verpestet sie. Sie war ringsum frisch, als ich vor Jahren hierher kam; aber sie wird schwül und drückend auf ihrem Wege durch diese Mauern. Ich kann sie nicht atmen.“

„Wir haben sie lange miteinander geatmet“, tröstete der Schuhflicker, „es wird schon wieder besser kommen.“

Es folgte eine kurze Pause, während deren die beiden Zuschauer näher an das Lager traten. Der Kranke zog die Hand seines alten Mitgefangenen an sich, drückte sie zärtlich zwischen den seinigen und hielt sie lange fest.

„Ich hoffe“, ächzte er nach einer Weile mit so schwacher Stimme, daß man scharf hinhören mußte, um die halben Laute zu vernehmen, die zitternd über die blauen Lippen des Sterbenden kamen, „ich hoffe, mein gnädiger Richter wird meiner schweren Buße auf Erden gedenken. Zwanzig Jahre, mein Freund, zwanzig Jahre in diesem scheußlichen Grab! Mein Herz brach, als mein Kind starb, und ich konnte es nicht einmal küssen in seinem kleinen Sarge! Meine Verlassenheit seitdem ist, trotz all dieses Lärmens und Tosens, wahrhaft fürchterlich gewesen. Möge mir Gott vergeben! Er hat meine Einsamkeit, meinen langsamen Tod gesehen.“

Er faltete die Hände, und noch etwas murmelnd, was man nicht verstehen konnte, fiel er in Schlaf; nur in Schlaf anfangs, denn man sah ihn lächeln.

Eine kurze Zeit flüsterten die Anwesenden miteinander; dann fuhr der Schließer, als er die Kissen ordnen wollte, schnell zurück.

„Bei Gott, er ist erlöst!“ sagte er leise.

Und er war es. Aber er hatte schon im Leben so totenähnlich ausgesehen, daß sie nicht wußten, wann er gestorben war.

Dreiundvierzigstes Kapitel


Dreiundvierzigstes Kapitel

Schildert eine rührende Zusammenkunft Mr. Samuel Weller mit seinen Verwandten. Mr. Pickwick besichtigt die kleine Welt, die er bewohnt, und faßt den Entschluß, künftighin so wenig wie möglich mit ihr zu verkehren.

Einige Tage nach seiner Festnahme ging Mr. Samuel Weller eines Morgens, nachdem er das Zimmer seines Herrn mit größter Sorgfalt aufgeräumt hatte, mit sich zu Rate, wie er die nächsten zwei Stunden am besten totschlagen könnte. Der Morgen war schön, und so kam er auf den Gedanken, daß eine Finte Porter im „Freien“ das richtigste wäre.

Er ging also in die Kantine, und nachdem er das Bier und überdies noch die vorgestrige Zeitung bekommen, begab er sich auf die Kegelbahn, setzte sich auf eine Bank und begann, sich auf eine sehr gesetzte und methodische Weise zu unterhalten.

Vor allem nahm er einen Schluck, sah dann, zu einem Fenster empor und beglückte eine junge Dame, die dort Kartoffeln schälte, mit einem platonischen Blinzeln. Dann entfaltete er die Zeitung und gab sich Mühe, die Polizeiberichte nach außen zu falten, und da dies bei dem sich in den Blättern verfangenden Winde eine anstrengende und schwierige Arbeit war, nahm er nach glücklichem Gelingen einen zweiten Schluck. Dann las er zwei Zeilen und unterbrach diese Beschäftigung, um ein paar Männern zuzusehen, die ein Tennisgame spielten, nach dessen Beendigung er beifälligerweise „Bravo“ rief und seine Augen die Runde machen ließ, um sich zu überzeugen, ob sich die Ansichten der Zuschauer mit den seinigen deckten. Dies schloß die Notwendigkeit in sich, wiederum zu dem Fenster hinaufzusehen, und da die junge Dame noch immer dort stand, so erforderte es die allgemeine Höflichkeit, ihr abermals zuzublinzeln und mit einem Schluck Bier stumm zuzutrinken. Einem Jungen, der letzteres mit weitaufgerissenen Augen mit angesehen, warf er einen furchtbaren Zornblick zu, schlug seine Beine übereinander und begann endlich, die Zeitung mit beiden Händen festhaltend, allen Ernstes zu lesen.

Kaum hatte er sich in den erforderlichen Zustand von Gedankenkonzentration versetzt, als er jemand in weiter Ferne in einem Gang seinen Namen rufen zu hören glaubte. Das war auch keine Täuschung, denn er lief alsbald von Mund zu Mund, und in wenigen Sekunden erzitterte die Luft mit lauter Wellers“.

„Hüür!“ schrie Sam mit Stentorstimme. „Was gibt’s? Wer fragt nach ihm? Is ’n Expresser gekommen, um ihm zu melden, daß sein Landhaus in Flammen steht?“

„In der Halle fragt jemand nach Ihnen“, sagte ein Mann in der Nähe.

„Geben Sie auf das Blatt und den Krug acht, alter Freund; wollen Sie?“ bat Sam. „Ich komme schon. Bei Gott, wenn sie mir vor die Schranken riefen, so könnten sie keinen größeren Lärm nich machen.“

Diese Worte mit einem sanften Schlag auf den Kopf des vorerwähnten jungen Herrn begleitend, der, die unmittelbare Nähe des Gerufenen nicht ahnend, aus Leibeskräften „Weller“ mitschrie, eilte Sam über den Hof und sprang die Treppe hinauf in die Halle. Hier war das erste, was seine Augen erblickten, sein heißgeliebter Vater, der mit dem Hute in der Hand auf der untersten Treppenstufe saß und alle Minuten aus vollem Halse „Weller“ brüllte.

„Warum grölst denn so?“ fragte Sam erregt, als der alte Herr eben wieder einen wilden Schrei ausgestoßen hatte. „Bist ja ganz rot, wie ’n irrsinniger Glasbläser! Was gibt’s denn?“

„Aha!“ rief der alte Herr, „da bist du ja. Ich bekam schon Angst, daß du womöglich ’nen Spaziergang um den Regentpark machtest, Sammy.“

„Na, hör mal!“ sagte Sam. „Man verhöhnt doch nich das Opfer des Geizes. Und dann geh mal von der Treppe da weg. Warum sitzt du überhaupt hier? Ich wohn doch nich hier.“

„Ich muß dir ’nen Spaß erzählen, Sammy“, versetzte Mr. Weller senior und erhob sich.

„Warte mal ’n Augenblick. Bist ganz weiß hinten.“

„Das is recht, Sammy, reib es weg“, versetzte Mr. Weller, als sein Sohn ihn abstaubte. „Ich möchte hier nicht den affigen Eindruck machen, daß ich was Weißes auf ‚m Leibe habe. Was, Sammy?“ Hier zeigten sich bei Mr. Weller unzweideutige Symptome eines neuerlich aufkommenden Lachkrampfes, den Sam zu verhindern suchte.

„Was hast denn nu wieder?“ fragte er, „du wirst noch mal platzen.“

„Sammy“, versetzte Mr. Weller und wischte sich über die Stirn, „ich hab Angst, dieser Tage trifft mir noch der Schlag vor lauter Lachen. Was denkst du wohl, wer mit mir hergekommen ist, Sammy?“

„Pell?“ riet Sam.

Mr. Weller schüttelte den Kopf und blies seine roten Backen vor verhaltenem Gelächter auf.

„Der Buntscheckige vielleicht?“

Mr. Weller schüttelte wieder den Kopf.

„Na also, wer denn?“

„Deine Stiefmutter“, erwiderte Mr. Weller.

Und es war ein Glück, daß er es herausbrachte, sonst wären seine Backen bei der unmäßigen Anstrengung unvermeidlich geborsten.

„Deine Stiefmutter, Sammy, und der Rotnasige, mein Junge, der Rotnasige. Hohoho!“

Und wieder bekam Mr. Weller Lachkrämpfe, während ihn Sam mit einem breiten Grinsen ansah, das sich allmählich über sein ganzes Gesicht verbreitete.

„Die sind hergekommen, um dir ins Gewissen zu reden, Samuel“, stöhnte Mr. Weller und trocknete seine Tränen. „Laß dir bloß nichts über deinen unnatürlichen Gläubiger rausholen, Sammy.“

„Was? Wissen sie nicht, wer es is?“ fragte Sam.

„Nich die Bohne.“

„Wo sind sie denn?“ fragte Sam feixend.

„Im Lauschestübchen. Denkst doch nich, der Rotnasige geht wohin, wo es nich was Gebranntes gibt; der nich, Samuel, der nich. Wir hatten diesen Morgen ’ne sehr hübsche Fahrt vom ,Marquis‘ hierher“, erklärte Mr. Weller, als er sich wieder einer artikulierten Ausdrucksweise fähig fühlte.

„Ich spannte den alten Schecken in das kleine Fuhrwerk, wo dem ersten Mann von deiner Stiefmutter gehört hatte. Und denn wurde ’n Armstuhl für den Hirten raufgepackt, und ich will verdammt sein“, fügte Mr. Weller mit einem Blick bodenloser Verachtung hinzu, „wenn sie nich noch ’ne tragbare Treppe auf die Straße schleppten, damit er leichter raufkam. Ich wünschte bloß, du hättest gesehen, wie der sich beim Aufsteigen festhielt, aus Angst, daß er runterprasseln und in tausend Fetzen auseinanderfallen könnte. Na, schließlich plumpste er rein, und wir fuhren los, und ich möchte beinahe sagen, mir kommt es so vor, Samuel, daß es ihm etwas rumpeln tat, wenn’s um die Ecken ging.“

„Nanu, denn nehme ich an, du bist an ’n paar Posten gedonnert?“ meinte Sam.

„Ich hab Angst“, versetzte Mr. Weller mit wildem Gebärdenspiel, „ich hab Angst, ich rappelte ein-, zweimal wo gegen; jedenfalls flog er nach alle Seiten aus sein Armstuhl raus.“

Ein heiseres innerliches Kollern benahm dem alten Herrn die Sprache.

„Sei unbesorgt, Sammy, sei unbesorgt“, sagte er, als er nach ungeheurer Anstrengung und verschiedentlichem konvulsivischem Stampfen auf den Boden seine Stimme wieder erlangt hatte. „Es is nur ’ne Art stilles Lachen, wo ich nich zum Ausbruch kommen lassen will, Sammy.“

„Na gut“, meinte Sam, „aber es wäre besser, du würdest es nich machen. Es sieht reichlich gefährlich aus.“

„Gefällt es dir nich, Sammy?“

„Könnte ich nich sagen“, versetzte Sam.

So weit war die Unterhaltung gediehen, als Vater und Sohn an der Tür des „Lauschestübchens“ ankamen, in das Sam alsbald hineintrat, nachdem er zuvor einen Augenblick stehengeblieben war, um über die Schulter weg einen schlauen Blick auf seinen verehrten Erzeuger zu werfen, der immer noch kicherte.

„Stiefmutter“, grüßte er dann höflich, „sehr verbunden für den gütigen Besuch. Hirte, wie befinden Sie sich?“

„Ach, Samuel!“ rief Mrs. Weller. „Das ist ja fürchterlich.“

„Ach wo, Ma’am“, versetzte Sam. „Oder doch, Hirte?“

Mr. Stiggins hob seine Hände empor und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße, oder vielmehr das Gelbe, sichtbar war, erwiderte aber nichts.

„Ist der Herr mit ’nem schmerzhaften Leiden behaftet?“ fragte Sam mit einem forschenden Blick auf seine Stiefmutter.

„Der gute Mann ist bekümmert, dich hier zu sehen, Samuel“, erklärte Mrs. Weller.

„Ah, soso!“ sagte Sam. „Ich bekam wegen sein Benehmen schon Angst, daß er womöglich vergessen hat, die letzten Gurken, wo er gegessen hat, mit Feffer zu bestreuen. Setzen Sie sich, Sir; zur Ruhe setzen kostet nichts, wie der König bemerkte, als er seine Minister wegjagte.“

„Junger Mann“, versetzte Mr. Stiggins hochtrabend, „ich fürchte, das Gefängnis hat Sie noch nicht gedemütigt.“

„Bitte um Verzeihung, Sir“, erwiderte Sam, „was waren Sie so gütig zu bemerken?“

„Ich fürchte, junger Mann, Ihr Charakter ist durch diese Züchtigung nicht demütiger geworden“, wiederholte Stiggins mit lauter Stimme.

„Sie sin sehr gütig“, erwiderte Sam. „Ich fürchte, meine Natur gehört nich zu den demütigen. Sehr verbunden für Ihre gute Meinung, Sir.“

Unanständige, gelächterartige Laute in der Gegend des Stuhles, auf dem Mr. Weller senior saß, drohten Mrs. Weller in hysterische Krämpfe zu versetzen.

„Weller!“ rief sie. „Weller, gleich kommst du aus dem Winkel raus!“

„Sehr verbunden, meine Liebe“, versetzte Mr. Weller, „aber ich fühle mir hier sehr behaglich.“

Sofort brach Mrs. Weller in Tränen aus.

„Was fehlt Ihnen, Madame?“ fragte Sam.

„Ach, Samuel!“ jammerte Mrs. Weller. „Dein Vater macht mich ganz unglücklich; will ihm denn gar nichts frommen?“

„Hörst du das?“ rief Sam. „Madam möchte wissen, ob dir gar nichts frommen tut.“

„Ich bin Mrs. Weller für ihre höfliche Frage sehr verbun’n, Sammy“, erwiderte der alte Herr. „Ich denke, ’ne Feife würde mir sehr frommen. Laß mich mal eine stopfen, Sammy!“

Abermals vergoß Mrs. Weller einen Tränenstrom, und Mr. Stiggins schluchzte.

„Holla! Dem unglücklichen Herrn wird schon wieder übel“, rief Sam und blickte umher. „Wo fühlen Se jetzt den Schmerz, Sir?“

„Auf derselben Stelle, junger Mann“, ächzte Mr. Stiggins, „auf derselben Stelle.“

„Wo mag das nur sein, Sir?“ riet Sam, anscheinend mit großer Einfalt.

„Im Herzen, junger Mann“, entgegnete Mr. Stiggins und drückte, seinen Regenschirm an die Weste.

Das war zu ergreifend für Mrs. Weller. Sie schluchzte laut und stellte die Behauptung auf, der Mann mit der roten Nase sei ein Heiliger. „Ich fürchte, Stiefmutter, der Herr mit seinen verdrehten Gesichtszügen bekommt Durst von dem traurigen Anblick, den er vor sich hat. Was meinst du, Frau Mutter?“

Die würdige Dame sah Mr. Stiggins forschend an, der seine Augen rollen ließ und sich an die Kehle griff, wobei er die Handlung des Schlingens mimte, um anzudeuten, daß er tatsächlich Durst habe.

„Ich habe Angst, Samuel, seine Gefühle haben ihn durstig gemacht“, bemerkte Mr. Weller düster.

„Was is Ihr gewöhnliches Getränk, Sir?“ fragte Sam.

„Oh, mein lieber junger Freund!“ wehrte Mr. Stiggins ab. „Getränke sind Eitölkeitön.“

„Ach, wie wahr, wie wahr!“ schluchzte Mrs. Weller mit beifälligem Kopfnicken.

„Na“, sagte Sam, „also welche ,Eitölkeitön‘ schmecken Ihnen denn am besten, Sir?“

„Ach, main liebör jungör Freund“, erwiderte Mr. Stiggins, „ich verachtö allö. Wann ös, wann ös ains gibt, das weniger schlimm ist als ain andörös, so ist ös der Gaist, den man Rum nönnt – warm, main liebör jungör Freund, mit drai Stückchön Zuckör für das Glaaas!“

„Tut mir sehr leid, Sir“, sagte Sam, „daß Ihre Lieblingseitelkeit in diesem Etablissemang nich verkauft wird; muß Ihnen leider sagen, es is nich gestattet.“

„Oh, über die Hartherzigkeit dieser verstockten Menschen!“ rief Mr. Stiggins aus. „Ach, über die fluchwürdige Grausamkeit dieser unmenschlichen Verfolger!“ – Und wieder hob der Hirt seine Augen auf und preßte den Regenschirm an seine Brust voll gerechter Empörung. Schließlich schlug Sam eine Flasche Portwein mit warmem Wasser, Gewürz und Zucker vor, weil dieses für den Magen sehr gesund sei und weniger nach Oitelkeit schmeckte als andre Mischungen, ließ das Getränk kommen und bereitete es, während der Herr mit der roten Nase und die Stiefmutter Mr. Weller senior ansahen und schluchzten.

„Na, was reckst du denn deine Hand auf so ’ne rohe Art und Weise nach dem Glas aus?“ rief Sam schnell, als die Faust Mr. Wellers, der abermals hinter dem Hirten allerlei drohende Gestikulationen vollführt hatte, mit dem Kopf Mr. Stiggins‘ zufällig in unsanfte Berührung kam. „Unabsichtlich, Sammy“, entschuldigte sich Mr. Weller kurz und hanebüchen.

„Versuchen Sie mal „ne innerliche Wundbehandlung, Sir“, riet Sam, als der rotnasige Herr sich mit kläglicher Miene den Kopf rieb. „Was halten Sie von so einer warmen Eitelkeit, Sir?“

Mr. Stiggins antwortete nicht mit Worten, aber sein Benehmen war ausdrucksvoll. Er kostete den Inhalt des Glases, das ihm Sam in die Hand gedrückt, stieß seinen Regenschirm auf den Boden, kostete wieder, rieb sich die Magengegend behaglich, trank dann das Ganze auf einen Zug aus, schmatzte mit den Lippen und hielt das Glas hin, um es wieder füllen zu lassen.

Auch Mrs. Weller wollte nicht zurückstehen, wo es galt, der Mischung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie protestierte anfangs, sie könne keinen Tropfen trinken – dann trank sie einen kleinen Tropfen – dann einen großen Tropfen – und dann eine große Menge Tropfen, und da ihr weiches Naturell durch gebranntes Wasser stark angegriffen wurde, ließ sie bei jedem Tropfen Glühwein einen Tränenstrom fließen und zerging schließlich derart, daß sie eine imposante Höhe von Elend erklomm.

Mr. Weller senior gab bei Beobachtung dieser Zeichen und Vorgänge sein Mißfallen auf mannigfaltige Weise durch heftiges Gebrumm kund. Mr. Stiggins erhob sich nach einem zweiten Krug schwerfällig und erging sich in einer erbaulichen Rede, die auf das Seelenheil der Gesellschaft, insbesondere Mr. Samuels, abzielte, den er in rührenden Ausdrücken beschwor, die Sünde zu fliehen, Heuchelei und Hochmut zu meiden und in allen Stücken sich ihn zum Muster und Vorbild zu nehmen, in welchem Fall er früher oder später zu dem köstlichen inneren Bewußtsein gelangen könne, daß er, gleich ihm, ein achtbarer und tadelloser Charakter und alle seine Bekannten und Freunde rettungslos verloren und verworfen seien; ein Bewußtsein, sagte er, das ihm die größte Seligkeit bereiten wurde.

Er beschwor ihn ferner, vor allen Dingen das Laster der Trunksucht zu fliehen, das er den unflätigen Gewohnheiten der Schweine und den giftigen und verderblichen Arzneien verglich, die, durch den Mund aufgenommen, das Gedächtnis schwächten. Bei dieser Stelle seiner Rede wurde der ehrwürdige Herr besonders unzusammenhängend und mußte, im Feuer der Beredsamkeit hin und her schwankend, sich an der Stuhllehne festhalten, um das physische Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Ganz besonders schien er seine Zuhörer vor den falschen Propheten und elenden Spöttern über die Religion warnen zu wollen, die, ohne die geistige Fähigkeit, die vornehmsten Glaubenssätze auszulegen, oder ohne das Herz, ihre Grundwahrheiten zu empfinden, gefährlichere Mitglieder der Gesellschaft seien als der gemeine Verbrecher, indem sie notwendigerweise auf die Schwächsten und am wenigsten Unterrichteten die stärkste Herrschaft ausübten, alles, was am heiligsten gehalten werden sollte, herabsetzten und verächtlich machten und ganze Klassen von tugendhaften und sittlich guten Menschen vieler vortrefflicher Sekten und Glaubensrichtungen in üblen Ruf brächten – aber da er sich eine geraume Zeit an der Stuhllehne festhielt und das eine Auge geschlossen hielt und mit dem andern ausdrucksvoll blinzelte, so läßt sich annehmen, daß er alles nur dachte, aber wohlweislich bei sich behielt.

Während der undeutlichen Predigt seufzte und weinte Mrs. Weller am Schlüsse jedes Abschnittes, während Sam mit übergeschlagenen Beinen und auf die Lehne seines Sessels gestützten Armen den Sprecher mit süßem, mildem Lächeln betrachtete und nur gelegentlich einen Blick des Einverständnisses auf den alten Herrn warf, der im Anfang entzückt war und ungefähr in der Mitte einschlief.

„Bravo! Vortrefflich!“ rief Sam, als der Mann mit der roten Nase nach Schluß der Rede seine abgetragnen Handschuhe anzog und dabei die Finger durch die durchlöcherten Enden steckte, bis die Knöchel sichtbar wurden. „Ganz vortrefflich.“

„Ich hoffe, es wird bei dir anschlagen, Samuel“, sagte Mrs. Weller feierlich.

„Ich denke ja, Stiefmutter“, nickte Sam.

„Ich wollte, es schlüge auch bei deinem Vater an“, seufzte Mrs. Weller.

„Danke dir, meine Teure“, erwiderte Mr. Weller senior. „Is dir nu leichter, meine Liebe?“

„Spötter!“ rief Mrs. Weller empört.

„Unerleuchteter Mann!“ lallte Ehrwürden Mr. Stiggins.

„Na, wenn ich kein besseres Licht nich bekommen tue als wie Ihren Mondschein“, knurrte Mr. Weller, „denn is es sehr wahrscheinlich, daß ich ständig ’ne Nachtkutsche fahren werde, bis ich mir von die Straße verabschieden tue. Aber jetzt, Mrs. Weller! Wenn der Schecke noch länger am Futtertrog steht, denn hält er es mir auf dem Heimweg nich mehr aus und schmeißt vielleicht den Armstuhl samt dem Hirten in die nächste Hecke.“

In augenscheinlicher Bestürzung ergriff Mr. Stiggins sofort Hut und Regenschirm und drang auf alsbaldige Abreise. Sam ging mit bis ans Gefängnistor und nahm dann zärtlich Abschied von seinen Gästen.

„Adio, Samuel“, sagte der alte Herr.

„Was heißt das, ,adio‘?“ fragte Sam.

„Na: Leb wohl!“

„Warum sagst das nich gleich? Na, denn leb wohl, Alter.“

„Sammy“, flüsterte Mr. Weller zum Abschied und blickte sich vorsichtig um, „meine Empfehlung an den Gouverneur, und wenn er sich auf was Besseres besinnen tut in seine Sache, denn soll er mich das wissen lassen. Ich und der Kunsttischler, wir haben ’nen Plan ausgeheckt, daß wir ihn rauskriegen, ’n Pjananino, Samuel – ’n Pjananino!“ fügte er triumphierend hinzu, schlug seinem Sohn mit der Rückseite der Hand auf den Brustkasten und trat ein paar Schritte zurück.

„Was meinst du damit?“ fragte Sam.

„’n Pjananinopforte, Samuel“, erwiderte Mr. Weller noch geheimnisvoller, „er kann es mieten; so eins, wo man gar nich drauf spielt, Sammy.“

„Er soll bloß zu meinem Freund, dem Kunsttischler, schicken und es holen lassen“, erklärte Mr. Weller. „Verstehst du jetz?“ „Nein“, antwortete Sam.

„Is gar nichts bei zu riskieren“, flüsterte Mr. Weller unbeirrt. „Er kann sich mit seinen Hut und seine Schuhe reinlegen und durch die Beine, die sind nämlich hohl, da kann er frische Luft schnappen. Wir halten ihm ’nen Schiffsplatz nach Amerika bereit. Die amerikanische Regierung gibt ihm nich wieder raus, wenn sie merkt, daß er Zaster hat, Sammy. Da soll er denn man bleiben, der Gouverneur, bis die Bardell tot is oder Dodson und Fogg am Galgen hängen, was wahrscheinlich zuerst passieren wird, Sammy. Und denn soll er zurückkommen und „n Buch über die Amerikaner schreiben. Wird ihm ’n Batzen Geld einbringen, wenn er sie bloß orntlich anstänkern tut.“

Mr. Weller flüsterte diesen kurzen Abriß eines Fluchtplanes seinem Sohne mit vielem Ungestüm ins Ohr, gab dann, als fürchte er, durch weitere Erklärungen die Wirkung seiner furchtbaren Mitteilung abzuschwächen, den freimaurerischen Kutschergruß und verschwand.

Sam hatte kaum seine gewöhnliche Ruhe wiedererlangt, die durch die geheimnisvolle Mitteilung seines verehrten Vaters gewaltig erschüttert worden war, als ihm Mr. Pickwick auf die Schulter klopfte.

„Sam!“

„Sir?“

„Ich wünsche einen Gang durch das Gefängnis zu machen, und du sollst mich dabei begleiten. Da kommt übrigens ein. Gefangener, den wir kennen, Sam“, fügte Mr. Pickwick lächelnd hinzu.

„Wer denn, Sir?“ fragte Sam. „Der Schenlemän mit dem Krauskopp oder der interessante Herr in den Strümpfen?“

„Keiner von beiden. Ein viel älterer Freund von dir, Sam.“

„Von mir, Sir?“

„Du wirst dich dieses Herrn schon noch erinnern“, sagte Mr. Pickwick. „Still jetzt! Kein Wort mehr, Sam, keine Silbe! Da ist er.“

Noch während Mr. Pickwick sprach, kam Jingle heran. Er sah weniger elend aus als das letztemal, denn er trug seine wenn auch recht abgeschabten Kleider, die er mit Mr. Pickwicks Hilfe aus der Gefangenschaft des Leihhauses erlöst hatte. Auch hatte er ein weißes Hemd an, und seine Haare waren frisch gestutzt. Gleichwohl war er sehr blaß und mager, und als er, auf einen Stock gestützt, langsam heranschlich, konnte man ihm leicht ansehen, daß er durch Krankheit und Mangel hart gelitten hatte und noch immer äußerst schwach war. Er zog den Hut, als Mr. Pickwick ihm zunickte, und schien beim Anblick Sam Wellers sehr gedemütigt und beschämt.

Dicht auf seinen Fersen erschien Hiob Trotter, in dessen Sündenregister jedenfalls Mangel an Treue und Anhänglichkeit an seinen Kameraden keinen Platz fand. Er war noch immer zerlumpt und schmutzig, sein Gesicht schien aber nicht mehr ganz so hohl zu sein wie bei seinem ersten Zusammentreffen mit Mr. Pickwick vor einigen Tagen. Als er vor dem wohlwollenden alten Herrn tief den Hut zog, murmelte er etwas von heißer Dankbarkeit und von Errettung vom Hungertode.

„Schon gut“, wehrte Mr. Pickwick ungeduldig ab. „Sie können mit Sam nachkommen. Ich wünsche Sie zu sprechen, Mr. Jingle. Können Sie gehen ohne seine Hilfe?“

„O ja, Sir – ganz zu Diensten – nicht zu schnell – Beine schlotterig – Kopf schwindelig – immer alles im Kreis herum – erdbebenartiger Zustand – ganz erdbebenartig.“

„Dann geben Sie mir Ihren Arm.“

„Nein, nein“, erwiderte Jingle hastig, „unmöglich – zuviel Güte.“

„Unsinn!“ sagte Mr. Pickwick. „Stützen Sie sich auf mich; ich will es, Sir!“

Da Mr. Pickwick sah, daß Jingle äußerst aufgeregt, verwirrt und unschlüssig war, zog er ohne Umstände den Arm des kranken Komödianten durch den seinigen und führte ihn fort, ohne ein Wort weiter zu verlieren.

Während dieser ganzen Zeit hatte Mr. Samuel Wellers Angesicht einen Ausdruck überwältigten und überschwenglichsten Erstaunens gezeigt, das sich die Einbildungskraft nur ausmalen kann. Nachdem er in tiefem Schweigen von Hiob zu Jingle und von Jingle zu Hiob geblickt, stieß er endlich leise die Worte aus: „Na, da hört sich doch ..,“ und wiederholte sie wenigstens zwanzigmal. Dann aber schien er seiner Stimme gänzlich beraubt zu sein und ließ in sprachloser Verwunderung seine Blicke aufs neue von dem einen zu dem andern wandern.

„Nun, Sam?“ fragte Mr. Pickwick über die Achsel.

„Komme schon, Sir“, erwiderte Mr. Weller, folgte seinem Herrn mechanisch und konnte noch immer kein Auge von Mr. Hiob Trotter abwenden, der schweigend an seiner Seite ging.

Hiob sah beharrlich zu Boden, und Sam, dessen Blick an Hiobs Gesicht geradezu klebte, rannte gegen alle Leute, die ihm begegneten, an, fiel über kleine Kinder, stolperte an Treppen und Geländern und schien von all dem nichts zu bemerken, bis Hiob endlich verstohlen aufblickte und fragte:

„Wie befinden Sie sich, Mr. Weller?“

„Ja, er is es!“ rief Sam, schlug sich auf das Bein und machte seinen Gefühlen mit einem langen, schrillen Pfiff Luft.

„Mit mir hat es sich sehr geändert, Sir“, sagte Hiob.

„Das seh ich“, rief Sam, mit unverhohlener Verwunderung die Lumpen seines Begleiters musternd. „Es ist aber ’n schlechter Tausch gewesen, wie der Schenlemän sagte, als er zwei verdächtige Schilling und sechs Pence in kleiner Münze für ’ne echte halbe Krone eingewechselt hatte.“ „Ja, das ist wahr“, versetzte Hiob mit Kopfschütteln. „Die Zeit des Betrügens ist jetzt vorbei, Mr. Weller. Tränen“, fügte er mit einem Anflug alter Verschmitztheit hinzu, „Tränen sind weder die einzigen Beweise von Kummer und Elend, noch die besten.“ „Wissen wir“, erwiderte Sam ausdrucksvoll.

„Man kann sie auch künstlich hervorrufen, Mr. Weller!“

„Sehr richtig bemerkt“, versetzte Sam. „Es gibt Leute, wo sie immer in Bereitschaft halten und den Stöpsel rausziehen können, wann sie wollen.“

„Jaja“, gab Hiob zu, „aber, mein lieber Mr. Weller, diese Dinge lassen sich doch nicht so leicht nachmachen, und es ist ein recht schmerzhafter Prozeß, sie künstlich hervorzurufen.“ Dabei deutete er auf seine blassen, eingesunknen Wangen, schlug seinen Rockärmel zurück und entblößte seinen Arm, der aussah, als ob man ihn ohne Mühe abbrechen könnte, so dünn und spitzig stachen die Knochen unter ihrer dünnen Fleischdecke hervor.

„Was haben Sie bloß mit sich angefangen?“ rief Sam schaudernd.

„Nichts.“

„Nichts?“

„Ich habe schon viele Wochen gar nichts getan“, sagte Hiob, „und beinahe ebensowenig gegessen und getrunken.“

Sam warf einen umfassenden Blick auf Mr. Trotters schmales Gesicht und seine ganze jammervolle Erscheinung, ergriff ihn dann beim Arm und fing an, ihn mit großer Heftigkeit mit sich fortzuziehen.

„Wohin wollen Sie, Mr. Weller?“ ächzte Hiob, vergeblich bemüht, sich dem eisernen Griff seines alten Feindes zu entwinden.

„Kommen Sie mit“, sagte Sam lakonisch, „kommen Sie mit.“

Und er würdigte Hiob keiner weiteren Erklärung, bis sie das „Lauschestübchen“ erreicht hatten, wo er einen Krug Porter kommen ließ.

„Da“, sagte er, „trinken Sie alles bis auf den letzten Tropfen, und denn kehren Sie den Krug um, damit ich sehe, ob Sie die Arznei auch eingenommen haben.“

„Aber mein bester Mr. Weller“, remonstrierte Hiob.

„Runter damit“, befahl Sam gebieterisch.

Gehorsam erhob Mr. Trotter den Krug und leerte ihn in kleinen, beinahe unmerklichen Schlucken bis auf den Grund. Einmal, aber auch nur ein einziges Mal, pausierte er, um einen langen Atemzug zu tun, ohne jedoch zu wagen, die Augen von dem Gefäß zu erheben, das er einige Augenblicke später mit ausgestrecktem Arm umgekehrt hinhielt. Nichts fiel auf den Boden als ein paar Tröpfchen Schaum, die sich langsam vom Rande losmachten und träge hinabträufelten.

„Bravo“, sagte Sam. „Na, wie fühlen Sie sich jetzt?“

„Besser, Sir, ich glaube, besser“, antwortete Hiob.

„Na, selbstredend“, sagte Sam in beweisendem Ton. „Is ja doch, als wenn Gas in einen Luftballong reingelassen wird. Ich kann es mit bloßem Auge sehen, daß Sie schon dicker werden. Was würden Sie zu ’ner zweiten Dosis sagen, ebenso kräftig wie die erste?“

„Ich möchte lieber nicht; ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir“, erwiderte Hiob, „aber ich möchte lieber nicht.“

„Na, meinetwegen“, brummte Sam. „Aber was zwischen die Zähne; was würden Sie davon halten?“

„Dank sei Ihrem guten Herrn, Sir“, antwortete Mr. Trotter, „wir haben heute um drei viertel auf drei eine gebackene Hammelkeule mit Kartoffeln gehabt.“

„Was? Hat er für Sie gesorgt?“ fragte Sam erschüttert.

„Ja, Sir, und noch mehr als das, Mr. Weller. Da mein Herr sehr krank war, hat er ein Zimmer für uns gemietet – wir bewohnten vorher ein wahres Hundeloch – und es bezahlt, Sir; auch ist er bei Nacht zu uns gekommen, damit es niemand erfahren sollte. Ja, Mr. Weller“, fügte Hiob, diesmal mit echten Tränen in den Augen, hinzu, „diesem Herrn könnte ich dienen, bis ich tot zu seinen Füßen niedersänke.“

„Das lassen Sie lieber, mein Freund“, verwies Sam, „kein Wort mehr davon.“

Hiob Trotter sah verwundert auf.

„Kein Wort mehr darüber, junger Mann, sage ich; kein anderer dient bei ihm als wie ich. Und weil wir gerade dabei sind, will ich Ihnen noch in ein Geheimnis einweihen“, fügte Sam hinzu und bezahlte das Bier. „Ich habe niemals gehört oder in Geschichtsbücher gelesen oder auf Gemälde was gesehen von irgendein Engel in eng anliegende Hosen und Gamaschen; nich mal in Komödien, soviel ich mir erinnere – allerdings mag das aus andere Gründe unterlassen worden sein; aber merken Sie es sich, Hiob Trotter, er is trotz alledem ein voll ausgebrüteter Engel, und ich möchte den Mann sehen, wo mir wagen würde zu erzählen, daß er einen besseren kennt.“

Sie fanden Mr. Pickwick auf dem Ballspielplatz, in einem sehr ernsthaften Gespräch mit Jingle begriffen. Er würdigte die buntscheckigen, hier versammelten Gruppen keines Blickes, obschon sie es wohl verdient hätten, daß man sie wenigstens aus Neugierde etwas näher ins Auge gefaßt hätte.

„Nun gut“, sagte er, als Sam und sein Begleiter näher kamen. „Wir werden sehen, wie es mit Ihrer Gesundheit wird, und wollen die Sache inzwischen genauer überlegen. Machen Sie mir einen Überschlag, sobald Sie sich stark genug fühlen; ich will dann darüber nachdenken und weiteres mit Ihnen besprechen. Jetzt gehen Sie auf Ihr Zimmer; Sie sind müde und dürfen nicht zu lange draußen bleiben.“

Ohne ein Wort zu sprechen, ohne einen Funken von seiner alten Lebhaftigkeit oder auch nur von der trübseligen Heiterkeit, die er angenommen hatte, als Mr. Pickwick zum erstenmal in seinem Elend auf ihn gestoßen, verbeugte sich Mr. Alfred Jingle tief, winkte Hiob, ihm noch nicht zu folgen, und schlich sich langsam hinweg.

„Eine kuriose Szene das, nicht wahr, Sam?“ sagte Mr. Pickwick, vergnügt um sich blickend.

„Ja, sehr kurios, Sir“, erwiderte Sam. „Die Wunder hören ja gar nich auf“, fügte er im Selbstgespräch hinzu. „Müßte mich sehr irren, wenn dieser Jingle da sich nich‘ mit dem Wasserkarrengeschäft abgibt.“

Überall schlenderten oder saßen in allen möglichen Stellungen gedankenlosen Nichtstuns eine Menge Schuldner herum, die größtenteils im Gefängnis den Tag zu erwarten hatten, wo ihr Prozeß vor dem Insolvenzgericht verhandelt werden sollte, während andere auf verschiedene Termine verwiesen waren. Einige waren schäbig gekleidet, andre herausgeputzt, die meisten schmutzig und nur wenige reinlich; alle aber hungerten, gingen müßig und schlichen ohne Zweck und Ziel herum wie die Tiere in einer Menagerie.

Schmutzige Weibsbilder mit abgetretenen Schuhen schlapften hin und wieder nach der Küche, die sich in einem Winkel des Ballplatzes befand, Kinder schrien, balgten sich herum und spielten miteinander; das Gerassel fallender Kegel, das Geschrei der Spielenden vermischten sich unaufhörlich mit diesen und hundert andern Tönen – nichts als Getöse und Getümmel ringsumher. Stille herrschte nur in dem kleinen, elenden Schuppen wenige Schritte davon, in dem starr und fahl der Leib des in der vorigen Nacht gestorbenen Kanzleigefangenen lag und das Possenspiel einer Totenschau erwartete. – Der Leib! So lautet der gerichtlich-gesetzliche Ausdruck für die ruhelos wirbelnde Masse von Sorgen und Ängsten, Gemütsbewegungen, Hoffnungen und Kümmernissen, die den lebenden Menschen ausmachen. Dem Gesetz war sein Leib verfallen, und da lag er, ins Grabtuch gehüllt, ein schauderhafter Zeuge für zärtlich-mitleidsvolle Fürsorge.

„Möchten Sie einen Pfeif-Laden sehen, Sir?“ fragte Hiob Trotter.

„Was meinen Sie damit?“ entgegnete Mr. Pickwick.

„Na, ’nen Feifladen, Sir“, warf Mr. Weller ein.

„Was ist denn das, Sam? Eine Vogelhandlung?“ erkundigte sich Mr. Pickwick.

„Himmel! Nein, Sir“, belehrte ihn Hiob und erklärte weiter, daß es bei schwerer Strafe verboten war, Branntwein in die Schuldgefängnisse einzuführen; bei der allgemeinen Beliebtheit, deren sich dieser Herzenstrost jedoch bei den inhaftierten Damen und Herren erfreute, hätte ein weitblickender Schließer den Einfall gehabt, bestimmten Gefangenen gegen entsprechende Beweise ihrer Erkenntlichkeit zu gestatten, diese beliebte Ware zu verhökern. „Dieses Geschäftsgebaren hat sich, wie Sie sehen, Sir, nach und nach in allen Schuldgefängnissen durchgesetzt“, schloß Mr. Trotter.

