Neununddreißigstes Kapitel


Neununddreißigstes Kapitel

Wie es Mr. Pickwick in der Fleet erging, was für Schuldgefangene er daselbst antraf und wie er die Nacht zubrachte.

Mr. Tom Roker, der Gentleman, der Mr. Pickwick ins Gefängnis begleitet hatte, wandte sich unten auf der kurzen Treppe nach rechts und führte den Gelehrten durch ein offenstehendes eisernes Tor, sodann eine andre kurze Treppe hinauf in einen langen, engen, schmutzigen, niedrigen, mit Steinen bepflasterten Gang, der bloß durch ein einziges Fenster an jedem Ende ein höchst spärliches Licht erhielt.

„Dies“, sagte der Gentleman mit einem Blick über die Schulter und steckte die Hände in die Taschen, „dies ist der Weg zur Halle.“

„So“, erwiderte Mr. Pickwick, eine dunkle schmutzige Treppe hinabblickend, die zu einer Reihe dumpfer, düsterer unterirdischer Steingewölbe zu führen schien, „und dies da sind wohl die kleinen Keller, wo die Gefangenen ihre geringen Kohlenvorräte aufbewahren? Der Zugang ist recht abscheulich, aber zu diesem Zwecke mögen sie wohl brauchbar sein.“

„Na, warum sollten sie nicht brauchbar sein“, meinte der Gentleman, „es wohnen ja mehrere Leute ganz hübsch darin.“

„Mein Freund“, sagte Mr. Pickwick, „es wird Ihnen doch nicht Ernst damit sein, daß menschliche Wesen in diesen Löchern wohnen?“

„Na warum denn nicht?“ erwiderte Mr. Roker mit unwilliger Verwunderung, „Warum denn nicht?“

„Da unten leben also wirklich Menschen?“ rief Mr. Pickwick.

„Ja, sie leben da unten, und sehr oft sterben sie auch da unten“, erwiderte Mr. Roker. „Was liegt denn dran? Wer kann etwas dagegen einwenden? ’s is ’n ganz guter Platz zum Leben.“

Da Rocker bei diesen Worten sich etwas barsch gegen Mr. Pickwick umwandte und noch überdies in gereiztem Tone gewisse unfreundliche Äußerungen über seine Augen, seine Glieder und seine in den Adern zirkulierenden Flüssigkeiten vor sich hin murmelte, hielt es der treffliche Gelehrte für ratsam, das Gespräch nicht weiter zu verfolgen. Mr. Roker stieg wieder eine Treppe hinauf, die so schmutzig war wie die letzte, und die Herren Pickwick und Weller folgten ihm auf den Fersen.

„Hier“, zeigte Mr. Roker und schöpfte Atem, als sie eine andre Galerie von demselben Umfang wie die untere erreicht hatten, „hier ist der Kantinengang; es sind noch zwei darüber, und das Zimmer, wo Sie heute nacht schlafen werden, gehört dem Gefängniswärter; es ist hier; treten Sie ein.“

Nachdem Mr. Roker dies alles in einem Atem heruntergesagt, stieg er mit seinen Begleitern von neuem eine Treppe hinauf.

Diese erhielt ihr Licht von einigen niedrig angebrachten Fenstern, die auf einen mit Kies bedeckten und von einer hohen Backsteinmauer mit eisernen spanischen Reitern umgebenen offenen Raum hinabsahen. Es war das, wie aus Mr. Rokers Erklärung hervorging, der Ballspielplatz, und nach dem Bericht desselben Gentleman befand sich in dem zunächst an die Farringdonstreet stoßenden Teile des Gefängnisses ein ähnlicher, aber kleinerer Hofraum, der „gemalte Platz“ genannt, weil man an seinen Mauern früher mehrere Abbildungen von Kriegsschiffen unter vollen Segeln sowie andre Kunstleistungen hatte bewundern können, durch die sich weiland ein eingesperrter Maler in seinen Mußestunden verewigt hatte.