„Und das is ebend der große Vorteil dabei“, bemerkte Sam, „daß die Schließer jeden am Kragen packen, der wo dieses Laster frönen tut, bloß die nich, wo bar bezahlen, und denn kommt es in die Zeitung, wie wachsam sie sind. Auf die Art klatschen sie zwei Fliegen mit einer Klappe: sie scheuchen andere Leute vom Geschäft weg und verbessern ihr eigenes Ansehen.“

„Nun ja; aber werden denn diese Räumlichkeiten niemals revidiert?“ erkundigte sich Mr. Pickwick.

„Aber natürlich werden sie, Sir“, erwiderte Sam, „aber die Bullen wissen es doch vorher, und denn geben sie den Pfeifern einen Wink, na, und denn können Sie mal nachsehen; da is denn was gepfiffen drauf.“

Unterdessen hatte Hiob an eine Tür geklopft, die von einem Herrn mit ungekämmtem Haar geöffnet und nach ihrem Eintritt verriegelt worden war. Sodann grinsten Hiob und Sam einträchtig, worauf Mr. Pickwick in der Annahme, man erwarte das auch von ihm, gleichfalls ein Lächeln aufsetzte.

Der Herr mit dem strubbligen Kopf schien mit diesem zarten geschäftlichen Hinweis völlig zufrieden zu sein, denn er praktizierte eine flache Kruke unter seiner Lagerstatt hervor und füllte drei Gläser mit Gin.

„Noch einen?“ fragte der Pfeifer.

„Keinen mehr“, antwortete Trotter.

Mr. Pickwick bezahlte, die Tür wurde wieder geöffnet, und sie traten hinaus. Im gleichen Augenblick kam zufällig Mr. Roker vorbei. Der ungekämmte Herr gönnte ihm ein wohlwollendes Kopfnicken.

Mr. Pickwick durchwanderte noch sämtliche Galerien, ging alle Treppen auf und ab und machte noch einmal die Runde um den ganzen Hofraum. Die große Masse der Bevölkerung des Gefängnisses schien dem Schlage der Mivins oder Smangle, des Kaplans, des Metzgers oder des Roßkamms anzugehören. In allen Winkeln, den besten wie den schlechtesten, derselbe Schmutz, dasselbe Getümmel und Getöse, dieselben charakteristischen Merkmale. Auf dem ganzen Platz ein ruhelos-verworrenes Treiben; die Menschen drängten und wälzten sich hin und her, gleich den Schatten in einem unbehaglichen Traum.

„Jetzt habe ich genug gesehen“, seufzte Mr. Pickwick, als er sich in seinem kleinen Zimmer in einen Stuhl warf. „Der Kopf tut mir weh von all diesen Szenen, und das Herz nicht minder. Ich will hinfort auf meinem eigenen Stübchen Gefangener bleiben.“

Und standhaft beharrte er auf diesem Beschlüsse. Drei lange Monate blieb er den ganzen Tag eingeschlossen und stahl sich bloß bei Nacht, wenn der größere Teil seiner Mitgefangenen im Bett war oder auf seinen Zimmern zechte, hinaus, um frische Luft zu schöpfen. Seine Gesundheit begann infolge dieses selbstauferlegten strengen Gewahrsams sichtbar zu leiden; allein weder die vielfach wiederholten Bitten Perkers und seiner Freunde noch die weit häufigeren Warnungen und Mahnungen Mr. Samuel Wellers konnten ihn dazu bringen, auch nur ein Jota an seinem unbeugsamen Entschluß zu ändern.

Vierundvierzigstes Kapitel


Vierundvierzigstes Kapitel

Ein erschütternder, wenn auch nicht unlustiger Vorfall, herbeigeführt durch die Umsicht der Herren Dodson und Fogg.

Es war in der letzten Woche des Monats Juli, als eine Droschke, jedoch eine umnumerierte, in raschem Trab die Goswellstreet hinauffuhr. Drei Personen waren hineingepreßt – den Kutscher nicht eingerechnet, der natürlich seinen engen kleinen Außensitz auf der Seite innehatte –, zwei kleine, kampflustig aussehende Damen, und zwischen ihnen eingezwängt, auf einen äußerst kleinen Raum beschränkt, ein Gentleman von linkischem, unterwürfigem Benehmen, der jedesmal, wenn er eine Bemerkung wagte, von einer der kampflustigen Damen barsch angelassen wurde. „An dem Haus mit der grünen Tür halten Sie an, Schwager“, rief der schüchterne Gentleman.

„Ach was, du verdrehtes Geschöpf!“ keifte die eine der streitsüchtigen Damen. „Nein, an dem Haus mit der gelben Tür, Kutscher!“

„Na, wo soll ich denn nu eigentlich anhalten?“ fragte der Rosselenker. „Machen Sie es unter sich aus. Ich frage bloß, wo?“

Als die Droschke endlich in vollem Glanz vor dem Haus mit der gelben Tür vorfuhr, wobei sie, wie eine der Damen triumphierend bemerkte, „mehr Lärm machte, als wenn einer in seinem eigenen Wagen ankommt“, und der Kutscher abgestiegen war, um den Fahrgästen herauszuhelfen, schob sich der kleine Rundkopf Master Thomas Bardells zum Fenster eines Hauses mit einer roten Tür, wenige Nummern weiter, heraus.

„Eine ärgerliche Geschichte“, sagte die letzterwähnte keifende Dame mit einem vernichtenden Blick auf den linkischen Gentleman.

„Ich bin unschuldig, liebe Frau“, beteuerte der Gentleman bekniffen.

„Schweig, Schafskopf!“ herrschte ihn die Dame an. „Das Haus mit der roten Tür, Kutscher! Wenn je eine Frau sich mit einem boshaften Taugenichts angeschmiert hat, der seinen Stolz und sein Vergnügen darin sucht, sie bei jeder möglichen Gelegenheit vor Fremden zu blamieren, so bin ich’s!“

„Sie sollten sich schämen, Raddle“, ermahnte die andre Dame, die niemand anders war als Mrs. Cluppins.

„Was hab ich denn getan?“ jammerte Mr. Raddle.

„Sprich nicht mit mir, Scheusal; ich könnte sonst mein Geschlecht vergessen und dir eine runterhauen“, tobte Mrs. Raddle.

Der Wagen hielt jetzt endgültig.

„Nun, Tommy“, wandte sich Mrs. Cluppins an Master Bardell, „wie geht’s deiner lieben, armen Mutter?“

„Oh, sehr gut“, erwiderte Master Bardell, „sie is im Vorderzimmer; alles bereit. Ich bin auch bereit.“

Dabei steckte Master Bardell die Hände in die Taschen und hüpfte auf der untersten Stufe der Vortreppe auf und nieder.

„Sonst noch jemand da, Tommy“, verhörte Mrs. Cluppins und ordnete ihren Mantel.

„Mrs. Sanders“, erwiderte Tommy. „Und ich.“

„Der Mistbub!“ sagte die kleine Mrs. Cluppins. „Er denkt an nichts als an sich selbst. Komm her, lieber Tommy!“

„Na, und“, sagte Master Bardell.

„Wer sonst noch, mein Lieber?“ fuhr Mrs. Cluppins schmeichelnd zu fragen fort.

„Mrs. Rogers auch“, gestand Master Bardell, die Augen weit aufreißend, als er mit dieser Entdeckung herausrückte.

„Wie? Die Dame, die bei euch wohnt?“

Master Bardell steckte seine Hände noch tiefer in die Taschen und nickte genau fünfunddreißigmal, um anzudeuten, daß es wirklich diese Dame und keine andre sei.

„Wahrhaftig“, rief Mrs. Cluppins, „das ist ja eine feine Gesellschaft!“

„Ja, und wenn Sie wüßten, was wir in der Speisekammer haben, dann würden Sie das erst recht sagen“, versetzte Master Bardell.

„Was denn, Tommy?“ forschte Mrs. Cluppins liebkosend „Nicht wahr, mir sagst du’s doch, Tommy?“

„Nein, nein“, erwiderte Master Bardell, schüttelte den Kopf und hüpfte wieder auf der Türschwelle auf und ab. „Die Mutter hat gesagt, ich darf nicht. Ich krieg auch was davon.“ Und voll Freude über diese Aussichten machte sich das kluge Kind lebhaft wieder an seine Tretmühle. Während dieses Verhörs mit dem Kleinen hatten Mr. und Mrs. Raddle mit dem Kutscher einen Streit wegen des Fuhrlohns, und als der Sieg sich für den letzteren entschied, wankte Mrs. Raddle die Treppe hinauf.

„Aber, Marianne! Was ist denn geschehen?“ rief Mrs. Cluppins.

„Mir zittern die Knie vor Aufregung, Betty“, stöhnte Mrs. Raddle. „Raddle ist doch gar kein Mann; alles überläßt er mir.“

Das war nicht edel an dem unglücklichen Mr. Raddle gehandelt, der doch bei Beginn des Streits von seiner sanften Ehehälfte zur Seite gestoßen worden war und den peremtorischen Befehl erhalten hatte, den Mund zu halten. Gleichwohl war ihm keine Gelegenheit vergönnt, sich zu verteidigen, denn an Mrs. Raddle zeigten sich unzweideutige Symptome einer nahenden Ohnmacht, und als Mrs. Bardell, Mrs. Sanders, die neue Mieterin, und ihre Magd vom Zimmerfenster aus dies bemerkten, stürzten sie wie die Geier hinab und führten sie ins Haus, alle zugleich auf sie einsprechend und voll rührenden Mitgefühls.

„Ach, das arme Ding!“ jammerte Mrs. Rogers. „Ich kann mir nur zu gut denken, wie es ihr zumute sein mag.“

„Das arme Ding! Ja, ich kann mir’s auch denken“, stimmte Mrs. Sanders ein.

„Aber was hat’s denn gegeben?“ fragte Mrs. Bardell.

„Ja, was hat Sie so angegriffen, Ma’am?“ fragte Mrs. Rogers.

„Ach, ich bin abscheulich mißhandelt worden“, jammerte Mrs. Raddle, und sämtliche Damen warfen entrüstete Blicke auf Mr. Raddle.

„Die Sache ist die…“, wollte der unglückliche Ehegatte erklären.

„Sie würden besser daran tun, sie ganz uns zu überlassen, Raddle“, unterbrach ihn Mrs. Cluppins. „So lange Sie da sind, wird es ihr nicht besser.“

Sämtliche Damen stimmten dieser Ansicht natürlich bei. Mr. Raddle wurde aus dem Zimmer getrieben und angewiesen, sich im hintern Hofraum zu ergehen, was er auch etwa eine Viertelstunde getan hatte, als Mrs. Bardell ihm mit ernster Miene ankündigte, er könne jetzt kommen, müsse aber im Benehmen gegen seine Frau die äußerste Rücksicht beobachten. Sie wisse, daß er es nicht böse meine, aber Marianne sei eine gar zarte Natur, und wenn er sie nicht aufs sorgsamste behandle, so könne er sie verlieren, wenn er am wenigsten daran denke.

Mr. Raddle hörte dies alles mit großer Unterwürfigkeit an und kehrte, gebändigt und fromm wie ein Lamm, sogleich ins Zimmer zurück. „Nun, Mrs. Rogers“, begann Mrs. Bardell, „Sie sind, glaube ich, noch gar nicht vorgestellt worden. – Mr. Raddle, Ma’am; Mrs. Cluppins, Ma’am; Mrs. Raddle, Ma’am.“

„Mrs. Cluppins‘ Schwester“, fügte Mrs. Sanders erläuternd hinzu.

„Freut mich“, sagte Mrs. Rogers gnädig – sie war nämlich Mieterin und durfte sich daher erlauben, herablassend zu sein. „Ah, freut mich.“

Mrs. Raddle lächelte süß, Mr. Raddle verbeugte sich, und Mrs. Cluppins sagte, sie schätze sich äußerst glücklich, die Bekanntschaft einer Dame wie Mrs. Rogers zu machen, von der sie schon soviel Vorteilhaftes gehört habe – ein Kompliment, das die Dame mit Huld entgegennahm.

„Nun, Mr. Raddle“, nahm Mrs. Bardell das Wort, „Sie werden sich gewiß hochgeehrt fühlen, daß Sie und Tommy die einzigen Herren sind, die so viele Damen auf dem Weg nach dem Spanischen Garten in Hampstead begleiten dürfen. Nicht wahr, Mrs. Rogers?“

„Oh, selbstverständlich, Ma’am“, rief Mr. Raddle, sich die Hände reibend und eine leise Neigung verratend, ein bißchen lustig zu werden. „In der Tat, um die Wahrheit zu gestehen, ich sagte, als wir in der Droschke …“

Bei Wiederholung dieses Wortes, das so viele schmerzhafte Erinnerungen wecken mußte, drückte Mrs. Raddle ihr Taschentuch aufs neue an die Augen und stieß einen halbunterdrückten Schrei aus, so daß Mrs. Bardell Mr. Raddle mit finsterem Stirnrunzeln zu erkennen gab, er würde besser tun, zu schweigen, und dem Mädchen der Mrs. Rogers einen Wink erteilte, den Wein zu bringen.

Das war das Signal zur Enthüllung der in der Speisekammer verborgenen Schätze, die aus verschiedenen Platten Apfelsinen und Biskuit bestanden, nebst einer Flasche alten Portwein – zu einem Schilling und neun Pence – und einer andern von dem berühmten ostindischen Sherry zu vierzehn Pence. Nachdem Mrs. Cluppins noch einen großen Schrecken ausgestanden hatte durch einen Versuch Tommys, auszuplaudern, wie sie ihn über den Inhalt der Speisekammer hatte ausfragen wollen – ein Versuch, der zum Glück daran scheiterte, daß der liebe Junge sich bei dem alten Portwein verschluckte und beinah erstickte.

Endlich brach die Gesellschaft auf, um einen Landauer nach Hampstead zu nehmen. Ein paar Stunden später langten alle wohlbehalten im Spanischen Teegarten an, und des unglücklichen Mr. Raddles erster Fehlgriff, der seiner Gemahlin beinahe einen Rückfall zuzog, war, sieben Portionen Tee zu bestellen, wo doch, wie die Damen alle einstimmig bemerkten, nichts leichter gewesen wäre, als Tommy aus irgendeiner andern beliebigen Tasse mittrinken zu lassen, wenn der Kellner gerade weggesehen hätte.

Indessen ließ sich die Sache nun einmal nicht mehr ändern; das Teebrett kam mit sieben Ober- und sieben Untertassen und ebenso vielen Portionen Brot und Butter. Mrs. Bardell wurde einstimmig zur Präsidentin ernannt, Mrs. Rogers goß sich zu ihrer Rechten, Mrs. Raddle zu ihrer Linken hin, und der Schmaus ging mit großer Fröhlichkeit vor sich.

„Wie herrlich es doch auf dem Lande ist!“ seufzte Mrs. Rogers. „Ich möchte das ganze Jahr da leben.“

„Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein, Ma’am“, fiel Mrs. Bardell schnell ein; denn aus Rücksicht auf ihre zu vermietenden Wohnräume war es durchaus nicht ratsam, solche Ansichten zu unterstützen. „Es würde Ihnen sicher nicht gefallen, Ma’am.“

„Meiner Ansicht nach“, bekräftigte die kleine Mrs. Cluppins, „sind Sie viel zu lebhaft und umworben, um gerne auf dem Lande zu wohnen, Ma’am.“

„Ja, das mag sein, Ma’am, das mag sein“, seufzte die Bewohnerin des ersten Stocks.

„Für einsame Leute, wo niemand haben, der für sie sorgt oder für den sie selbst sorgen müssen, oder die gemütskrank sind oder so“, bemerkte Mr. Raddle, mit krampfhafter Lustigkeit um sich blickend, „für solche Leute ist das Landleben ganz gut. Das Land ist für ein verwundetes Herz, pflegt man zu sagen.“

Der Unglückliche hätte alles in der Welt zur Sprache bringen können, nur gerade das nicht. Mrs. Bardell brach prompt in Tränen aus und bat, man möge sie augenblicklich vom Tisch wegführen, worauf ihr süßer Sprößling jämmerlich zu schreien begann.

„Sollte man es glauben, Ma’am“, wandte sich Mrs. Raddle ingrimmig an die Mieterin des ersten Stockes, „sollte man es glauben, daß man einen so rohen Menschen zum Mann haben kann, der imstande ist, den ganzen Tag mit den Gefühlen des weiblichen Herzens Spott zu treiben?“

„Aber, meine liebe Frau“, stammelte Mr. Raddle. „Ich habe es doch nicht bös gemeint!“

„Nicht bös gemeint!“ wiederholte Mrs. Raddle mit unaussprechlicher Verachtung. „Geh mir aus den Augen, ich kann dich nicht mehr ansehen, du Scheusal.“

„Sie dürfen sich nicht so aufregen, Marianne!“ mahnte Mrs. Cluppins. „Sie sollten wirklich auf sich selbst mehr Rücksicht nehmen. – Gehen Sie jetzt, Raddle, Sie machen der Ärmsten immer Kummer.“

„Sie hätten besser daran getan, Sir, Ihren Tee für sich allein zu trinken“, schloß sich Mrs. Rogers an, die dampfende Kanne aufs neue handhabend.

Mrs. Sanders, ihrer Gewohnheit gemäß mit dem Butterbrot beschäftigt, drückte dieselbe Ansicht aus, und Mr. Raddle zog sich demgemäß in die Einsamkeit zurück.

Es dauerte nicht lange, da kam Mrs. Bardell wieder zu sich, stellte Tommy wieder auf den Boden, wunderte sich, daß sie habe so närrisch sein können, und schenkte sich wieder Tee ein. In diesem Augenblick vernahm man das Gerassel herannahender Räder. Die Damen blickten auf und sahen eine Droschke am Gartentor halten.

„Da kommt noch mehr Gesellschaft“, rief Mrs. Sanders neugierig.

„Es ist ein Herr“, bemerkte Mrs. Raddle.

„Aber das ist doch bestimmt Mr. Jackson, der junge Schreiber von Dodson und Fogg!“ rief Mrs. Bardell. „Himmel noch mal! Sicher hat Mr. Pickwick die Entschädigung gezahlt.“

„Oder er will Sie jetzt heiraten?“ riet Mrs. Cluppins.

„Himmel, wie langsam der Herr ist!“ rief Mrs. Rogers. „Warum tummelt er sich denn nicht?“

Gerade während sie diese Worte sprach, wandte sich Mr. Jackson, nachdem er einige Bemerkungen an einen schäbig gekleideten Mann in schwarzen Hosen gerichtet hatte, der soeben mit einem dicken Eschenstab in der Hand aus dem Wagen aufgetaucht war, um und ging, die Haare unter den Rand seines Hutes streichend, direkt auf die Damen zu.

„Was gibt’s. Is was Neues vorgefallen?“ rief ihm Mrs. Bardell voll Eifer entgegen.

„Ganz und gar nichts, Ma’am“, erwiderte Mr. Jackson. „Wie befinden Sie sich, meine Damen? Ich muß um Verzeihung bitten, wenn ich ungelegen komme; aber das Geschäft, meine Damen, das Geschäft!“

Mr. Jackson lächelte, verbeugte sich und strich sein Haar abermals hinauf. Mrs. Rogers flüsterte Mrs. Raddle zu, er sei wirklich ein scharmanter junger Mann.

„Ich war in der Goswellstreet“, fuhr Jackson fort, „und da ich von dem Dienstmädchen hörte, daß Sie hier seien, nahm ich mir sogleich eine Droschke und fuhr Ihnen nach. Meine Prinzipale bedürfen Ihrer sogleich in der Stadt, Madam.“

„Um Gottes willen!“ rief Mrs. Bardell, ganz erschrocken über diese plötzliche Mitteilung.

„Jaja“, sagte Jackson und biß sich in die Lippen, „es ist eine sehr dringende Sache, die keine Umstände duldet. Dodson hat es mir ausdrücklich eingeschärft, und Fogg ebenfalls. Ich habe die Droschke eigens deswegen genommen, um Sie nach London zurückzufahren.“

„Seltsam!“ rief Mrs. Bardell.

Die Damen erklärten es ebenfalls für sehr seltsam, sprachen aber einstimmig ihre Ansicht dahin aus, die Sache müsse von großer Wichtigkeit sein, sonst würden Dodson und Fogg nicht nach ihr geschickt haben, und wegen dieser Dringlichkeit des Geschäfts solle sie sich nur unverzüglich in die Kanzlei begeben.

Es war Mrs. Bardell keineswegs unlieb, daß ihre Rechtsfreunde so erschrecklich dringend nach ihr verlangten, denn sie glaubte dadurch sowohl überhaupt als namentlich auch in den Augen der Bewohnerin ihres ersten Stocks bedeutend an Wichtigkeit zu gewinnen, ein Gedanke, der ihrer Eitelkeit nicht wenig schmeichelte. Sie zierte sich ein bißchen, stellte sich, als ob es ihr höchst unangenehm sei und sie sich nicht entschließen könne, kam aber doch zuletzt zu dem Schluß, sie glaube, gehen zu müssen.

„Aber wollen Sie nach Ihrer Fahrt nicht eine kleine Erfrischung einnehmen, Mr. Jackson?“ drängte sie.

„Danke vielmals, habe wirklich keine Zeit zu verlieren. Auch habe ich einen Freund bei mir“, erwiderte Jackson und blickte nach dem Mann mit dem Eschenstab.

„So bitten Sie doch Ihren Freund, hierherzukommen, Sir“, schlug Mrs. Bardell vor.

„Nein – wirklich – ich danke“, lehnte Mr. Jackson verlegen ab. „Er ist an Damengesellschaft nicht gewöhnt und ein bißchen blöde. Aber wollen wir nicht lieber aufbrechen?“

Mrs. Sanders und Mrs. Cluppins beschlossen sofort, Mrs. Bardell und Tommy zu begleiten und die übrigen dem Schutz Mr. Raddles zu überlassen, und verfügten sich zu dem Wagen.

„Isaak“, sagte Jackson, als Mrs. Bardell sich anschickte, einzusteigen, und blickte dabei den Mann mit dem Eschenstab eigentümlich an, der auf dem Bock saß und eine Zigarre rauchte.

„Sir?“

Dies ist Mrs. Bardell!“

„Weiß ich schon lange“, meinte der Mann.

Mrs. Bardell stieg ein, die Damen, Mr. Jackson und Tommy gleichfalls, und fort ging’s. Mrs. Bardell konnte dabei nicht umhin, sich allerhand Gedanken darüber zu machen, wer Mr. Jacksons Freund wohl sein könne.

„Eine verdrießliche Sache das mit den Prozeßkosten“, begann Jackson, als Mrs. Cluppins und Mrs. Sanders eingenickt waren. „Die Kosten für Ihren Prozeß, meine ich.“

„Ach, das ist mir ja so peinlich, daß sie nicht drankommen können“, versetzte Mrs. Bardell. „Aber wenn ihr juristischen Herren solche Sachen auf Spekulation macht, dann müßt ihr euch eben hin und wieder auch einen Verlust gefallen lassen.“

„Sie haben aber doch, soviel ich weiß, nach dem Prozeß ein Cognovit für die Kosten ausgestellt“, sagte Jackson.

„Ja, aber bloß der Form wegen.“

„Soso“, versetzte Jackson trocken, „der Form wegen! Soso!“

Sie fuhren weiter, und Mrs. Bardell nickte ebenfalls ein. Nach einiger Zeit wurde sie durch das Anhalten der Kutsche plötzlich aufgeweckt. „Heiliger Himmel!“ rief die Dame. „Sind wir denn schon da?“

„Wir fahren nicht ganz so weit“, erwiderte Jackson. „Haben Sie nur die Güte, auszusteigen.“

Mrs. Bardell gehorchte schlaftrunken. Es war ein sonderbarer Platz; eine große Mauer, mit einem Tor in der Mitte, und innen brannte ein Gaslicht.

„Nun, meine Damen“, rief der Mann mit dem Eschenstab in die Kutsche hinein und rüttelte Mrs. Sanders aus dem Schlaf, „kommen Sie!“

Mrs. Sanders weckte ihre Freundin und stieg aus. Mrs. Bardell war, an Jacksons Arm und Tommy bei der Hand führend, bereits zum Portal gegangen. Die übrigen folgten ihnen.

Der Raum, in den sie jetzt traten, sah noch weit sonderbarer aus als der Eingang. Warum standen so viele Leute herum und starrten sie so an!? „Wo sind wir denn?“ fragte Mrs. Bardell und blieb er1 staunt stehen.

„Bloß in einem unsrer öffentlichen Büros“, erwiderte Jackson, drängte sie schnell über die Schwelle und blickte zurück, ob die übrigen Damen nachfolgten.

„Geben Sie wohl acht, Isaak!“

„Machen Sie sich man keine Sorgen“, erwiderte der Mann mit dem Eschenstab. Die Türe wurde rasch zugeschlagen, und alle stiegen eine kleine Treppe hinab.

„So, jetzt wären wir da. Es ist alles nach Wunsch gegangen, Mrs. Bardell“, sagte Jackson voll Triumph.

„Was meinen Sie damit?“ fragte Mrs. Bardell ängstlich.

„Nichts Besonderes“, erwiderte Jackson und zog sie ein bißchen beiseite. „Erschrecken Sie nicht, Mrs. Bardell. Es gibt keinen zartfühlenderen Mann als Dodson und keinen billigdenkenderen als Fogg. Als Geschäftsleute hatten sie ihre Pflicht, Sie wegen der Kosten pfänden zu lassen; aber sie wollten dabei um jeden Preis Ihre Gefühle möglichst schonen. Es muß doch tröstlich für Sie sein, daß es so glatt gegangen ist! Wir sind in der Fleet, Ma’am. Wünsche Ihnen gute Nacht, Mrs. Bardell. – Gute Nacht, Tommy.“

Da Jackson jetzt in Gesellschaft des Mannes mit dem Eschenstab davoneilte, führte ein andrer Mann, mit einem Schlüssel in der Hand, der bisher untätig zugesehen, die bestürzten Damen an eine zweite kleine Treppe, die zu einem Tor führte.

Mrs. Bardell schrie laut auf, Tommy heulte, Mrs. Cluppins schauerte zusammen, und Mrs. Sanders nahm ohne weiteres Reißaus, denn vor ihnen stand – ‚der schwer beleidigte Mr. Pickwick, eben auf seinem nächtlichen Spaziergang begriffen, und neben ihm lehnte Samuel Weller und zog, als er Mrs. Bardell erblickte, mit spöttischer Ehrerbietung den Hut, während sein Gebieter ihr unwillig den Rücken kehrte.

„Vexieren Sie die Frau nicht“, verwies der Schließer Mr. Weller, „sie is eben erseht ankommen.“

„Als Gefangene?“ fragte Sam und setzte schnell den Hut wieder auf. „Wer sind die Kläger? Warum? Sprich, alter Knabe!“

„Dodson und Fogg“, brummte der Mann. „Exekution wegen Prozeßkosten.“

„He, hallo, Hiob, Hiob!“ schrie Sam und stürzte in den Gang. „Laufen Sie so schnell Sie können zu Mr. Perker. Ich muß ihm sofort sprechen. Das kann was Feines werden. Ein Kapitalspaß! Hurra! Juchhe! Wo ist der Gouverneur?“

Aber alle diese Fragen blieben unbeantwortet; denn Hiob war gleich nach Empfang seines Auftrags wie toll davongerannt.

Mrs. Bardell aber war – diesmal im Ernst – in Ohnmacht gesunken.

Viertes Kapitel


Viertes Kapitel

Die Erzählung des wandernden Schauspielers.

„Es ist nichts Außerordentliches, Ja, nicht einmal etwas Ungewöhnliches an dem, was ich jetzt erzählen will“, begann der Trübsinnige. „Entbehrungen und Krankheit sind in manchen Lebenslagen etwas zu Alltägliches, um mehr Aufmerksamkeit zu verdienen, als den gewöhnlichsten Wechselfällen des menschlichen Lebens zuteil wird. Ich habe die folgenden kurzen Notizen gesammelt, weil ich den Mann, von dem ich rede, vor einigen Jahren sehr gut kannte. Ich war Augenzeuge, wie er immer tiefer und tiefer sank, bis er zuletzt jenen Abgrund von Elend erreichte, aus dem er sich nicht wieder erhob.

Der Mann, von dem ich erzähle, war ein kleiner Pantomimenschauspieler und, wie so viele seines Berufes, ein Gewohnheitstrinker. In seinen besseren Tagen, als er noch nicht durch Ausschweifungen herabgekommen und durch Krankheit geschwächt war, bezog er ein gutes Einkommen, das er bei einem geordneten Lebenswandel noch mehrere Jahre lang hätte beziehen können – wenn auch nicht viele –, denn solche Leute sterben entweder frühzeitig oder verlieren durch übermäßige Anstrengung die körperlichen Fähigkeiten bald, von denen allein ihr Erwerb abhängt. Seine Leidenschaft beherrschte ihn in einem Grade, daß er in kurzer Zeit fü die Rollen, in denen er etwas leisten konnte, unfähig wurde. Die Schenke übte einen Zauber auf ihn aus, dem er nicht widerstehen konnte. Vernachlässigte Krankheit. und hoffnungslose Armut mußten so sicher sein Los werden wie der Tod, wenn er bei seinem Laster beharrte Dennoch ließ er nicht davon, und die Folgen sind leicht zu erraten. Er konnte kein Engagement mehr finden und wurde brotlos.

Jeder, der nur einigermaßen mit dem Theaterleben bekannt ist, weiß, welche Menge armer Schlucker sich gewöhnlich im Troß einer größeren Bühne befindet – keine ordnungsgemäß angestellten Schauspieler, sondern Ballettvolk, Statisten, Hanswüste und so weiter, die fü eine bestimmte Pantomime oder Lokalposse, die gerade im Schwange ist, angenommen und dann wieder entlassen werden, bis wieder irgendein Zugstück gegeben wird, bei dem man ihrer Dienste aufs neue bedarf. Zu solchem Leben mußte der Mann seine Zuflucht nehmen. Er besorgte in kleinen Theatern das Stühlehinaustragen und erwarb sich dadurch einige Schillinge wöchentlich, die er seiner alten Leidenschaft opferte. Aber auch diese Erwerbsquelle versiegte bald. Seine Ausschweifungen verschlangen zuviel von seinen Einnahmen, um auch nur fü die geringsten Bedüfnisse etwas übrigzulassen, und er war nahe daran, zu verhungern. Er borgte bisweilen einem alten Bekannten eine Kleinigkeit ab oder trat auf irgendeinem Winkeltheater letzter Sorte auf; aber was er auch verdiente, wanderte denselben Weg.

So hatte er sich länger als ein Jahr herumgetrieben und durchgeschlagen, ohne daß man wußte, wie, als ich ihn auf einem der Theater an der Surreyseite des Flusses, wo ich gerade ein kurzes Engagement hatte, plötzlich wieder zu Gesicht bekam. Ich hatte ihn fü einige Zeit aus den Augen verloren, denn ich durchreiste das Land, während er sich in den Winkeln Londons herumtrieb. Er klopfte mir eines Abends auf die Schulter, als ich eben im Begriff war, das Theater zu verlassen, und über die Bühne ging. Nie werde ich den abschreckenden Anblick vergessen, der sich meinen Augen darbot, als ich mich umwandte. Er spielte eine kleine Rolle in einer Pantomime und stand in der ganzen Abgeschmacktheit eines Hanswurstanzuges vor mir. Die Gespenster im Totentanz, die grauenhaftesten Gestalten, die jemals der Pinsel des geschicktesten Malers auf die Leinwand zaubern könnte, waren nicht halb so entsetzlich anzusehen. Sein aufgedunsener Leib und seine hageren Beine, deren Mißgestalt durch die Narrenkleidung erst recht hervorgehoben wurde, die gläsernen Augen, die gegen das dick aufgetragene Weiß, womit sein Gesicht beschmiert war, füchterlich abstachen, der grotesk aufgeputzte, paralytisch zitternde Kopf und die langen, mit Kreide bemalten, fleischlosen Hände – alles gab ihm ein gräßliches, unnatüliches Aussehen, von dem man sich keine Vorstellung machen kann und an das ich mich bis auf diesen Tag nur mit Schaudern erinnere. Seine Stimme war hohl und bebte, als er mich beiseite nahm, mir in abgerißnen Worten ein langes und breites von Krankheit und Entbehrungen vorschwatzte und dann, wie gewöhnlich, mit der flehentlichen Bitte schloß, ihm eine Kleinigkeit vorzustrecken. Ich drückte ihm ein paar Schillinge in die Hand, und als ich mich umdrehte, hörte ich das schallende Gelächter, das sein Auftreten auf den Brettern hervorrief.

Wenige Tage später drückte mir abends ein Junge einen schmutzigen Papierfetzen in die Hand; darauf waren mit Bleistift einige Worte gekritzelt, aus denen hervorging, daß der Mann schwerkrank war und mich bat, ihn nach der Vorstellung in seiner Behausung aufzusuchen, die irgendwo in der Nähe des Theaters lag; mir fällt im Augenblick nicht der Straßenname ein. Jedenfalls versprach ich, sobald wie möglich zu kommen, und sobald der Vorhang unten war, trat ich meinen traurigen Weg an.

Es war spät, denn ich hatte im letzten Akt gespielt, und da es eine Benefiz gewesen, dauerte die Vorstellung ungewöhnlich lange. Es war eine finstere, traurige Nacht; ein naßkalter Wind trieb den Regen heftig gegen Fenster und Haustüen. Das Wasser hatte sich in den schmalen, wenig besuchten Gäßchen zu Pfützen angesammelt, und da das Ungestüm des Windes die wenigen Lampen, die hin und wieder angebracht waren, ausgelöscht hatte, war der Weg nicht nur sehr mühsam, sondern auch höchst unsicher. Doch hatte ich glücklicherweise die richtige Gasse gewählt und fand endlich nicht ohne Schwierigkeit das bezeichnete Haus – ein Kohlenmagazin, mit einem Stockwerk darüber, in dessen Hinterzimmer der Mann lag, dem mein Besuch galt.

Ein abgezehrt aussehendes Weib, die Frau des Unglücklichen, empfing mich auf der Treppe, führte mich mit den Worten, ihr Mann sei eben in eine Art Schlummer gefallen, leise in die Stube und stellte mir einen Stuhl vor das Bett. Der Kranke hatte das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und da er meinen Eintritt nicht gewahr wurde, so blieb mir Muße, das Zimmer zu betrachten, in dem ich mich befand.

Er lag in einem alten Bettgestell, das den Tag über zusammengeklappt werden konnte. Die zerlumpten Überreste eines buntscheckigen Vorhanges umschlossen den oberen Teil des Bettes, um den Wind abzuhalten, der das unbehagliche Gemach frei durchstrich, indem er durch die zahlreichen Spalten der Tü eindrang und die Lappen fortwährend hin und her bewegte. In einem rostigen, freistehenden Becken glomm ein mattes Kohlenfeuer, und davor stand ein alter, dreieckiger, schmieriger Tisch mit Arzneifläschchen, einem zerbrochenen Glas und einigen andern Gegenständen. In einem Bett auf dem Boden schlief ein kleines Kind, und neben ihm saß die Frau auf einem Stuhl. Auf zwei Simsbrettern an der Wand standen einige Schüsseln, Teller und Tassen, und darunter hingen ein Paar Bühnenschuhe und zwei Rapiere. Außer einigen Bündeln alter Lumpen, die unordentlich in den Winkeln lagen, war nichts im Zimmer zu erblicken.

Ich hatte Zeit gehabt, dies alles mit den Blicken zu überfliegen und die schweren Atemzüge und fieberischen Zuckungen des Kranken zu beobachten, ehe dieser meine Gegenwart gewahr wurde. Bei den unaufhörlichen Versuchen, seinen Kopf in eine bessere Lage zu bringen, streckte er seine Hand aus dem Bett und bekam die meinige zu fassen. Er schrak empor und starrte mir ins Gesicht.

,Mr. Hutley, John‘, sagte sein Weib, ,Mr. Hutley, nach dem du diesen Abend geschickt hast – du weißt.‘

,Ah!‘ rief der Kranke und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. ,Hutley – Hutley – wart einmal.‘ Er schien seine Gedanken sammeln zu wollen, dann faßte er mich heftig beim Handgelenk und sagte: ,Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht, alter Freund. Sie will mich ermorden, ich weiß, sie will mich umbringen.‘

,Liegt er schon lange so da?‘, fragte ich sein weinendes Weib.

,Seit gestern abend‘, antwortete sie. ,John, John, kennst du mich denn nicht?‘

,Laß sie nicht zu mir‘, sagte der Mann mit einem Schauder, als sie sich über ihn beugte. Jag sie fort! Ich kann ihre Nähe nicht vertragen.‘ Er starrte sie wild und mit einem Blicke voll Todesangst an und flüsterte mir dann ins Ohr: ,Ich hab sie geschlagen, Jem, ja, ich hab sie geschlagen, gestern, und so manches Mal. Ich hab sie dem Hungertode preisgegeben, und das Kind auch, und jetzt, wo ich schwach und hilflos bin, will sie mich dafü ermorden; ich weiß es. Hättest du ihr Jammergeschrei gehört wie ich, du wüßtest es auch. Halte sie fern.‘ Er ließ meine Hand los und sank erschöpft auf das Kissen zurück.

Ich verstand nur zu gut, was das alles zu bedeuten hatte, Hätte ich einen Augenblick im Zweifel sein können, so wüde mich ein Blick auf. das blasse Gesicht und die abgezehrte Gestalt des Weibes hinlänglich von der Sachlage unterrichtet haben. ,Ziehen Sie sich lieber zurück‘, sagte ich zu der ärmsten. ,Sie können doch nichts fü ihn tun. Vielleicht wird er ruhiger werden, wenn er Sie nicht mehr sieht.‘ Sie ging ihrem Manne aus den Augen. Er öffnete nach wenigen Sekunden seine Lider und sah sich ängstlich um.

,Ist sie fort?‘

,Ja, ja‘, antwortete ich. ,Sie wird dir nichts zuleide tun.‘

,Ich will dir was sagen, Jem‘, flüsterte er voll Furcht, ,sie trachtet mir nach dem Leben. Etwas in ihren Augen bringt eine so füchterliche Angst in mir hervor, daß es mich wahnsinnig macht. Die ganze Nacht über habe ich ihre großen stieren Augen und ihr bleiches Gesicht dicht über mir gesehen. Wohin ich mich wandte, da waren sie, und so oft ich aus dem Schlafe auffuhr, stand sie neben meinem Bette und starrte mich an.‘ Er zog mich näher zu sich und flüsterte aufgeregt und bebend vor Todesangst: ,Jem, sie muß ein böser Geist sein, ein Teufel! Hu! Ich weiß es, sie ist’s. Wäre sie ein Weib, so müßte sie schon lange tot sein. Ein Weib kann nicht tragen, was sie getragen hat.‘

Ich schauderte bei dem Gedanken an die lange Reihe von Grausamkeiten und Mißhandlungen, die dem allem vorhergegangen sein mußten, um bei einem Menschen wie er einen solchen Eindruck zu hinterlassen. Ich wußte nichts zu erwidern, denn wer konnte dem Verworfenen, den ich vor mir hatte, Hoffnung oder Trost geben?

Ich saß über zwei Stunden bei ihm, während er, vor Schmerzen und Ungeduld ächzend, ruhelos seine Arme hin und her warf und sich immer wieder von einer Seite auf die andre wälzte. Endlich verfiel er in die Art bewußtlosen Halbschlummers, in dem der Geist unruhig von Vorstellung zu Vorstellung, von Ort zu Ort wandert, ohne die leitende Hand der Vernunft und ohne die Fähigkeit, sich von einem unbeschreiblichen Gefühle vorhandenen Leidens loszumachen. Da ich aus seinen Delirien entnahm, daß dies bei ihm der Fall und alle Wahrscheinlichkeit vorhanden war, das Fieber werde sich vorderhand nicht mehr steigern, so entfernte ich mich und versprach dem bedauernswerten Weibe, am nächsten Abend meinen Besuch zu wiederholen und nötigenfalls die Nacht über bei dem Kranken zu wachen.

Ich hielt mein Versprechen. Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten eine furchtbare Veränderung in dem Trunkenbold hervorgebracht. Seine Augen, obgleich tief eingefallen und schwer, leuchteten in einem schrecklichen Glanze. Die Lippen waren wie Pergament und an manchen Stellen aufgesprungen; die trockne, harte Haut fühlte sich glühend heiß an, und in seinem Gesicht lag ein beinahe unirdischer Ausdruck wilder Angst, der die Verheerungen der Krankheit noch stärker hervorhob. Das Fieber hatte seinen höchsten Grad erreicht.

Ich setzte mich wie am verflossenen Abend an sein Bett, und hier vernahm ich stundenlang Töne, die das gefühlloseste Herz tief hätten ergreifen müssen – die furchtbaren Phantasien eines Sterbenden. Wie ich vom Arzte vernommen, war keine Hoffnung mehr vorhanden. Ich saß an einem Sterbebette. Ich sah die abgezehrten Glieder, die er noch kurz zuvor zur Belustigung eines rohen Haufens verdreht, sich unter den Martern der Fieberglut krümmen – ich hörte das schrille Gelächter des Harlekins, gemischt mit dem leisen Röcheln des Sterbenden.

Es ist ergreifend, den Geist zu den gewöhnlichen Beschäftigungen der Tage der Gesundheit zurückwandern zu sehen, während der Körper schwach und hilflos daliegt; aber wenn diese Beschäftigungen der Art sind, daß sie Zuständen, die eine ernste und feierliche Stimmung in uns hervorrufen»geradezu entgegenlaufen, so geht dieser Eindruck noch unendlich tiefer.

Die Bühne und die Schenke waren die Hauptschauplätze, auf denen sich die Phantasie des irren Elenden erging. Es war gegen Abend, bildete er sich ein. Er mußte auftreten. Es war spät, und er durfte keinen Augenblick mehr säumen, Warum hielten sie ihn zurück und ließen ihn nicht gehen? – Seine Einnahme stand auf dem Spiel. – Er mußte gehen. Nein! Sie wollten ihn nicht fortlassen. Er barg sein Gesicht in seine glühenden Hände und beklagte seine Schwäche und die Grausamkeit seiner Widersacher. Eine kurze Pause. Dann keuchte er einige elende Reimereien hervor, die letzten, die er auswendig gelernt hatte. Er richtete sich im Bett auf, streckte seine abgezehrten Hände in die Höhe und wand sich in seltsamen Krümmungen hin und her: er spielte. – Er war auf der Bühne. Ein minutenlanges Stillschweigen, und er murmelte den Schlußreim eines Trinkliedes. Endlich war er wieder zu Hause: wie heiß war es im Zimmer! Er war krank gewesen, sehr krank, aber jetzt fühlte er sich wieder wohl und glücklich. – Einschenken! Einschenken! Wer schlägt ihm da das Glas vom Munde weg? Derselbe Feind, der ihn vorhin verfolgte. – Er fiel auf sein Kissen zurück und jammerte laut. Eine kurze Pause der Vergessenheit, und er wanderte durch ein nimmer endendes Labyrinth niederer, gewölbter Zimmer – so nieder bisweilen, daß er auf allen vieren fortkriechen mußte; es war eng und dunkel, und mit jeder Wendung des Weges stieß ihm ein neues Hindernis auf. Er sah Insekten, häßliches Gewüm, mit Augen, die ihn anstierten und den ganzen Raum anfüllten – füchterlich schimmernd durch die dichte Finsternis. Wände und Decke wimmelten von Ungeziefer, das Gewölbe dehnte sich ins ungeheure – füchterliche Gestalten schwebten auf und nieder, und unter ihnen bekannte Gesichter, gräßlich verzerrt. Sie brannten ihn mit glühenden Eisen und umschnüten seinen Kopf mit Stricken, bis das Blut herausspritzte.

Nach einem solchen Anfall, währenddessen ich ihn mit großer Mühe im Bett festhielt, sank er in eine Art von Schlummer. Von langem Wachen und von der Anstrengung überwältigt, waren mir fü einige Minuten die Augen zugefallen, als ich durch einen heftigen Schlag auf meine Schulter erwachte. Er hatte sich aufgerichtet und saß im Bett. – Eine füchterliche Veränderung war auf seinem Gesicht vorgegangen, aber das Bewußtsein war zurückgekehrt, denn er kannte mich augenscheinlich. Das Kind, das durch sein Irrereden lange Zeit eingeschüchtert gewesen, stand von seinem Bettchen auf und lief weinend zu seinem Vater. Die Mutter nahm es eilends auf den Arm, damit er ihm in der Raserei kein Leid zufüge, aber durch die Veränderung seiner Züge erschreckt, blieb sie regungslos stehen. Er krallte sich krampfhaft in meine Schulter ein und machte einen verzweifelten Versuch zu sprechen, während er sich mit der andern Hand vor die Brust schlug. Es war vergeblich. Er streckte die Hände gegen die Seinen aus und machte einen zweiten gewaltsamen Versuch zu sprechen. Noch ein Röcheln in der Kehle, ein Blitzen im Auge, ein kurzes ersticktes Stöhnen – und tot sank der Unglückliche auf das Kissen zurück. Vorbei.“

Herr Pickwick hatte sein Glas niedergesetzt, das er während des letzten Abschnittes der Erzählung in der Hand gehalten, und war eben im Begriffe, zu sprechen – hatte bereits, wie Mr. Snodgraß‘ Notizbuch besagt, den Mund geöffnet –, als der Kellner eintrat und „Einige Herren“ anmeldete.

Vermutlich stand Mr. Pickwick gerade im Begriff, einige Bemerkungen, die, wenn auch nicht das Themsegebiet, so doch die übrige Welt erleuchtet haben wüden, zum besten zu geben, als er auf diese Art unterbrochen wurde. Er starrte dem Kellner ins Gesicht und ließ dann seine Blicke fragend die Runde in der Gesellschaft machen, als wünschte er nähere Aufklärung, was das zu bedeuten habe.

„Oh!“ sagte Mr. Winkle aufstehend. „Einige Freunde von mir. Führen Sie die Herren herein. Sehr angenehme Leute“, fügte er hinzu, nachdem sich der Kellner entfernt hatte. „Offiziere, vom siebenundneunzigsten Regiment, deren Bekanntschaft ich diesen Morgen auf eine etwas seltsame Weise gemacht habe. Sie werden Ihnen sehr gefallen.“

Mr. Pickwicks Gleichmut war sofort wiederhergestellt. Der Kellner kehrte zurück und führte drei Herren ins Zimmer.

„Leutnant Tappleton“, stellte Mr. Winkle vor. „Leutnant Tappleton, Mr. Pickwick – Dr. Payne, Mr. Pickwick – Mr. Snodgraß, den Sie bereits kennen, mein Freund Mr. Tupman, Dr. Payne – Dr. Slammer, Mr. Pickwick – Mr. Tupman, Dr. Slam …“

Mr. Winkle hielt plötzlich inne, denn in den Mienen Mr. Tupmans und des Doktors malte sich eine seltsame Bewegung.

„Ich habe diesen Herrn schon einmal getroffen“, sagte der Doktor mit starker Betonung.

„Wirklich?“ versetzte Mr. Winkle.

„Und – und diesen Menschen auch, wenn ich mich nicht irre“, sagte der Doktor, einen prüfenden Blick auf den grüngekleideten Fremden werfend. „Ich glaube, ich ließ an ihn gestern abend eine dringende Einladung ergehen, die er jedoch ablehnen zu müssen vermeinte.“

Bei diesen Worten warf der Doktor einen verächtlichen Blick auf den Fremden und flüsterte seinem Freund Leutnant Tappleton etwas ins Ohr.

„Wahrhaftig?“ fragte dieser, nachdem er das Geflüster endlich verstanden.

„Wahrhaftig“, versicherte Dr. Slammer.

„Sie müssen ihm auf der Stelle einen Fußtritt geben“, murmelte der Eigentümer des Feldstuhles mit großer Wichtigkeit.

„Seien Sie ruhig, Payne“, vermittelte der Leutnant. „Erlauben Sie mir gütigst die Frage, mein Herr“, sagte er, sich an Mr. Pickwick wendend, der ob dieses höchst unhöflichen Zwischenspiels äußerst indigniert dreinsah, „wollen Sie mir gütigst die Frage erlauben, mein Herr, ob dieser Mensch zu Ihrer Gesellschaft gehört?“

„Nein, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick. „Er ist unser Gast.“

„Er ist ein Mitglied Ihres Klubs, oder irre ich mich?“

„Nein, gewiß nicht“, antwortete Mr. Pickwick.

„Und trägt er nie Ihre Klubknöpfe?“ fragte der Leutnant weiter.

„Nein – nie!“ entgegnete erstaunt Mr. Pickwick.

Leutnant Tappleton wandte sich zu Dr. Slammer mit einem kaum merklichen Achselzucken, als käme ihm die Erinnerungsfähigkeit seines Freundes bedenklich vor. Der Doktor sah zornig, aber verwirrt aus, und Mr. Payne starrte wild in das staunende Gesicht des ahnungslosen Pickwick.

„Mein Herr“, begann der Doktor, sich plötzlich an Mr. Tupman wendend, in einem Tone, der diesen Gentleman ebensosehr erschreckte, als hätte ihn plötzlich eine Natter in die Ferse gestochen. „Sie waren gestern abend auf dem Ball?“

Mr. Tupman hauchte ein schwaches Ja, fortwährend auf Mr. Pickwick blickend.

„Dieser Mensch war Ihr Begleiter?“ fragte der Doktor weiter, auf den Fremden deutend, der keine Miene verzog.

Mr. Tupman gab es zu.

„Nun, mein Herr“, sagte der Doktor zu dem Fremden, „Ich frage Sie noch einmal in Gegenwart aller Anwesenden, ob Sie mir Ihre Karte geben und als Mann von Ehre behandelt sein oder mich in die Notwendigkeit versetzen wollen, Sie auf der Stelle persönlich zu züchtigen?“

„Halten Sie ein, mein Herr“, rief Mr. Pickwick. „Ich kann wirklich nicht dulden, daß die Sache weitergetrieben wird, ehe ich nicht weiß, um was es sich handelt. Tupman, erzählen Sie den Vorfall!“

So feierlich aufgefordert, berichtete Mr. Tupman die Sache mit fliegenden Worten. Das Entlehnen des Frackes berührte er nur leicht. Großen Nachdruck legte er darauf, daß es „nach dem Diner“ stattgefunden hätte, ließ flüchtig ein gelindes Reuegefühl über sein eigenes Betragen durchblicken und überließ es dem Fremden, sich zu rechtfertigen, so gut er könne.

Dieser war eben im Begriff, es zu tun, als ihn Leutnant Tappleton, der ihn bis dahin mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte, mit großer Geringschätzung fragte:

»Habe ich Sie nicht schon auf dem Theater gesehen, Sir?“

„Vermutlich“, erwiderte der Fremde unbefangen.

„Er ist ein wandernder Schauspieler“, sagte der Leutnant verächtlich und wandte sich an Dr. Slammer. „Er tritt in dem Stück auf, das morgen das Offizierskasino des zweiundfünfzigsten Regiments in Rochester aufführen läßt. Sie können in der Sache nicht weitergehen, Slammer, unmöglich!“

„Nein, unmöglich!“ bestätigte Payne pathetisch.

„Bedaure, Sie in diese unangenehme Lage versetzt zu haben“, fuhr Leutnant Tappleton fort, sich an Mr. Pickwick wendend. „Erlauben Sie mir übrigens, Ihnen zu bemerken, daß der sicherste Weg, in Zukunft dergleichen Auftritte zu vermeiden, größere Vorsicht in der Wahl Ihrer Gesellschaft sein wird. Guten Abend, mein Herr!“ – Und rasch verließ er das Zimmer.

„Und mir erlauben Sie, Ihnen zu bemerken, mein Herr“, fügte der rauflustige Dr. Payne hinzu, „daß ich, wenn ich Tappleton oder Slammer gewesen wäre, Ihnen und den sämtlichen Mitgliedern dieser Gesellschaft die Nase eingedroschen hätte. Ja, das hätte ich. Allen miteinander. Mein Name ist Payne, mein Herr, Dr. Payne vom Dreiundvierzigsten. Guten Abend, mein Herr.“

Die vier letzten Worte sprach er laut und mit großem Nachdruck und schritt sodann majestätisch aus dem Zimmer. Ihm folgte Dr. Slammer, schweigend und mit einem Blick voll Verachtung auf die ganze Gesellschaft.

Zorn und höchste Entrüstung über die Brüskierung hätten Mr. Pickwicks edle Brust beinahe bis zum Zerspringen seiner Weste geschwellt. Wie angewurzelt, ins Leere starrend, stand er da, und erst das Knarren der Tüe brachte ihn wieder zu sich selbst. Mit wutentbrannten Blicken und funkelnden Augen wollte er dem Beleidiger nachstüzen. Seine Hand hatte die Tüklinke gefaßt, und im nächsten Augenblick wüde sie den Dr. Payne, von Dreiundvierzig, an der Kehle gepackt haben, hätte ihn nicht. Mr. Snodgraß am Rockschoße ergriffen und zurückgezogen.

„Haltet ihn“, rief Mr. Snodgraß. „Winkle, Tupman! – Er darf sein kostbares Leben nicht in einer solchen Angelegenheit aufs Spiel setzen.“

„Lassen Sie mich“, rief Mr. Pickwick.

„Haltet ihn fest“, schrie Mr. Snodgraß wieder. Und den vereinten Kräften der sämtlichen Anwesenden gelang es schließlich, Mr. Pickwick in einen Lehnstuhl zu drängen.

„Allein lassen“, riet der grüngekleidete Fremde. „Brandy und Wasser – feuriger alter Herr – einen Schluck – einmal kosten – ah! – Kapitalstoff!“

Nachdem der Fremde den Inhalt eines vollen, von dem Trübsinnigen gemischten Glases gekostet, führte er es an Mr. Pickwicks Lippen, der es im nächsten Augenblick bis auf die Neige leerte.

Es trat eine kurze Pause ein. Das Getränk hatte indessen seine Wirkung getan, und das freundliche Gesicht Mr. Pickwicks nahm schnell den gewohnten Ausdruck wieder an.

„Diese Menschen verdienen nicht, daß Sie Notiz von ihnen nehmen, Sir“, sagte der Trübsinn-Jemmy.

„Sie haben recht, Sir“, versetzte Mr. Pickwick. „Sie verdienen es nicht. Ich schäme mich, daß ich mich so habe hinreißen lassen. Ziehen Sie Ihren Stuhl näher heran, Sir.“

Der Trübsinnige tat es; der Kreis versammelte sich um den Tisch, und die frühere Eintracht war wiederhergestellt. In Mr. Winkles Brust schien noch eine Spur heimlichen Unmutes zurückgeblieben zu sein – in bezug auf die temporäre Entwendung seines Frackes –, aber es ist kaum denkbar, daß ein so geringfügiger Umstand auch nur ein vorübergehendes Gefühl des Mißbehagens in der Seele eines Pickwickiers sollte hervorgerufen haben. Abgesehen davon war übrigens die Heiterkeit wieder völlig hergestellt, und der Abend endete auf dieselbe trauliche Weise, wie er begonnen hatte.

Einunddreißigstes Kapitel


Einunddreißigstes Kapitel

Mr. Bob Sawyer gibt eine lustige Abendgesellschaft in seiner Wohnung im Borough.

In der Gegend von Landstreet herrscht gewöhnlich eine Ruhe, die die Seele melancholisch stimmt. Immer sind in ihr eine Menge Häuser zu vermieten, und wer sich von der Welt zurückzuziehen wünscht und der Möglichkeit einer Versuchung entgehen will, zum Fenster hinauszusehen, dem kann nur angelegentlichst geraten werden, eine Wohnung in Landstreet zu beziehen.

Die Mehrzahl der Bewohner wendet ihre Tätigkeit unmittelbar der Vermietung möblierter Zimmer zu oder widmet sich dem gesunden und muskelstärkenden Geschäfte des Wäschemangelns. Die Hauptformen der unbelebten Natur in. dieser Straße sind grüne Fensterläden, Mietzettel, messingene Türplatten und Glockenzüge; die Hauptarten der belebten sind der Küchenjunge, der Semmelbursche und der Kartoffelmann. Die Mieter sind eine Art von Zugvögeln; sie verschwinden gewöhnlich am Ende des Quartals und meistens zur Nachtzeit. Die Einkünfte Seiner Majestät werden in diesem Paradiese nur selten eingesammelt, die Zinse sind unsicher, und die Trinkwasserleitungen werden sehr häufig gesetzlich gesperrt.

An dem Abend, zu dem Mr. Pickwick eingeladen worden war, saßen Mr. Bob Sawyer und Mr. Ben Allen im Vorderzimmer des Erdgeschosses am Kamin, einander gegenüber. Die Vorbereitungen zum Empfang der Gäste schienen bereits vollendet. Der Regenschirmständer im Hausflur war in der kleinen Ecke vor der Stubentür untergebracht, die Haube und der Schal des Dienstmädchens vom Treppengeländer entfernt, ein Paar Überschuhe standen auf der Strohmatte am Haustor, und auf dem Gesims des Treppenfensters brannte ein munteres Küchenlicht mit einer sehr langen Schnuppe. Mr. Bob Sawyer hatte die Getränke in einem Weingewölbe in der Highstreet eigenhändig eingekauft und den Träger derselben begleitet, um der Möglichkeit der Ablieferung in einem unrechten Hause vorzubeugen. Der Punsch wartete in einem roten Krug im Schlafgemach, ein mit grünem Tuch überzogenes Tischchen war von einem Mitbewohner des Hauses geborgt worden, um als Spieltisch verwendet zu werden, und die Gläser des Etablissements samt denen, die man aus einem Wirtshaus entlehnt, standen auf einem stummen Diener auf dem Treppenabsatz vor der Tür. Trotz dieser höchst befriedigenden Anordnungen lag eine Wolke auf Mr. Bob Sawyers Mienen, als er am Fenster saß und auch die Züge Mr. Ben Allens trugen das gleiche Gepräge, während er aufmerksam auf die Kohlen starrte, und seine Stimme hatte etwas Melancholisches, als er nach einer langen Pause das Stillschweigen brach:

„Es ist wirklich ärgerlich, daß sie es sich in den Kopf gesetzt hat, gerade bei dieser Gelegenheit auf die Pauke zu hauen. Sie hätte wenigstens bis morgen warten können.“

„Aus purer Bosheit“, brach Mr. Bob Sawyer los. „Sie sagt, wenn ich Gesellschaften geben könne, müsse ich auch imstande sein, ihre verdammte ,kleine Rechnung‘ zu bezahlen.“

„Wie lange läuft sie denn jetzt?“ fragte Mr. Ben Allen.

Eine Rechnung ist, beiläufig gesagt, das merkwürdigste Perpetuum mobile, das der menschliche Scharfsinn je ausgedacht hat. Sie würde das längste Menschenleben lang laufen, ohne je aus eigenem Antrieb stehenzubleiben.

„Bloß ein Vierteljahr und einen Monat oder so was“, erwiderte Mr. Bob Sawyer.

Ben Allen hustete hoffnungslos und richtete einen forschenden Blick auf die beiden Stangen am Ofen.

„Es wäre doch eine verdammte Geschichte, wenn sie sich in den Kopf setzen würde, vor der Gesellschaft hier aufzubegehren, was?“ sagte er endlich.

„Schauderhaft“, versetzte Bob Sawyer, „schauderhaft.“

Ein leises Pochen ließ sich in diesem Moment an der Zimmertür hören. Bob Sawyer warf seinem Freund einen bedeutsamen Blick zu, rief: „Herein!“, und ein schmutziges, schlampiges Mädchen in schwarzen Baumwollstrümpfen, die ganz gut für die verwahrloste Tochter eines dienstunfähigen Straßenkehrers in reduzierten Umständen hätte gelten können, steckte den Kopf herein und sagte:

„Mit Verlaub, Mr. Sawyer, Mrs. Raddle wünscht Sie zu sprechen.“

Ehe aber noch Mr. Bob Sawyer etwas erwidern konnte, verschwand das Mädchen plötzlich mit einem gellenden Schrei, wie wenn ihr jemand von hinten einen heftigen Stoß versetzt hätte, und unmittelbar nach diesem geheimnisvollen Verschwinden erfolgte ein abermaliges Klopfen – ein kurzes entschiedenes Klopfen, das zu sagen schien: „Hier bin ich und lasse mich nicht abweisen.“

Bob Sawyer starrte seinen Freund mit einem Blick hoffnungsloser Angst an und rief abermals:

„Herein!“

Die Erlaubnis wäre indes nicht notwendig gewesen, denn ehe er das Wort ausgesprochen, stürzte eine grimmerfüllte kleine Person ins Zimmer, an allen Gliedern zitternd vor Zorn und ganz bleich vor Wut.

„Na, Mr. Sawyer“, keuchte sie, bemüht, möglichst ruhig zu erscheinen, „wenn Sie die Güte haben wollen, meine kleine Rechnung da zu berichtigen, so werde ich Ihnen sehr dankbar sein, denn ich muß heute mittag ebenfalls meine Miete bezahlen, und der Hausbesitzer wartet unten.“ Dabei rieb sie sich die Hände und blickte unverwandt über Mr. Sawyers Kopf auf die Wand.

„Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie in Ungelegenheiten bringe, Mrs. Raddle“, stotterte Bob Sawyer demütig, „aber …“

„Oh, von Ungelegenheiten ist nicht die Rede“, entgegnete die kleine Frau mit schrillem Ton. „Ich habe es bis jetzt noch nicht gebraucht, und da war’s mir gleichgültig, ob Sie es hatten oder ich, wo ich’s sowieso dem Hausherrn geben muß. Sie haben mir’s zu heute nachmittag versprochen, Mr. Sawyer, und jeder Gentleman, wo hier gewohnt hat, hat sein Wort gehalten, wie das auch natürlicherweise von jedem erwartet werden muß, wo sich für einen Gentleman ausgeben tut.“

Und Mrs. Raddle schüttelte ihr Haupt, biß sich in die Lippen, rieb ihre Hände noch stärker und blickte noch starrer nach der Wand. Man konnte deutlich sehen, wie Mr. Allen bei einer späteren Gelegenheit in orientalisch-allegorischem Stil bemerkte, daß sie zu „dampfen“ anfing. „Es tut mir sehr leid, Mrs. Raddle“, sagte Bob Sawyer mit aller erdenklichen Demut; „aber das Geld, das man mir heute in der City versprochen hat, ist ausgeblieben. Es ist wirklich ein Pech, der Geldgeber hat es mir als ganz sicher zugesagt.“

„Ganz gut, Mr. Sawyer“, schrillte Mrs. Raddle und pflanzte sich entschlossen auf eine in den Kidderminsterteppich gewebte purpurfarbene Blume, „aber was geht das mich an, Sir?“

„Ich – ich – zweifle nicht, Mrs. Raddle“, erwiderte Mr. Sawyer, die letzte Frage scheinbar überhörend, „daß wir noch vor Mitte der nächsten Woche miteinander abrechnen können, und dann soll es künftighin besser gehen.“

Mehr verlangte Mrs. Raddle nicht. Sie war mit so bestimmter Absicht, einen Skandal zu machen, in des unglücklichen Bob Sawyers Zimmer gestürzt, daß sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei sofortiger Bezahlung kaum zufriedengegeben hätte, und war in der vorzüglichsten Stimmung zu einem kleinen Herzenserguß, zumal da sie soeben in der Küche mit Mr. Raddle eine Art Generalprobe zu dem Zweck abgehalten hatte. „Nehmen Sie etwa an, Mr. Sawyer“, begann sie und erhob dabei ihre Stimme, um der Nachbarschaft das Verständnis zu erleichtern, „nehmen Sie etwa an, ich lasse Tag für Tag einen Burschen bei mir wohnen, wo nie daran denkt, seine Miete zu bezahlen – noch nich mal die baren Auslagen für frische Butter, Zucker und Milch, wo ich ihm zum Frühstück besorge? – Nehmen Sie etwa an, eine fleißige Frau, wo schwer arbeiten tut und schon zwanzig Jahre in diese Straße gewohnt hat – zehn Jahre auf die andre Seite und neundreiviertel Jahr in dies Haus hier –, hat weiter nichts zu tun, als sich für Tagediebe totzurackern, wo dauernd bloß rauchen und saufen und Maulaffen feilhalten, anstatt sich ’ne Beschäftigung zu suchen, damit sie ihre Rechnungen bezahlen können? Nehmen Sie etwa …“

„Aber liebe Frau“, unterbrach Mr. Benjamin Allen begütigend.

„Sind Sie so gut und behalten Sie Ihre Bemerkungen für sich, ja“, rief Mrs. Raddle, bremste plötzlich den mitreißenden Schwung ihrer Rede ab und wandte sich mit eindrucksvoller Gemessenheit und Feierlichkeit an den Sprecher. „Ich bin mir gar nicht die Sache bewußt, Sir, daß Sie irgendwie berechtigt sind, eine Anrede an mir zu richten. Soviel ich weiß, habe ich das Zimmer nicht an Ihnen vermietet, Sir.“

„Nein, das haben Sie freilich nicht“, gab Mr. Benjamin Allen zu.

„Na also“, erwiderte Mrs. Raddle voll stolzer Höflichkeit, „dann begnügen Sie sich vielleicht am besten damit, den armen Leuten in den Spitälern Arme und Beine zu knacken und den Dreck vor Ihre eigene Tür wegzufegen, sonst könnten sich Leute finden, wo Ihnen daran erinnern möchten.“

„Sie sind aber wirklich sehr unvernünftig“, wandte Mr. Benjamin Allen ein.

„Gestatten Sie mal, junger Mann“, sagte Mrs. Raddle noch lauter und nachdrücklicher, „war die Bemerkung etwa auf meine Person gerichtet?“ „Sie war; na und?“ sagte Mr. Benjamin Allen.

„Haben Sie das auf mir gemeint, frage ich Ihnen, Sir?“ schrie Mrs. Raddle, deren Zorn nun. in Weißglut geraten war, und riß die Tür weit auf. „Aber ja, natürlich“, erwiderte Mr. Benjamin Allen.

„Ja, natürlich!“ schrie Mrs. Raddle so laut wie möglich, damit Mr. Raddle in der Küche alles hören konnte. „Ja, natürlich haben Sie das getan! Es weiß ja auch jeder, daß man mich in meinem eigenen Hause ungestraft beleidigen tut, weil mein Mann ganz ruhig unten schnarcht und sich nich mehr um mir kümmern tut wie um ein‘ Straßenköter. Er sollte sich was schämen“, schluchzte Mrs. Raddle, „daß er seine Frau so behandeln läßt, und dazu noch von ein paar junge Menschen, wo die Leute lebendig zerschneiden und zermetzgern tun und bloß Schimpf und Schande für das Haus sind. So ein niederträchtiger, lumpiger, feiger Kerl! Traut sich nicht, raufzukommen und die unverschämten Burschen zu zeigen … Traut sich nicht … Traut sich nicht zu kommen!“

Einen Augenblick hielt Mrs. Raddle inne, um zu horchen, ob die Wiederholung dieser Aufforderung ihre stärkere Hälfte aufgestachelt habe; als sie aber sah, daß sie erfolglos blieb, ging sie unter zahllosem Schluchzen und Seufzen die Treppe hinab, wo man jetzt ein lautes wiederholtes Klopfen am Haustor vernahm. Dann brach sie in ein hysterisches Weinen und jammervolles Geächze und Gewimmer aus, warf in „Ja“, sagte das Mädchen. „Im ersten Stock; die erste Tür, wenn Sie die Treppe raufkommen.“

Dann verschwand das Mädchen, das unter den Ureinwohnern Southwarks aufgewachsen war, mit dem Licht in der Hand nach der Küche hin, vollkommen mit sich selbst zufrieden, da sie alles getan zu haben glaubte, was unter diesen Umständen von ihr verlangt werden konnte.

Mr. Snodgraß, der zuletzt eintrat, verschloß die Tür nach mehreren vergeblichen Versuchen durch Vorziehen der Kette und stolperte mit Mr. Pickwick die Treppe hinauf, wo sie von Mr. Bob Sawyer empfangen wurden, der sich aus Angst, Mrs. Raddle möchte ihm den Weg verlegen, nicht heruntergewagt hatte.

„Wie geht es Ihnen?“ fragte der Student ein wenig verstört. „Sehr erfreut, Sie zu sehen – Achtung, Gläser!“

Die Warnung galt Mr. Pickwick, der seinen Hut auf den Tisch gestellt hatte.

„Ah, Pardon“, entschuldigte sich Mr. Pickwick.

„Hat nichts zu sagen“, erwiderte Bob Sawyer. „Ich bin im Räume etwas beschränkt; aber man muß überall Nachsicht haben, wenn man zu einem Junggesellen kommt. Bitte, treten Sie ein. Diesen Herrn da kennen Sie wohl schon?“

Mr. Pickwick drückte Mr. Benjamin Allen die Hand und seine Freunde folgten seinem Beispiel. Sie hatten sich kaum gesetzt, als man abermals ein Doppelklopfen vernahm.

„Das wird hoffentlich Jack Hopkins sein“, sagte Bob Sawyer. „Ja, er ist’s. Nur herauf, Jack, herauf!“

Man hörte schwere Fußtritte auf der Treppe, und Jack Hopkins trat ein. Er trug eine schwarze Samtweste mit Donner-und-Blitz-Knöpfen und ein blaugestreiftes Hemd mit einem falschen weißen Kragen.

„Warum so spät, Jack?“ fragte Benjamin Allen.

„Wurde im Spital aufgehalten“, erwiderte Hopkins.

„Was gibt’s Neues?“

„Nichts von Belang; aber es war ein ganz eigentümlicher Fall.“

„Darf man Näheres wissen, Sir?“ fragte Mr. Pickwick.

„Es ist ein Mann vom vierten Stockwerk aus dem Fenster gestürzt; aber es ist ein schöner Fall, wirklich ein sehr schöner Fall.“

„Meinen Sie damit, daß der Kranke Hoffnung habe, wieder aufzukommen?“

„Nein“, entgegnete Hopkins gleichgültig, „im Gegenteil, ich bezweifle es sehr. Aber morgen muß eine glänzende Operation stattfinden, ein famoser Anblick, wenn Slasher sie vornimmt.“

„Sie halten also Mr. Slasher für einen geschickten Operateur?“ fragte Mr. Pickwick.

„Es lebt kein besserer auf Erden. In der letzten Woche hat er einem Knaben das Bein abgenommen, der dabei fünf Äpfel und einen Pfefferkuchen aß. Und zwei Minuten, nachdem alles vorüber war, sagte der Junge, er liege nicht da, um sich zum Narren halten zu lassen, und wenn sie nicht bald anfingen, so werde er es seiner Mutter sagen.“

„Wirklich?“ staunte Mr. Pickwick.

„Oh, das ist noch gar nichts“, versetzte Jack Hopkins. „Was, Bob?“

„Ganz und gar nichts“, bekräftigte Mr. Bob Sawyer.

„Beiläufig gesagt“, fuhr Hopkins mit einem kaum bemerkbaren Seitenblick auf Mr. Pickwicks aufmerksames Gesicht fort, „gestern abend wurde ein Kind gebracht, das eine Halskette verschluckt hatte.“

„Was verschluckt, Sir?“ unterbrach Mr. Pickwick.

„Eine Halskette. Es versteht sich: nicht auf einmal, denn das wäre zuviel gewesen – Sie selbst könnten keine verschlucken, viel weniger ein Kind. – Habe ich nicht recht, Mr. Pickwick? Haha!“ – Mr. Hopkins schien an seinem Witz großen Gefallen zu finden und fuhr fort:

„Die Sache war so. Die Eltern des Kindes sind arme Leute und wohnen auf einem Hof. Das älteste Mädchen kaufte sich eine Halskette – eine gewöhnliche Halskette mit großen schwarzen Holzperlen. Das Kind hat seine Freude daran, versteckt die Halskette, spielt damit, zerreißt die Schnur und verschluckt eine Perle. Das machte ihm einen Hauptspaß; es macht sich am folgenden Tage wieder daran und verschluckt eine zweite Perle.“

„Meiner Seel“, rief Mr. Pickwick, „das ist ja etwas Erschreckliches. Doch entschuldigen Sie meine Unterbrechung, Sir, und erzählen Sie uns weiter.“

„Am Tage darauf verschluckte das Kind zwei Perlen, am vierten drei und so fort, bis es in einer Woche das ganze Halsband, bestehend aus fünfundzwanzig Perlen, im Leibe hatte. Die Schwester, ein fleißiges Mädchen, die sich nur selten ein bißchen Putz anschaffte, weinte sich fast die Augen aus über den Verlust der Kette und durchsuchte das Haus von oben bis unten; aber ich brauche wohl nicht zusagen, daß sie sie nicht fand. Einige Tage darauf sitzt die Familie beim Mittagessen um eine gebackne Hammelkeule mit Kartoffeln herum, und das Kind spielt im Zimmer. Auf einmal hört man einen verteufelten Lärm, wie einen kleinen Hagelsturm. ,Lärm doch nicht so, Junge‘, sagte der Vater. ,Ich tue ja nichts‘, antwortete das Kind. ,Nun gut, bleib nur ruhig‘, ermahnte der Vater. – Einige Zeit war alles still, aber auf einmal begann der Lärm aufs neue, ärger als zuvor. ,Wenn du nicht folgst, Junge‘, sagte der Vater, ,mußt du augenblicklich ins Bett.‘ Dabei schüttelte er das Kind, und nun erfolgte ein Gerassel, wie noch nie jemand eins gehört hatte. ,Gott straf mich‘, sagte der Vater, ,mit dem Jungen, ist etwas los; es muß ihm das Kreuz locker geworden sein.‘ – ,Ach nein, Vater‘, schluchzte das Kind und fing an zu weinen, ,ich hab doch die Kette verschluckt.‘ Natürlich nahm der Vater schnell das Kleine und rannte damit ins Spital; die Perlen in seinem Magen rasselten bei der schnellen Bewegung dermaßen, daß die Leute bald in die Luft hinauf-, bald in die Keller hinabsahen, um diesem ungewöhnlichen Geräusch auf die Spur zu kommen. – Das Kind ist noch im Spital“, fügte Jack Hopkins hinzu, „und macht beim Gehen einen so teufelsmäßigen Lärm, daß man es in einen großen Mantel wickeln mußte, damit die übrigen Patienten nicht aus dem Schlaf geweckt würden.“

„Das ist wahrhaftig der außerordentlichste Fall, von dem ich ja gehört habe“, rief Mr. Pickwick mit einem Schlag auf den Tisch.

„Ach Gott“, erwiderte Jack Hopkins, „das will weiter noch nicht viel heißen, was, Bob?“

„Allerdings nicht“, bekräftigte Mr. Bob Sawyer. „Bei unserm Geschäft kommen höchst seltsame Dinge vor, das kann ich Ihnen versichern.“ „Das glaube ich recht gern“, erwiderte Mr. Pickwick.

Ein neues Klopfen an die Tür verkündete das Kommen eines dickköpfigen jungen Mannes mit einem schwarzen Haarwust in Begleitung eines hagern, mit Skorbut behafteten Jünglings. Der nächste Gast war ein Herr, der ein mit kleinen goldnen Ankern geschmücktes Hemd trug, und unmittelbar auf diesen folgte ein blasser Jüngling mit einer plattierten Uhrkette. Die Ankunft eines geckenhaften Burschen mit auffallend saubrer Wäsche und Tuchstiefeln machte die Gesellschaft vollzählig. Der kleine grüne Spieltisch wurde auseinandergezogen, die erste Punschauflage in einem gewaltigen Humpen herbeigebracht und die ersten drei Stunden dem edlen „Siebzehn und vier“, das Dutzend Marken zu sechs Pence, gewidmet – nur ein einziges Mal unterbrochen durch einen kleinen Streit zwischen dem skorbutischen Jüngling und dem Herrn mit den vergoldeten Ankern, wobei der skorbutische Jüngling das glühende Verlangen ausdrückte, dem Herrn mit den Sinnbildern der Hoffnung die Nase einzuschlagen, dieser aber mit großer Entschiedenheit 2u verstehen gab, er lasse sich unter keinen Umständen etwas gefallen, weder von dem zornigen jungen Herrlein mit dem skorbutischen Gesicht noch von sonst irgendeinem Menschen, der einen Kopf auf den Schultern habe.

Als die letzte Runde gemacht und Gewinn und Verlust zur allgemeinen Zufriedenheit festgestellt waren, klingelte Mr. Bob Sawyer nach dem Abendessen, und seine Gäste drückten sich in die verschiedenen Stubenecken, bis es aufgetragen sein würde.

Dies ging indes nicht so schnell, wie man hätte glauben sollen. Vor allem mußte man das Dienstmädchen wecken, das, mit dem Kopf auf dem Küchentisch liegend, eingeschlafen war. Dadurch ging schon einige Zeit verloren, und selbst als sie endlich auf das wiederholte Klingeln erschien, wurde noch eine Viertelstunde mit fruchtlosen Bemühungen zugebracht, ihr einen schwachen Begriff von ihrer Pflicht beizubringen. Dem Mann, bei dem man die Austern bestellt, hatte man nicht gesagt, daß er sie auch öffnen solle; und da es sehr schwer ist, eine Auster mit einem schwachen Messer oder einer zweizinkigen Gabel zu öffnen, so ging die Sache hart und langsam. Das Ochsenfleisch war auch nicht zum besten ausgefallen, und die Hammelkeule, aus dem deutschen Wurstladen an der Ecke geholt, verdiente gleichfalls kein sonderliches Lob. Dagegen war in einer zinnernen Kanne eine Menge Porter vorhanden, und der Käse fand großen Beifall, da er sehr pikant war. So war denn das Essen im großen und ganzen vielleicht gerade so gut, wie es in solchen Fällen überhaupt zu sein pflegt.

Nach Tisch wurde abermals Punsch nebst mehreren andern Flaschen mit geistigen Getränken und ein Teller mit Zigarren hereingebracht. Der Anblick der Gläser erhob Bob Sawyer wieder auf einen Grad von Zuversicht, den er seit seiner Unterhaltung mit der Hausfrau nicht besessen hatte. Sein Gesicht heiterte sich auf, und es wurde ihm wieder ganz wirtshäuslich zumute.

„Jetzt, Betsy“, sagte er sehr freundlich und verteilte den‘ ungeordneten Haufen Gläser, den das Mädchen mitten auf dem Tisch abgeladen hatte, „jetzt, Betsy, bring das warme Wasser und tummle dich ein wenig, liebes Kind.“

„Sie können kein warmes Wasser haben“, erklärte Betsy.

„Kein warmes Wasser?“ rief Mr. Bob Sawyer.

„Nein“, sagte das Mädchen mit einem Kopfschütteln, das den höchsten Grad der Verneinung ausdrückte, „Mrs. Raddle hat gesagt, Sie dürfen keins nich kriegen.“

Das Erstaunen, das sich auf den Gesichtern seiner Gäste abzeichnete, flößte Bob Sawyer Mut ein.

„Bring sofort das warme Wasser! – Sofort!“ befahl er mit verzweifelter Strenge.