Nachdem Mr. Roker diese Erklärung, augenscheinlich mehr um seine Seele von einem wichtigen Geheimnis zu erleichtern, als in der spezifischen Absicht, Mr. Pickwick aufzuklären, von sich gegeben hatte, ging er mit ihm in eine andre Galerie, öffnete eine Tür und schloß ein Zimmer von keineswegs einladendem Aussehen auf, in dem acht bis neun eiserne Bettstellen standen.

„Hier“, sagte er, hielt die Tür offen und warf Mr. Pickwick einen triumphierenden Blick zu, „hier ist ein Zimmer.“

Mr. Pickwicks Gesicht verriet indes ein so geringes Maß von Zufriedenheit, daß Mr. Roker in den Mienen Samuel Wellers, der bis jetzt ein würdevolles Schweigen beobachtet hatte, nach Verständnis suchte.

„Hier ist ein Zimmer, junger Mann“, wiederholte er. „Ich sehe es“, erwiderte Sam mit freundlichem Kopfnicken. „Was meinen Sie? So ein Zimmer würden Sie im Farringdonhotel nicht finden“, sagte Mr. Roker mit selbstgefälligem Lächeln.

Statt aller Antwort drückte Mr. Weller auf eine lässige und unstudierte Weise ein Auge zu, was entweder bedeuten konnte, er denke auch so, oder er denke nicht so, oder er habe überhaupt noch nicht darüber nachgedacht, wie es sich der Beobachter eben auslegen möge. Nachdem er diese Handlung vollbracht und sein Auge wieder geöffnet hatte, fragte er Mr. Roker, welches die merkwürdige Bettstelle sei, in der es sich nach seiner reizvollen Beschreibung so herrlich schlafen lasse.

„Diese da“, bedeutete Mr. Roker, auf eine rostige Bettlade in einem Winkel zeigend. „Jedermann schläft darin ein, er mag wollen oder nicht.“ „Dann wären ja“, erwiderte Sam, mit einem Blick ausgeprägten Widerwillens auf das fragliche Möbel, „dann wären ja Mohnköpfe nichts dagegen.“ „Das ist wahr“, versetzte Mr. Roker. „Und“, fügte Sam mit einem Seitenblick auf seinen Herrn hinzu, ob er bei diesem nicht etwa Merkmale eines erschütterten Entschlusses zu erkennen vermöchte, „die andern Herren, die hier noch schlafen, sind doch hoffentlich Gentlemen?“

„Versteht sich“, sagte Mr. Roker. „Einer von ihnen trinkt Tag für Tag zwölf Kannen Ale und läßt seine Pfeife nie kalt werden, nicht mal beim Essen.“

„Muß „n Kapitalkerl sein“, meinte Sam.

„Ja, freilich, ich bin es doch selbst.“

Keineswegs eingeschüchtert durch diese Nachricht, kündigte Mr. Pickwick seinen Entschluß an, die Wunderkräfte des narkotischen Bettes für die Nacht zu erproben; Mr. Roker bedeutete ihm, er könne sich ohne weitere Umstände oder Formalitäten zu jeder beliebigen Stunde zur Ruhe begeben, und ließ ihn sodann mit Sam auf dem Gange stehen.

Es wurde dunkel, das heißt, an diesem niemals hellen Platze wurden aus Artigkeit gegen den Abend, der sich außerhalb eingestellt hatte, einige Gaslichter angezündet. Da es ziemlich heiß war, so hatten die Bewohner einiger von den zahlreichen, auf beiden Seiten auf den Gang mündenden Stuben ihre Türen mehr oder weniger weit aufgemacht, und Mr. Pickwick schaute im Vorübergehen mit großer Neugierde und vielem Interesse hinein. Im ersten saßen vier oder fünf Burschen, durch eine Wolke von Tabaksrauch beinahe unsichtbar, in lärmender Unterhaltung bei halbleeren Bierkannen und spielten mit schmierigen Karten „Alle vier“. Im nächsten Zimmer erblickte er einen einsamen Bewohner, der beim Schein eines schwachen Talglichts einen Pack beschmutzte, vergilbte und vor Alter beinahe zerfallene Papiere studierte und zum hundertsten Mal ein langes Verzeichnis seiner Beschwerden an einen bedeutenden Mann niederschrieb, dessen Augen es niemals lesen, dessen Herz nie dadurch gerührt werden sollte. In einem dritten wohnte ein Mann mit seinem Weibe und einem ganzen Haufen Kinder und bereitete für die jüngsten ein ärmliches Nachtlager auf der Erde oder auf ein paar Stühlen. Im vierten, fünften, sechsten und siebenten wiederholte sich das Geschrei, das Biertrinken, der Tabaksrauch und das Kartenspiel in verstärktem Maße.