„Nein. Kann ich nicht“, erwiderte das Mädchen. „Mrs. Raddle hat das Feuer in der Küche ausgelöscht, bevor sie ins Bett ging, und den Kessel eingeschlossen.“

„Tut nichts, tut nichts. Beunruhigen Sie sich doch nicht wegen einer solchen Kleinigkeit“, tröstete Mr. Pickwick, der den Konflikt der auf Bob Sawyers Angesicht sich spiegelnden Leidenschaften wohl bemerkte, „kaltes Wasser ist auch sehr gut.“

„Gewiß ja“, fügte Mr. Benjamin Allen hinzu.

„Meine Hausfrau hat zuweilen Anfälle von Geistesabwesenheit“, entschuldigte sich Bob Sawyer mit einem gezwungenen Lächeln. „Ich fürchte, ich muß ihr die Wohnung aufkündigen.“

„Tu das lieber nicht“, riet Ben Allen.

„Ich werde wohl müssen“, erwiderte Bob mit heroischer Festigkeit. „Ich will ihr morgen meine Rechnung bezahlen und auf übermorgen aufkündigen.“

Der arme Bursche. Wie sehnlich wünschte er, es nur wirklich auch ausführen zu können.

Mr. Bob Sawyers herzzerbrechende Bemühungen, sich von diesem Schlage zu erholen, übten einen entmutigenden Einfluß auf die Gesellschaft, und der größere Teil suchte seine Heiterkeit dadurch wiederzugewinnen, daß er dem kalten Branntwein mit Wasser so fleißig wie möglich zusprach. Die ersten sichtbaren Wirkungen davon zeigten sich in einer Erneuerung der Feindseligkeiten zwischen dem skorbutischen Jüngling und dem Herrn mit den vergoldeten Ankern. Die beiden kriegführenden Parteien machten ihren Gefühlen gegenseitiger Verachtung eine Zeitlang durch provozierendes Stirnrunzeln und höhnisches Naserümpfen Luft, bis zuletzt der skorbutische Jüngling es für nötig fand, sich deutlicher zu erklären, worauf denn folgende unzweideutige Auseinandersetzung stattfand.

„Sawyer!“ rief der skorbutische Jüngling mit lauter Stimme.

„Was gibt’s, Noddy?“ fragte Bob Sawyer.

„Es tut mir sehr leid, Sawyer, am Tisch eines Freundes, und besonders an dem deinigen, Sawyer, eine Störung zu veranlassen, allein ich muß diese Gelegenheit ergreifen, um Mr. Gunter zu sagen, daß er kein Gentleman ist.“

„Und mir“, fiel Mr. Gunter ein, „mir würde es sehr leid tun, Sawyer, in deiner Straße eine Störung zu verursachen; allein ich fürchte, ich werde mich in die Notwendigkeit versetzt sehen, die Nachbarschaft zu beunruhigen, indem ich den Menschen, der soeben gesprochen hat, zum Fenster hinauswerfe.“

„Was meinen Sie damit, Sir?“ fragte Mr. Noddy.

„Nichts andres, als was ich gesagt habe.“

„Dann möchte ich doch sehen, wie Sie es anstellen, Sir“, höhnte Mr. Noddy.

„Sie werden es in einer halben Minute fühlen, Sir!“

„Ich bitte um Ihre Karte“, sagte Mr. Noddy.

„Gebe ich Ihnen nicht, mein Herr.“

„Warum nicht, Sir?“

„Weil Sie sie an Ihren Spiegel stecken und dadurch Leute, die Sie besuchen, auf den falschen Glauben bringen würden, es sei ein Gentleman bei Ihnen gewesen, Sir.“

„Sir, ich werde morgen früh einen meiner Freunde zu Ihnen schicken“, sagte Mr. Noddy.

„Ich bin Ihnen für diese Mitteilung sehr verbunden, Sir. Ich werde meinem Dienstmädchen jedenfalls einschärfen, die Löffel einzuschließen“, erwiderte Mr. Gunter.

Jetzt legten sich die übrigen Gäste ins Mittel und machten beide Teile auf die Unziemlichkeit ihres Benehmens aufmerksam, worauf schließlich Mr. Noddy um Erlaubnis bat, versichern zu dürfen, daß sein Vater ein ebenso ehrenwerter Mann gewesen sei wie Mr. Gunters Vater, und Mr. Gunter erwiderte, sein Vater sei in jeder Beziehung so respektabel gewesen wie Mr. Noddys Vater, und seines Vaters Sohn sei alle sieben Tage in der Woche ein ebenso rechtschaffener Mensch wie Mr. Noddy. Da diese Äußerungen als Vorspiel zur Erneuerung der Feindseligkeiten betrachtet wurden, mischte sich die Gesellschaft zum zweiten Male ein, und nun entstand ein heftiges Hinundherreden und Gelärme, in dessen Verlauf Mr. Noddy sich allmählich von seinen Gefühlen überwältigen ließ und laut bekannte, er habe von jeher aufrichtige Neigung für Mr. Gunter gehegt. Mr. Gunter erwiderte, Mr. Noddy sei ihm lieber als der eigne Bruder, und als Mr. Noddy dies Geständnis vernahm, stand er großmütig von seinem Sitz auf und bot seinem Widersacher die Hand. Mr. Gunter ergriff sie mit liebevoller Wärme, und alle waren einstimmig der Meinung, der Streit sei auf eine Art geführt worden, die beiden Teilen zu hoher Ehre gereiche.

„Um aber jetzt wieder recht ins Geleise zu kommen, Bob“, schlug Jack Hopkins vor, „so dächte ich, wir singen ein Liedchen.“ Und unter stürmischem Applaus stimmte er das „Gott erhalte unsern König“ an, so laut er konnte zwar, aber nach einer ganz neuen und nicht recht darauf passenden Melodie. Der Chor war geradezu hervorragend, und da jeder der Herren nach der ihm geläufigsten Melodie sang, war die Wirkung hinreißend.

Nach der ersten Strophe erhob Mr. Pickwick lauschend die Hand und sagte: „Ich bitte um Entschuldigung, aber ich glaube, es hat unten jemand gerufen.“

Sofort trat allgemeine Stille ein, und Mr. Bob Sawyer erbleichte sichtlich.

„Ich glaube, ich höre es wieder. Haben Sie doch die Güte, die Tür zu öffnen.“

„Mr. Sawyer! Mr. Sawyer!“ kreischte jetzt deutlich eine Stimme von unten herauf.

„Es ist meine Hausfrau“, erklärte Bob Sawyer, in großer Verlegenheit um sich blickend. „Ja, Mrs. Raddle?“

„Was soll das heißen, Mr. Sawyer?!“ zeterte die gellende Stimme. „Ist es nicht genug, daß man um seinen Hauszins und um die baren Auslagen geprellt und von Ihren Freunden, wo doch Männer von Bildung sein wollen, beschimpft und mißbraucht wird? Mir scheint, Sie wollen auch noch das Haus einreißen und machen um zwei Uhr früh ein‘ Spektakel, daß man mit der Feuerspritze angefahren kommen möchte. – Augenblicklich schicken Sie mir die sauberen Brüder weg!“

„Sie sollten sich vor Ihnen selbst schämen“, erschallte jetzt aus weiter Ferne auch die Stimme Mr. Raddles – wie es schien, unter einer Bettdecke hervor.

„Nein, du sollst dich was schämen“, schrie Mrs. Raddle, „was gehst du nicht rauf und schmeißt sie alle mitsamt die Treppe runter? Wenn du ’n Kerl wärest, würdest du es machen.“

„Ja, wenn ich noch ein Dutzend bei mir hätte, mein Schatz“, erwiderte Mr. Raddle friedfertig, „aber so sind sie mir zahlenmäßig überlegen.“

„Pfui, du Memme“, hörte man Mrs. Raddle mit abgründiger Verachtung sagen. „Wollen Sie das Pack jetzt wegjagen oder nicht, Mr. Sawyer?“

„Die Herren gehen ja schon, Mrs. Raddle“, besänftigte der erbarmungswürdige Bob und wandte sich an seine Freunde: „Ich dächte, es wäre am besten, Sie gingen jetzt. Ich dachte mir gleich, daß Sie zuviel Lärm gemacht haben.“

„Trauriger Fall“, sagte der Geck. „Es wurde doch grade so ’n bißchen gemütlich. Man sollte sich das nicht gefallen lassen. Es ist eigentlich allerhand.“

„Ja, allerhand“, stimmte Jack Hopkins ein, „wir wollen wenigstens noch eine Strophe singen, Bob. Los, feste!“

„Nein, nein, Jack“, fiel Bob Sawyer ängstlich ein. „Das Lied ist zwar wundervoll, aber ich fürchte, es wäre wirklich besser, wenn wir den nächsten Vers nicht singen würden. Die Leute im Hause sind schrecklich grob.“

„Soll ich vielleicht mal die Treppe runtergehen und den Hauswirt in die Mache nehmen?“ erkundigte sich Hopkins, „oder „n bißchen Klingelkonzert machen oder auch ’n bißchen Skandal auf der Treppe? Du brauchst nur zu befehlen, Bob.“

„Ich bin dir von Herzen verbunden für deine Freundschaft und Gutmütigkeit, Hopkins“, sagte der arme Mr. Bob Sawyer, „aber ich denke, wir vermeiden allen weiteren Krach am besten, wenn wir sofort Schluß machen.“

„Na, Mr. Sawyer!“ keifte Mrs. Raddles gellende Stimme wieder, „wann geht denn die Bande endlich?“

„Sie suchen doch bloß noch ihre Hüte, Mrs. Raddle“, besänftigte Bob, „sie gehen ja schon.“

„Gehen schon?“ sagte Mrs. Raddle und erschien im Schmuck einer Nachtmütze, als Mr. Pickwick, gefolgt von Mr. Tupman, eben das Zimmer verließ. „Gehen schon? Was haben die überhaupt hier zu tun gehabt?“

„Meine teure Madam“, begütigte Mr. Pickwick und blickte auf.

„Machen Sie, daß Sie rauskommen, Sie alter Saufbruder“ erwiderte Mrs. Raddle und zupfte ihre Nachthaube schnell wieder herunter. „Sie sind ja alt genug, um der Großvater V0n der Bande zu sein, Sie sind der Schlimmste von allen.“

Mr. Pickwick hielt es für vergebliche Mühe, seine Unschuld zu beteuern, und rannte die Treppe hinab auf die Straße, wohin ihm die Herren Tupman, Winkle und Snodgraß auf dem Fuße nachfolgten. Mr. Ben Allen, den das Trinkgelage und die verschiedenen Auftritte gewaltig angegriffen hatten, begleitete sie bis zur Londoner Brücke und vertraute unterwegs Mr. Winkle als einem Mann von anerkannter Verschwiegenheit an, daß er entschlossen sei, außer Bob Sawyer jeden, der es wagen würde, sich um die Neigung seiner Schwester Arabella zu bewerben, die Kehle durchzuschneiden. Nachdem er seine Entschlossenheit, diese peinliche Bruderpflicht zu erfüllen, noch auf angemessene Weise bekräftigt hatte, brach er in Tränen aus, stülpte sich den Hut bis über die Augen herab, klopfte zu wiederholten Malen an verschiedenen Haustoren von Borough Market an und schlummerte abwechselnd hie und da auf den Treppen bis Tagesanbruch, in der festen Meinung, er wohne hier und habe nur seine Schlüssel vergessen.

Als sich so die Gäste auf die dringende Aufforderung Mrs. Raddles alle entfernt hatten, blieb der unglückliche Bob Sawyer allein zurück und dachte noch lange nach über die wahrscheinlichen Ereignisse des morgigen Tages sowie über die Vergnügungen des Abends.

Zweiunddreißigstes Kapitel


Zweiunddreißigstes Kapitel

Mr. Weller senior macht einige kritische Bemerkungen über Briefstellerei und Poesie und übt mit Hilfe seines Sohnes Samuel eine kleine Wiedervergeltung an dem hochwürdigen Herrn mit der roten Nase.

Am Morgen des dreizehnten Februar, der dem Tag, an dem der Prozeß Mrs. Bardells verhandelt werden sollte, vorausging, hatte Mr. Samuel Weller alle Hände voll zu tun, denn er mußte unaufhörlich von morgens neun Uhr bis mit tags um zwei von dem „Georg und Geier“ nach der Wohnung Mr. Perkers und wieder zurück gehen und kleine Briefe abgeben, in denen Mr. Pickwick, außer sich vor Unruhe seinem Anwalt unaufhörlich die Frage schrieb: „Lieber Perker, steht alles gut?“ Prompt antwortete Mr. Perker jedesmal: „Lieber Pickwick, den Umständen angemessen“, denn es ließ sich nicht gut etwas anderes berichten, ehe nicht die Sitzung des Gerichtshofes am folgenden Morgen vorüber war.

Sam hatte sich mittags mit einem sehr angenehmen kleinen Mahl erquickt und wartete in der Schenkstube auf das warme Getränk, mit dem er sich Mr. Pickwicks Weisung gemäß nach den Mühseligkeiten seiner Morgenwanderung stärken sollte, als ein junger Bursche von etwa drei Fuß Höhe, dessen Fellmütze und Barchent-Überhosen, ebenso wie seine ganze übrige Kleidung den lobenswerten Ehrgeiz verrieten, sich mit der Zeit zur Würde eines Stallknechts aufzuschwingen, in dem Hausflur des „Georg und Geier“ nach ihm verlangte.

„Was, ’n alter Herr hat nach mir gefragt?“ knurrte Sam mit tiefer Verachtung.

„Der Herr, wo die Postkutsche nach Ipswich fährt und bei uns absteigt“, erwiderte der Junge. „Er sagte gestern morgen zu mir, ich soll heute mittag in den ,Georg und Geier‘ gehen und nach Sam fragen.“

„Das is mein Vater, Schätzchen“, erklärte Mr. Weller mit einem erläuternden Blick der jungen Dame in der Schenkstube, „ich glaube wahrhaftig, er weiß meinen Familiennamen nich mehr. Na, und was will er denn von mir, du junger Frechdachs?“

„Na“, erwiderte der Junge, „Sie sollen heute abend um sechs in unser Haus kommen; er will Sie da treffen – ,Blauer Eber‘ auf dem Leadenhall Market. Soll ich ihm sagen, daß Sie kommen?“

„Ja, Sie können das melden, Sir“, erwiderte Sam, und der junge Gentleman entfernte sich, indem er sämtliche Echos in George Yard durch verschiedene diskrete und äußerst korrekte Nachahmungen von Kutscherliedern aufweckte, die er mit klangvollem Tone pfiff.

Nachdem Sam Weller Urlaub von Mr. Pickwick erhalten hatte, der in seinem Zustand von Aufregung und Angst gerne allein blieb, machte er sich lange vor der bestimmten Stunde auf den Weg, und da er noch über hinreichend Zeit zu verfügen hatte, schlenderte er nach Mansion House, wo er haltmachte und mit der Ruhe eines Philosophen die zahllosen Kutschen betrachtete, die sich zum großen Schrecken und zur Beunruhigung der vielen alten Damen dieses Viertels an diesem berühmten Sammelplatz einzustellen pflegten. Allda verweilte er etwa ein halbes Stündchen, kehrte dann um und begann durch eine Reihe von Nebenstraßen den Weg nach dem Leadenhall Market einzuschlagen. Da er seine überflüssige Zeit darauf verwandte, bei allen Gegenständen, die sich seinen Blicken darboten, stehenzubleiben und sie zu betrachten, so darf es nicht wundernehmen, daß er auch vor dem Fenster eines kleinen Buch- und Bilderhändlers haltmachte. Auffallend jedoch war, daß er beim Anblick der diversen zum Verkauf ausgesetzten Bilder plötzlich zusammenfuhr, mit dem rechten Fuß heftig auf den Boden stampfte und lebhaft ausrief: „Wahrhaftig, jetzt hätte ich beinahe die ganze Geschichte vergessen. Und denn nachher wäre es zu spät gewesen.“

Das Bild, an dem Sam Wellers Augen hingen, war ein mit starken Farben aufgetragenes Gemälde zweier durch einen Pfeil verbundener Menschenherzen, die auf einem lustigen Feuer gebraten wurden, während ein Kannibale und eine Kannibalin, beide modern gekleidet, der Herr in einem blauen Frack und weißen Beinkleidern, die Dame in einem dunkelroten Schal mit ditofarbigem Sonnenschirm, sich auf einem mit Kies bestreuten Schlangenpfad mit hungrigen Augen dem Mahl näherten. Ein entschieden unanständig mit ein paar Flügeln und sonst weiter nichts bekleideter junger Herr besorgte das Kochen. In einiger Entfernung erblickte man den Kirchturm von Langham Place, und das Ganze stellte einen Liebesbriefsteller vor, wovon, laut der geschriebenen Ankündigung im Fenster, hier ein großes Lager vorrätig war, das der Buchhändler an seine Landsleute stückweise zu dem herabgesetzten Preis von einem Schilling und sechs Pence zu verkaufen sich anheischig machte.

„Ich hätte es vergessen, wahrhaftig, ich hätte es vergessen“ murmelte Sam, ging sogleich in den Laden und verlangte einen Bogen feines Briefpapier mit goldenem Rand nebst einer hartgeschnittenen Feder, die aber nicht spritzen dürfe, und ging, nachdem er diese Artikel schnell erhalten, beschwingten Schrittes nach dem Leadenhall Market. Hier sah er sich um und erblickte ein Schild, auf dem die Kunst des Malers etwas dargestellt hatte, was eine entfernte Ähnlichkeit mit einem himmelblauen Elefanten darbot, der statt des Rüssels eine Adlernase besaß. Da er daraus mit Recht schloß, dies sei der „Blaue Eber“, trat er in das Haus und fragte nach seinem Vater.

„Er wird erst in drei viertel Stunden oder noch später kommen“, sagte die junge Dame, die den häuslichen Geschäften des „Blauen Ebers“ vorstand.

„Sehr wohl, mein Schätzchen“, erwiderte Sam. „Haben Sie inzwischen die Güte, mir für neun Pence Brandy mit Wasser und zugleich das Schreibzeug zu geben.“

Das Verlangte wurde sogleich in das kleine Gastzimmer gebracht, und nachdem die junge Dame die Kohlen sorgfältig zusammengedrückt hatte, damit sie nicht zu hell lodern sollten, nahm sie das Schüreisen mit, um der Möglichkeit vorzubeugen, daß ohne vorher eingeholte Mitwisserschaft und Erlaubnis des „Blauen Ebers“ das Feuer wieder mehr angefacht würde. Sam Weller setzte sich an einen Tisch nahe am Kamin, zog sein goldgerändertes Briefpapier nebst der hartgeschnittenen Feder aus der Tasche, betrachtete sie sorgfältig, ob sie nicht vielleicht ein Haar in der Spalte habe, blies den Tisch ab, um keine Brotkrumen unter das Papier zu bekommen, schlug seine Rockärmel zurück, legte seine Ellenbogen auf und schickte sich an zu schreiben.

Für die Damen und Herren, die sich in der Wissenschaft der Federführung keine praktischen Kenntnisse erworben haben, ist das Briefschreiben keineswegs eine leichte Aufgabe. Sie halten es in solchen Fällen für unumgänglich notwendig, den Kopf auf den linken Ami niederzubeugen, so daß die Augen möglichst in gleicher Höhe mit dem Papier liegen, und, während Seitenblicke auf die eben entstehenden Buchstaben fallen, die Zunge die entsprechenden Laute nachsprechen zu lassen. So zweckmäßig und förderlich diese Maßnahmen auch unbestreitbar für originelle Kompositionen sein mögen, so verzögern sie doch die Geschwindigkeit beim Schreiben einigermaßen, und Sam hatte, ohne es zu merken, schon volle anderthalb Stunden geschrieben, wobei er häufig mißratene Buchstaben mit seinem kleinen Finger auslöschte und neue an ihre Stelle setzte, wobei oft große Nachhilfe nötig war, um sie durch die alten Flecken hindurch sichtbar zu machen, als er auf einmal durch das Aufgehen der Tür und den Eintritt seines Vaters unterbrochen wurde.

„Na, Sammy!“ rief Mr. Weller senior.

„Na, alte biedere Haut!“ antwortete der Sohn und legte die Feder weg. „Wie is es mit der Stiefmutter? Wie lautet die neueste Bekanntmachung?“ „Mrs. Weller verbrachte ’ne recht gute Nacht; aber sie is heute morgen vollkommen verdreht und launisch; unterzeichnet: S- Weller, Hochwohlgeboren senior. Das is die letzte Nachricht, wo ausgegeben wurde, Sammy“, antwortete Mr. Weller und knotete sein Halstuch auf.

„Also noch nich besser?“ forschte Sam.

„Ach was, alle Anzeichen haben sich verschlimmert“, entgegnete Mr. Weller kopfschüttelnd. „Aber was treibst du da? Womöglich wissenschaftliche Beschäftigung unter erschwerende Umstände, Sammy?“

„Ich bin schon fertig“, sagte Sam etwas verlegen, „hab da bloß was geschrieben.“

„Das sehe ich“, erwiderte Mr. Weller, „aber doch nich etwa an ’n junges Frauenzimmer, Sammy, will ich doch hoffen?“

„Warum soll ich es nich sagen?“ versetzte Sam. „Es is ’n Liebesbrief.“

„Was is es?“ rief Mr. Weller, offensichtlich starr vor Entsetzen über dieses Wort.

„’n Liebesbrief“, wiederholte Sam.

„Samuel, Samuel!“ sagte Mr. Weller in vorwurfsvollem Ton, „das hätte ich nicht von dir erwartet. Wo dir doch die lästerliche Neigung deines Vaters hätte warnen müssen, wo ich dir so viel über diese Sache gesagt habe, wo du sogar selber deine Stiefmutter gesehen hast und mit ihr zusammen gewesen bist, da würde ich doch annehmen, das mußte dir eine moralische Lehre sein, wo niemand vergessen kann. Bis zu seinem letzten Tage nich! Das hätte ich nicht erwartet Sammy, das hätte ich nicht erwartet, daß du so was machen würdest!“ Der gute alte Mann wurde von seinen eigenen Betrachtungen überwältigt; er führte Sams Krug an seine Lippen und trank ihn aus.

„Na, was is denn dabei?“ sagte Sam.

„Jedenfalls, Sammy“, erwiderte Mr. Weller, „wird es mir auf meine alten Tage ein schwerer Kummer sein. Aber ich bin ja zum Glück schon ziemlich zähe geworden, und das ist mein Trost, wie der alte Puter sagte, als der Pächter meinte, er wollte ihn für den Markt schlachten.“

„Was wird dir Kummer machen?“ erkundigte sich Sam.

„Wenn ich dir verheiratet sehen werde, Sammy, wenn ich dir als betörtes Schlachtopfer erblicken muß“, erwiderte Mr. Weller, „wo obendrein noch in seiner unschuldigen Dummheit glaubt, daß es glücklich wird. Ach, Sammy, das is ’n schrecklicher Kummer für ’n Vaterherz.“ „Unsinn!“ sagte Sam. „Ich will mir doch gar nich verheiraten. Mach dir keine Sorgen deswegen; ich weiß doch, daß du in solchen Sachen orntlich beschlagen bist. Steck dir ’ne Feife ins Gesicht, und ich will dir den Brief vorlesen.“

Ob es nun die Aussicht auf die Pfeife oder der tröstliche Gedanke war, daß ein Heiratstrieb unwiderstehlich im Blut der Familie stecke, was Mr. Wellers Unruhe beschwichtigte und seinen Kummer verscheuchte, jedenfalls klingelte er, um sich Tabak bringen zu lassen, zog seinen Überrock aus, nahm die Pfeife, stellte sich mit dem Rücken gegen den Kamin, so daß er dessen volle Hitze empfing und sich zugleich an das Kaminsims anlehnen konnte, wandte sich zu Sam und bat ihn mit einer durch den besänftigenden Eindruck des Tabaks um ein Erkleckliches aufgeheiterten Miene um Feuer.

Sam tauchte seine Feder ein, um sich zu allen nötigen Verbesserungen bereit zu halten, und begann mit theatralischem Pathos: “ ,Liebliches …'“

„Halt!“ unterbrach Mr. Weller und klingelte wieder, „’n Doppelglas von dem Bewußten, liebes Kind!“

„Ganz recht, Sir“, erwiderte das Mädchen, das mit großer Schnelligkeit erschien, verschwand, wieder erschien und wieder verschwand.

„Sie scheinen deinen Geschmack hier schon zu kennen“, bemerkte Sam. „Also: ,Liebliches Wesen …'“

„Stürzt du dir etwa in Verse?“ unterbrach der Vater.

„Nein, nein!“ versicherte Sam.

„Das freut mich zu hören. Verse sind was ganz Unnatürliches, kein Mensch redet in Verse, außer den Büttel an Boxtage oder die, wo Warrens Schuhwichse oder Makassaröl ausschreien und anderes Lumpengesindel von der Sorte. Du darfst also nie im Leben so weit runterkommen, mein Sohn, daß du in Verse sprichst.“ – Mr. Weller führte mit kritischer Feierlichkeit seine Pfeife wieder an den Mund, und Sam begann abermals: “ ,Liebliches Wesen, ich fühle mir ganz beschmiert…'“

„Is kein schicklicher Ausdruck“, verwies Mr. Weller und nahm die Pfeife aus dem Mund.

„Ach nein, heißt auch nicht ,beschmiert'“, wandte Sam ein und hielt den Brief ans Licht, „es heißt ,beschämt‘, es is ’n Tintenklecks da – ,ich fühle mir beschämt!‘ „

„Na gut“, brummte Mr. Weller, „weiter!“

“ ,Fühle mir beschämt und gänzlich ver…‘ Da weiß ich schon wieder nich, wie das Wort heißt“, murmelte Sam und kratzte sich in vergeblichen Bemühungen, die Buchstaben zu entziffern, mit der Feder am Kopf.

„Warum liest du nich?“ forschte Mr. Weller.

„Ich lese doch“, antwortete Sam, „aber da is schon wieder so ’n Tintenklecks; ich erkenne bloß ’n v und ’n e.“

„Verloren vielleicht?“ riet Mr. Weller.

„Nö, is es nich. Verzaubert. Das is es!“

„Is aber kein so gutes Wort wie ,verloren‘, Sammy“, wendete Mr. Weller ernsthaft ein.

„Meinst du nich?“

„Mag vielleicht zärtlicher sein“, gab Mr. Weller nach einigem Nachdenken zu. „Lies weiter, Sammy!“

“ ,Fühle mir beschämt und vollständig verzaubert, indem daß ich an Ihnen schreibe, denn Sie sind so ein hübsches Mädchen, wie keine andere nicht.‘ „

„Sehr hübsch gesagt“, meinte Mr. Weller senior und nahm die Pfeife aus dem Mund, um seiner Bemerkung Platz zu machen.

„Ja, ich denke, es is nich übel“, gab Sam zu und fühlte sich höchlichst geschmeichelt.

„Was mir an diese Art Schreibweise besonders gefallen tut“, sagte Mr. Weller senior, „is, daß da keine solche fremden Namen drin vorkommen, keine Venüsse und so was; was kommt dabei raus, Sammy, daß man ein junges Weibsbild Venus oder Engel nennt?“

„Da hast du ganz recht“, erwiderte Sam.

„Ebensogut könntest du sie Vogel Greif oder Einhorn nennen, was doch bekanntlich auch bloß fabelhafte Tiere sind, was?“

„Ganz richtig. – Also: ,Bevor ich Ihnen zu Gesicht bekam, dachte ich, alle Frauenzimmer sind egal…'“

„Das sind sie aber auch“, warf Mr. Weller senior in Parenthese hin.

„, … aber jetzt merke ich erst, was für ein Hornochse ich gewesen bin, denn es gibt kein Frauenzimmer, wo Ihnen gleichen tut, und ich liebe Ihnen mehr, als wie alle andern zusammen.‘ – Ich dachte, es haut am besten hin, wenn ich’s ’n bißchen wuchtig mache“, erklärte Sam aufschauend.

Mr. Weller nickte beifällig.

„,Ich bediene mir also, Mary, mein Schatz, mit dem Prifilegium dieses Tages – wie der verschuldete Schenlmän, als er am Sonntag ausging – um Ihnen zu sagen, daß Ihr Bild sich das erste und einzige Mal, als ich Ihnen sah, schneller und in glänzendere Farben in mein Herzen eindrückte, als wie jemals ein Bild von der Silhouttiermaschine aufgefaßt wurde (Sie haben vielleicht auch schon von gehört, liebste Mary), obgleich dieselbe ein Portreh nebst Rahmen, Glas und Haken zum Aufhängen innerhalb von zweiundeineviertel Minute fix und fertig macht.'“ „Ich habe Sorge, Sammy, das streift schon wieder ans Poetische“, meinte Mr. Weller unschlüssig.

„Ganz und gar nicht“, erwiderte Sam und las schnell weiter, um weitere Erörterungen über diesen Punkt zu vermeiden. „,Nehmen Sie mir als Ihren Fallentin an, schönste, und überlegen Sie, was ich gesagt habe. – Meine teuerste Mary, jetzt will ich schließen.‘ – Das is alles“, setzte er hinzu.

„’n bißchen plötzlich angehalten, Sammy“, meinte Mr. Weller.

„Ach wo“, erklärte Sam. „Sie wird eben wünschen, daß noch mehr kommt, und das is eben die große Kunst beim Briefschreiben.“

„Na gut. Auch nich ohne. Ich wünschte bloß, daß deine Stiefmutter sich in ihre Unterhaltungen nach dasselbe Prinzip richten würde. Aber willst du nich mit Namen unterzeichnen?“

„Das ist doch die Schwierigkeit“, meinte Sam, „ich weiß nich, wie ich unterzeichnen soll.“

„Unterzeichne doch .Weller'“, riet der älteste noch lebende Träger dieses Namens.

„Nicht doch“, sagte Sam, „als Fallentin darf man doch nicht mit dem eigenen Namen unterzeichnen.“

„Na, denn schreib ,Pickwick‘. ’s is ’n sehr hübscher Name und läßt sich auch leicht buchstabieren.“

„Da hast du recht“, sagte Sam. „Da könnte ich auch mit ’nem Vers schließen. Was hältst du davon?“

„Will mir nich recht gefallen, Sam. Habe noch nie ’n ehrenwerten Kutscher kennengelernt, wo in Verse schreiben tat, außer einen einzigen, und der wurde in der Nacht darauf wegen Straßenraubs gehängt, ’s war aber bloß einer aus Camberwell und muß also als Ausnahme angesehen werden.“ Sam ließ sich jedoch von seiner poetischen Idee, die sich in seinem Kopf festgesetzt hatte, nicht mehr abbringen und schrieb unter den Brief:

„Von Liebe krank den Brief ich schick

Ihr guter Freund Pickwick.“

Sodann faltete er das Schreiben auf eine höchst verwickelte Art zusammen und verfertigte in einem schiefen Winkel die Adresse: „An Mary, Dienstmädchen bei Mayor Nupkins, Ipswich, Suffolk“, versiegelte es und steckte es in seine Tasche, um es selbst auf die Post zu tragen. Nachdem dieses ‚Wichtige Geschäft beendet war, brachte Mr. Weller senior die Angelegenheit, deretwegen er seinen Sohn hatte rufen lassen zur Sprache.

„Vor allem, Sammy“, sagte er, „wollen wir von deinem Herrn sprechen. Wird nich sein Prozeß morgen verhandelt werden?“

„Allerdings.“

„Na gut. Ich habe mir nun gedacht, er wird vielleicht ’n paar Zeugen brauchen, damit daß er seinen guten Ruf nachweisen tut, oder vielleicht auch seinen Alibi. Die ganze Geschichte is mir lange im Kopf rumgegangen, aber jetzt kann er ohne Sorgen sein, Sammy. Ich habe ’n paar Freunde parat, die werden beides für ihn beschwören; ich habe bloß noch den Rat für ihn, daß er nich so sehr fest auf seinem guten Ruf bestehen soll, lieber soll er sich mit den Alibi begnügen. Ich versichere dir, Sammy, es geht nichts über einen Alibi.“

Mr. Weller blickte sehr gelehrt drein, als er dieses Rechtsgutachten abgab, begrub seine Nase in dem Humpen und blinzelte über den Rand hinüber seinem erstaunten Sohne zu.

„Was meinst du damit?“ fragte Sam. „Glaubst du vielleicht, sein Prozeß wird in Old Bailey verhandelt?“

„Kommt hier weiter nich in Betracht, Sammy. Die Sache mag abgehandelt werden, wo sie will, ’n Alibi muß seine Freisprechung bewirken. Wir haben Tom Wildpark, der auf Totschlag angeklagt war, mit ’nem Alibi losgekriegt, als alle die gelehrten Perücken, dachten, ihn kann nichts mehr retten. Wenn dein Herr keinen Alibi nich nachweisen kann, denn is er unten durch, wie die Italiener sagen.“

Da Mr. Weller der festen und unabänderlichen Überzeugung war, Old Bailey sei der oberste Gerichtshof des Landes und nach seinen Normen müßten sich alle übrigen richten, so achtete er sehr wenig auf die Versicherungen und Beweisgründe seines Sohnes, der ihm auseinandersetzen wollte, daß ein Alibi hier unzulässig sei, und behauptete mit großer Heftigkeit, in diesem Fall werde Mr. Pickwick „ein Schlachtopfer“. Als Sam sich endlich überzeugt hatte, daß ein weiteres Streiten über diesen Gegenstand doch zu nichts führen würde, brach er davon ab und fragte nach dem zweiten Punkt, über den sein verehrter Vater sich mit ihm zu beraten wünschte.

„Es betrifft die häuslichen Angelegenheiten, Sammy“, sagte Mr. Weller. „Dieser Stiggins da …“

„Der Rotnasige?“

„Ja, derselbe. Dieser rotnasige Schlingel besucht deine Stiefmutter mit ’ner Freundlichkeit und Beharrlichkeit, wo ihresgleichen sucht. Er is ’n solcher Freund unsrer Familie, Sammy, daß es ihm außerhalb unsres Hauses nirgends wohl ist, wofern er nich irgend ’n Andenken an uns hat.“ „An deiner Stelle“, meinte Sam, „würde ich ihm ’n Denkzettel auf ’n Rücken schreiben, den er die nächsten zehn Jahre nich vergessen sollte.“

„Nur nichts übereilen“, wandte Mr. Weller ein, „ich wollte gerade sagen, er bringt jedesmal ’ne Flasche mit, wo so ihre anderthalb Maß enthält, und ehe er geht, füllt er sie mit Ananasgrog.“

„Und wahrscheinlich leert er sie jedesmal, bevor er wiederkommt?“

„Bis auf den letzten Tropfen! Er läßt nich mehr übrig als den Korken und den Geruch. Und diese Halunken wollen heute nacht an der Monatsversammlung von der Bricklane-Abteilung, von den vereinigten großen Ebenezer-Mäßigkeitsvereinen dran teilnehmen. Deine Stiefmutter wollte auch hingehen, Sammy, aber sie hat sich verkühlt und kann nich; na, und da habe ich die beide Einlaßkarten eingesteckt, wo sie ihr geschickt haben.“

Mr. Weller brachte dieses Geheimnis mit großer Fröhlichkeit vor und blinzelte dabei so unermüdlich, daß Sam schon glaubte, er habe einen Krampf im rechten Augenlid.

„Na und?“

„Na und“, fuhr Sams Erzeuger fort und blickte vorsichtig umher, „wir beide wollen heute abend frühzeitig hingehen, und der Vizehirt will nich, Sammy, der Vizehirt will nich.“

Wie von einem Paroxismus ergriffen, fing Mr. Weller aus vollem Halse zu lachen, an und lachte so lange, als es ein ältlicher Herr nur wagen kann, wenn er nicht geradezu ersticken will.

„Sammy“, flüsterte er dann und blickte mit noch größerer Vorsicht um sich, „ich muß dir was erzählen. Zwei von meine Freunde, was auf der Oxfordstreet fahren tun und gerne mal ’n Spaß haben, die haben den Vizehirten ins Schlepptau genommen, und wenn er in den Ebenezer-Verein kommt, denn wird er so voll Grog sein, wie er jemals im ,Marquis von Granby‘ gewesen is, und das will bestimmt allerhand heißen.“

Bei diesen Worten schlug Mr. Weller senior abermals ein unmäßiges Gelächter an und verfiel aufs neue in einen Zustand unvollständiger Erstickung.

Nichts hätte mit Sam „Wellers Gefühlen und Wünschen mehr übereinstimmen können als dieser Plan zur Entlarvung des rotnasigen Heuchlers, und da die Zeit zur Versammlung herannahte, machte er sich mit seinem Vater auf den Weg nach Bricklane; dabei vergaß er natürlich nicht, seinen Brief gelegentlich auf einem Postbüro abzugeben.

Die monatlichen Versammlungen der Bricklane-Abteilung des Vereinigten großen Ebenezer Mäßigkeitsvereins wurden in einem großen freundlich und luftig gelegenen Saal gehalten, in den man vermittels einer sichern und bequemen Leiter leicht gelangen konnte. Präsident war ein gewisser Mr. Anthony Humm, ein bekehrter Spritzenmann, derzeit Schulmeister und gelegentlich Wanderprediger. Das Sekretariat bekleidete Mr. Jonas Mudge, Inhaber eines Kramladens, ein enthusiastisches, uneigennütziges Mitglied, das an die Gesellschaft den Tee verkaufte, denn vor Beginn der Geschäfte pflegten die Damen, auf Bänken sitzend, so lange Tee zu trinken, bis sie nicht mehr konnten, während auf dem mit einem grünen Tuch überzogenen Amtstisch, jedermann weithin sichtbar, eine große hölzerne Geldbüchse stand und hinter ihr der Sekretär, um jeden neuen Zuwachs der darin verborgenen Kupfermünzensammlung mit holdseligem Lächeln zu quittieren.

Dieses Mal tranken die Damen wirklich unglaublich viel Tee, zum großen Abscheu Mr. Wellers senior, der trotz aller warnenden Winke Sams mit dem unverstelltesten Erstaunen nach allen Richtungen umherstarrte.

„Sammy“, flüsterte er, „wenn morgen früh nich mehrere von die Weiber abgezapft werden müssen, denn bin ich nich dein Vater, und damit Punktum. Sieh bloß, die Alte da neben mir ersäuft noch im Tee.“

„Kannst du denn gar nich ruhig sein?“ brummte Sam.

„Sammy“, flüsterte Mr. Weller einen Augenblick später im Ton tiefster Bewegung, „merke dir, was ich jetzt sagen tue: Wenn der Sekretär da bloß noch fünf Minuten so weitermacht, denn muß er vor lauter Butterbrot und Wasser auseinanderplatzen.“

„Na, laß ihn doch, wenn es ihm Spaß macht“, erwiderte Sam, „es geht dir doch nichts an.“

„Wenn das so weitergeht, Sammy“, flüsterte Mr. Weller, der sich gar nicht beruhigen konnte, „denn halte ich es für meine Menschenpflicht, aufzustehen und mir an den Präsidenten zu wenden. Dort auf der dritten Bank, da sitzt ’n junges Frauenzimmer, die hat schon neuneinhalb große Tassen getrunken; die schwillt richtig an, ich seh es ganz deutlich.“

Ohne allen Zweifel hätte Mr. Weller seine wohlwollende Absicht sofort ausgeführt, hätte ihn nicht zum Glück ein großes Geräusch, das durch Abräumen der Tassen und Kannen entstand, daran erinnert, daß die Teezeit vorüber war. Nach Entfernung des Geschirrs wurde der grüne Tisch mitten in den Saal gestellt, und ein sehr lebhafter kleiner Mann mit einem Kahlkopf und lichtbraunen Kniehosen, der hurtig und mit augenscheinlicher Gefahr, seine zwei in besagte lichtbraune Hosen eingeschlossene Schenkelchen zu verlieren, die Leiter erkletterte, eröffnete die Sitzung mit der Ansprache:

„Meine Herren und Damen, ich mache den Vorschlag, daß unser vortrefflicher Bruder, Mr. Anthony Humm, den Präsidentenstuhl einnehme.“

Die Damen ließen auf diesen Vorschlag eine auserlesene Sammlung von Taschentüchern wehen, und der ungestüme kleine Mann beförderte Mr. Humm im buchstäblichen Sinn des Wortes in den Präsidentenstuhl, indem er ihn an den Schultern nahm und in einen alten Mahagonisessel warf.

Mr. Humm, ein Mann mit blassem Gesicht, der sich beständig in Transpiration befand, verbeugte sich holdselig zum großen Entzücken der Damen und waltete sofort mit würdevoller Feierlichkeit seines Amtes. Der kleine Mann in den lichtbraunen Hosen gebot Stillschweigen und las folgendes Dokument vor:

„BERICHT
DES KOMITEES DER BRICKLANE-ABTEILUNG
DES VEREINIGTEN GROSSEN EBENEZER
MÄSSIGKEITSVEREINS

Das Komitee hat im verflossenen Monat seine dankbaren Arbeiten fortgesetzt und kann mit unaussprechlichem Vergnügen folgende neue Bekehrungen zur Mäßigkeit mitteilen:

I. Mr. Walker, Schneider, nebst Frau und zwei Kindern.

Er bekennt, in bessern Umständen täglich Ale und Bier getrunken zu haben, und weiß nicht mit Bestimmtheit anzugeben, ob er nicht seit zwanzig Jahren wöchentlich zweimal ,Hundsnase‘ genossen hat, ein Getränk, das den Nachforschungen unseres Komitees zufolge aus warmem Porter, Farinzucker, Wacholderbranntwein und Muskatnuß gebraut wird. (Stöhnen und Zustimmung im Publikum.) Gegenwärtig ist er ohne Arbeit und ohne Geld und der Ansicht, daß daran der Porter (Beifall) oder der Umstand schuld ist, daß er seine rechte Hand nicht mehr gebrauchen kann. Er ist zwar noch im Zweifel darüber, hält es aber für sehr wahrscheinlich, daß, wenn er in seinem ganzen Leben nichts als Wasser getrunken hätte, sein Geselle ihn nicht mit einer verrosteten Nadel gestochen und dadurch sein Unglück herbeigeführt haben würde. (Stürmischer Beifall.) Er trinkt jetzt lediglich kaltes Wasser und fühlt sich nicht mehr so durstig wie zuvor. (Lauter Beifall.)

II. Betsy Martin, Witwe mit einem Kind und einem Auge – Sie wäscht um Tagelohn, hat nie mehr als ein Auge besessen, weiß aber, daß ihre Mutter starkes Doppelbier trank, und würde sich nicht wundern, wenn ihr Unglück davon herrührte. Sie hält es nicht für ausgeschlossen, daß sie, wenn sie sich stets geistiger Getränke enthalten hätte, dadurch den Gebrauch ihres andern Auges auch erlangt haben würde.

(Stürmischer Zuruf.) Sie erhielt gewöhnlich an jedem Ort, wohin sie ging, täglich achtzehn Pence, eine Maß Porter und ein Glas Brandy, hat aber, seitdem sie Mitglied der Bricklane-Abteilung geworden, statt dessen immer drei Schilling und sechs Pence verlangt. (Die Verkündigung dieses höchst interessanten Falles wurde mit Enthusiasmus aufgenommen.)

III. Henry Beller – war viele Jahre hindurch Toastausbringer bei den Diners mehrerer Korporationen und hat in dieser Zeit eine Menge ausländische Weine getrunken, mag auch zuweilen eine Flasche oder zwei mit nach Hause genommen haben – weiß dies zwar nicht ganz gewiß, ist aber überzeugt, daß er, wenn er es tat, sie auch ausgetrunken hat. Er fühlt sich sehr niedergeschlagen, hat oft Fieber, leidet an beständigem Durst und glaubt, dies seinem früheren Weintrinken zuschreiben zu müssen. (Beifall.) Ist gegenwärtig ohne Beschäftigung und rührt unter keinen Umständen mehr einen Tropfen fremden Wein an. (Schallender Zuruf.)

IV. Thomas Burton – versorgt den Lordmajor, die Sheriffs und mehrere Mitglieder des Geheimrats mit Katzenfleisch (atemlose Aufmerksamkeit, als der Name dieses Gentleman genannt wird), hat ein hölzernes Bein, findet es kostspielig, damit über das Pflaster zu gehen, pflegte sich alte gebrauchte hölzerne Beine zu kaufen und jeden Abend ein Glas heißen Wacholderbranntwein mit Wasser zu trinken – manchmal auch zwei. (Tiefe Seufzer.) Fand, daß die alten, schon gebrauchten hölzernen Beine sehr schnell zersplitterten und faulten, und ist fest überzeugt, daß ihre Beschaffenheit durch den Genuß von Wacholderbranntwein mit Wasser untergraben wurde. (Anhaltender Beifall.) Kaufte sich kürzlich neue hölzerne Beine und trinkt nichts als Wasser und schwachen Tee. Die neuen Beine halten zweimal so lange als die andern, und er schreibt dies einzig und allein seiner gegenwärtigen Mäßigkeit zu.“ (Triumphgeschrei.)

Anthony Humm machte sodann den Vorschlag, ein Lied zu singen. Mit besonderer Rücksicht auf die geistlich-sittlichen Genüsse der Versammelten habe Bruder Mordlin die schönen Verse: „Wer kennt ihn nicht, den lustigen Matrosen“ und so weiter, einer alten wohlbekannten Volksmelodie angepaßt und bitte nun, ihn bei diesem Liede zu akkompagnieren. (Großer Beifall.) Zugleich nähme er Gelegenheit, seine feste Überzeugung auszusprechen, daß der selige Mr. Dibdin der Komponist, nachdem er die Irrtümer seines früheren Lebenswandels eingesehen, dieses Lied geschrieben habe, um die Vorteile der Enthaltsamkeit darzutun. „Es ist“, sagte Mr. Humm, „ein Temperenzlerlied.“ (Wirbelwind von Beifall.) „Der schmucke Anzug des interessanten jungen Mannes im Liede, die Gewandtheit seiner Bewegungen, der beneidenswerte Gemütszustand, kraft dessen er, um mit den schönen Worten des Dichters zu sprechen, ,Dahingerudert aller Sorgen bar‘ und so weiter, alles dies vereinigt sich zu dem Beweise, daß er ein Wassertrinker gewesen sein muß. (Beifall.) O welch ein Zustand tugendhafter Fröhlichkeit!“ (Entzückter Beifall.) Während des Gesangs verschwand das kleine Männlein mit den lichtbraunen Hosen, kehrte aber nach Beendigung desselben schnell zurück und flüsterte mit überaus wichtiger Miene dem Präsidenten etwas ins Ohr.

„Meine Freunde und Freundinnen“, sprach Mr. Humm, indem er, um Ruhe bittend, seine Hand emporhob, um diejenigen von den alten Damen, die noch um ein paar Takte zurück waren, zum Schweigen zu bringen, „meine Freunde und Freundinnen, ein Abgesandter der Dorkinger-Abteilung unserer Gesellschaft, Bruder Stiggins, wartet unten, erfahre ich soeben.“

Aufs neue flogen die Taschentücher heraus und wehten stärker als je, denn Mr. Stiggins war bei den weiblichen Mitgliedern von Bricklane außerordentlich beliebt.

„Also soll er kommen, dächte ich“, sagte Mr. Humm, mit einem fetten Lächeln um sich blickend. „Bruder Tadger, führen Sie ihn herauf.“

„Er kommt, Sammy“, flüsterte Mr. Weller und wurde vor unterdrücktem Lachen purpurrot im ganzen Gesicht.

„Sprich jetzt nicht“,, mahnte Sam, „ich kann mir sonst nich halten. Er is dicht vor der Tür. Ich höre, wie er mit dem Kopp an die Latten und an die Wand anschlägt.“

Gleich darauf flog die kleine Tür auf und herein trat Bruder Tadger, gefolgt von dem ehrwürdigen Mr. Stiggins, dessen Anblick mit gewaltigem Applaus, Füßegetrampel und Taschentücherwehen begrüßt wurde – Freudenbezeigungen, die er nur dadurch erwiderte, daß er mit stieren Augen und einem dummen Lächeln in das Licht auf dem Tisch glotzte, wobei er höchst unsicher hin und her schwankte.

„Sind Sie unwohl, Bruder Stiggins?“ fragte Mr. Anthony Humm flüsternd.

„Ach was, mir ist ganz gut, Sir“, erwiderte Mr. Stiggins heftig, aber mit schwerer Zunge. „G – ganz g – gut, Sir.“

„Oh, bitte sehr“, entschuldigte sich Mr. Anthony Humm und wich ein paar Schritte zurück.

„Ich hoffe, daß sich hier niemand unterstehen wird, zu sagen, es sei mir nicht g – ganz g – gut, Sir!“ schrie Mr. Stiggins. „Oh, gewiß nicht“, erwiderte Mr. Humm.

„Hätt es auch niemand geraten, Sir; h – hätt es niemand ge – geraten“, lallte Mr. Stiggins.

Inzwischen war die ganze Versammlung mäuschenstill geworden und sah mit Bangigkeit dem weitern Verlauf der Dinge entgegen.

„Wollen Sie vielleicht eine Rede an die Versammlung halten?“ fragte Mr. Humm mit einem einladenden Lächeln.

„Nein, Sir“, erwiderte Mr. Stiggins, „nein Sir; ich will nicht, Sir.“

Die Versammelten blickten einander mit großen Augen an und ein Murmeln der Verwunderung lief durch den Saal.

„Meine Meinung, Sir, ist – „, begann Mr. Stiggins mit sehr lauter Stimme und knöpfte seinen Rock auf, „m – meine M – Meinung, Sir, ist – d – daß diese Versammlung b – betrunken ist, Sir. Bruder Tadger“, fuhr er fort, wurde immer aufgeregter und drehte sich barsch nach dem kleinen Männchen in den lichtbraunen Hosen um, “ Sie sind betrunken, Sir.“

Da naturgemäß Mr. Stiggins den Wunsch hegte, die Nüchternheit der Versammlung zu fördern und deswegen alle ungeeigneten Charaktere auszuschließen, so schlug er nach Bruder Tadger und traf seine Nasenspitze mit solcher Sicherheit, daß die lichtbraunen Höslein wie ein Blitz verschwanden. – Bruder Tadger war kopfüber die Leiter hinabgestürtzt.

Sofort erhoben die Damen ein lautes Jammergeschrei stellten sich gruppenweise vor ihren Lieblingsbrüdern auf und schlangen die Arme um sie, um sie vor Gefahren zu schützen. Dieser Beweis von Zärtlichkeit wäre Mr. Humm beinahe schlecht bekommen, denn da er ungemein beliebt war, so warfen sich ihm so viele fromme Schöne an den Hals und hingen sich so fest an ihn, daß er beinahe erstickt wäre. Der größere Teil der Lichter wurde ausgelöscht, und von allen Seiten hörte man nichts als Geschrei und wildes Lärmen.

„Jetzt, Sammy“, sagte Mr. Weller und entledigte sich mit großer Kaltblütigkeit seines Überziehers, „jetzt geh raus und hole ’n Konstabler.“ „Und was willst du einstweilen unternehmen?“ fragte Sam.

„Laß mich nur machen, Sammy. Ich will inzwischen mit diesem Stiggins ’n bißchen abrechnen.“

Und ehe noch Sam es verhindern konnte, war sein heroischer Vater in einen entfernten Winkel des Saales gedrungen, wo er Ehrwürden Mr. Stiggins mit ungemeiner Geschicklichkeit angriff.

„Komm mit!“ rief ihm Sam zu.

„Nur ran, du Halunke!“ schrie Mr. Weller seinem Gegner zu. Und ohne weitere Aufforderung versetzte er Ehrwürden Mr. Stiggins einen gewaltigen Faustschlag auf den Kopf und tanzte, während er ihn bearbeitete, so flink und lustig um ihn herum, wie man es von einem Herrn in seinem Alter gar nicht erwartet hätte.

Da Sam sah, daß alle seine Vorstellungen vergeblich waren, drückte er seinen Hut fest auf den Kopf, warf seines Vaters Überrock über die Schultern, faßte den alten Herrn fest um den Leib und zog ihn mit Gewalt die Leiter hinab und auf die Straße; ja, er ließ ihn nicht eher los, bis sie die Ecke erreicht hatten.

Von dort noch konnten sie das Geschrei der versammelten Volksmenge, die Zeuge der Abführung Ehrwürden Stiggins in ein wohlverwahrtes Nachtquartier war, und den Lärm vernehmen, unter dem sich die Mitglieder der Bricklane-Abteilung des Vereinigten großen Ebenezer Mäßigkeitsvereins nach allen Richtungen zerstreuten.

Dreiunddreißigstes Kapitel


Dreiunddreißigstes Kapitel

Das einzig und allein einem ausführlichen und wahrheitsgetreuen Bericht über die denkwürdige Gerichtsverhandlung in Sachen Bardell kontra Pickwick gewidmet ist.

„Ich möchte nur wissen, was der Obmann der Geschworenen heute gefrühstückt hat“, sagte Mr. Snodgraß an dem verhängnisvollen Morgen des vierzehnten Februar, um ein Gespräch anzuknüpfen.

„Hoffentlich etwas Gutes“, meinte Perker. „Das ist nämlich sehr wichtig, mein lieber Mr. Pickwick, sehr wichtig. Nur von einem wohlgesättigten zufriedenen Geschwornen läßt sich etwas Tüchtiges erwarten. Mißvergnügte oder hungrige Geschworne aber, mein lieber Herr, sind schon im voraus für den Kläger eingenommen. Aber es ist zehn Minuten über neun“, fügte der kleine Mann, auf seine Uhr sehend, hinzu. „Es ist Zeit, aufzubrechen, mein lieber Herr; ein gebrochenes Eheversprechen – bei solchen Fällen ist der Gerichtssaal gewöhnlich überfüllt. Sie sollten nach einem Wagen schicken, mein lieber Herr, sonst kommen wir zu spät.“

Mr. Pickwick klingelte; der Wagen kam, die drei Jünger und Mr. Perker schlüpften hinein und fuhren nach Guildhall; Sam Weller, Mr. Lowten und der blaue Aktenbeutel folgten in einem Cab.

„Lowten“, sagte Perker, als sie in die Vorhalle des Gerichtshofs traten, „führen Sie Mr. Pickwicks Freunde in die Studentenloge; Mr. Pickwick selbst bleibt besser bei mir. Hierher, wenn ich bitten darf, mein lieber Herr, hierher.“ Dabei faßte der kleine Mann Mr. Pickwick am Rockärmel und führte ihn zu einer niedrigen Bank gerade unter dem Pult des königlichen Prokurators, das zur Bequemlichkeit der Advokaten angebracht ist, damit sie von hier aus dem Hauptanwalt ins Ohr flüstern können, wenn sie während der Verhandlung noch einige Instruktionen für nötig erachten. Der großen Menge der Zuschauer sind die hier Sitzenden unsichtbar, da die Bank viel niedriger ist als der Platz für die Anwälte oder für das Publikum.

„Dies ist wohl die Zeugenlose?“ fragte Mr. Pickwick, und zeigte auf eine Art Katheder mit messingenem Geländer.

„Ja, mein lieber Herr“, erwiderte Perker und zog eine Menge Dokumente aus dem blauen Beutel hervor, den Lowten soeben zu seinen Füßen niedergelegt hatte.

„Und dort sitzen wohl die Geschworenen?“

„Erraten, mein lieber Herr“, erwiderte Perker, auf den Deckel seiner Schnupftabakdose klopfend.

Mr. Pickwick stand in großer Unruhe auf und überschaute den ganzen Saal. Es hatten sich bereits eine bunte Schar von Zuschauern auf der Galerie und zahlreiche Exemplare von Herren mit Perücken auf der Anwaltsbank eingefunden, die, als Körperschaft betrachtet, jene lustige und reiche Mannigfaltigkeit an Backenbärten und Nasen darboten, durch die der englische Advokatenstand mit Recht so berühmt ist. Diejenigen von den Herren, die einen Prozeß zu führen hatten, trugen die Aktenstücke so ostentativ wie möglich zur Schau und kratzten sich gelegentlich die Nasen damit, um auf die beobachtenden Blicke der Zuschauer den Eindruck nach Möglichkeit zu verstärken. Andere, die nicht mit Prozeßvollmachten versehen waren, trugen gewaltige Bände unter dem Arm, die unter dem technischen Namen „Juristen-Kalbsleder“ bekannt sind. Die, die weder Akten noch Bücher bei sich hatten, steckten die Hände in die Taschen und blickten möglichst weise um sich oder liefen mit großer Unruhe und unendlicher Wichtigtuerei hin und her, zufrieden, die Bewunderung und das Erstaunen des Laien zu erregen. Zu Mr. Pickwicks großem Befremden hatte sich die ganze Zunft in kleine Gruppen zerteilt, in denen man so gleichgültig wie möglich über die Tagesneuigkeiten plauderte, als wenn gar kein Rechtsstreit verhandelt werden sollte.

Eine Verbeugung Mr. Phunkys, als dieser eintrat und sich hinter die für den königlichen Anwalt bestimmte Bank setzte, zog Mr. Pickwicks Aufmerksamkeit auf sich, und er hatte sie kaum erwidert, als Prokurator Snubbin erschien, gefolgt von Mr. Mallard, der einen gewaltigen karmesinroten Beutel auf den Tisch legte und, nachdem er Perker die Hand gedrückt, sich entfernte. Es kamen dann noch zwei der drei Prokuratoren herein und unter ihnen einer mit einem dicken Bauch und einem roten Gesicht, der Sergeant Snubbin freundlich zunickte und zu ihm sagte: „Ein schöner Morgen heute.“

Wer ist der Herr mit dem roten Gesicht, der unserm Anwalt zunickte und sagte, es sei ein schöner Morgen?“ flüsterte Mr. Pickwick.

„Das ist der Herr Prokurator Buzfuz“, erwiderte Perker, „der erste Sachverwalter der Gegenpartei. Der Herr hinter ihm heißt Skimpin und ist sein Assistent.“

Mr. Pickwick war eben im Begriff, mit großer Empörung zu fragen, wie Prokurator Buzfuz, der gegnerische Anwalt, die Unverschämtheit haben könne, zu Prokurator Snubbin, seinem eigenen Sachwalter, zu sagen, es sei ein schöner Morgen, als er durch ein allgemeines Aufstehen der Anwälte und eine laute Aufforderung zum Schweigen von Seiten der Gerichtsdiener daran verhindert wurde. Er sah sich um und bemerkte, daß soeben der Richter eingetreten war.

Mr. Stareleigh, der an diesem Tage die Stelle des wegen Krankheit abwesenden Lord-Oberrichters einnahm, war ein auffallend kurz geratener Mann und dabei so kugelrund, daß man nichts als Gesicht und Bauch zu sehen glaubte. Er watschelte auf zwei kleinen krummen Beinen herein, und nachdem er sich gravitätisch gegen die Advokaten und die Advokaten sich gegen ihn verbeugt hatten, steckte er die kurzen Beine unter das Pult und legte seinen kleinen dreispitzigen Hut auf die Tischplatte, so daß man nichts mehr von ihm sehen konnte, als zwei wässerige Äuglein und ein breites rosenfarbiges Gesicht, das zur Hälfte unter einer großen, höchst possierlichen Perücke hervorblickte.

Kaum hatte er seinen Sitz eingenommen, als die Gerichtsdiener mit gebieterischem Ton im Saale und auf der Galerie Schweigen geboten. Als dies geschehen war, rief ein schwarz gekleideter, etwas niedriger als der Richter sitzender Gentleman die Namen der Geschworenen auf, und nach langem Geschrei, daß nur zehn Mitglieder der Spezial-Jury zugegen seien, beantragte der Prokurator Buzfuz die Wahl von Ersatzmännern. Der schwarz gekleidete Herr preßte daraufhin kurzerhand zwei Mitglieder der allgemeinen Jury in das Spezial-Geschworenengericht und bestimmte einen Gewürzkrämer und einen Apotheker.

„Geben Sie Antwort auf den Namensaufruf, meine Herren, damit man Sie vereidigen kann“, sagte er. „Richard Upwitch!“

„Hier!“ meldete sich der Gewürzkrämer.

„Thomas Groffin!“

„Hier!“ erwiderte der Apotheker.

„Nehmen Sie das Buch, meine Herren. Sie sollen also treulich und gewissenhaft untersuchen …“

„Ich bitte den Gerichtshof um Nachsicht“, unterbrach der Apotheker, ein langer hagerer Mann von gelber Gesichtsfarbe, „aber ich hoffe, der Gerichtshof wird mich für diesmal entschuldigen.“

„Aus was für Gründen, Sir?“ fragte der Richter Stareleigh.

„Ich habe keinen Gehilfen im Geschäft, Mylord.“

„Da kann ich Ihnen nicht helfen, Sir“, erwiderte Mr. Stareleigh. „Sie sollten sich einen anschaffen.“

„Ich kann die Kosten nicht erschwingen, Mylord.“

„Dann sollten Sie sich eben Mühe geben, sie erschwingen zu können, Sir!“ sagte der Richter und wurde feuerrot, denn er war äußerst reizbarer Natur und konnte keinen Widersprach ertragen.

„Ich würde es auch können, wenn es mir nach Verdienst erginge; aber das ist leider nicht der Fall, Mylord“, antwortete der Apotheker. „Vereidigen Sie den Herrn!“ befahl der Richter gebieterisch.

Der Beamte kam mit der Verlesung der Eidesformel nicht weiter als vorhin, denn der Apotheker unterbrach ihn aufs neue. „Ich soll also vereidigt werden, Mylord?“ fragte er.

„Allerdings, Sir“, erwiderte der eigensinnige kleine Richter.

„Nun gut, Mylord“, sagte der Apotheker ergeben. „Dann wird es noch vor Ende der Sitzung einen Unfall mit tödlichem Ausgang geben. Bitte vereidigen Sie mich nur, Sir, wenn’s gefällig ist.“

„Ich wollte nur noch bemerken, Mylord“, sagte er, als er unter Eid genommen worden und mit großer Fassung seinen Sitz einnahm, „daß ich niemand als einen Laufburschen in meinem Laden zurückgelassen habe. Es ist ein recht wackerer Junge, Mylord, der sich aber auf die Arzneimittel noch nicht ganz versteht und mit Vorliebe Oxalsäure mit Epsomsalz und Laudanum mit Sennesblättersirup verwechselt.“

Mit diesen Worten setzte sich der lange Apotheker behaglich zurecht, nahm eine zufriedene Miene an und schien auf das Schlimmste gefaßt zu sein.

Mr. Pickwick betrachtete ihn eben mit Gefühlen des tiefsten Abscheus, als im Hintergrund des Saales eine Bewegung entstand, und unmittelbar darauf wurde Mrs. Bardell, gestützt auf Mrs. Cluppins, in schmachtendem Zustande hereingeführt, und ihr am andern Ende derselben Bank, auf der Mr. Pickwick saß, ein Platz angewiesen. Mr. Dodson trug ihr einen Schirm von ungewöhnlicher Größe, Mr. Fogg ein Paar Überschuhe nach, und beide Herren hatten für die Sitzung höchst mitleidsvolle und melancholische Gesichter aufgesetzt. Sodann erschien Mrs. Sanders und führte den jungen Master Bardell herein. Beim Anblick ihres Kindes fuhr Mrs. Bardell auf, faßte sich aber schnell wieder und küßte es wie wahnsinnig. Sofort versank sie dann aufs neue in einen Zustand hysterischen Traumwachens und fragte, wo sie denn eigentlich sei? Statt aller Antwort wandten Mrs. Cluppins und Mrs. Sanders die Köpfe von ihr ab und weinten, indes die Herren Dodson und Fogg die Klägerin baten, sie möge sich doch beruhigen. Prokurator Buzfuz rieb sich mit einem großen weißen Sacktuch die Augen beinahe wund und warf einen appellierenden Blick auf die Geschworenen; der Richter schien sichtlich ergriffen zu sein und mehrere der Zuschauer husteten laut, um ihre Rührung zu verbergen.

„Ein fein ausgedachter Plan“, flüsterte Perker Mr. Pickwick zu. „Kapitalburschen das, diese Dodson und Fogg; wirklich, eine vortreffliche Effektberechnung, mein lieber Herr.“

Allmählich begann Mrs. Bardell wieder zu sich zu kommen, indes Mrs. Cluppins den jungen Master Bardell nach sorgfältiger Musterung, ob seine Knöpfe auch nicht schief geknöpft seien, gerade vor seine Mutter stellte, so daß er nicht verfehlen konnte, das volle Erbarmen und Mitgefühl sowohl des Richters als der Geschworenen zu erwecken. Es ging dies freilich nicht ohne beträchtliche Widersetzlichkeiten und eine Menge Tränen von seiten des jungen Herrn vonstatten, der offenbar fürchtete, seine Zurschaustellung vor den Augen der Richter sei bloß ein formelles Vorspiel zu einer alsbaldigen Hinrichtung oder zumindest Deportation über das Meer für Lebenszeit.

„Bardell kontra Pickwick!“ las der schwarz gekleidete Gentleman laut von der Liste ab.

„Ich vertrete die Klägerin, Mylord“, meldete sich der Prokurator Buzfuz.

„Wer assistiert Ihnen, Kollega Buzfuz?“ fragte der Richter.

Mr. Skimpin verbeugte sich, zum Zeichen, daß er es sei.

„Ich bin für den Beklagten erschienen, Mylord“, sagte Prokurator Snubbin.

„Und wer ist Ihr Assistent, Kollega Snubbin?“

„Mr. Phunky, Mylord.“

„Prokurator Buzfuz und Mr. Skimpin für die Klägerin“, diktierte der Richter und schrieb sich die Namen in sein Notizbuch, „für den Beklagten Prokurator Snubbin und Mr. – Monkey.“

„Bitte um Verzeihung, Mylord: – Phunky.“

„Ah, sehr gut“, sagte der Richter, „ich hatte noch nie das Vergnügen, den Namen des Herrn zu hören.“

Mr. Phunky verbeugte sich und lächelte, der Richter verbeugte sich ebenfalls und lächelte, und Mr. Phunky, rot bis in das Weiße seiner Augen, suchte sich das Ansehen zu geben, als wisse er nicht, daß alle Augen auf ihn gerichtet seien.

„Also beginnen wir“, sagte der Richter.

Die Gerichtsdiener geboten abermals Stillschweigen, und Mr. Skimpin schritt zur Darstellung der Vorgeschichte, die aber sehr wenig Redestoff zu bieten schien, denn er behielt die ihm bekannten besonderen Umstände gänzlich für sich, setzte sich nach drei Minuten wieder und ließ die Geschworenen ganz auf derselben hohen Stufe der Erleuchtung wie zuvor.

Prokurator Buzfuz erhob sich gleich nach ihm mit all der Majestät und Würde, die die ernste Natur der Verhandlung erheischte, und nachdem er Dodson einige Worte zugeflüstert und auch mit Fogg ein wenig konferiert hatte, zupfte er seinen Mantel und seine Perücke zurecht und begann seine Rede an die Geschworenen.

Es fing mit der Erklärung an, daß ihm während seiner ganzen Praxis, ja, vom ersten Augenblick an, als er sich auf das Studium und die Ausübung des Rechtes verlegt, noch nie ein Fall vorgekommen sei, der ihn so im Innersten ergriffen oder mit einem solch klaren Bewußtsein der auf ihm lastenden Verantwortlichkeit erfüllt habe – einer Verantwortlichkeit, unter deren Gewicht er erlegen wäre, hätte ihn nicht die feste, ja einer positiven Gewißheit gleichkommende Überzeugung aufrechterhalten, daß die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit, oder mit andern Worten, die Sache seiner schwer verletzten und auf eine schmähliche Art getäuschten Klientin bei den edelgesinnten und einsichtsvollen zwölf Herren, die er vor sich sehe, obsiegen müssen.

Sogleich begannen denn auch mehrere Geschworene mit dem größten Eifer, sich lange Notizen zu machen.

„Sie haben von meinem gelehrten Kollegen vernommen“, fuhr Prokurator Buzfuz fort, sich gar wohl bewußt, daß die Herren von der Jury von seinem gelehrten Kollegen soviel wie nichts vernommen hatten, „Sie haben von meinem gelehrten Kollegen vernommen, meine Herren, daß es sich hier um den Bruch eines Eheversprechens handelt und ein Schadenersatz von fünfzehnhundert Pfund beansprucht wird, aber die näheren Tatsachen und Umstände haben Sie von feinem gelehrten Kollegen nicht vernommen, wie es meinem gelehrten Kollegen auch nicht zukam, sie Ihnen mitzuteilen. Diese Tatsachen und Umstände, meine Herren, Werde ich Ihnen nunmehr ausführlich auseinandersetzen und Ihnen eine einwandfreie Zeugin vorführen, die sie beweisen wird.“

Um dem Wort „beweisen“ einen kraftvollen Nachdruck zu geben, schlug Prokurator Buzfuz auf den Tisch und blickte die Herren Dodson und Fogg an, die ihm voll Bewunderung ob seiner Rednergabe zuzwinkerten.

„Die Klägerin, meine Herren“, fuhr Prokurator Buzfuz mit sanfter, melancholischer Stimme fort, „die Klägerin ist Witwe. Ja, meine Herren, Witwe. Der selige Mr. Bardell schlummerte, nachdem er sich viele Jahre lang als Wächter der königlichen Einkünfte der Achtung und des Vertrauens seines Souveräns erfreut, sanft in eine andere Welt hinüber, um sich im Jenseits die Ruhe und den Frieden zu suchen, die ein Zollhaus hinieden nimmermehr gewähren kann.“

Bei dieser pathetischen Beschreibung vom Hinscheiden Mr. Bardells, der in einem Wirtshauskeller mit einer Bierkanne erschlagen worden war, bebte die Stimme des Anwalts.

„Kurze Zeit vor seinem Tode erblickte er noch sein Ebenbild in einem Söhnlein, und mit diesem Söhnlein, dem einzigen Liebespfand von ihrem entschlafenen Gatten, zog sich Mrs. Bardell von der Welt zurück, suchte die Abgeschiedenheit und Ruhe der Goswellstreet und hängte dort an ihrem Fenster eine Anzeige aus des Inhalts: ,Möblierte Zimmer für einen ledigen Herrn zu vermieten. Zu erfragen im Hause.'“

Prokurator Buzfuz hielt hier inne, indes mehrere Herren von der Jury sich diese wichtige Tatsache notierten.

„Hatte die Anzeige kein Datum?“ fragte einer der Geschworenen.

„Nein, Sir“, erwiderte Prokurator Buzfuz, „aber ich bin ermächtigt zu sagen, daß sie gerade vor drei Jahren ans Fenster der Klägerin gesteckt wurde. Ich muß die Aufmerksamkeit der Herren Geschworenen auf die wörtliche Abfassung dieses Dokuments lenken: ,Möblierte Zimmer für einen ledigen Herrn zu vermieten.‘ Mrs. Bardells Ansichten über das andre Geschlecht gründeten sich auf eine lange Beobachtung der unschätzbaren Eigenschaften ihres verstorbenen Gatten. Sie war frei von Mißtrauen – hegte keinen Verdacht – kurz, war voll argloser Zuversicht. ,Mr. Bardell‘, sagte sich die Witwe, ,Mr. Bardell war ein Mann von Ehre – Mr. Barde!! war ein Mann von Wort – Mr. Bardell war kein Betrüger – Mr. Bardell war auch einst ein lediger Herr und bei ledigen Herren will ich daher Schutz, Beistand, Hilfe und Trost suchen – in ledigen Herren werde ich beständig etwas sehen, was mich daran erinnert, wie Mr. Bardell war, als er das erste Mal die Neigung meines jungen, unerfahrenen Herzens gewann. An einen ledigen Herrn will ich also meine Wohnung vermieten.‘ Beseelt von diesem schönen rührenden Beweggrund – einer der besten Beweggründe unsrer unvollkommnen Natur – trocknete die einsame verlassene Witwe ihre Tränen, möblierte ihren untern Stock, drückte ihren unschuldigen Knaben an den mütterlichen Busen und hängte die Anzeige an das Fenster. Blieb sie lange dort? frage ich. Nein. Die Schlange lag bereits auf der Lauer, die Zündschnur war gelegt, die Mine gegraben, der Sappeur und der Mineur waren in voller Tätigkeit. Kaum hing die Anzeige drei Tage am Fenster – drei Tage, meine Herren –, als ein Individuum, das ganz die äußre Gestalt eines Mannes, nicht etwa die eines Ungeheuers hatte, an Mrs. Bardells Haustür anklopfte. Er erkundigte sich, mietete die Wohnung und nahm am nächstfolgenden Tage Besitz davon. Dieser Mann war Pickwick – Pickwick, der Beklagte.“

Prokurator Buzfuz hatte mit solcher Zungenfertigkeit gesprochen, daß sein Gesicht ganz blaurot geworden war und er innehalten mußte, um Atem zu schöpfen. Sein Schweigen erweckte den Richter Stareleigh, der sogleich mit einer uneingetunkten Feder etwas schrieb und ganz außerordentlich vertieft aussah, um die Geschworenen glauben zu machen, er habe mit geschlossenen Augen der Sache bis in ihre heimlichsten Tiefen nachgeforscht. Prokurator Buzfuz fuhr fort: „Von diesem Pickwick werde ich nicht viel sagen; das Thema bietet nicht sehr viel Anziehendes, und ich, meine Herren, bin nicht der Mann, sowenig wie Sie, meine Herren, bei der Betrachtung empörender Herzlosigkeit und systematischer Verworfenheit mit Lust zu verweilen.“

Hier fuhr Mr. Pickwick, der sich seit einiger Zeit ruhig Notizen aufgeschrieben hatte, heftig auf, wie wenn sich ihm er Wunsch aufgedrängt hätte, in Gegenwart des versammelten hohen Gerichtshofs dem Prokurator Buzfuz zu Leibe zu gehen. Eine abratende Gebärde von Perker hielt ihn jedoch zurück, und er hörte den ferneren Vortrag des gelehrten Herrn mit einer Entrüstung an, die den stärksten Gegensatz zu den von Bewunderung strahlenden Gesichtern der Damen Cluppins und Sanders bildete.

„Ich sage systematische Verworfenheit‘, meine Herren“, fuhr Prokurator Buzfuz fort und schien Mr. Pickwick mit seinen Blicken durchbohren zu wollen, „und wenn ich ,systematische Verworfenheit‘ sage, so lassen Sie mich dem beklagten Pickwick, wenn er sich, wie ich gehört habe, im Saale befindet, erklären, daß es weit anständiger und schicklicher, weit gescheiter und vernünftiger gewesen wäre, er wäre hier fern geblieben. Lassen Sie mich ihm sagen, meine Herren, daß alle Zeichen von Meinungsverschiedenheit oder Mißbilligung, die er sich im Gerichtssaale erlauben könnte, bei Ihnen nichts fruchten werden und daß Sie sich sie wohl zu deuten wissen werden. Lassen Sie mich ihm ferner sagen, wie Seine Lordschaft Ihnen, meine Herren, bestätigen wird, daß ein Anwalt in Erfüllung seiner Pflichten gegen seinen Klienten sich weder einschüchtern noch beirren oder zum Schweigen bringen läßt und daß jeder Versuch, das eine oder das andere, das erste oder das letztere zu tun, auf das Haupt dessen zurückfällt, der den Versuch wagt, sei er nun Kläger oder Beklagter, möge er nun Pickwick oder Noakes, Stoakes oder Stiles, Brown oder Thompson heißen.“

Diese kleine Abschweifung von der Sache konnte die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlen, aller Augen auf Mr. Pickwick zu lenken. Nachdem Prokurator Buzfuz der moralischen Entrüstung, zu der er sich hatte hinreißen lassen, wieder einigermaßen Meister geworden, fuhr er fort: „Ich werde Ihnen nachweisen, meine Herren, daß Pickwick zwei Jahre lang fortwährend ohne Unterbrechung im Hause Mrs. Bardells gewohnt hat. Ich werde Ihnen nachweisen, daß ihn Mrs. Bardell diese ganze Zeit über bediente, auf jede Art für seine Behaglichkeit sorgte, für ihn kochte, sein Weiß“ zeug zur Wäscherin schickte, es flickte, in Ordnung hielt und wieder instand setzte, mit einem Wort, daß sie sich seines vollkommensten Vertrauens erfreute. Ich werde Ihnen nachweisen, daß er ihrem kleinen Knaben manchmal einen halben Penny, einige Male sogar sechs Pence schenkte, und ich werde Ihnen durch eine Zeugin, deren Aussagen mein gelehrter Herr Kollega weder zu entkräften noch zu bestreiten imstande sein wird, dartun, daß er einmal den Knaben auf den Kopf tätschelte, und, nachdem er ihn gefragt, ob er viele Murmeln – wie ich höre, eine besondere Art von Steinkugeln, die von der Jugend unsrer Stadt sehr geschätzt wird – gewonnen habe, sich der bemerkenswerten Äußerung bediente: ,Würde es dich freuen, wenn du wieder einen Vater bekämest?‘ Ich werde Ihnen ferner nachweisen, meine Herren, daß Pickwick zwar vor etwa einem Jahre plötzlich mehrere Male auf längere Zeit verreiste, wie wenn er im Sinn gehabt hätte, allmählich mit meiner Klientin zu brechen; aber ich werde Ihnen auch dartun, daß er sich in seinem Entschluß damals noch nicht gehörig befestigt hatte oder daß seine besseren Gefühle, wenn er überhaupt deren fähig ist, obsiegten oder daß die Reize und Vorzüge meiner Klientin seinen unwürdigen Plan über den Haufen warfen. Ich werde Ihnen schließlich beweisen, daß er eines Tages, als er vom Lande zurückkehrte, ihr in nicht mißzuverstehenden Worten und Ausdrücken einen Heiratsantrag machte, wobei er freilich die besondre Vorsicht gebraucht hatte, bei dem feierlichen Versprechen Zeugen auszuschließen. Ja, ich bin imstande, durch das Zeugnis von dreien seiner eignen Freunde – höchst unfreiwillige Zeugen, meine Herren, höchst unfreiwillige Zeugen – zu erhärten, daß man ihn an demselben Morgen antraf, wie er eben die Klägerin in seinen Armen hielt und ihre Aufregung durch Schmeicheleien und Liebkosungen zu beschwichtigen suchte.“

Besonders der letzte Teil der Rede brachte einen sichtlichen Eindruck auf das Publikum hervor. Der Prokurator zog zwei schmale Papierstreifen aus der Tasche und fuhr fort:

„Und nun, meine Herren, nur noch ein Wort: Es sind zwischen den Parteien zwei Briefe gewechselt worden, Briefe, deren Handschrift der Beklagte als die seinige anerkennen muß und deren Inhalt von höchster Wichtigkeit ist. Diese Briefe werfen ein helles Licht auf den Charakter des Mannes. Es sind nicht etwa offene, feurige, beredte Episteln, die die Sprache leidenschaftlicher Liebe atmen; nein, es sind versteckte, schlaue zweideutige Mitteilungen, die aber glücklicherweise mehr Aufschlüsse geben, als wären sie in der glühendsten Sprache und in den poetischsten Bildern abgefaßt – Briefe, die man mit vorsichtig argwöhnischem Au“e betrachten muß – Briefe, durch die Pickwick offenbar etwaige dritte Personen, denen sie vielleicht in die Hände hätten geraten können, hinters Licht zu führen und auf eine falsche Spur zu leiten beabsichtigte. Lassen Sie mich den ersten vorlesen:

,Garraway, um 12 Uhr.