Auf den Gängen selbst, und besonders auf den Treppen, standen eine Masse Leute herum, einige, weil ihnen ihre Zimmer zu leer und zu einsam, andre, weil sie ihnen zu voll und zu heiß waren, die meisten aber, weil sie keine Ruhe fanden, sich unbehaglich fühlten und das Geheimnis nicht besaßen, mit Bestimmtheit zu wissen, was sie mit sich selbst anfangen sollten. Es waren Leute von allen Klassen da, vom Arbeiter im blauen Kittel bis zum ruinierten Verschwender im feinen tuchenen Schlafrock mit zerrissenen Ellenbogen; aber alle hatten dieselbe Art, sich zu benehmen, eine gewisse leichtfertige Galgenvogelsorglosigkeit, ein großtuerisches, vagabundisches Wesen, das sich mit Worten schlechterdings nicht beschreiben läßt, wovon aber jeder, der Lust hat, sogleich Einsicht nehmen kann, wenn er einen Fuß in das nächste beste Schuldgefängnis setzt und die Gruppen, die er erblickt, mit genügendem Interesse betrachtet.

„Sam“, sagte Mr. Pickwick und lehnte sich an das.eiserne Geländer oben am Treppenabsatz, „es will mir scheinen als ob die Schuldhaft kaum eine Strafe genannt werden könnte.“

„Wirklich nich, Herr?“

„Du siehst doch, wie diese Burschen trinken, rauchen und schreien. Ihre Lage kann ihnen unmöglich sehr zu Herzen gehen.“

„Das is es eben, Herr“, erwiderte Sam. „Die machen sich freilich nicht viel daraus. Sie haben alle Tage blauen Montag, saufen ’n ganzen Tag Porter und kegeln; aber ’s gibt auch noch andre, wo kein Bier trinken und nich Kegel schieben können und gerne bezahlen würden, wenn sie das Geld dazu hätten, und wo ganz traurig werden. Ich will Ihnen sagen, was es is, Sir; denen, wo den ganzen Tag über in den Kneipen rumkugeln, denen schadet es nichts, aber denen, wo immer arbeiten, wenn sie Arbeit finden, denen schadet es viel zuviel. Es is gar zu ungleich, wie mein Vater zu sagen pflegte, wenn sein Grog nich gerade halb Rum und halb Wasser war; es is gar zu ungleich, und darum ist die Sache oberfaul.“ „Mir scheint, du hast recht, Sam“, sagte Mr. Pickwick nachdenklich, „du hast sogar völlig recht.“

„Vielleicht gibt es dann und wann auch ’n paar ehrliche Leute, denen es gefällt“, bemerkte Mr. Weller mit gedankenvoller Miene, „aber ich habe noch von keinem nich gehört, ausgenommen von dem kleinen Mann mit dem schmutzigen Gesicht und dem braunen Rock, und da war es die Macht der Gewohnheit.“

„Wer war denn das?“ fragte Mr. Pickwick.

„Das is doch ebend die Sache, die kein Mensch niemals nich erfahren hat“, erwiderte Sam.