Liebe Frau B.!
Kotelettes und Tomatensauce.

Ihr
Pickwick.‘

Was soll man davon denken, meine Herren? Kotelettes und Tomatensauce. Ihr Pickwick!‘ – Kotelettes! Gütiger Gott! Und Tomatensauce! Meine Herren, darf das Glück einer gefühlvollen und arglosen Frau durch so elende Chiffrierkunststücke mit Füßen getreten werden? – Das zweite Billett hat gar kein Datum, wodurch es schon von vornherein verdächtig wird:

,Liebe Frau B. Ich werde erst morgen nach Hause kommen. Eile mit Weile.‘ Und dann folgt noch der sehr bemerkenswerte Zusatz: ,Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Wärmflasche.‘ – Die Wärmflasche! Wie, meine Herren? Wer macht sich denn Sorgen wegen einer Wärmflasche? Wann wurde je der Seelenfrieden eines Mannes oder einer Frau durch eine Wärmflasche gestört oder vernichtet, die an sich selbst ein harmloses nützliches, und, meine Herren, ich möchte noch hinzufügen, ein komfortables Hausgerät ist? Warum wird Mrs. Bardell so angelegentlich ersucht, sich wegen der Wärmflasche keine Sorgen zu machen, wenn diese nicht (wie es hier offenbar der Fall ist) ein heimliches Liebesfeuer bedeuten soll – wenn sie nicht bloß die Stelle eines zärtlichen Wortes oder Versprechens vertritt, gemäß einem verabredeten Korrespondenzsystem, das Pickwick behufs langst beabsichtigter Treulosigkeit mit Vorbedacht ausgeheckt hat und das ich nicht näher erklären kann? Und was soll diese Anspielung: ,Eile mit Weile‘ bedeuten? Soweit ich die Sache zu durchschallen vermag, bezieht es sich auf Pickwick selbst, der in der Tat während dieses ganzen Verhältnisses sehr ,Eile mit Weile‘ hat walten lassen. Na, vielleicht wird er sich künftig, wie er auf seine Kosten erfahren wird, von Ihnen zu größrer Eile anspornen lassen.“

Prokurator Buzfuz machte eine Pause, um zu sehen, ob die Geschworenen zu seinem Witz lächelten; da dies aber niemand tat als der Gewürzkrämer, dessen Empfänglichkeit dafür höchstwahrscheinlich dadurch hervorgerufen wurde, daß er erst diesen Morgen noch hatte eine Droschke nehmen müssen, um nicht zu spät zu Gericht zu kommen, so hielt es der gelehrte Redner für ratsam, vor Schluß seines Vortrags noch ein wenig auf die Rührung der Geschworenen einzuwirken.

„Doch genug hiervon, meine Herren“, lenkte er ein, „es ist schwer, mit blutendem Herzen zu lächeln, es scherzt sich nicht leicht, wenn unser tiefstes Mitgefühl erregt ist. Alle Hoffnungen und Aussichten meiner Klientin sind vernichtet, und es ist keine bloße Redewendung, wenn ich sage, daß es um ihr Fortkommen geschehen ist. Die Anzeige hängt nicht mehr am Fenster, und noch wohnt kein Herr im Hause. Es kommen ledige Herren, unter denen man auswählen könnte, genug am Hause vorüber – aber es ist keine Aufforderung mehr da, einzuziehen. Düsteres Schweigen herrscht jetzt in dieser Wohnung; selbst die Stimme des Knaben ist verhallt; seine kindlichen Spiele machen ihm kein Vergnügen mehr, da seine Mutter beständig weint; seine Murmeln sind ihm gleichgültig geworden; er überhört die Aufforderung seiner Kameraden zum ,schwarzen Mann‘, und wollen sie ,Grad oder ungrad‘ mit ihm spielen, so rührt er keine Hand. Aber Pickwick, meine Herren, Pickwick, der mitleidslose Zerstörer dieser häuslichen Oase in der Wüste der Goswellstreet – Pickwick, der die Quelle versiegen gewacht und auf den grünen Rasen Asche gestreut hat – Pickwick, der mit seiner herzlosen Tomatensauce und seiner Wärmflasche heute vor Ihnen erscheint – Pickwick erhebt noch immer mit frecher Schamlosigkeit sein Haupt und blickt ohne Reue auf die Verwüstung hin, die er angerichtet hat. Eine Geldentschädigung, meine Herren, eine bedeutende Geldentschädigung ist die einzige Strafe, womit Sie ihn belegen, der einzige Ersatz, den Sie meiner Klientin gewähren können. Um diese Geldentschädigung nun wende ich mich hiermit an eine erleuchtete, großherzige, gewissenhafte, leidenschaftslose, mitfühlende und einsichtsvolle Jury von gebildeten Mitbürgern.“

Mit dieser schönen Wendung setzte sich Prokurator Buzfuz nieder, und Richter Stareleigh erwachte zum zweiten Male. Nach einer Minute erhob sich Prokurator Buzfuz wieder mit frischer Kraft und verlangte, daß Elisabeth Cluppins vorgerufen werde.

Der zunächststehende Gerichtsdiener rief Elisabeth Tuppkins, ein andrer in einiger Entfernung fragte nach Elisabeth Juppkins und ein dritter rannte atemlos in die Kingstreet und schrie sich heiser nach einer Elisabeth Muffins.

Mittlerweile wurde Mrs. Cluppins durch die vereinigte Hilfe der Damen Bardell und Sanders sowie der Herren Dodson und Fogg in die Zeugenloge gebracht, und als sie die oberste Stufe erklommen, stellte sich Mrs. Bardell an die unterste, mit dem Taschentuch und den Überschuhen in der einen und einer Flasche, die ungefähr eine Viertelpinte Riechsalz enthalten mochte, in der andern Hand, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Mrs. Sanders, deren Augen unverwandt am Gesicht des Richters hingen, pflanzte sich mit dem großen Regenschirm dicht neben ihr auf und hielt mit ernster Miene ihren rechten Daumen an das Schloß ihrer Tasche gedrückt, um nötigenfalls sogleich ein Stärkungsmittel hervorholen zu können.

„Mrs. Cluppins“, redete Prokurator Buzfuz ihr zu, „ich bitte Sie, beruhigen Sie sich, Madam.“

Die Erinnerung daran war keineswegs unnötig, denn Mrs. Cluppins schluchzte und seufzte, daß es einen Stein hätte erweichen können; ja, es stellten sich sogar beunruhigende Symptome einer herannahenden Ohnmacht ein, denn sie konnte, wie sie später sagte, ihre Gefühle kaum bewältigen.

„Erinnern Sie sich, Mrs. Cluppins“, fragte Prokurator Buzfuz nach einigen unwichtigen Präliminarien, „erinnern Sie sich, an einem gewissen Morgen des vergangenen Juli in einem Hinterstübchen Mrs. Bardells gewesen zu sein, als sie eben das Zimmer Mr. Pickwicks abstaubte?“

„Ja, Mylord und meine Herren Geschworenen, ich erinnere mich“, erwiderte Mrs. Cluppins.

„Aber Mr. Pickwicks Wohnzimmer war doch, wie ich glaube, im ersten Stock und liegt nach der Straße hinaus?“

„Allerdings, Sir.“

„Was hatten Sie denn im Hinterstübchen zu schaffen, Ma’am?“ fragte der kleine Richter.

„Mylord und meine Herren Geschworenen“, begann Mrs. Cluppins in rührender Aufregung, „ich will Ihnen nicht täuschen …“

„Sie würden auch nicht gut daran tun“, bemerkte der kleine Richter.

„Ich war dorten“, erzählte Mrs. Cluppins, „ohne daß Mrs. Bardell es gewußt hat. Ich war gerade mit ein’m klein’n Korb ausgegangen, meine Herren, um drei Pfund rote Kartoffeln einzuholen, was im ganzen dritthalb Pence ausmacht, als ich die Haustür von der Mrs. Bardell halb offen gesehen habe, und da bin ich also reingegangen, meine Herren, um ihr einen guten Morgen zu wünschen, aber ich bin in Gedanken die Treppe rauf und in das Hinterzimmer gegangen. Meine Herren, da habe ich im Vorderzimmer mehrere Stimmen gehört, und …“

„Sie haben also gehorcht, Mrs. Cluppins?“ unterbrach Prokurator Buzfuz.

„Bitt um Verzeihung, Sir“, erwiderte Mrs. Cluppins in majestätischem Toni, „so was tu ich niemals nicht. Ich nicht, bitte! Die Stimmen sind sehr laut gewesen und haben sich mir mit Gewalt aufgedrängt.“

„Nun gut, Mrs. Cluppins, Sie horchten also nicht, hörten aber dennoch die Stimmen. War eine derselben die Mr. Pickwicks?“

„Ja, Sir.“ Und Mrs. Cluppins trug jetzt, nachdem sie aufs bestimmteste angegeben, daß Mr. Pickwick mit Mrs. Bardell gesprochen habe, langsam und mit vielen Umschweifen die damalige verhängnisvolle Unterhaltung vor.

Die Geschworenen sahen bedenklich drein, und Prokurator Buzfuz setzte sich lächelnd nieder. Noch düsterer wurden aber die Mienen, als Prokurator Snubbin erklärte, er habe die Zeugin weiter nichts zu fragen, da Mr. Pickwick zugebe daß ihre Aussagen im wesentlichen .richtig seien.

Da nun Mrs. Cluppins einmal im Zuge war, hielt sie die Gelegenheit für günstig, sich auf eine kurze Darstellung ihrer eigenen häuslichen Verhältnisse einzulassen. Sie klärte daher den Gerichtshof auf, daß sie gegenwärtig Mutter von acht Kindern sei und die zuversichtliche Hoffnung nähren dürfe, nach etwa sechs Monaten Mr. Cluppins mit einem neunten zu beschenken. Bei dieser interessanten Mitteilung legte sich der kleine Richter voll Zorn ins Mittel, und die Folge davon war, daß sowohl die würdige Dame, als auch Mrs. Sanders unter Begleitung Mr. Jacksons kurzerhand aus dem Gerichtssaal geführt wurden.

„Nathaniel Winkle!“ rief sodann Mr. Skimpin. „Hier!“ meldete sich eine schüchterne Stimme, und Mr. Winkle trat in die Zeugenloge und verbeugte sich, nachdem er den vorgeschriebenen Eid geleistet, ehrfurchtsvollst gegen das Richterpult.

„Sehen Sie nicht mich an, Sir“, verwies Mr. Stareleigh, statt für den Gruß zu danken, in strengem Tone, „sehen Sie nur auf die Geschworenen!“ Mr. Winkle gehorchte, sah nach dem Platze, wo seiner Wahrscheinhchkeitsberechnung nach die Geschworenen sitzen mußten, denn in seinem verwirrten Geisteszustand war es ihm schlechterdings unmöglich, etwas genau zu erkennen, und wurde sofort von Mr. Skimpin, einem vielversprechenden jungen Manne von zweiundvierzig bis dreiundvierzig Jahren, verhört, dem natürlich alles daran gelegen sein mußte, einen bekanntermaßen für die Gegenpartei eingenommenen Zeugen möglichst aus dem Konzept zu bringen. „Nun, Sir“, begann Mr. Skimpin, „haben Sie die Güte, Seine Lordschaft und die Jury Ihren Namen wissen zu lassen“ – dabei warf er den Geschworenen einen Seitenblick zu, der deutlich genug sagte, bei Mr. Winkles natürlichem Hange zur Lüge könne man von ihm auch die Angabe eines falschen Namens gewärtigen.

„Winkle“, antwortete der Zeuge.

„Ihr Taufname, Sir?“ fragte der kleine Richter ärgerlich.

„Nathaniel, Sir.“

„Daniel. – Vielleicht noch andre Taufnamen?“

„Nathaniel, Sir – Mylord, wollte ich sagen.“

„Nathaniel Daniel oder Daniel Nathaniel?“

„Nein, Mylord, bloß Nathaniel, nicht Daniel.“

„Warum sagten Sie denn vorhin, Sie hießen Daniel, Sir?“ fragte der Richter.

„Das habe ich nicht gesagt, Mylord“, rechtfertigte sich Mr. Winkle.

„Freilich haben Sie es gesagt, Sir“, erwiderte der Richter mit strengem Stirnrunzeln, „wie hätte ich denn Daniel aufschreiben können, wenn Sie es nicht gesagt hätten, Sir?“

Gegen diesen Beweisgrund ließ sich natürlich nichts erwidern.

„Mr. Winkle hat ein kurzes Gedächtnis, Mylord“, fiel Mr. Skimpin mit einem abermaligen bedeutsamen Blick nach den Geschworenen ein, „ich denke aber, wir werden Mittel finden, es aufzufrischen.“

„Also nehmen Sie sich in acht, Sir!“ warnte der kleine Richter mit einem finstern Blick.

Der arme Mr. Winkle verneigte sich und gab sich alle Mühe, unbefangen zu erscheinen, gewann aber in seiner Verlegenheit weit eher das Aussehen eines in flagranti ertappten Taschendiebes.

„Jetzt, Mr. Winkle“, fing Mr. Skimpin wieder an, „geben Sie gefälligst auf meine Fragen acht, Sir, und folgen Sie um Ihrer selbst willen meinem Rat, der Ermahnungen Seiner Lordschaft eingedenk zu sein. Soviel ich weiß, sind Sie ein vertrauter Freund Mr. Pickwicks, des Angeklagten, nicht wahr?“

„Wenn ich mich in diesem Augenblick recht erinnere, so kenne ich Mr. Pickwick beinahe …“

„Ich muß bitten, Mr. Winkle, daß Sie keine ausweichende Antworten geben. Sind Sie wirklich ein vertrauter Freund des Angeklagten, oder sind Sie es nicht?“

„Ich wollte soeben sagen, daß …“

„Wollen Sie meine Frage beantworten, Sir, oder nicht?“

„Wenn Sie nicht antworten, so laß ich Sie einsperren Sir“, fiel der kleine Richter ein mit einem Blick über sein Notizenbuch herüber.

„Nun also, Sir? Ja oder nein.“

„Ja, ich bin’s“, antwortete Mr. Winkle.

„Natürlich sind Sie es! Warum haben Sie es nicht gleich gesagt, Sir? Vielleicht kennen Sie auch die Klägerin? – Wie, Mr. Winkle?“

„Nein, ich kenne Sie nicht; das heißt, gesehen habe ich sie schon.“

„So, Sie kennen sie nicht, haben sie aber gesehen? Nun, so haben Sie die Güte, den Herren Geschworenen zu erklären, was Sie damit meinen, Mr. Winkle.“

„Ich meine damit, daß ich nicht genauer mit ihr bekannt bin, sie aber gesehen habe, wenn ich Mr. Pickwick in der Goswellstreet besuchte.“

„Wie oft haben Sie sie gesehen, Sir?“

„Wie oft?“

„Ja, Mr. Winkle, wie oft? Ich will Ihnen die Frage ein dutzendmal wiederholen, Sir, wenn Sie es wünschen, Sir.“ – Dabei stemmte der gelehrte Mr. Skimpin mit Stirnrunzeln die Hände in die Seite und lächelte den Geschworenen verdächtig zu.

Diese Frage zog das erbauliche Geschraube nach sich, das bei solchen Gelegenheiten üblich ist. Zuvörderst gab Mr. Winkle an, es sei ihm rein unmöglich zu sagen, wie oft er Mrs. Bardell gesehen habe. Dann fragte man ihn, ob er sie vielleicht zwanzigmal gesehen, und auf seine Antwort: „Gewiß – auch noch öfter“, wollte man genau wissen, ob er sie hundertmal gesehen – ob er nicht schwören könne, daß er sie mehr als fünfzigmal gesehen – ob er nicht angeben könne, daß er sie mehr als fünfundsiebzigmal gesehen, und so fort, bis man endlich zu dem befriedigenden Schlüsse gelangte, ihn nochmals zu ermahnen, er solle sich wohl in acht nehmen und bedenken, was er aussage. Nachdem er auf diese Art so verwirrt geworden, daß er kaum mehr wußte, wo ihm der Kopf stand, wurde das Verhör folgendermaßen fortgesetzt:

„Erinnern Sie sich, Mr. Winkle, an einem gewissen Morgen im vergangenen Juli den Beklagten Pickwick in seiner Wohnung bei der Klägerin in der Goswellstreet besucht zu haben?“

„Ja, ich erinnere mich.“

„Hatten Sie damals einen Freund namens Tupman und einen andern namens Snodgraß bei sich?“

„Ja.“

„Sind sie hier?“

„Ja“, erwiderte Mr. Winkle, sehr angelegentlich nach dem Platze blickend, wo seine Freunde saßen.

„Sehen Sie gefälligst mich an, Mr. Winkle, und nicht Ihre Freunde“, ermahnte Mr. Skimpin mit neuerlichem ausdrucksvollem Lächeln auf die Jury. „Die Herren müssen ihre Aussagen ohne vorherige Beratung mit Ihnen ablegen, falls solche etwa nicht schon stattgefunden hat (abermals ein Blick auf die Jury). Nun, Sir, sagen Sie jetzt den Herren Geschworenen, was Sie am selbigen Morgen beim Eintritt ins Zimmer des Beklagten gesehen haben? Nur heraus damit, Sir, wir müssen es früher oder später doch erfahren.“

„Der Beklagte, Mr. Pickwick, hielt die Klägerin in seinen Armen und hatte ihren Leib umschlungen“, erwiderte Mr. Winkle mit begreiflichem Zögern, „und die Klägerin schien in Ohnmacht gefallen zu sein.“

„Hörten Sie den Beklagten etwas sprechen?“

„Ja, ich hörte, daß er Mrs. Bardell ,liebe Frau‘ nannte und sie bat, sich zu beruhigen; dann, was man denn glauben müßte, wenn jemand käme, und ähnliche Redensarten.“

„Jetzt, Mr. Winkle, habe ich nur noch eine einzige Frage an Sie zu richten, und ich bitte Sie, hierbei der Ermahnung Seiner Lordschaft wohl eingedenk zu sein. – Wollen Sie beschwören, daß beklagter Pickwick bei dieser Gelegenheit nicht gesagt hat: ,Meine gute Bardell, Sie sind eine liebe Frau; beruhigen Sie sich, es wird schon noch dazu kommen‘, oder dem ähnliche Redensarten?“

„Ich – ich habe es wahrhaftig nicht so verstanden“, sagte Mr. Winkle, erstaunt über die listige Verdrehung der wenigen Worte, die er angegeben. „Ich war noch auf der Treppe und konnte es nicht deutlich hören; aber der Eindruck, den es auf mich machte, ist …“

„Die Herren Geschworenen wollen nichts von den auf Sie gemachten Eindrücken wissen, Mr. Winkle, die, fürchte ich ohnehin ehrlichen und rechtschaffenen Leuten wenig nützen würden“, unterbrach ihn Mr. Skimpin. „Sie waren also auf der Treppe und hörten es nicht deutlich, wollen aber nicht beschwören, daß Pickwick sich der von mir erwähnten Ausdrücke nicht bedient hat? Habe ich es so zu verstehen?“

„Nein, ich will es nicht beschwören“, erwiderte Mr. Winkle, und Mr. Skimpin setzte sich mit triumphierender Miene.

Mr. Pickwicks Sache hatte bis jetzt keinen so überaus günstigen Verlauf genommen, daß sie noch neue Verdachtsgründe hätte ertragen können. Da sie jedoch möglicherweise noch in ein besseres Licht zu stellen war, so erhob sich Mr. Phunky, um seinerseits Mr. Winkle noch einige wichtige Aufschlüsse zu entlocken.

„Ich glaube, Mr. Winkle“, begann er, „Mr. Pickwick ist kein junger Mann mehr?“

„O nein“, erwiderte Mr. Winkle, „er könnte mein Vater sein.“

„Sie haben meinem wertgeschätzten Kollegen gesagt, Sie kennen Mr. Pickwick schon lange. Hatten Sie jemals Grund zu vermuten oder zu glauben, er beabsichtige, sich zu verheiraten?“

„Nein, niemals“, antwortete Mr. Winkle mit solchem Eifer, daß ihn Mr. Phunky am liebsten so schnell wie möglich aus der Zeugenloge entfernt hätte. In den Augen der Rechtsgelehrten gibt es zwei Arten besonders schlechter Zeugen; solche, die gar nichts, und solche, die zuviel aussagen. Das Schicksal wollte, daß Mr. Winkle beide Arten trefflich in sich vereinigte.

„Ich will sogar noch weitergehen, Mr. Winkle“, fuhr Phunky mit freundlichem und einschmeichelndem Tone fort. „Bemerkten Sie in Mr. Pickwicks Benehmen gegen das andere Geschlecht je etwas, das Sie hätte auf den Glauben bringen können, er hege in den letzten Jahren überhaupt Heiratsgedanken?“

„O nein, nicht das mindeste“, versicherte Mr. Winkle.

„War sein Benehmen in Gesellschaft von Damen nicht das eines Mannes, der, an Jahren schon ziemlich vorgerückt, nur noch an seine Geschäfte oder Vergnügungen denkt und sie bloß behandelt wie ein Vater seine Töchter?“

„Daran ist kein Zweifel“, antwortete Mr. Winkle in der Fülle seines Herzens. „Das heißt – ja – hm, o ja –“

„Sie haben also in seinem Benehmen gegen Mrs. Bardell oder sonst gegen eine Frau nie etwas auch nur im mindesten Verdächtiges wahrgenommen?“ fragte Mr. Phunky und wollte sich niedersetzen, denn Prokurator Snubbin hatte ihm einen Wink gegeben.

„Nein, nein“, erwiderte Mr. Winkle, „außer in einem einzigen unbedeutenden Fall, der sich aber, wie ich nicht bezweifle, leicht wird aufklären lassen.“

Hätte sich der unglückliche Mr. Phunky sofort gesetzt, als Prokurator Snubbin ihm zuzwinkerte, oder wäre Prokurator Buzfuz gleich im Anfang gegen dieses unstatthafte Zeugenverhör aufgetreten (er hatte sich gehütet, es zu tun, da er Mr. Winkles Ängstlichkeit bemerkte und Hoffnung hatte, dieselbe zu seinem Vorteil ausbeuten zu können), so wäre ‚dieses unglückselige Geständnis Mr. Winkle nicht entschlüpft. Kaum aber waren die Worte seinen Lippen entflohen, so setzte sich Phunky, und Prokurator Snubbin rief Mr. Winkle im größten Eifer zu, er solle die Zeugenloge verlassen, wozu er sich auch mit aller Bereitwilligkeit anschickte, als Prokurator Buzfuz es mit dem Ruf verhinderte:

„Bleiben Sie, Mr. Winkle. Bleiben Sie. Wollen Euer Lordschaft die Güte haben, den Zeugen zu fragen, worin der einzige Fall bestand, wo ihm das Benehmen dieses Herrn, der sein Vater sein könnte, gegen Frauen verdächtig vorkam?“

„Sie hören, was der Herr Anwalt sagt“, nahm der Richter das Wort, sich an den unglücklichen, von neuem Schreck ergriffenen Mr. Winkle wendend. „Erklären Sie sich näher über den Fall, den Sie angedeutet haben.“

„Mylord“, stotterte Mr. Winkle zitternd vor Verlegenheit, „ich – ich möchte es lieber nicht sagen.“

„Das ist wohl möglich“, knurrte der kleine Richter, „aber Sie müssen.“

Und unter dem tiefsten Stillschweigen der ganzen Versammlung erklärte Mr. Winkle mit stockender Stimme; Der einzige unbedeutende Vorfall, der Verdacht erregen könne, sei, daß man Mr. Pickwick einmal um Mitternacht im Schlafzimmer einer Dame gefunden habe, und soviel er wisse, sei infolge dieser Entdeckung die projektierte Heirat besagter Dame rückgängig gemacht worden. Auch wisse er bestimmt, daß damals alle dabei Beteiligten mit Gewalt vor George Nupkins, Esquire, den Friedensrichter und Bürgermeister von Ipswich, geführt worden seien.

„Jetzt können Sie die Zeugenloge verlassen, Sir“, sagte Prokurator Snubbin.

Mr. Winkle tat es und rannte wie besessen nach dem „Georg und Geier“, allwo der Kellner ihn einige Stunden nachher jammervoll stöhnend und ächzend, den Kopf in die Sofakissen begraben, entdeckte.

Tracy Tupman und Augustus Snodgraß wurden, hierauf nacheinander in die Zeugenloge gerufen. Beide bestätigten die Aussage ihres unglücklichen Freundes, und beide wurden durch verfängliche Fragen aus der Fassung gebracht.

Als vorletzter Zeuge wurde Susanna Sanders aufgerufen und zuerst von Prokurator Buzfuz und dann von Prokurator Snubbin befragt. Sie habe, erklärte sie, immer gesagt und geglaubt, Mr. Pickwick werde Mrs. Bardell heiraten; sie wisse, daß nach der Ohnmachtsgeschichte im Juli die ganze Nachbarschaft von nichts gesprochen habe, als von dem Verlöbnisse zwischen Mrs. Bardell und Mr. Pickwick; sie habe es Mrs. Muderry, die eine Mangel besitze, und Mrs. Bunkin, die Weißnäherin, mehr als einmal sagen hören, obgleich sie keine von beiden hier im Saale erblicke. Sie habe gehört, wie Mr. Pickwick das Kind gefragt, ob es sich freuen würde, wenn es wieder einen Vater bekäme. Sie wisse absolut nichts davon, daß Mrs. Bardell in vertraulichen Beziehungen zu dem Bäcker gestanden, nur soviel könne sie sagen, daß der Bäcker damals ledig gewesen sei, sich aber inzwischen verheiratet habe. Sie könne nicht darauf schwören, daß Mrs. Bardell nicht sehr verliebt in den Bäcker gewesen sei, glaube aber, der Bäcker müsse nicht sehr verliebt in Mrs. Bardell gewesen sein, weil er sonst gewiß nicht eine andere geheiratet hätte. Sie glaube, Mrs. Bardell sei an jenem Julimorgen in Ohnmacht gefallen, weil Mr. Pickwick in sie gedrungen sei, den Hochzeitstag zu bestimmen; sie erinnere sich noch, daß sie (die Zeugin) wie tot niedergefallen sei, als ihr jetziger Gatte sie seinerzeit gebeten, den Hochzeitstag festzusetzen, und sie glaube, daß es jedem anständigen Frauenzimmer unter ähnlichen Umständen ebenso ergehen müsse. Sie habe ferner gehört, wie Mr. Pickwick den Knaben wegen seiner Murmeln gefragt habe, sie könne aber nicht einmal unter Eid den Unterschied zwischen einem Stein und einer Murmel angeben.

Auf weitere Fragen des Richters erzählte sie noch, sie habe während ihres Brautstandes mit Mr. Sanders auch Liebesbriefe von ihm erhalten wie andre Frauen. Mr. Sanders habe sie in seiner Korrespondenz zwar oft „Ente“ genannt, niemals aber Kotelettes oder Tomatensauce. Er habe aber Enten für sein Leben gern gegessen. Vielleicht würde er, wenn er ebensogern Kotelettes und Tomatensauce gegessen hätte, sie in seiner Zärtlichkeit auch so geheißen haben.

Prokurator Buzfuz erhob sich schließlich mit womöglich noch größerer Wichtigkeit als vorher und rief laut nach Mr. Samuel Weller.

Es war höchst unnötig, so laut zu schreien, denn Samuel Weller befand sich in der Zeugenloge, als sein Name kaum ausgesprochen war. Er legte seinen Hut neben sich auf den Boden, die Arme auf das Geländer, besah sich die Anwälte aus der Vogelperspektive und ließ mit merkwürdiger Unbefangenheit und Heiterkeit seinen Blick über die Herren schweifen.

„Wie heißen Sie?“ fragte der Richter.

„Sam Weller, Mylord.“

„Schreibt man Sie mit einem V oder mit einem W?“ fragte der Richter weiter.

„Kommt ganz auf den Geschmack und das Belieben des Schreibenden an, Mylord“, erwiderte Sam, „ich selbst habe bloß ’n paarmal in meinem Leben Veranlassung gehabt, meinen Namen zu schreiben, aber ich mache immer ’n. V.“

Hier rief eine Stimme von der Galerie herab:

„Ganz recht, Samuel, ganz recht; machen Sie ’n V, Mylord, machen Sie ’n V.“

„Wer untersteht sich da, den Gerichtshof anzureden?“ rief der kleine Richter, in die Höhe blickend. – „Gerichtsdiener!“

„Hier, Mylord!“

„Führen Sie diese Person sogleich vor.“ „Sehr wohl, Mylord.“

Da aber der Gerichtsdiener die Person nicht fand, so führte er sie auch nicht vor, und unter großem Geräusch setzten sich die Leute alle wieder, die aufgestanden waren, um den Verbrecher zu sehen. Das Richterlein wandte sich aufs neue an den Zeugen, sobald seine Entrüstung ihm zu sprechen erlaubte, und fragte: „Wissen Sie, wer das war?“

„Mylord“, antwortete Sam, „ich vermute fast, mein Vater war’s.“

„Sehen Sie ihn jetzt noch?“

„Nein, Mylord“, antwortete Sam und starrte unverwandt auf die Laterne, die an der Decke des Gerichtssaales hing. „Wenn Sie ihn mir hätten zeigen können, so hätte ich ihn sogleich verhaften lassen“, sagte der Richter. Sam verbeugte sich dankbar und wandte sich dann mit unverminderter Heiterkeit wieder zu dem Prokurator Buzfuz.

„Nun, Mr. Weller?“ begann der Prokurator Buzfuz. „Nun, Sir?“

„Ich glaube, Sie stehen im Dienst Mr. Pickwicks, der hier der Beklagte ist. Sprechen Sie gefälligst unumwunden, Mr. Weller.“

„Werde schon unumwunden sprechen“, erwiderte Sam. „Ich stehe allerdings im Dienst dieses Gentleman, und es is ’n sehr guter Dienst.“

„Wenig zu tun und recht viel zu kriegen – was?“ meinte der Prokurator Buzfuz scherzend.

„Hm, gerade genug zu kriegen, Sir, wie der Soldat sagte, als man ihm dreihundertfünfzig Stockprügel zumaß.“

„Sie brauchen uns nicht zu sagen, was der Soldat oder sonst jemand gesagt hat“, schnauzte der Richter Sam an, „das ist keine Zeugenaussage.“ „Sehr wohl, Mylord“, antwortete Sam.

„Erinnern Sie sich irgendeines besondern Umstandes von dem Morgen her, wo der Beklagte Sie in seine Dienste nahm, Mr. Weller?“ fragte der Prokurator Buzfuz wieder.

„Jawohl, Sir.“

„Haben Sie die Güte, den Geschworenen zu sagen, was es war.“

„Ich bekam an diesem Morgen ’n ganz neuen Anzug, meine Herren Geschworenen“, sagte Sam, „und das war für mich in den Tagen ’n sehr einschneidendes Ereignis.“

Ein allgemeines Gelächter brach los. Der kleine Richter blickte zornentbrannt über seinen Schreibtisch hinüber und sagte:

„Nehmen Sie sich in acht, Sir!“

„So sagte damals auch Mr. Pickwick, Mylord“, antwortete Sam, „und ich nahm mir mit dem Anzug auch sehr in acht; sehen Sie nur, wie ich ’n geschont habe, Mylord.“

Zwei Minuten lang blickte der Richter Sam streng an; aber Sams Züge waren so vollkommen ruhig und heiter, daß er nichts zu sagen wußte und daher den Prokurator Buzfuz aufforderte, weiter fortzufahren.

„Mr. Weller“, nahm der Prokurator Buzfuz das Verhör wieder auf, verschränkte würdevoll die Arme und wandte sich halb gegen die Geschworenen, als wollte er ihnen stumm versichern, er werde diesen Zeugen schon noch fangen. „Wollen Sie damit wirklich sagen, Mr. Weller, daß Sie nichts davon gesehen haben, wie die Klägerin ohnmächtig in den Armen des Beklagten lag, was die Zeugen vorhin bereits ausführlich zugegeben haben?“ „Habe wirklich nischt gesehen“, erwiderte Sam. „Ich war im Gang, bis man mir rief, und dann war die alte Dame schon nich mehr da.“

„Merken Sie wohl auf, Mr. Weller“, ermahnte der Prokurator Buzfuz, eine große Feder in das vor ihm stehende Tintenfaß tauchend, damit Sam Angst bekommen und glauben solle, er wolle seine Antwort niederschreiben. „Sie waren im Gang und haben nichts von dem gesehen, was vorging? Haben Sie nicht ein paar Augen im Kopf, Mr. Weller?“

„Jawoll habe ich ’n paar Augen“, erwiderte Sam. „Eben drum. Wenn ich ’n paar Patent-Doppelmillionen-Vergrößerungsgläser von Extragüte hätte, war’s mir ’n leichtes gewesen, durch ’ne eichene Tür zu sehen; aber da es bloß ’n paar einfache Augen sin, is mein Gesichtskreis leider beschränkt.“

Bei dieser Antwort, die ohne den geringsten Anschein von Aufregung und mit der vollkommensten Unbefangenheit und Gleichmütigkeit gegeben wurde, kicherten die Zuschauer, der kleine Richter schmunzelte, und Prokurator Buzfuz schaute ausnehmend albern drein. Nach einer kurzen Beratung mit Dodson und Fogg wandte sich der Rechtsgelehrte abermals an Sam und sagte, mit Mühe seinen Ärger verbeißend:

„Jetzt, Mr. Weller, werde ich Ihnen, wenn Sie gestatten, eine Frage über einen andern Punkt vorlegen.“

„Ganz wie’s Ihnen beliebt“, erwiderte Sam mit der besten Laune von der Welt.

„Erinnern Sie sich noch, im vergangenen November einmal bei Nacht zu Mrs. Bardell gegangen zu sein?“

„O ja, recht gut.“

„So, Sie erinnern sich dessen also, Mr. Weller?“ sagte Prokurator Buzfuz, frischen Mut fassend. „Ich dachte mir doch, wir würden am Ende noch etwas von Ihnen erfahren.“

„Habe ich mir auch gedacht, Sir“, entgegnete Sam.

Die Zuschauer kicherten aufs neue.

„Gut. Sie gingen ohne Zweifel zu ihr, um mit ihr ein bißchen über den Prozeß zu sprechen, was, Mr. Weller?“ fragte Prokurator Buzfuz, den Geschworenen bedeutsame Blicke zuwerfend.

„Ich ging hin, um die Miete zu bezahlen; aber wir haben allerdings auch über den Prozeß gesprochen“, erwiderte Sam.

„Aha, Sie sprachen auch über den Prozeß!“ rief Buzfuz, strahlend im Vorgenuß einer wichtigen Entdeckung. „Nun, und was wurde denn über den Prozeß gesprochen? Wollen Sie die Güte haben, es uns zu sagen, Mr. Weller?“

„Mit dem größten Vergnügen, Sir. Nach ’n paar unwichtigen Bemerkungen, wo die zwei tugendfesten Frauenzimmer, wo Sie vorhin befragt haben, also gemacht haben, ließen sich die Damen mit große Bewunderung über das ehrenwerte Benehmen von die Herren Dodson und Fogg aus, die wo da neben Ihnen sitzen.“

Das zog natürlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf Dodson und Fogg, die möglichst tugendhafte Gesichter schnitten.

„Die Sachwalter der Klägerin? Die Damen haben also mit großem Lob von dem ehrenhaften Benehmen der Herren Dodson und Fogg, den Sachwaltern der Klägerin, gesprochen?“

„Ja. Sie meinten, daß es doch sehr schön von denen is, daß sie den Prozeß bloß auf Spekulation übernommen haben und daß sie sich nichts für die Unkosten bezahlen lassen wollen, wenn Mr. Pickwick nicht verurteilt wird.“

Bei dieser höchst unerwarteten Antwort kicherten die Zuschauer abermals. Die Herren Dodson und Fogg wurden feuerrot, beugten sich zu Prokurator Buzfuz und flüsterten ihm hastig etwas ins Ohr.

„Sie haben vollkommen recht“, sagte Prokurator Buzfuz laut mit erzwungener Ruhe. „Es ist durchaus nutzlos, Mylord, von der unverbesserlichen Dummheit dieses Zeugen irgendeinen Aufschluß zu erwarten. Ich will den Gerichtshof nicht länger damit aufhalten, daß ich noch mehr Fragen an ihn richte. Sie können gehen, Sir.“

„Hat einer von den Herren vielleicht Lust, mir noch was zu fragen?“ sagte Sam, nahm seinen Hut und blickte bedächtig um sich.

„Ich nicht, Mr. Weller, danke Ihnen“, antwortete Prokurator Snubbin lachend.

„Sie können sich entfernen, Sir“, sagte Prokurator Buzfuz, ungeduldig mit der Hand winkend.

Sam trat demgemäß ab, nachdem er der Sache der Herren Dodson und Fogg den größtmöglichen Schaden zugefügt, über Mr. Pickwick aber so wenig wie möglich ausgesagt hatte, was beides von Anfang an seine Absicht gewesen war.

Prokurator Snubbin hielt jetzt eine sehr lange und nachdrucksvolle Rede zugunsten des Beklagten an die Geschworenen, worin er dem Lebenswandel und Charakter Mr. Pickwicks das größte Lob angedeihen ließ. Er versuchte klarzulegen, daß die vorgelegten Billette sich lediglich auf Mr. Pickwicks Mittagessen oder auf die Vorbereitungen zu seinem Empfang bezogen, als er von einer ländlichen Exkursion zurückkehrte. Kurz, er tat für Mr. Pickwick sein möglichstes und mehr kann man bekanntlich auch vom Besten nicht verlangen.

Richter Stareleigh resümierte in der althergebrachten und üblichen Form. Er las den Geschworenen so viel von seinen Notizen vor, als er bei der Schnelligkeit, mit der er sie niedergeschrieben, entziffern konnte, und ließ allgemeine Bemerkungen mit einfließen, wie zum Beispiel, wenn Mrs. Bardell recht habe, so sei es sonnenklar, daß Mr. Pickwick unrecht habe, und wenn die Geschworenen die Aussagen der Mrs. Cluppins glaubwürdig fänden, so müßten sie ihnen Glauben schenken, wo nicht, so würden sie es nicht tun; wenn sie überzeugt seien, daß ein Eheversprechen nicht gehalten worden sei, so würden sie der Klägerin eine angemessene Entschädigung zuerkennen, wenn sie dagegen glaubten, das Eheversprechen habe überhaupt nicht stattgefunden, so würden sie den Beklagten vollkommen freisprechen. Die Geschworenen zogen sich hierauf in ihr Beratungszimmer zurück; und der Richter begab sich auf sein Privatbüro, um sich an einer Hammelkeule und einem Glas Champagner zu laben.

Es verstrich eine ängstliche Viertelstunde; die Jury kam zurück, und der Richter wurde hereingeholt. Mr. Pickwick setzte seine Brille auf und starrte mit unruhevollem Gesicht und heftig klopfendem Herzen nach dem Vorsitzenden hin.