„Hm, und was hat er getan?“

„Tja, dasselbe, was manche viel berühmtere Leute auch schon gemacht haben, Sir“, erwiderte Sam, „hat seine Ausgaben und seine Einnahmen nich ins Gleichgewicht bekommen.“

„Das heißt vermutlich, er hat Schulden gemacht?“

„Ganz genau, Sir. Und so kam er denn im Lauf der Zeit demzufolge hierher. Es war nich viel – Exekution wegen rund neun Pfund geradeaus, multipliziert mit fünf für Unkosten, und doch mußte er siebzehn Jahre lang hierbleiben. Wenn er Runzeln im Gesicht bekam, so wurden sie mit Schmutz verstopft, denn sowohl seine schmierige Visage wie der braune Rock waren ganz dieselben, am Ende dieser Zeit wie am Anfang. Er war ’n stilles, harmloses kleines Männchen, das sich immer was zu schaffen machte oder Ball spielte und nie gewann, bis ihm endlich die Schließer liebgewannen und ihn jeden Abend auf ihr Zimmer kommen ließen, wo er mit ihnen schwatzen und ihnen Geschichten erzählen mußte und dergleichen. Eines Abends war er wie gewöhnlich auch da, und ganz alleine mit ’nem alten Freunde, wo gerade die Schlüssel hatte, da fing er auf einmal an und sagte: ,Bill, ich habe den Markt draußen nu schon siebzehn Jahre nich mehr gesehen.‘ (Dazumal war gerade der Fleetmarkt.) ,Ich weiß wohl‘, sagte der Schließer und rauchte seine Pfeife. – ,Ich möchte ihn gar zu gerne auf eine Minute wieder sehen, Bill‘, fuhr der Kleine fort. – ,Glaub’s wohl‘, sagte der Schließer und dampfte mächtig, um sich den Anschein zu geben, als ob er den kleinen Mann nich verstünde. – ,Aber‘, sagte dieser immer dringlicher, ,ich habe es mir nu mal in den Kopf gesetzt. Laß mich die Straße noch mal vor meinem Tode sehen, und wenn midi der Schlag nich rührt, bin ich in fünf Minuten wieder da.‘ – .Aber‘, sagte der Schließer, ,wat soll aus mir werden, wenn der Schlag dich wirklich rührt?‘ – ,Na‘, erwiderte das kleine Männchen, ,wer mir findet, der wird mir schon wiederbringen, ich habe doch meine Karte in der Tasche: Nummer zwanzig Restaurationsgang.‘ Und das war wirklich so, denn wenn er mit einem Neuangekommenen Bekanntschaft machen wollte, zog er jedesmal ’ne kleine, biegsame Karte, wo sonst nichts draufstand, aus der Tasche. Drum nannten sie ’n auch nur die ,Nummer zwanzig‘. Der Schließer sah ihn scharf an und sagte zuletzt feierlich: ,Zwanzig, ich will dir trauen; du wirst deinen alten Freund nich in Verlegenheit bringen.‘ – ,Nein, mein Schatz‘, antwortete das kleine Männchen, ,ich hoffe, ’s steckt was Besseres hier unten‘, und dabei schlug er sich mit Macht auf sein kleines Westchen, und in jedem Auge stand ihm ’ne Träne, was ganz außerordentlich war, denn er galt dafür, daß niemals Wasser sein Gesicht berührte. Dann schüttelte er dem Schließer die Hand, ging raus – „

„– und kam nie wieder“, ergänzte Mr. Pickwick.

„Vollkommen danebengehauen, Sir!“ entgegnete Mr.Weller. „Denn er kam zwei Minuten vor der Zeit zurück und kochte vor Wut und sagte, beinah hätte ihn ’ne Droschke überfahren und er war so was nich gewöhnt und wenn er nich an den Bürgermeister schreiben würde, dann würde es dreizehn schlagen. Sie beschwichtigten ihn endlich, aber fünf ganze Jahre nachher noch hat er nie mehr auch nur ’n Blick zum Tor rausgeworfen.“

„Und nach Verlauf dieser Zeit ist er wohl gestorben?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nö, auch das nich“, erwiderte Sam. „Er bekam ’n Gelüste, in dem neuen Wirtshaus über der Straße das Bier zu versuchen, und dort war ’n so hübsches Zimmer, daß er sich’s in den Kopf setzte, jeden Abend dahin zu gehen, was er lange Zeit tat und immer regelmäßig etwa ’ne Viertelstunde vor Torschluß wiederkam. Das war nun allens ganz hübsch und gut, aber dann wurde er so fidel, daß er nich an die Zeit dachte und sich gar nichts mehr daraus machte, daß es immer später und später wurde, bis er zuletzt einen Abend am Tor ankam, wie sein guter Freund eben zuschließen wollte und hatte schon den Schlüssel umgedreht. – ,He, Bill, halt!‘ rief er ihm zu. – ,Bist du denn noch nicht zu Hause, Nummer zwanzig?‘ sagte der Schließer, ,ich dachte, du bist schon lange da.‘ – ,Ach, wo werd ich denn‘, sagte der Kleine lächelnd. – ,Denn will ich dir mal was sagen, guter Freund‘, sagte der Schließer und machte das Tor langsam und bedächtig wieder auf, ,ich habe mit großem Leidwesen gesehen, daß du in letzter Zeit in schlechte Gesellschaft geraten bist. Ich will ja nicht zu hart mit dir verfahren, aber wenn du dir nich an orntliche Leute halten tust und zur regelmäßigen Stunde wiederkommen tust, denn schließe ich dir ganz und gar aus, so wahr ich hier stehe.‘ Na, und da fing der kleine Mann an, mächtig zu zittern und zu beben, und seitdem ging er nie mehr aus dem Gefängnis raus.“ Als Sam geendet, ging Mr. Pickwick langsam die Treppe wieder hinab, und nachdem er einige Male auf dem bemalten Platz, wo er, da es jetzt dunkel war, beinahe allein sein konnte, gedankenvoll auf und ab geschritten, sagte er, es scheine ihm hohe Zeit zu sein, zu Bett zu gehen; Sam solle in einem nahen Wirtshaus eine Unterkunft suchen und am andern Morgen beizeiten wiederkommen, um für die Herbeischaffung der Garderobe aus dem „Georg und Geier“ Sorge zu tragen. Mr. Weller schickte sich an, diesem Befehl mit so viel Anstand, als er aufbringen konnte, nachzukommen, legte aber nichtsdestoweniger einen bedeutenden Widerwillen an den Tag. Er ging sogar so weit, durch allerhand wirkungslose Winke anzudeuten, daß es passender wäre, wenn er sich für heute nacht auf den Kiesboden hinstreckte; da er indes Mr. Pickwick für alle solche Anspielungen hartnäckig taub fand, zog er sich endlich zurück.

Mr. Pickwick war äußerst gespannt und fühlte sich höchst unbehaglich – nicht wegen Mangels an Gesellschaft, denn das Gefängnis war sehr voll, und mit einer Flasche Wein hätte er sich ohne weiteres Einführungszeremoniell die beste Kameradschaft einiger auserwählter Geister erkaufen können –, allein er fühlte sich einsam unter dem rohen Gesindel, und der Gedanke, ohne Aussicht auf Befreiung eingekerkert zu sein, benahm ihm allen frohen Mut. Dessenungeachtet fiel es ihm aber nicht im entferntesten ein, sich damit loszumachen, daß er den Betrügereien Dodson und Foggs Vorschub leistete.

In dieser Stimmung begab er sich noch einmal in den Restaurationsgang und spazierte langsam auf und ab. Der Platz war unerträglich schmutzig und der Tabaksdampf beinahe erstickend. Die Leute warfen unaufhörlich die Türen zu, wenn sie aus und ein gingen, und das Geräusch ihrer Stimmen und Fußtritte hallte beständig durch den Gang. Eine junge Frau mit einem Kind auf den Armen, das vor Magerkeit und Elend kaum kriechen zu können schien, ging mit ihrem Manne, der keinen andern Platz hatte, um ihren Besuch zu empfangen, den Gang auf und ab. Als sie an Mr. Pickwick vorbeikamen, konnte er die Frau bitterlich schluchzen hören, und einmal brach sie in ein so heftiges Jammern aus, daß sie sich an der Wand halten mußte, indes der Mann das Kind in seine Arme nahm und sie zu beruhigen versuchte.