„Meine Herren“, fragte das schwarzgekleidete Individuum, „haben Sie sich über Ihren Ausspruch geeinigt?“

„Ja“, antwortete der Vorsitzende.

„Für wen haben Sie entschieden, meine Herren, für die Klägerin oder den Beklagten?“

„Für die Klägerin.“

„Welche Entschädigung erkennen Sie ihr zu?“

„Siebenhundertundfünfzig Pfund.“

Mr. Pickwick nahm seine Brille ab, wischte die Gläser sorgfältig ab, steckte sie ins Futteral und dieses in die Tasche; dann zog er mit großer Sorgfalt seine Handschuhe an, und nachdem er die ganze Zeit über den Vorsitzenden unverwandt angestarrt, folgte er mechanisch Mr. Perker und dem blauen Aktenbeutel zum Saale hinaus.

Sie begaben sich in ein Seitenzimmer, wo Perker die Gebühren bezahlte und wohin bald darauf auch Mr. Pickwicks Freunde kamen. Hier trafen sie auch die Herren Dodson und Fogg, die sich mit allen Zeichen größter Zufriedenheit die Hände rieben.

„Nun, meine Herren?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nun, Sir?“ sagte Mr. Dodson für sich und seinen Associé.

„Sie bilden sich wahrscheinlich ein, daß Sie Ihre Kosten bekommen werden, meine Herren?“

Fogg erwiderte, sie zweifelten nicht daran, und Dodson meinte, sie wollten es auf einen Versuch ankommen lassen.

„Versuchen Sie es, solange Sie wollen, meine Herren Dodson und Fogg“, sagte Mr. Pickwick heftig, „von mir bekommen Sie keinen Heller, und wenn ich mein ganzes noch übriges Leben im Schuldgefängnis zubringen müßte.“

„Haha!“ lachte Dodson. „Sie werden sich noch vor dem nächsten Gerichtstag eines Bessern besinnen, Mr. Pickwick.“

„Hihihi“, grinste Fogg, „das wollen wir doch mal sehen, Mr. Pickwick.“

Sprachlos vor Entrüstung ließ sich Mr. Pickwick von seinem Anwalt und seinen Freunden hinausführen und stieg in eine Mietkutsche, die der allzeit aufmerksame Sam Weller flink zu diesem Behufe herbeigeholt hatte.

Sam hatte den Tritt hinauf geschlagen und wollte eben auf den Bock springen, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Er sah sich um, und sein Vater stand vor ihm. Das Gesicht des alten Herrn trug den Ausdruck tiefer Betrübnis; er schüttelte ernsthaft sein Haupt und sagte in vorwurfsvollem Tone:

„Siehste wohl, Sammy. Warum habt ihr kein Alibi nachgewiesen! – Sammy, Sammy!“

Vierunddreißigstes Kapitel


Vierunddreißigstes Kapitel

Mr. Pickwick beschließt, nach Bath zu gehen.

„Aber wahrhaftig, mein lieber Herr“, sagte der kleine Perker, als er am andern Morgen nach der Gerichtssitzung Mr. Pickwick besuchen kam, „es wird Ihnen doch nicht wirklich ernst sein – wir wollen jetzt ohne Spaß und ohne Aufregung davon sprechen –, Sie werden doch nicht im Ernst die Unkosten und die Entschädigung verweigern wollen?“

„Nicht einen halben Penny bezahle ich“, sagte Mr. Pickwick fest, „nicht einen halben Penny.“

„Es geht nichts über feste Grundsätze, wie der Wucherer sagte, als er den Wechsel nicht verlängern wollte“, bemerkte Mr. Weller, der das Frühstück abräumte.

„Sam“, sagte Mr. Pickwick, „sei so gut und geh hinunter.“

„Sogleich, Sir“, erwiderte Mr. Weller und zog sich auf diesen zarten Wink sogleich zurück.

„Nein, Perker“, fuhr Mr. Pickwick mit Ernst und Würde fort, „meine Freunde hier haben sich alle Mühe gegeben, mir meinen Entschluß auszureden; aber ich bleibe fest. Ich werde mich wie gewöhnlich beschäftigen, bis die Gegenpartei das gesetzliche Recht hat, Exekution gegen mich zu beantragen, und wenn sie niedrig genug denkt, sich derselben zu bedienen und mich verhaften zu lassen, so werde ich mich fröhlich und zufrieden darein ergeben. Wann läuft die Zeit ab?“

„Bei der nächsten Gerichtssitzung“, antwortete Perker, „das heißt gerade in zwei Monaten, mein lieber Herr.“

„Also gut. Bis dahin, werter Freund, lassen Sie mich nichts mehr von der Sache hören. Und jetzt“, fuhr Mr. Pickwick fort und wandte sich mit vergnügtem Lächeln und funkelnden Augen, deren Glanz selbst durch den der Brille nicht verdunkelt werden konnte, an seine Freunde, „jetzt handelt es sich bloß darum, wohin begeben wir uns zunächst?“

Mr. Tupman und Mr. Snodgraß waren von dem Heroismus ihres Meisters zu sehr hingerissen, als daß sie sogleich eine Antwort hätten finden können; Mr. Winkle harte sich noch nicht hinlänglich von der Erinnerung an seine Zeugenschaft erholt, um ein Wörtchen mitzusprechen, und so wartete Mr. Pickwick vergebens auf Antwort.

„Nun gut“, sagte er endlich, „wenn Sie die Bestimmung 0iir überlassen wollen, so schlage ich Bath vor. Soviel ich weiß, ist noch keiner von uns dort gewesen.“

Es war wirklich so, und da Perker, der es für höchstwahrscheinlich hielt, daß Mr. Pickwick nach einiger Luftveränderung und Zerstreuung sich eines Besseren besinnen und die Sache mit dem Schuldgefängnis in einem andern Lichte betrachten werde, den Vorschlag eifrig unterstützte, so wurde die Reise einstimmig beschlossen und Sam sogleich nach dem „Weißen Roß“ abgeschickt, um auf dem am nächsten Morgen um halb acht Uhr abgehenden Postwagen fünf Plätze zu belegen.

Es waren nur noch 2wei innen und drei außen zu vergeben. Sam Weller nahm sie alle, und nachdem er mit dem Postkassierer wegen einer bleiernen halben Krone, die man ihm herausgeben wollte, einige Höflichkeiten gewechselt, ging er nach dem „Georg und Geier“ zurück, wo er sich bis zum Schlafengehen eifrigst damit beschäftigte, Kleider und Wäsche in den kleinstmöglichen Raum zu zwängen, und sein ganzes mechanisches Genie aufbot, um durch allerhand sinnreiche Kunstgriffe die Koffer zu verschließen, die keine Schlösser hatten.

Der nächste Morgen war höchst ungünstig für eine Reise. Es lag ein trüber, dunstiger Nebel, und es regnete. Die Pferde vor dem Postwagen, der gerade von der City kam, dampften so, daß die außen fahrenden Passagiere ganz unsichtbar waren. Die Zeitungsverkäufer sahen aus wie aus dem Wasser gezogen und rochen dunstig; der Regen troff von den Hüten der Orangenverkäufer, wenn sie die Köpfe in die Kutschenfenster hereinsteckten, und die Juden mit den fünfzigklingigen Federmessern steckten ihre Ware verzweifelnd ein. Ebensowenig konnten die andern Händler ihre Uhrketten und Röstgabeln, ihre Bleistifthalter und Schwämme losschlagen.

Als der Wagen anhielt, überließen Mr. Pickwick und seine Freunde Sam Weller die Sorge, das Gepäck aus den Händen der sieben oder acht Träger zu retten, die wütend darüber herfielen, und da sie um zwanzig Minuten zu früh gekommen waren, suchten sie Schutz im Passagierzimmer – dem letzten Zufluchtsort menschlichen Elends.

Das Passagierzimmer im „Weißen Roß“ ist, wie es sich von selbst versteht, nichts weniger als behaglich; es wäre ja sonst kein Passagierzimmer. Es ist die Stube rechterhand, hat aber mehr Ähnlichkeit mit einer Küche, in der Schüreisen, Feuerzangen und Schaufeln unordentlich beieinanderliegen. Zur Förderung der Geselligkeit der Reisenden war es in mehrere abgesonderte Verschlage abgeteilt und mit einer Glocke, einem Spiegel sowie mit einem Kellner versehen, der sich an einem Wasserkübel zu schaffen machte, um Gläser zu spülen. In einem dieser Verschlage saß dazumal ein grimmig dreinblickender Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, mit glänzend kahler Stirn, starkem schwarzem Haar an den Schläfen und dem Hinterkopf und einem großen dunklen Backenbart. Er hatte seinen braunen Rock bis unter das Kinn zugeknöpft, trug eine große Reisemütze von Seehundsfell, und ein Überrock nebst Mantel lag neben ihm auf dem Stuhl. Als Mr. Pickwick eintrat, blickte er mit trotzig-gebieterischer Miene, die viel Würdevolles hatte, von seinem Frühstück auf, und, nachdem er die Herren ungeniert gemustert, summte er ein Liedchen in einer Art, die zu sagen schien, wer mit ihm anbinden wolle, werde schlecht dabei fahren. „Kellner!“ schrie er dann plötzlich.

„Sir!“ erwiderte ein junger Mensch mit schmutzigem Gesicht und dito Handtuch, der aus der Ecke des Zimmers hervortauchte.

„Toast mit Butter!“

„Sogleich, Sir.“

„Toast mit Butter, verstanden!“ wiederholte der Gentleman in barschem Ton.

„Ganz recht, Sir.“

Der Herr mit dem Backenbart summte sein Liedchen wie vorhin, näherte sich sodann in Erwartung der Brotschnitten dem Kamin, nahm seine Rockschöße unter den Arm, blickte auf seine Stiefel nieder und schien in tiefes Nachdenken zu versinken.

„Ich bin doch neugierig, wo unsre Kutsche in Bath anhält“, sagte Mr. Pickwick in freundlichem Tone zu Mr. Winkle.

„Wie – was?“ fiel der Fremde ein.

„Sir“, erwiderte Mr. Pickwick, stets bereit, auf eine Unterhaltung einzugehen, „ich sagte zu meinem Freunde, ich möchte gern wissen, wo die Kutsche in Bath anhält. Vielleicht können Sie mir Auskunft geben?“

„Reisen Sie nach Bath?“ fragte der Fremde.

„Ja, Sir.“

„Und die andern Herren?“

„Sie reisen auch mit.“

„Aber doch nicht im Wagen drinnen – ich will verdammt sein, wenn Sie im Wagen fahren.“

„Wir alle gerade nicht“, sagte Mr. Pickwick.

„Nein, Sie alle natürlich nicht“, versetzte der Fremde mit Nachdruck. „Ich habe zwei Plätze genommen. Wenn man sechs Leute in diesen verwünschten Kasten hineinzwängen will, der nur für vier Raum hat, so nehme ich die Extrapost und klage. Ich habe meine Fahrt bezahlt und dabei dem Sekretär ausdrücklich gesagt, daß so etwas ein für allemal nicht angeht. Ich weiß, daß diese Burschen es häufig so machen. Ich weiß, daß sie sich’s alle Tage herausnehmen; aber bei mir sollen sie schon ein Haar darin finden. Wer mich kennt, weiß, daß ich mir nichts bieten lasse. Gott straf mich.“

Dann klingelte der wilde Gentleman mit großer Heftigkeit und schnauzte den Kellner an, er solle die gerösteten Brotschnitten binnen fünf Sekunden bringen, oder er wolle ihn schon Mores lehren.

„Werter Herr“, sagte Mr. Pickwick, „erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie sich ganz unnötigerweise so ereifern. Ich habe nur zwei Plätze innen belegt.“

„Das freut mich“, sagte der wilde Mann, „ich nehme meine Ausdrücke zurück. Ich bitte um Entschuldigung. Hier ist meine Karte. Geben Sie mir die Ihre.“

„Mit größtem Vergnügen, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick. „Wir werden Reisegefährten sein und, wie ich hoffe, zu unserm gegenseitigen Vergnügen.“ „Das hoffe ich auch“, sagte der grimmige Gentleman. „Weiß es sogar schon. Sie gefallen mir. Meine Herren Ihre Hand! Wie ist Ihr Name?“ Natürlich fanden sofort freundschaftliche Begrüßungen statt, und der grimmige Gentleman stellte sich in denselben kurz abgebrochenen Sätzen als Mr. Dowler vor. Er reise zu seinem Vergnügen nach Bath, habe früher in der Armee gedient, aber seinen Abschied genommen, lebe jetzt standesgemäß von seinen Renten, und der zweite Platz, den er bestellt, sei für niemand geringeren als für Mrs. Dowler, seine werte Gemahlin. „Sie ist eine schöne Frau“, fügte er hinzu. „Ich bin stolz auf sie. Ich habe alle Ursache!“

„Ich hoffe, ich werde das Vergnügen haben, mich selbst davon zu überzeugen“, sagte Mr. Pickwick lächelnd.

„Das sollen Sie auch“, erwiderte Mr. Dowler. „Sie soll Ihre Bekanntschaft machen; sie wird Sie hochachten. Ich bewarb mich um sie unter seltsamen Umständen. Gewann sie durch ein übereiltes Gelübde. Die Sache war so. Ich sah sie, liebte sie, erklärte mich; sie gab mir einen Korb. – ,Lieben Sie einen andern?‘ – ,Ersparen Sie mir ein Erröten!‘ – ,Ich kenne ihn.‘ – ,Das weiß ich!‘ – ,Gut, ich werde ihm die Haut abziehen, wenn er hier bleibt.'“

„Gott steh mir bei“, rief Mr. Pickwick unwillkürlich aus.

„Und haben Sie dem Herrn tatsächlich die Haut abgezogen?“ fragte Mr. Winkle erblassend.

„Ich schrieb ihm ein Billett. Ich sagte, es sei eine fatale Sache. Und das war es auch.“

„Das will ich glauben“, meinte Mr. Winkle.

„Ich sagte, ich hätte mein Wort als Ehrenmann verpfändet, ihm die Haut abzuziehen. Meine Ehre stehe auf dem Spiele. Ich hätte keine Wahl mehr. Als Offizier in den Diensten Seiner Majestät müßte ich es tun. Ich bedauerte die Notwendigkeit, allein es ließe sich nicht mehr ändern. Er war zugänglich für Vernunftgründe. Sah ein, daß Ehrengesetze gebieterisch Befolgung heischten. Floh. Ich heiratete sie. Hier kommt die Kutsche. Da sieht sie eben heraus.“

Mr. Dowler zeigte nach dem offenen Fenster des soeben angekommenen Postwagens, aus dem ein recht hübsches Gesichtchen unter einer hellblauen Haube auf die im Hofe stehende Gruppe schaute, höchstwahrscheinlich, um den grimmigen Mann herauszufinden. Mr. Dowler bezahlte und eilte mit seiner Reisekappe, seinem Stock und Mantel hinaus, und Mr. Pickwick und seine Freunde folgten ihm, um sich ihrer Plätze zu versichern.

Mr. Tupman und Mr. Snodgraß waren hinten hinauf, Mr. Winkle in den Wagen selbst gestiegen, und Mr. Pickwick stand im Begriff, ihm zu folgen, als Sam Weller zu ihm trat und ihm mit äußerst geheimnisvoller Miene zuflüsterte, er habe ihm etwas zu sagen.

„Nun, Sam“, fragte Mr. Pickwick, „was gibt’s denn?“

„’ne nette Geschichte, Sir.“

„Also was denn?“

„Ich fürchte sehr“, antwortete Sam, „daß der Eigentümer dieser Kutsche uns ’n impertinenten Streich gespielt hat.“

„Wieso, Sam? Sind etwa die Namen nicht eingetragen?“

„Sie sin nich nur eingetragen, sondern einer davon is sogar auf die Kutschentür gemalt.“ Mit diesen Worten deutete Sam auf den Teil der Tür, wo gewöhnlich der Name des Eigentümers steht, und wirklich war hier in stattlichen vergoldeten Buchstaben der Name Pickwick zu lesen. „Seltsam“, rief Mr. Pickwick ganz verblüfft, „wahrhaftig, sehr seltsam.“

„Das is noch nich alles“, sagte Sam und lenkte nochmals die Aufmerksamkeit seines Herrn auf die Kutschentür, „sie haben nich bloß ,Pickwick‘ draufgeschrieben, sondern auch noch Moses davorgesetzt, und das nenne ich ’ne Verhöhnung neben der Beleidigung, wie der Papagei sagte, als man ihm nich nur aus seinem Vaterland entführte, sondern auch später noch zwang, Englisch zu lernen.“

„Es ist wirklich sehr auffallend, Sam“, gab Mr. Pickwick zu, „aber wenn wir noch lange dastehen und schwatzen, so verlieren wir unsre Plätze.“

„Was, Sie wollen da gar nichts gegen tun?“ rief Sam, gänzlich verwundert über die Kaltblütigkeit, mit der Mr. Pickwick sich anschickte, einzusteigen.

„Was soll ich denn tun?“ fragte Mr. Pickwick. „Was soll ich denn tun?“

„Soll denn niemand für diese Frechheit gezüchtigt werden, Sir?“ fragte Mr. Weller, der zum mindesten den Auftrag erwartet hatte, den Kondukteur und den Kutscher zu einem Faustkampf an Ort und Stelle herauszufordern.

„Nein, nein“, erwiderte Mr. Pickwick eifrig, „unter keinen Umständen. Steige jetzt auf deinen Platz.“

„Ich fürchte beinahe“, murmelte Sam beiseite, „ich fürchte beinahe, mit meinem Herrn ist es nich ganz richtig, sonst wäre er nich so ruhig geblieben. Der Prozeß wird ihm doch hoffentlich seinen Mut nich genommen haben? Es sieht verdammt schlimm aus.“ – Dann stieg er auf, schüttelte bedenklich den Kopf und sprach als Beweis, wie sehr er sich die Sache zu Herzen nahm, kein Wort mehr, bis die Kutsche am Kensingtoner Schlagbaum anhielt. In seinem ganzen Leben war es vielleicht noch nicht vorgekommen, daß er so lange geschwiegen hatte.

Während der Reise trug sich nichts besonders Erwähnenswertes zu. Mr. Dowler erzählte eine Menge Anekdoten, die sämtlich seinen Mut und seine Tollkühnheit zum Thema hatten, und appellierte dabei an seine Gemahlin, die sie bestätigte und als Zugabe jedesmal noch irgendeinen merkwürdigen Umstand hinzufügte, den Mr. Dowler vergessen oder vielleicht auch aus Bescheidenheit übergangen hatte.

Mr. Pickwick und Mr. Winkle hörten mit großer Bewunderung zu und unterhielten sich zuweilen mit Mrs. Dowler, die eine höchst angenehme und bezaubernde Dame war, und so schwand bei den Geschichten Mr. Dowlers, den Reizen seiner Gemahlin, der guten Laune Mr. Pickwicks und dem trefflichen Zuhörertalent Mr. Winkles der Gesellschaft im Wagen die Zeit aufs angenehmste dahin.

Mit den Außenpassagieren ging es wie gewöhnlich. Sie waren bei Anfang der Fahrt sehr lustig und gesprächig, m der Mitte langweilig und schläfrig und gegen Ende wieder sehr aufgeräumt und munter. Ein in einen Gummimantel gekleideter junger Herr rauchte den ganzen Tag Zigarren, ein andrer junger Herr in einer Art Parodie auf einen großen Überrock zündete deren eine Menge an, fühlte sich aber nach dem zweiten Zug unwohl und warf sie heimlich wieder weg, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Ein dritter kramte seine Kenntnisse in der Viehzucht aus, und ein alter Mann, der rückwärts saß, gab seine landwirtschaftlichen Erfahrungen zum besten. Auf jeder Station stiegen Reisende ab und kamen andre dazu, zum Teil in Bauernkitteln, die als blinde Passagiere beim Kondukteur aufsaßen und sich rühmten, jedes Pferd und jeden Hausknecht auf dieser Straße zu kennen; wobei sie zugleich ihre Bemerkungen über das Mittagessen austauschten und meinten, es wäre um eine halbe Krone nicht zu teuer gewesen, wenn man Zeit gehabt hätte, zuzulangen. Endlich um sieben Uhr abends erreichten Mr. Pickwick und seine Freunde sowie Mr. Dowler und seine Gemahlin Bath und stiegen im Hotel zum „Weißen Hirsch“, dem großen Brunnensaal gegenüber, ab, wo man die Kellner wegen ihrer Tracht bekanntlich leicht mit jungen Gymnasiasten aus Westminster verwechseln könnte, wenn sie sich nicht wesentlich besser zu benehmen wüßten.

Am folgenden Morgen war das Frühstück kaum abgetragen, als ein Kellner eine Karte von Mr. Dowler brachte, der um Erlaubnis bat, einen Freund vorstellen zu dürfen. Gleich darauf traten die beiden Herren ein.

Der Freund Mr. Dowlers war ein sehr einnehmender jugendlicher Mann von nicht viel mehr als fünfzig Jahren und trug einen strahlenden blauen Überrock mit funkelnden Knöpfen, schwarze Beinkleider und äußerst feine, blank geputzte Stiefel. Eine goldene Lorgnette hing an einem breiten schwarzen Bande an seiner Brust; in der linken Hand trug er nachlässig eine goldene Tabaksdose, an seinen Fingern glänzten zahllose goldene Ringe, und über seinem Busenstreif strahlte eine in Gold gefaßte Brillantnadel. Außerdem trug er eine goldene Uhr an einer goldenen Kette mit großen goldenen Petschaften und in der Hand einen feinen Stock von Ebenholz mit einem schweren goldenen Knopf. Seine Wäsche war so weiß, so fein und so glatt wie nur möglich, seine Perücke seidenweich, schwarz und lockig. Sein Schnupftabak war Prinzenmischung, sein Parfüm Bouquet du Roi. Seine Züge umschwebte ein beständiges Lächeln, und seine Zähne waren so vortrefflich gepflegt, daß es in einiger Entfernung schwerhielt, die natürlichen von den falschen zu unterscheiden.

„Mr. Pickwick“, stellte Mr. Dowler vor, „– mein Freund Angelo Cyrus Bantam, Esquire, Kurmarschall, Badeintendant. – Erlaube vorzustellen „

„Willkommen in Ba – ath, Sir. – In der Tat eine herrliche Akquisidon. Herzlich willkommen in Ba – ath, Sir. Es ist lange her – sehr lange, Mr. Pickwick, daß Sie den Brunnen nicht getrunken haben. Es deucht mir eine Ewigkeit zu sein, Mr. Pickwick. Me – erkwürdig!“

Mit diesen Worten ergriff Angelo Cyrus Bantam, Esquire, Mr. Pickwicks Hand, hielt sie in der seinigen fest und zuckte unter beständigen Verbeugungen die Achseln, als ob er wirklich nicht imstande sei, sie je wieder loszulassen.

„Es muß allerdings schon sehr lange her sein, daß ich den Brunnen nicht getrunken habe“, antwortete Mr. Pickwick, „denn meines Wissens war ich noch nie hier.“

„Noch nie in Ba – ath, Mr. Pickwick?“ rief der Kurmarschall aus und ließ voll Erstaunen dessen Hand fahren. „Noch nie in Ba – ath? Hihi! Mr. Pickwick, Sie sind ein Spaßvogel. Nicht übel, nicht übel. Gut, gut. Hihihi! Me – erkwürdig!“

„Ich muß zu meiner Schande bekennen, daß es mir vollkommen Ernst ist“, versetzte Mr. Pickwick. „Ich bin wirklich noch nie dagewesen.“ „Oh, ich weiß wohl“, rief der Badeintendant äußerst vergnügt, „jaja – gut, ganz gut – besser und immer besser. Sind Sie der Herr, von dem wir gehört haben. Ja, wir kennen Sie, Mr. Pickwick, wir kennen Sie.“

Diese verwünschten Journalberichte über meinen Prozeß! dachte Mr. Pickwick. Sie wissen alles von mir.

„Sie sind der Herr, der in Clapham Green wohnt und den Gebrauch seiner Glieder dadurch verlor, daß er sich erkältete, nachdem er Portwein getrunken, der sich wegen heftiger Schmerzen nicht rühren konnte, und dem man das Wasser vom Königsbad hundertunddreißig Grad stark nach London auf sein Zimmer schickte, wo er badete, nieste und an demselben Tage wieder genas. Äußerst me – erkwürdig!“

Mr. Pickwick erkannte das in dieser Annahme liegende Kompliment an, besaß jedoch Selbstverleugnung genug, es gleichwohl abzulehnen, und benützte ein augenblickliches Stillschweigen von Seiten Mr. Bantams, um ihm seine Freunde, die Herren Tupman, Winkle und Snodgraß vorzustellen. Natürlich war der Kurmarschall ganz überwältigt von Entzücken und Ehre.

„Bantam“, sagte Mr. Dowler, „Mr. Pickwick und seine Freunde sind Fremde. Sie müssen ihre Namen einschreiben. Wo ist das Buch?“

„Das Verzeichnis der ausgezeichneten Gäste in Ba – ath wird um zwei Uhr im Brunnensaal ausliegen“, erwiderte der Badeintendant. „Wollen Sie vielleicht unsre Freunde in dieses Prachtgebäude führen und mich in den Stand setzen, ihre Autogramme zu bekommen?“

„Sehr gern“, versetzte Mr. Dowler. „Das ist übrigens ein langer Besuch. Es ist Zeit, daß wir gehen; ich werde in einer Stunde wieder hier sein. Kommen Sie!“

„Es ist heute abend Ball“, sagte der Zeremonienmeister und ergriff zum Abschied Mr. Pickwicks Hand abermals. „Die Ballabende in Ba – ath sind paradiesische Augenblicke, zauberhaft durch Musik, Schönheit, Eleganz, guten Ton, Etikette – und – und – durch die Abwesenheit aller Handels- und Gewerbsleute, die sich mit dem Begriff eines Paradieses durchaus nie vereinigen lassen und alle vierzehn Tage in Guildhall ihre eignen Zusammentreffen haben, die zumindest, äh – sehr merkwürdig sind. Adieu indessen!“

Nachdem Angelo Cyrus Bantam, Esquire, noch die ganze Treppe hinab beteuert, er sei unendlich befriedigt, entzückt, überwältigt und geschmeichelt, stieg er in einen äußerst eleganten Wagen, der ihn vor der Tür erwartete, und rasselte von dannen.

Zur festgesetzten Stunde begaben sich Mr. Pickwick und seine Freunde, von Mr. Dowler begleitet, nach dem Brunnensaal und schrieben ihre Namen in das Fremdenbuch ein – ein Beweis von Herablassung, durch den sich Angelo Bantam noch mehr überwältigt fühlte als zuvor. Die ganze Gesellschaft sollte Einlaßkarten zur Abendassemblee haben; da sie aber noch im Druck waren, erklärte Mr. Pickwick trotz aller Gegenvorstellungen Angelo Bantams, er werde um vier Uhr seinen Diener Sam nach der Wohnung des Bademarschalls in Queensquare schicken, um sie abholen zu lassen. Nachdem die Herren sodann einen kurzen Spaziergang“ durch die Stadt gemacht und einstimmig erklärt hatten, die Parkstreet habe eine auffallende Ähnlichkeit mit den gewissen vertikalen Straßen, die man in Träumen sieht und um alles in der Welt nicht hinaufgehen kann, kehrten sie in den „Weißen Hirsch“ zurück, und Sam wurde mit dem erwähnten Auftrag fortgeschickt.

Sam Weller stülpte seinen Hut leicht und graziös auf den Kopf, steckte die Hände in die Rocktaschen und wanderte gemächlich zur Queensquare. Unterwegs pfiff er etliche der beliebtesten neueren Lieder, und zwar so, wie sie mit ganz neuen Variationen für jenes edle Instrument besonders komponiert sind, das man Drehorgel nennt. Als er in der Queensquare die Nummer gefunden hatte, die ihm bezeichnet worden war, klopfte er munter an die Haustür, die sogleich von einem bepuderten Portier in prachtvoller Livree mit symmetrischem Körperbau geöffnet wurde.

„Wohnt hier Mr. Bantam, Kamerad?“ fragte Sam Weller, nicht im mindesten eingeschüchtert durch den Strahlenglanz, den die Person des gepuderten Lakaien mit der prachtvollen Livree um sich verbreitete.

„Warum, junger Mann?“ war die stolze Gegenfrage des Gepuderten.

„Weil Sie, wenn es sich so verhält, mit dieser Karte zu ihm gehen und ihm sagen sollen, Mr. Weller ist da; is es gestattet, werter Sechsfuß?“ sagte Sam, trat dabei höchst kaltblütig in den Hausflur und setzte sich.

Der gepuderte Lakai schlug die Tür heftig zu und schnitt ein grimmiges Gesicht; allein diese beiden Demonstrationen verfehlten ihren Eindruck auf Sam, der mit allen Zeichen kritischer Billigung einen Mahagonischrank betrachtete.

Offenbar hatte die Art, wie Mr. Bantam die Karte aufgenommen, den Gepuderten günstiger für Sam gestimmt, denn er kehrte freundlich lächelnd zurück und sagte, die Antwort werde sogleich erfolgen.

„Schon gut“, erwiderte Sam. „Sagen Sie dem alten Herrn, er brauche sich nich zu erhitzen, ’s hat keine große Eile nich, werter Herr Sechsfuß. Ich habe bereits zu Mittag gespiesen.“

„So zeitig speisen Sie?“ fragte der Gepuderte.

„Ich finde, daß mir dann das Abendessen besser schmeckt“, erwiderte Sam.

„Sind Sie schon lange in Bath, Sir? Ich habe noch nie das Vergnügen gehabt, von Ihnen zu hören.“

„Habe bisher hier noch keine große Sensat schon gemacht“, erwiderte Sam, „denn ich und die andern Herren sind erst diesen Abend angekommen.“ „Ein schöner Ort, Sir“, warf der Gepuderte hin.

„Scheint so.“

„Eine angenehme Gesellschaft, Sir. Sehr feine Dienerschaften, Sir.“

„Gebe ich ohne weiters zu“, erwiderte Sam. „Freundliche unaffektierte Leute, wo nich viel Federlesens machen.“

„Ja, das ist wahr, Sir“, erwiderte der gepuderte Lakai, der Sams Bemerkung offenbar für ein großes Kompliment hielt. „Das ist wahr. Ein Prieschen gefällig, Sir?“ fügte er hinzu, und zog seine kleine Schnupftabaksdose mit einem Fuchskopf auf dem Deckel hervor.

„Ich muß zu sehr niesen“, lehnte Sam ab.

„Jaja, Sir“, sagte der lange Portier, „das Schnupfen ist allerdings schwer; doch nach und nach geht es schon. Am besten lernt man es mit Kaffee. Ich habe lange Kaffee geschnupft, Sir. Er sieht ganz aus wie Rapee.“

Ein plötzliches scharfes Klingeln versetzte den gepuderten Lakaien in die schmähliche Notwendigkeit, den Fuchskopf wieder einzustecken und mit unterwürfiger Miene in Mr. Bantams „Studierzimmer“ zu eilen.

„Hier ist die Antwort, Sir“, sagte er dann. „Ich fürchte fast, sie ist ihrer Größe wegen etwas unbequem.“

„Hat nichts zu sagen“, erwiderte Sam, einen Brief in einem kleinen Kuvert in Empfang nehmend. „Möglich, daß die erschöpfte Natur es noch überlebt.“

„Ich hoffe, wir werden uns wiedersehen, Sir“, sagte der Gepuderte, rieb sich die Hände und begleitete Sam bis an die Tür.

„Sie sin gar zu gütig, Sir“, dankte Sam. „Strengen Se sich nur nich über Ihre Kräfte an. Bedenken Sie, was Sie der menschlichen Gesellschaft schuldig sin, und übernehmen Se sich nich durch zu vieles Arbeiten. Um Ihre Mitgeschöpfe willen verhalten Se sich so ruhig wie möglich und überlegen sich gut, wie schmerzlich man Ihren Verlust empfinden würde.“

Mit diesen pathetischen Worten entfernte sich Sam.

„Ein höchst sonderbarer junger Mensch“, meinte der gepuderte Lakai, Mr. Weller mit einem Gesicht nachblickend, auf dem deutlich geschrieben stand, daß er aus ihm nicht klug werden konnte.

Sam seinerseits sprach nichts mehr. Er blinzelte, schüttelte den Kopf, lächelte, blinzelte abermals und lief lustig seines Weges dahin, mit einer Miene, die nicht daran zweifeln ließ, daß ihm irgend etwas großes Behagen bereiten müsse. Präzis zwanzig Minuten vor acht Uhr sprang Angelo Cyrus Bantam, Esquire, der Bademarschall, vor dem Ballhaus aus seinem Wagen mit derselben Perücke, denselben Zähnen, derselben Uhr nebst Petschaft, denselben Ringen, derselben Busennadel und demselben Stocke. Die einzigen bemerkbaren Veränderungen in seinem Aufzuge bestanden darin, daß er einen noch großartigeren blauen Frack mit weißseidenem Futter, enge schwarze Beinkleider, schwarze seidene Strümpfe, Tanzschuhe und weiße Weste trug und dabei womöglich noch etwas süßer duftete.

So geschmückt begab er sich zur pünktlichen Erfüllung der wichtigen Obliegenheiten seines hochwichtigen Amtes in die Gemächer, um die Gesellschaft zu empfangen.

Da Bath sehr besucht war, so strömten sowohl Gäste als Sechspence für den Tee in Masse herein. Im Ballsaal, in dem achteckigen Spielzimmer, in dem langen Spielzimmer, auf den Treppen und in den Gängen, überall war ein Gedränge und ein verworrenes Gesumm, daß man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Kleider rauschten, Federn nickten, Kerzen leuchteten und Juwelen funkelten. Musik ertönte – nicht die Tanzmusik, die noch nicht begonnen hatte, sondern die Musik zart und sanft auftretender Füße und dann und wann das gewisse leise Kichern und Flüstern weiblicher Stimmen, das so angenehm für das männliche Ohr ist – in Bath wie überall. Von allen Seiten glänzten und funkelten strahlende Augen voll wonniger Erwartung; wohin man blickte, schwebte eine herrliche Gestalt anmutsvoll durch das Gedränge, und sie war kaum verschwunden, als bereits eine andre, ebenso schöne und bezaubernde an ihre Stelle trat.

Im Teezimmer und an den Kartentischen erblickte man eine große Anzahl wunderlich ausstaffierter alter Damen und abgelebter alter Herren, die alle das abgeschmackte Tagesgeschwätz und Geklatsch mit sichtlicher Freude und Lust abhandelten. Unter diesen Gruppen befanden sich drei oder vier Matronen, die ihre Töchter gern unter die Haube gebracht hätten und in die Unterhaltung, an der sie teilnahmen, ganz vertieft zu sein schienen, dabei aber nicht ermangelten, von Zeit zu Zeit ihren lieben Kinderchen besorgte Seitenblicke zuzuwerfen. Diese, der mütterlichen Ermahnungen, ihre Blütezeit zu benützen, eingedenk, hatten bereits ihre kleinen Koketterien begonnen, indem sie absichtlich verlegte Halstücher suchten, Handschuhe anzogen, Tassen auf den Tisch stellten und so weiter – dem ersten Anschein nach unbedeutende Dinge, mit denen sich aber bei einiger Übung und Erfahrung erstaunlich viel bewirken läßt.

An den Türen und in den entfernten Winkeln trieben sich größere oder kleinere Gruppen alberner junger Herren herum, naseweise Zierbengel, durch ihr kindisches Benehmen und Abgeschmacktheiten jeglicher Art allen verständigen Leuten ein Hohn und Spott, die sich überglücklich fühlten in dem Wahne, Gegenstand der allgemeinen Bewunderung zu sein.

Auf einigen der rückwärtigen Bänke endlich hatte eine Anzahl unverheirateter Damen, die die große Alterswende bereits zurückgelegt, ihre Plätze für den Abend eingenommen. Sie tanzten nicht, weil sich keine Tänzer für sie fanden, spielten auch nicht Karten, um nicht unrettbar ledig zu bleiben, und befanden sich daher in der günstigen Lage, über jedermann schimpfen zu können, ohne an sich selbst zu denken, über jedermann, denn alles war Fröhlichkeit, Glanz und Pracht. Lauter elegant gekleidete Herren und Damen, prachtvolle Spiegel, glänzende Fußböden, duftende Blumenkränze, strahlende Wachskerzen. Und überall in stiller Freundlichkeit von Ort zu Ort schlüpfend, bald vor dieser Gesellschaft tief sich verbeugend, bald jener vertraulich zuwinkend und alle wohlgefällig anlächelnd, erblickte man die zierlich geschniegelte Person des Bademarschalls Angelo Cyrus Bantam, Esquire.

„Kommen Sie in das Teezimmer. Trinken Sie für Ihre sechs Pence. Man gießt siedendes Wasser auf und nennt es Tee. Trinken Sie“, sagte Mr. Dowler mit lauter Stimme zu Mr. Pickwick, der mit Mrs. Dowler am Arm der kleinen Gesellschaft voranging.

Mr. Pickwick verfügte sich in das Teezimmer, und als Mr. Bantam seiner ansichtig ward, wand er sich wie ein Korkzieher durch das Gedränge und bewillkommnete ihn mit Begeisterung.

„Mein teurer Herr, ich fühle mich unendlich geehrt. Ba – ath darf sich glücklich schätzen. Madam Dowler, Sie verschönern diese Räume. Ich gratuliere Ihnen zu Ihren Federn. Me – erkwürdig.“

„Ist jemand hier?“ fragte Dowler wählerisch.

„Jemand!? Die Elite von Ba – ath! Mr. Pickwick, sehen Sie die Dame dort mit dem Gazeturban.“

„Die dicke alte Dame?“ fragte Mr. Pickwick unschuldig.

„Pst, mein teurer Herr, in Ba – ath ist niemand dick oder alt. Es ist die verwitwete Lady Snuphanuph.“

„Wirklich?“

„Wie ich Ihnen sage, niemand Geringeres“, versichert“ der Kurmarschall. „Kommen Sie doch ein wenig näher, Mr. Pickwick. Sehen Sie den prachtvoll gekleideten jungen Herrn dort?“

„Den mit den langen Haaren und der auffallend schmalen Stirn?“

„Ja; das ist gegenwärtig der reichste junge Mann in Ba – ath, der junge Lord Mutanhed.“

„Was Sie nicht sagen!“ rief Mr. Pickwick.

„Sie werden ihn sogleich sprechen hören, Mr. Pickwick. Er wird sich mit mir unterhalten. Der andre Herr bei ihm mit der roten Weste und dem dunklen Backenbart ist Mr. Crushton, Hochwohlgeboren, sein Busenfreund. – Äh, wie befinden Sie sich, Mylord?“

„Seah heiß hia, Bantam“, bemerkte Seine Lordschaft, die beim Aussprechen des R einige Schwierigkeiten zu bekämpfen hatte.

„Es ist allerdings sehr warm, Mylord“, bemerkte der Kurmarschall.

„Verteufelt heiß“, bekräftigte Mr. Crushton, Hochwohlgeboren.

„Haben Sie den Postkarren Seiner Lordschaft schon gesehen, Bantam?“ fragte er nach einer kurzen Pause, während der junge Lord Mutanhed Mr. Pickwick durch vornehm-stolzes Anblicken aus der Fassung zu bringen versuchte und Mr. Chrushton nachgesonnen hatte, welches Thema Seiner Lordschaft wohl am besten liegen möchte.