Mr. Pickwicks Herz war wirklich zu voll, um dies zu ertragen, er ging die Treppen hinauf und ins Bett.

Obgleich nun das Zimmer des Gefängniswärters in bezug auf Möblierung und Einrichtung durchaus unwohnlich und um mehrere hundert Grad schlechter war als das gemeinste Krankenzimmer in einem Grafschaftsgefängnis, so hatte es doch für den Augenblick den Vorzug, ganz verlassen zu sein. Mr. Pickwick setzte sich am Fuß seiner kleinen eisernen Bettstatt nieder und begann zu berechnen, wieviel der Gefängniswärter wohl jährlich aus diesem schmutzigen Zimmer lösen könne. Nachdem er auf mathematischem Wege herausgebracht, daß es vielleicht so viel eintrage, wie eine kleine Straße in den Vorstädten Londons, fing er an, sich zu wundern, welche Versuchung wohl eine trübsinnige Fliege, die auf seinen Beinkleidern herumkroch, verlockt haben möge, in ein Gefängnis zu kommen, während sie doch unter so vielen lustigen Wohnungen die Wahl habe – eine Betrachtung, die ihn zu dem unabweislichen Schluß leitete, das Insekt müsse verrückt sein. Nachdem er über diesen Punkt ins reine gekommen, fing er an, sich bewußt zu werden, daß er schläfrig sei. Er zog daher seine Nachtmütze aus der Tasche, die er morgens einzustecken die Vorsicht gebraucht hatte, kleidete sich gemächlich aus, ging ins Bett und schlummerte.

„Bravo! Fersen höher! Hoppla! Hopsa! Zephyr! Ich will mich hängen lassen, wenn nicht das Opernhaus Ihre eigentliche Hemisphäre ist. Holla ho!“ Diese und ähnliche, mit tobendem Geschrei hervorgelärmten und von lautem, schallendem Gelächter begleiteten Ausdrücke erweckten Mr. Pickwick aus einem jener gesunden Schlummer, die in Wirklichkeit nur eine halbe Stunde andauern, dem Schläfer aber drei bis vier Wochen lang gewährt zu haben scheinen.

Die Stimme hatte kaum aufgehört, als das Zimmer mit solcher Heftigkeit erschüttert wurde, daß die Fenster klirrten und die Bettladen erzitterten. Mr. Pickwick schrak auf und blieb, einige Minuten lang in stummes Erstaunen über die seinen Augen sich darstellende Szene versunken, aufrecht sitzen.

In seinem eignen Zimmer nämlich führte ein Mann in einem grobgesäumten grünen Rock, manchesternen Kniehosen und grauen wollenen Strümpfen die populärste Art eines Hornpipetanzes mit einer spitzbübisch-burlesken Karikatur von Anmut und Grazie auf, die, verbunden mit dem eigentümlichen Charakter seines Kostüms, unaussprechlich phantastisch war. Ein andrer Mann, offenbar sehr betrunken und wahrscheinlich von seinem Kameraden in ein Bett geworfen, saß zwischen den Tüchern und trillerte, soweit es ihm sein Gedächtnis gestattete, ein komisches Lied mit sentimentalem Text, indes ein dritter, gleichfalls auf einem Bette, den beiden Künstlern mit tiefer Kennermiene zujubelte und sie durch das Übermaß von Empfindung, das Mr. Pickwick bereits aus dem Schlafe gestört hatte, anfeuerte.

Dieser letzte war ein bewunderungswürdiges Muster von einer Klasse Leute, die in ihrer gänzlichen Vollkommenheit nur an solchen Orten zu sehen sind und – im unvollkommenen Zustand gelegentlich auch in der Gegend von Viehställen und in öffentlichen Häusern zu treffen sind, aber ihre volle Blume erst in diesen Mistbeeten, die von der Gesetzgebung wohlweislich einzig und allein zu ihrer Erziehung geschaffen zu sein scheinen, entfalten.

Er war ein langer Kerl von olivenbrauner Gesichtsfarbe, hatte lange, dunkle Haare und einen sehr dicken, buschigen Schnurrbart, der unter dem Kinn zusammenlief. Er trug kein Halstuch, da er den ganzen Tag Tennis gespielt hatte, und sein offner Hemdkragen enthüllte die volle Üppigkeit seines Nackens. Auf dem Kopf hatte er eine gewöhnliche französische Mütze zu achtzehn Pence sitzen, mit bunten Troddeln daran, die zu dem gemeinen Barchentrock sich sehr hübsch ausnahmen. Seine Beine, lang und dünn, schmückten ein Paar Oxforder Pumphosen, geeignet, die Symmetrie seiner Glieder ins gehörige Licht zu setzen. Da sie indes etwas nachlässig geschnallt und außerdem auch unvollständig zugeknöpft war, so fiel sie in einer Reihe nicht eben sehr anmutsvoller Falten über ein Paar Schuhe gerade so weit herab, um ein Paar schmutzige weiße Strümpfe sehen zu lassen. In dem ganzen „Wesen des Mannes sprach sich eine gewisse gaunerhafte, vagabundenmäßige Lebhaftigkeit und eine Art großtuerischen Spitzbubentums aus, die wenigstens eine Goldmine wert war.

Diese Figur war die erste, die bemerkte, daß Mr. Pickwick zuschaute; sie winkte hierauf dem „Zephyr“ zu und bat ihn mit drolliger Gravität, den Herrn nicht aufzuwecken.

„Gott segne den ehrenwerten Gentleman in Zeit und Ewigkeit“, rief der „Zephyr“ aus, drehte sich um und legte die äußerste Überraschung an den Tag. „Der Gentleman ist bereits erwacht. Heda, Shakespeare! Wie befinden Sie sich, Sir? Was machen Marie und Sara, Sir? Und die liebwerte alte Madam zu Hause, Sir? – Wollen Sie die Güte haben, dem ersten Paketchen, das Sie ihr schicken, meine Komplimente beizufügen.“

„Belästigen Sie den Gentleman nicht mit gewöhnlichen Höflichkeiten, wo Sie sehen, daß er ungemein durstig ist“, verwies der Schnurrbart in scherzhaftem Ton. „Warum fragen Sie den Gentleman nicht, was er befehle?“

„Beim Himmel, das habe ich ganz vergessen“, erwiderte der andre. „Was belieben Sie zu trinken, Sir? Wünschen Sie Portwein, Sir? Oder Xeres, Sir? Auch das Ale kann ich empfehlen, Sir, oder vielleicht ziehen Sie lieber Porter vor, Sir? Gestatten Sie, daß ich Ihre Nachtmütze aufhänge, Sir!“

Mit diesen Worten schnappte der Gentleman genanntes Bekleidungsstück von Mr. Pickwicks Kopf weg und setzte es im Nu dem Betrunkenen auf, der im festen Glauben, eine zahlreiche Versammlung zu ergötzen, fortfuhr, in möglichst melancholischen Tönen sein Lied herunterzuleiern. Jemand mit Gewalt die Nachtmütze vom Kopf reißen und einem unbekannten Schmutzfinken aufsetzen, mag an und für sich ein geistreicher Witz sein, gehört aber unstreitig in die Klasse der handgreiflichen Spaße. Auch Mr. Pickwick betrachtete die Sache von diesem Gesichtspunkt aus, sprang, ohne seine Absicht im mindesten vorher zu verkünden, wie der Blitz aus dem Bett und versetzte dem „Zephyr“ einen derben Schlag auf die Brust, riß dann seine Mütze wieder an sich und nahm kühn eine defensive Stellung an.