„Nein, noch nicht. Ein Postkarren, welch famoser Einfall! Me – erkwürdig!“

„Gütigeah Himmel“, lispelte Seine Lordschaft, „ich dachte, jedamann müsse den neuen Postkachen schon gesehen haben; es ist das netteste, zialichste, aatigste Ding, was je auf Wädean gelaufen ist, wot angemalt und mit einem isabellfaabigen Schecken davoa.“

„Und mit einem wirklichen Briefkasten, alles ganz vollständig“, setzte Crushton, Hochwohlgeboren, hinzu.

„Und einem kleinen Voasitz mit eisana Lehne füa den Kutscha“, ergänzte Seine Lordschaft. „Ich fuha gestan Moagen damit in einem Kaamoisinwock nach Bwistol und ließ zwei Bediente eine Viatelstunde hinten nachweiten, und da waa es zu schön, wie die Leute aus den Häusan stüchtzen und mich anhielten und faagten, ob ich nichts füa sie hätte. Das waa ein Kapitalspaß.“

Dabei lachte Seine Lordschaft recht herzlich und die Zuhörer natürlich auch. Sodann schob er seinen Arm durch den des dienstfertigen Mr. Crushton und entfernte sich mit ihm.

„Ein entzückender junger Mann, dieser Lord“, sagte der Badeintendant.

„Es scheint so“, bemerkte Mr. Pickwick trocken.

Nachdem alle nötigen Einleitungen und Anordnungen zum Tanze getroffen waren und die Musik eingesetzt hatte suchte Angelo Bantam Mr. Pickwick wieder auf und führte ihn ins Spielzimmer.

Eben als sie eintraten, umschwebten die verwitwete Lady Snuphanuph und zwei andre Damen von antikem, whistlustigem Aussehen einen unbesetzten Spieltisch, und kaum erblickten sie Mr. Pickwick in Begleitung Mr. Angelo Bantams, wechselten sie bedeutsame Blicke miteinander, in denen sich klar und unverkennbar die Ansicht aussprach, dies sei gerade der Mann, dessen sie bedürften, um ein Spielchen zu machen. „Mein lieber Bantam“, schmeichelte die verwitwete Lady Snuphanuph, „tun Sie uns doch den Gefallen und suchen Sie uns einen passenden Mitspieler.“

Da Mr. Pickwick in diesem Augenblick zufällig nach einer andern Seite sah, winkte Ihre Herrlichkeit mit dem Kopf nach ihm zu und runzelte ausdrucksvoll die Stirn.

„Mylady“, sagte der Badeintendant, den Wink verstehend, „mein Freund, Mr. Pickwick; wird sich unendlich glücklich schätzen. Mr. Pickwick – Lady Snuphanuph – Frau Oberst Wugsby – Miß Bolo.“

Mr. Pickwick verbeugte sich vor jeder der drei Damen, und da er einsah, daß kein Entrinnen war, ergab er sich in sein Schicksal. Er und Miß Bolo spielten gegen Lady Snuphanuph und die Frau Oberst Wugsby.

Eben als die zweite Partie begann und der Trumpf schon auflag, rannten zwei junge Damen ins Zimmer und stellten sich auf beiden Seiten neben dem Stuhl der Frau Oberst „Wugsby auf, wo sie geduldig warteten, bis das Spiel vorüber war.

„Nun, Jane“, sagte die Oberstin, sich an eines der Mädchen wendend, „was gibt’s?“

„Ich möchte dich nur fragen, Mama, ob ich mit dem jüngsten Mr. Crawley tanzen darf“, flüsterte die hübschere und jüngere der beiden Töchter. „Um Gottes willen, Jane, wie kannst du an so etwas denken?“ erwiderte die Mutter entrüstet. „Hast du nicht schon oft gehört, daß sein Vater bloß achthundert Pfund jährlich besitzt, die überdies bei seinem Tode wegfallen? Ich muß wirklich für dich in die Seele hinein schämen. – um keinen Preis.“

Mama“, flüsterte die andre, die viel älter als ihre Schwester und dabei unendlich einfältig und affektiert war, „Lord Mutanhed ist mir vorgestellt worden. Ich habe gesagt, ich sei, glaube ich, noch nicht engagiert, Mama.“

„Du bist mein liebes Kind“, erwiderte die Frau Oberst, mit dem Fächer der Tochter auf die Wange klopfend, „auf dich kann ich mich immer verlassen. Er ist unermeßlich reich, meine Liebe. Gott segne dich.“

Mit diesen Worten küßte sie ihre älteste Tochter aufs zärtlichste, runzelte gegen die andre warnend die Stirn und mischte die Karten. Der arme Mr. Pickwick! Er hatte noch nie mit drei abgebrühten Whistspielerinnen gespielt. Sie waren so verzweifelt aufmerksam, daß ihm angst und bange wurde. Spielte er eine falsche Karte aus, so drohte ihm ein ganzes Arsenal von Dolchen aus den Augen Miß Bolos; besann er sich einen Augenblick, so warf sich Lady Snuphanuph in ihren Stuhl zurück und lächelte mit einem teils ungeduldigen, teils mitleidigen Blick der Frau Oberst Wugsby zu, worauf Frau Oberst Wugsby die Achseln zuckte und hustete, als wollte sie sagen, es werde sie doch wundern, wann er denn endlich beginne. Nach jeder Runde fragte Miß Bolo mit verdrießlichem Gesicht und vorwurfsvollem Seufzen, warum Mr. Pickwick nicht Karo nachgespielt oder Treff angespielt oder Pik gestochen oder Herz gebracht oder das As herausgeholt oder auf den König gespielt habe oder sonst etwas Ähnliches, und auf alle diese schweren Anschuldigungen wußte der Ärmste schlechterdings keine Rechtfertigung vorzubringen, weil er inzwischen das ganze Spiel vergessen hatte. Hauptsächlich aber brachte ihn Angelo Bantam, Esq., aus dem Konzept, der ganz in der Nähe mit den beiden Misses Matinter laut plauderte, die sitzengeblieben waren und deshalb dem Bademarschall huldigten, um durch seine Vermittlung wenigstens hie und da einen damenlosen Tänzer zu ergattern. Alles dies, verbunden mit dem Lärm der Musik und den vielen Unterbrechungen durch das beständige Aufundabgehen von Zuschauern machte, daß Mr. Pickwick ziemlich schlecht spielte. Überdies hatte er kein Glück, und als sie zehn Minuten nach elf Uhr aufhörten, erhob sich Miß Bolo in großer Aufregung vom Tisch und ließ sich unter einer Flut von Tränen in einer Sänfte nach Hause tragen.

Mr. Pickwick kehrte sofort mit seinen Freunden, die samt, lieh versicherten, nicht sobald einen Abend angenehmer zugebracht zu haben, nach dem „Weißen Hirsch“ zurück, und nachdem er seine Gefühle mit einigen warmen Getränken beschwichtigt, ging er zu Bett, um augenblicklich einzuschlafen.

Fünfunddreißigstes Kapitel


Fünfunddreißigstes Kapitel

Enthält eine authentische Version des Märchens vom Prinzen Bladud und zugleich ein höchst merkwürdiges Malheur, das Mr. Winkle widerfuhr.

Da Mr. Pickwick wenigstens zwei Monate in Bath zu bleiben gedachte, hielt er es für ratsam, für sich und seine Freunde eine Privatwohnung zu nehmen; er mietete daher, sobald sich eine günstige Gelegenheit ergab, den oberen Stock eines Hauses in Royal Crescent, zusammen mit Mr. Dowler und Gemahlin, da mehr als genügend Raum vorhanden war. Hierauf begann er mit größtem Eifer die Brunnenkur und erklärte nach jedem Becher zum größten Entzücken seiner Freunde aufs feierlichste und nachdrücklichste, er fühle sich bereits bedeutend besser, obgleich niemand vorher etwas von einer Unpäßlichkeit an ihm bemerkt hatte.

Eines Abends nun saß er, nachdem seine Freunde schlafen gegangen, mit seinen Aufzeichnungen beschäftigt, noch auf, drückte daß Fließpapier sorgfältig auf die letzte Seite, schloß das Tagebuch, wischte die Feder an seinem untern Rockfutter ab und öffnete die Schublade des Schreibpultes, um es hineinzulegen. Dabei fiel ihm ein beschriebener Bogen Papier in die Augen, der, nach dem Titel zu schließen, kein Privatdokument war und überdies Bezug auf Bath zu haben schien. Da er noch nicht müde war, beschloß er, es durchzulesen rückte seinen Stuhl näher ans Feuer.

DIE WAHRHAFTIGE GESCHICHTE VOM PRINZEN BLADUD

Vor nicht ganz zweihundert Jahren las man auf einem der öffentlichen Badeanstalten in dieser Stadt eine nunmehr verschwundene Inschrift zu Ehren ihres mächtigen Erbauers, des berühmten Prinzen Bladud.

Schon viele hundert Jahre vorher hatte sich von Generation zu Generation eine alte Sage vererbt, der erlauchte Prinz habe, weil er mit dem Aussatz behaftet gewesen, nach seiner Rückkehr von dem alten Athen, allwo er sich eine reiche Ernte von Kenntnissen gesammelt, den Hof seines königlichen Vaters gemieden und trübsinnig unter Hirten und Schweinen gelebt. Unter der Herde nun befand sich, so erzählt die Legende, ein Schwein mit einer ernsten feierlichen Miene, mit dem der Prinz außerordentlich sympathisierte – denn auch er war sehr ernster Sinnesart –, ein Schwein von nachdenklichem, zurückhaltendem Wesen, ein Tier, das allen andern weit überlegen war und ebenso schrecklich zu grunzen wie zu beißen verstand. Der junge Prinz seufzte tief, als er das Gesicht des majestätischen Schweines erblickte, denn es gemahnte ihn an seinen königlichen Vater, und seine Augen betauten sich mit Tränen.

Dieses kluge Schwein badete sich gerne in tiefem Schlamm, aber nicht nur im Sommer, wie gewöhnliche Schweine es auch heute noch lieben, um sich abzukühlen, und schon in jenen fernen Zeiten taten – ein Beweis, daß das Licht der Zivilisation schon damals, wiewohl nur schwach, emporzudämmern begonnen hatte –, sondern auch in schneidend kalten Wintertagen. Es hatte immer einen so reinen Teint und sah so gesund aus, daß der Prinz sich entschloß, die reinigenden Kräfte desselben Wassers zu erproben, dessen sich sein Freund bediente.

Unter dem schwarzen Schlamm sprudelten die heißen Quellen von Bath.

Der Prinz badete sich und wurde geheilt. Unverzüglich eilte er an den Hof seines Vaters, bezeugte ihm seine Ehrfurcht, kehrte aber schnell wieder zurück und gründete diese Stadt mit ihren berühmten Bädern.

Dann suchte er das naturkundige Schwein in alter treuer Freundschaft auf – aber ach, das Wasser war sein Tod geworden. Es hatte unvorsichtigerweise bei zu heißer Temperatur ein Bad genommen, wie in späterer Zeit nach ihm, wie die Geschichte erzählt, Plinius, der ebenfalls ein Opfer seines Durstes nach Erkenntnis wurde. Soweit die Sage.

Mr. Pickwick gähnte laut, faltete das kleine Manuskript sorgfältig wieder zusammen, legte es an seinen alten Platz in die Schublade des Schreibtisches, zündete sodann mit einem Gesicht, auf dem die äußerste Müdigkeit zu lesen war, sein Nachtlicht an und begab sich die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer.

Vor Mr. Dowlers Tür blieb er wie gewöhnlich stehen und klopfte an, um ihm gute Nacht zu wünschen.

„Ah“, rief Mr. Dowler, „Sie gehen ins Bett? Ich wollte, ich läge schon drin. Eine widerwärtige Nacht. Was? Sehr windig, nicht?“

„Ja“, versetzte Mr. Pickwick, „also, gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Mr. Pickwick ging in sein Schlafzimmer und Mr. Dowler blieb, einem übereilten Versprechen, bis zur Rückkehr seiner Gemahlin wach bleiben zu wollen, noch auf.

Es gibt nicht leicht etwas Unangenehmeres, als nachts auf jemand zu warten, besonders wenn dieser Jemand in Gesellschaft ist. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, wie schnell den Leuten dort die Zeit vergeht, die sich für einen selbst träge dahinschleppt, und je mehr man daran denkt, desto mehr schwindet die Hoffnung auf die baldige Ankunft des Erwarteten. Auch ticken die Uhren so laut, wenn man so allein dasitzt, und man meint, lauter Spinnen kröchen einem den Leib entlang. Zuerst juckt es einen am rechten Knie und dann stellt sich derselbe Reiz am linken ein. Ändert man seine Stellung, so kriecht es einem in die Arme, und wenn man seine Beine in allen möglichen Richtungen die Kreuz und die Quere herumgeworfen hat, so juckt es einen plötzlich an der Nase, daß man sie am liebsten wegreiben möchte. Auch die Augen fangen an zu brennen, und der Docht eines Lichtes wird anderthalb Zoll lang, ehe man ihn putzt. Solche und andre kleine Nervenstimmungen machen das lange Aufbleiben, wenn alle übrigen schon zu Bett gegangen sind, keinesfalls zu einem lustigen Zeitvertreib.

So dachte auch Mr. Dowler, als er vor dem Kamin saß, und ärgerte sich im Innersten seines Herzens über all die gefühllosen Leute auf dem Ball, die ihn so lange des Schlafes beraubten. Seine Laune wurde nicht verbessert durch den Gedanken, daß er am Abend Kopfweh vorgeschützt hatte, um zu Hause bleiben zu können. Endlich, nachdem er zu wiederholten Malen eingenickt und mit der Stirn an das Kamingitter gestoßen, aber immer wieder rechtzeitig zurückgefahren war, um sich das Gesicht nicht zu verbrennen, beschloß er, sich auf das Bett im Hinterzimmer zu legen und daselbst seinen Gedanken nachzuhängen – beileibe nicht etwa, um zu schlafen.

Ich habe einen harten Schlaf, sagte sich Mr. Dowler, als er sich in die Kissen warf. Ich muß wach bleiben und werde von hier das Klopfen wohl hören können. Natürlich ja, höre ich doch den Nachtwächter unten auf und ab schreiten. – Jetzt schon leiser. – Eben geht er um die Ecke. Ah! Als Mr. Dowler so weit in seinen Beobachtungen gekommen, war auch er bereits um die Ecke, das heißt in festem Schlaf.

Schlag drei Uhr wurde eine Sänfte, mit Mrs. Dowler darin, vor das Haus gebracht. Die Träger waren ein kurzer fetter Knirps und ein baumlanger Bursche, die auf dem Wege viel Mühe hatten, ihre Körper und vollends gar die Sänfte lotrecht zu halten, denn auf der Höhe und in der Nähe von Crescent wütete und stürmte der Wind so abscheulich, als wollte er das Straßenpflaster aufreißen. Sie waren daher herzlich froh, ihre Last endlich an Ort und Stelle niedersetzen zu können, und fingen an, mit dem Klopfer die Tür zu bearbeiten.

„Das Gesinde liegt in Morphiums Armen, scheint’s“, sagte der kurze Sänftenträger und wärmte sich während des Wartens die Hände an der Flamme des begleitenden Fackeljungen.

Aber niemand kam. Alles war still und finster wie zuvor.

„Mein Gott“, sagte Mrs. Dowler, „Sie müssen eben noch einmal klopfen.“

„Ist vielleicht eine Glocke da?“ fragte der Kurze.

„Natürlich is eine da“, fiel der Fackelträger ein, „ich habe doch in einem fort daran geläutet.“

„Bloß der Handgriff ist da“, erklärte Mrs. Dowler, „der Draht ist zerbrochen.“

„Ich wollte, Ihrer Dienerschaft wären die Köpfe zerbrochen“, knurrte der Lange.

„Ich muß Sie bemühen, gefälligst noch einmal zu klopfen“, wiederholte Mrs. Dowler mit der größten Höflichkeit.

Der Kurze klopfte noch mehrere Male, aber ohne den geringsten Erfolg. Dem Langen riß endlich die Geduld, er löste ihn ab und klopfte in einem fort mit gewaltigen Doppelschlägen an die Türe wie ein wahnsinniger Briefträger.

Endlich begann Mr. Winkle zu träumen, er sei in einem Klub; die Mitglieder hätten Streit miteinander bekommen, und der Präsident sei genötigt, gewaltig auf den Tisch zu hämmern, um die Ordnung wiederherzustellen; sodann schwebte ihm dunkel ein Auktionszimmer vor, in dem es an Kauflustigen fehlte und der Auktionator alles selbst erstehen mußte, und endlich fing er an zu denken, es könne in den Grenzen der Möglichkeit liegen, daß jemand an die Haustür klopfe. Um jedoch ganz sicher zu gehen, blieb er noch etwa zehn Minuten ruhig im Bett und horchte. Erst als er zwei- oder dreiunddreißig Schläge gezählt hatte, gab er sich zufrieden und bildete sich nicht wenig auf seine Wachsamkeit ein.

„Rap rap-rap rap-rap rap-ra, ra, ra, ra, ra, rap“, erschallte der Klopfer an der Haustür.

Höchlich verwundert, was das wohl zu bedeuten haben könne, sprang Mr. Winkle aus den Federn, zog schleunigst Strümpfe und Pantoffeln an, wickelte sich in seinen Schlafrock, zündete an dem Nachtlicht, das auf dem Kamin brannte, eine kleine Kerze an und eilte die Treppe hinab. „Endlich kommt jemand, Ma’am“, meldete der kurze Sänftenträger.

„Ich wollte, ich wäre mit der Hetzpeitsche hinter ihm her“, murrte der Lange.

„Wer ist draußen?“ rief Mr. Winkle und mühte sich ab, den Riegel zurückzuschieben.

„Frag nich lang, du Schafskopf“, erwiderte ärgerlich der Lange, der nicht anders glaubte, als der Fragende sei ein Bedienter, „aufgemacht!“

„Vorwärts! Schnell! Du Faultier!“ fügte der Kurze aufmunternd hinzu.

Mr. Winkle, noch halb im Schlaf, gehorchte mechanisch, öffnete die Tür ein wenig und blickte hinaus. Das erste, was er sah, war der rote Glanz der Fackel. Bei diesem unerwarteten Anblick erschrak er, und in der Meinung, das Haus stehe in Flammen, stieß er schnell die Tür weit auf, hielt das Licht über seinen Kopf empor und starrte geradeaus vor sich hin, ohne sich darüber klarwerden zu können, ob das, was er erblickte, eine Sänfte sei oder eine Feuerspritze. In diesem Augenblick kam ein heftiger Windstoß, das Licht erlosch, Mr. Winkle fühlte sich unwiderstehlich auf die Stufen vor der Haustür hingetrieben, und die Tür selbst schlug mit lautem Krachen hinter ihm zu.

„Da haben Sie’s, junger Mann“, sagte der Kurze.

Als Mr. Winkle durch das Fenster der Sänfte hindurch das Gesicht einer Dame erblickte, wandte er sich eiligst um, klopfte aus Leibeskräften an das Tor und schrie den Trägern wie wahnsinnig zu, sie sollten mit der Sänfte ihres Weges gehen.

„Fort! Fort!“ rief er ängstlich. „Da kommt jemand des Weges! Laßt mich in die Sänfte hinein. Versteckt mich, helft mir!“ – Dabei schauerte er vor Kälte, und jedesmal, wenn er die Hand nach dem Klopfer erhob, faßte der Wind auf eine höchst unzarte Weise seinen Schlafrock. – „Da kommen ja Leute. Es sind Damen darunter; bedeckt mich doch mit irgend etwas; stellt euch vor mich hin!“

Allein die Sänftenträger waren zu sehr durch Lachen in Anspruch genommen, als daß sie den geringsten Beistand hätten leisten können, und die Damen kamen mit jedem Augenblick näher und immer näher.

Mr. Winkle tat einen letzten verzweifelten Schlag an die Tür – die Damen waren nur noch um einige Häuser weit entfernt –, warf das ausgelöschte Licht, das er die ganze Zeit hindurch über seinen Kopf emporgehalten hatte, weg und stürzte auf die Sänfte los, in der Mrs. Dowler saß.

Jetzt endlich hatte Mrs. Craddock, die Portiersfrau, das Klopfen und Lärmen gehört, rasch die Nachtmütze mit einer andern Kopfbedeckung vertauscht und schob gerade in dem Augenblick das Schiebfenster des Hausmeisterzimmers zurück, als Mr. Winkle auf die Sänfte losstürzte. Kaum hatte sie gesehen, was sich da abspielte, als sie ein gewaltiges Jammergeschrei erhob und Mr. Dowler mit der Bemerkung wecken rannte, er solle unverzüglich aufstehen, denn seine Frau laufe mit einem fremden Herrn davon.

Mit der Elastizität eines Gummiballes sprang Mr. Dowler aus dem Bett, stürzte in das vordere Zimmer und kam in demselben Moment an ein Fenster, als Mr. Pickwick gerade ein andres aufriß, und das erste, was sich den erstaunten Blicken der beiden darbot, war, wie Mr. Winkle in die Sänfte hineinstürmen wollte.

„Nachtwächter!“ schrie Dowler wütend, „fangt ihn! – Packt ihn! – Haltet ihn fest, bis ich komme. Ich werde ihm die Kehle durchschneiden – ein Messer her! – ja, von einem Ohr bis zum andern, Mrs. Craddock.“ – Und trotz des Jammergeschreis der Hausfrau, in das Mr. Pickwick einstimmte, ergriff der entrüstete Ehemann ein Dessertmesser und stürzte auf die Straße hinunter.

Doch Mr. Winkle wartete nicht so lange. Kaum hörte er die schreckliche Drohung des rasenden Dowler, als er, so schnell er konnte, wieder aus der Sänfte sprang, seine Pantoffeln weit von sich schleuderte und Fersengeld gab, hitzig verfolgt von Mr. Dowler und dem Nachtwächter, in tollem Lauf um den Crescentplatz herum. Er hatte sich einen Vorsprung gesichert, und als er zum zweitenmal vor das Haus kam und das Tor offen fand, stürzte er hinein, warf „s Dowler vor der Nase zu, eilte in sein Schlafzimmer, verschloß die Tür, pflanzte als Verrammlung einen Toilettentisch nebst einigen Kommoden davor auf und packte einige notwendige Sachen zusammen, in der Absicht, mit Tagesanbruch zu entfliehen. Mr. Dowler kam vor seine Tür, erklärte durch das Schlüsselloch hinein seinen festen Entschluß, ihm am folgenden jag die Kehle durchzuschneiden, und erst nach einem gewaltigen Wirrwarr und Lärm im Gesellschaftszimmer, aus dem man vor allem Mr. Pickwicks Stimme, bemüht Frieden zu stiften, heraushörte, zerstreuten sich die erregten Hausgenossen in ihre verschiedenen Schlafgemächer, und alles wurde wieder ruhig.

Wo, um alles in der Welt, hatte nun Mr. Weller die ganze Zeit über gesteckt? Man hatte ihm am Morgen dieses verhängnisvollen Tages einen Brief ausgehändigt. Sam hatte sich sehr darüber gewundert und zunächst den Brief hin und her gedreht, um das Siegel und die Aufschrift zu entziffern; dann kam er langsam zu der Ansicht, daß es vielleicht zweckmäßig wäre, ihn zu öffnen.

„Auf goldrandiges Papier geschrieben“, murmelte er, als er ihn öffnete, „und in braunem Lack mit ‚m Ende vom Türschlüssel gesiegelt. Na, wollen mal sehen.“ Und mit völlig ernstem Gesicht las er dann:

„Mr. John Smauker, der Gentleman, der das Vergnügen hatte, Mr. Weller im Hause ihres gemeinsamen Bekannten, Mr. Bantam, neulich zu sehen, beehrt sich, Mr. Weller für heute abend zu einer Soareh im engeren Kreise, bestehend aus gedämpfter Hammelkeule nebst üblichen Gängen, ergebenst einzuladen. Es wird pünktlich um halb zehn Uhr serviert. Wenn Mr. Weller um neun Uhr bei Mr. John Smauker eintreffen könnte, so würde Mr. John Smauker sich ein Vergnügen daraus machen, Mr. Weller einzuführen.

John Smauker.“

„Na“, meinte Sam, „is ja ’n starkes Stück is das. Ich hab noch nie gehört, daß ’ne gedämpfte Hammelkeule Soareh heißt; möchte mal wissen, wie die ’ne gebratene nennen.“ Er zerbrach sich aber nicht lange den Kopf darüber, sondern verschaffte sich bei Mr. Pickwick Urlaub für den Abend. Kurz vor der bestimmten Zeit bewaffnete er sich mit dem Hausschlüssel und schlenderte recht gemütlich zur Queensquare, wo er schon aus einiger Entfernung Mr. John Smauker erblickte, der sein gepudertes Haupt gegen einen Laternenpfahl lehnte und eine Zigarre aus einer Bernsteinspitze rauchte.

„Wie befinden Sie sich, Mr. Weller?“ sagte Mr. John Smauker, wobei er mit der einen Hand graziös den Hut lüftete, während er mit der anderen eine vornehm-herablassende Bewegung vollführte. „Wie befinden Sie sich, Sir?“

„Schon sehr auf dem Wege der Besserung“, antwortete Sam, „aber wie geht’s Ihnen, Kamerad?“

„Bloß soso“, sagte Mr. John Smauker.

„Aha, Sie haben zu hart gearbeitet“, bemerkte Sam. „Das kam mir doch gleich so vor. Soll man nich machen, wissen Sie. Sie dürfen sich einfach nich so reinwühlen.“

„Daran liegt es nicht mal so, Mr. Weller“, antwortete Mr. John Smauker, „als am schlechten Wein; ich fürchte, ich bin ausschweifend gewesen.“ „Mhm“, sagte Sam, „das is ja allerdings kein Spaß.“

„Ach, dauernd diese Versuchungen; Sie wissen es ja auch. Mr. Weller“, seufzte Mr. John Smauker.

„Na, und ob!“ antwortete Sam.

„Immer so mitten im Strudel der Gesellschaft“, fuhr Mr. John Smauker fort, „hach ja. Aber so geht’s einem nun mal. Wenn einen das Schicksal in die große Welt entführt, dann kommen die Versuchungen, von denen die meisten Leute nie was zu spüren bekommen. Aber ich glaube, es ist Zeit, daß wir gehen.“

„Glaub ich auch“, meinte Sam, „sonst wird die Saoreh noch zu weich, oder sie brennt an.“

Unterwegs fragte Mr. John Smauker: „Haben Sie schon Brunnen getrunken, Mr. Weller?“

„Einmal“, antworte Sam.

„Und was halten Sie davon, Sir?“

„Also mir war es gründlich zuwider“, entgegnete Sam.

„Hm hm“, sagte Mr. John Smauker, „Ihnen mißfiel sicher der mineradische Kalligeschmack.“

„Davon verstehe ich nichts“, brummte Sam, „mir kam er bloß sengerig vor, wie ’n heißes Plätteisen.“

Unterdessen waren sie vor einem kleinen Gemüseladen angekommen und traten ein. In einem schmalen Zimmer waren alle erforderlichen Vorbereitungen zum Essen getroffen, und am Kaminfeuer wärmten sich mehrere Gäste, während einer von ihnen mit dem Rücken gegen das Fenster gelehnt stand. Dieser breitschultrige Gentleman in hochrotem Rock mit langen Schößen, hellroten Beinkleidern und Dreispitz, offenbar der bedeutendste unter den Anwesenden, begrüßte sogleich Mr. John Smauker, das heißt, sie verhakten ihre kleinen Finger ineinander und Mr. John Smauker lispelte, er sei entzückt, sein Gegenüber so wohl zu sehen.

„Freilich sagt man allgemein, ich sähe ziemlich blühend aus“, antwortete der Gentleman mit dem Dreispitz, „das ist aber geradezu ein Wunder. Ich habe nämlich in den letzten vierzehn Tagen nichts weiter zu tun gehabt, als zwei Stunden am Tag hinter unserer Alten herzusteigen. Dabei konnte ich nichts weiter tun, als Betrachtungen darüber anstellen, wie sie eigentlich ihr uraltes, scheußliches, lavendelfarbiges Kleid hinten zuhakt. Na, wenn das nicht genügt, um einen auf Lebenszeit in Verzweiflung zu stürzen, dann verzichte ich auf mein Gehalt.“

Alle Anwesenden lachten herzhaft, und ein Gentleman in gelber, mit Borte besetzter Weste flüsterte seinem Nachbarn, der grünen Cord trug, ins Ohr, Mr. Tuckle sei diesen Abend wieder so recht auf der Höhe. Sodann wurde Mr. Weller von Mr. John Smauker vorgestellt, und man setzte sich zum Essen.

Der Krämer erschien mit der Hammelkeule, zog waschlederne Handschuhe an, um die Teller sachgemäß aufzulegen und stellte sich hinter Mr. Tuckles Stuhl.

„Harris“, sagte Mr. Tuckle gebieterisch.

„Sir“, sagte der Krämer.

„Haben Sie die Handschuhe angezogen?“

„Jawohl, Sir.“

„So nehmen Sie die Glocke herunter!“

Der Krämer tat es, reichte dann Mr. Tuckle das Tranchiermesser und zog sich dabei eine scharfe Rüge zu, weil er versehentlich gähnte.

Mr. Tuckle tranchierte eben die Hammelkeule, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein Gentleman in lichtblauem Habit mit Bleiknöpfen erschien.

„Gegen die Gesetze“, rief Mr. Tuckle, „zu spät, zu spät!“

„O nein; ich konnte es nicht ändern“, sagte der Gentleman in Blau. „Ich appelliere an die Gemeinschaft. Eine galante Affäre. Stelldichein im Theater.“

„Ja, dann allerdings“, meinte ein Gentleman in orangefarbenem Plüsch.

„Genau das!“ fuhr der Lichtblaue fort. „Ich hatte mich verpflichtet, unsere jüngste Tochter pünktlich abzuholen. Sie ist ein hübsches Mädchen. So was läßt man nicht warten. Ich möchte der Gemeinschaft nicht zu nahe treten, aber: eine Schürze, Sir, eine Schürze geht immer vor.“

„Ich habe in letzter Zeit schon Lunte gerochen“, erwiderte Mr. Tuckle, während der neue Gast neben Sam Platz nahm, „ein- oder zweimal fiel mir auf, daß sie sich sehr fest auf Ihre Schulter stützte, wenn sie aus dem Wagen stieg.“

„Wahrlich, Tuckle, wahrlich, kein Wort mehr davon! So was gehört sich nicht. Ich habe vielleicht zu ein, zwei Freunden gesagt, daß sie ein geradezu himmlisches Geschöpf ist und daß sie einige Heiratsanträge ohne ersichtlichen Grund abgelehnt hat, aber… nein, nein und nochmals nein, unter keinen Umständen, Tuckle! Dazu noch vor Fremden! Das ist unpassend; Sie dürfen es einfach nicht! Delikatesse, mein teurer Freund, Delikatesse!“ Und der Lichtblaue schüttelte unwillig den Kopf und runzelte die Stirn, als könnte er noch viel darüber erzählen, was er um der Ehre willen verschwiege.

Da er nicht übel aussah und eine kecke, muntere Art hatte, kam Sam mit ihm in ein Gespräch, das in der gemeinsamen Feststellung gipfelte, Männer von Welt dürften sich nicht wegwerfen; früher oder später wäre die Wirkung einer guten Uniform auf Frauen unwiderstehlich. Inzwischen hatte der Krämer Gläser gebracht und die Gentlemen aufgefordert, ihre alkoholischen Wünsche zu äußern, worauf Sam eine große Bowle Punsch bestellte und sich damit die Hochachtung der Gesellschaft erwarb. Später wurden Reden gehalten und besondere Vorkommnisse erörtert. So wurde unter anderem bekannt, daß Mr. Whiffers, der Gentleman in orangefarbenem Plüsch, sein Engagement gelöst hatte. Mr. Whiffers gab eine ausführliche Erklärung hierfür, in welcher er die Vermutung äußerte, er selbst habe durch seine eigene Geduld und Nachgiebigkeit jene beleidigende Zumutung heraufbeschworen, die ihn zur Beendigung seiner Tätigkeit gezwungen habe. Er entsann sich deutlich, seinerzeit eingewilligt zu haben, daß man ihm gesalzene Butter zum Essen anbot, und ein anderes Mal, als jemand im Hause erkrankt wäre, hätte er sich soweit vergessen, daß er einen Kohleneimer in den ersten Stock hinaufgetragen hätte. Er hoffte nun, durch sein offenes Geständnis nicht die Achtung seiner Freunde verloren, oder sie mindestens durch die Entschlossenheit wiedergewonnen zu haben, mit der er die letzte ruchlose Beleidigung seiner Gefühle – die Zumutung, kalten Braten zu essen – gerächt habe.

Mr. Whifferes erntete stürmische Bewunderung, und man trank mit großem Enthusiasmus auf die Gesundheit des edlen Märtyrers. Der Märtyrer dankte und schlug Mr. Wellers Gesundheit vor. Mr. Weller dankte in wohlgesetzten Worten und schloß mit dem Wunsche, das Opfer der Tyrannei im Schwefelkleid möge nie wieder mit kalter Soareh geärgert werden; worauf er sich mit gewinnendem Lächeln setzte und gleichfalls stürmischen Beifall erntete. Dann brach die Gesellschaft auf.

„Sie wollen doch nicht etwa schon gehen, alter Junge“, wandte sich Sam an seinen Freund, Mr. John Smauker.

„Ich muß tatsächlich“, sagte Mr. Smauker, „ich hab’s Bantam versprochen.“

„Das ist was anderes“, gab Sam zu, „aber hier Freund Feuerbrand, Sie auch? Sollen wir dreiviertel von der Bowle im Stich lassen? Is doch Unfug! Los, setzen Sie sich wieder.“

Mr. Tuckle vermochte nicht zu widerstehen. Er legte den dreieckigen Hut und seinen Stab zur Seite und erklärte sich bereit, aus guter Kameradschaft noch ein einziges Gläschen zu trinken.

Da der Lichtblaue den gleichen Heimweg hatte wie Mr. Tuckle, ließ er sich gleichfalls bewegen, noch zu bleiben. Als die Bowle halb ausgetrunken war, bestellte Sam Austern, und die Wirkung des Punsches und der Austern war so erheiternd, daß Mr. Tuckle mit Dreimaster und Stab zwischen den Austernschalen auf dem Tisch den Froschhornpipe tanzte, wozu der Lichtblaue ingeniös auf einem Kamm blies. Der Punsch war vollkommen, und die Nacht auch fast völlig am Ende, da brachen die Herren auf, um einander nach Hause zu geleiten. Sobald Mr. Tuckle an die frische Luft kam, ergriff ihn ein unwiderstehliches Verlangen, sich auf das Straßenpflaster niederzulegen; Sam hielt es für eine Sünde, zu widersprechen, und ließ ihm daher seinen Willen. Da jedoch der Dreimaster Schaden genommen hätte, wenn er ihn gleichfalls hätte liegenlassen, drückte er ihn mit Bedacht dem Lichtblauen aufs Haupt, gab ihm Tuckles mächtigen Stab in die Hand, lehnte ihn aufrecht an seine Haustür, läutete und ging ruhig nach Hause.

Am kommenden Morgen war Mr. Pickwick früher als gewöhnlich aufgestanden, ging in Straßentoilette die Treppen hinab und läutete.

„Sam“, sagte er, als Mr. Weller erschien, „verschließe die Tür.“

„Wir haben“, begann er dann, „heute nacht einen unglückseligen Vorfall gehabt, infolgedessen Mr. Winkle Gewalttätigkeiten von Mr. Dowler befürchten muß.“

„Habe es schon von der Alten unten gehört“, erwiderte Sam.

„Und“, erzählte Mr. Pickwick mit höchst verdrießlicher Miene weiter, „ich muß leider hinzufügen, daß Mr. Winkle sich aus Furcht vor diesen Gewalttätigkeiten aus dem Staub gemacht hat.“

„Aus dem Staub jemacht?“

„Er hat diesen Morgen sehr früh, ohne die geringste Beratung mit mir, das Haus verlassen“, erklärte Mr. Pickwick. „Und er ist auf und davon, ohne daß ich weiß, wohin?“

„Hätte dableiben und die Sache ausfressen sollen, Sir“, versetzte Sam verächtlich. „Ich wollte mit diesem Dowler schon fertig werden, Sir.“ „Gut, Sam“, sagte Mr. Pickwick, „auch ich habe so meine Zweifel an der großen Tapferkeit und Entschlossenheit des Herrn, aber dem sei, wie es wolle, Mr. Winkle ist nun einmal nicht mehr da. Er muß aufgesucht und zu mir zurückgebracht werden, Sam.“

„Wenn er aber nich mehr kommen will, Sir?“

„Dann muß man ihn dazu zwingen, Sam“, sagte Mr. Pickwick.

„Und wer soll dies tun, Sir?“ fragte Sam lächelnd.

„Du!“

„Sehr wohl, Sir“, sagte Mr. Weller, verließ das Zimmer, und gleich darauf hörte man ihn die Haustür schließen.

Zwei Stunden später kehrte er so gelassen zurück, als hätte man ihn mit dem allergewöhnlichsten Auftrag abgesandt, und brachte die Nachricht, ein Individuum, dessen Beschreibung in jeder Beziehung auf Mr. Winkle passe, sei diesen Morgen mit der Postkutsche vom Royal-Hotel nach Bristol gefahren.

„Sam“, sagte Mr. Pickwick und ergriff Mr. Wellers Hand, „du bist ein Kapitalkerl, den man in Gold fassen sollte. Du mußt ihm nachreisen, Sam.“

„Sehr wohl, Sir“, erwiderte Mr. Weller.

„Und sowie du ihn ausfindig gemacht hast, schreibst du es mir auf der Stelle, Sam. Und wenn er einen Versuch macht, zu entfliehen, so schlägst du ihn zu Boden oder sperrst ihn ein. Du hast meine unumschränkte Vollmacht, Sam.“

„Ich werde alles getreu befolgen“, beteuerte Sam.

„Sage ihm, ich sei im höchsten Grad aufgebracht, erzürnt und empört über das äußerst auffallende Benehmen, das er sich habe zuschulden kommen lassen.“

„Sehr wohl, Sir.“

„Sage ihm ferner, wenn er nicht mit dir in dieses Haus Zurückkehren wolle, so werde er mit mir zurückkehren müssen, denn ich werde ihn selbst holen kommen.“

„Ich werde es ausrichten, Sir“, versprach Sam.

„Meinst du wirklich, daß du ihn finden wirst, Sam?“

„Oh, ich will ’n schon finden, mag er sein, wo er will“, erwiderte Sam mit großer Zuversicht.

„Sehr gut, also reise je eher, je lieber ab“, sagte Mr. Picknick, gab seinem getreuen Diener eine Summe Geldes und befahl ihm, sogleich nach Bristol zu fahren.

Sam packte einige notwendige Sachen in einen Mantelsack und war bereit, aufzubrechen. Am Ende des Ganges blieb er stehen, kehrte noch einmal um und steckte den Kopf durch die Tür.

„Was gibt’s, Sam?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ich habe doch meine Instruktschon recht verstanden Sir? Habe ich das mit dem Umhauen buchstäblich zu verstehen?“

„Allerdings“, erwiderte Mr. Pickwick, „ganz buchstäblich. Tue, was du für nötig hältst. Du hast ausgedehnteste Vollmacht.“

Sam blinzelte verständnisinnig, zog seinen Kopf aus der Tür und begab sich fröhlichen Herzens auf seine Wanderschaft.