„Nur heran!“ rief er dabei, keuchend sowohl vor Zorn als infolge des ungewohnten Kraftaufwandes. „Nur heran, ihr beiden!“

Diese freundliche Einladung begleitete der Treffliche mit wiederholten Schwingungen seiner geballten Fäuste, um seinen Gegnern durch Entwicklung seiner Kunstfertigkeit Schrecken einzujagen.

War es Mr. Pickwicks höchst unerwartete Tapferkeit oder die verwickelte Art, wie er aus dem Bett gesprungen und unaufhaltsam den Hornpipemann überfallen hatte, was seine Gegner konsternierte – kurz und gut, konsterniert waren sie, und statt den Versuch zu machen, ihn zu erschlagen, wie Mr. Pickwick unbedingt von ihnen vorausgesetzt, wurden sie auf einmal still, starrten einander an und begannen dann aus vollem Halse zu lachen.

„Wacker! Bravo!“ rief der „Zephyr“. „Sie gefallen mir. Hüpfen Sie nur jetzt wieder ins Bett, sonst erkälten Sie sich. Sie werden doch hoffentlich nicht böse auf uns sein.“ Zugleich streckte er ihm eine Hand hin, ähnlich dem gelben Fingerklumpen, den man hier und da über dem Laden eines Handschuhmachers hängen sieht.

„Oh, gewiß nicht“, versicherte Mr. Pickwick, plötzlich sehr munter, denn jetzt, wo die Aufregung vorüber war, begann er Kälte in seinen Füßen zu verspüren.

„Gestatten Sie mir die Ehre, Sir“, sagte der Gentleman mit dem Schnurrbart und reichte ihm ebenfalls die Rechte hin.

„Mit Vergnügen, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick und stieg nach einem langen, feierlichen Händeschütteln wieder in sein Bett.

„Mein Name ist Smangle, Sir“, stellte sich der Mann mit dem Schnurrbart vor.

„Ah, schön“, sagte Mr. Pickwick.

„Und meiner Mivins“, sagte der Mann mit den Strümpfen.

„Freut mich, es zu vernehmen“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Hern“, hustete Mr. Smangle.

„Sagten Sie etwas, Sir“, fragte Mr. Pickwick.

„Nein, Sir.“

„Dann habe ich mich geirrt, Sir“, versetzte Mr. Pickwick.

Alles dies ließ sich sehr nett an; um aber auf einen noch freundlicheren Fuß mit dem neuen Bekannten zu gelangen, versicherte Mr. Smangle Mr. Pickwick zu wiederholten Malen, daß er eine bedeutende Hochachtung vor ihm hege.

„Kommen Sie durch den ,Hof hierher, Sir?“ fragte er dann unvermittelt.

„Durch was?“ fragte Mr. Pickwick.

„Durch den ,HoP – Portugalstreet – Sie wissen schon.“

„O nein.“

„Das Geld ausgegangen vielleicht?“ forschte Mivins.

„Ich hoffe nicht“, erwiderte Mr. Pickwick. „Ich weigere mich bloß, Schadenersatz zu bezahlen, und bin deswegen hier.“

„So, so“, sagte Mr. Smangle. „Mein Verderben war Papier.“

„So sind Sie vielleicht Buchhändler, Sir?“ fragte Mr. Pickwick unschuldig.

„Buchhändler? Gott bewahre. Nichts so Niederträchtiges. Kein Geschäftsmann. Wenn ich Papier sage, meine ich damit Wechsel.“

„Aha, jetzt verstehe ich Sie“, sagte Mr. Pickwick.

„Gott straf mich, ein Gentleman muß Unglücksfälle zu ertragen verstehen“, fuhr Smangle fort. „Was ist auch schließlich dran? Ich bin hier im Fleetgefängnis; nun gut, bm ich deswegen schlimmer dran als vorher?“

„Nein, nicht um ein Haar“, bekräftigte Mr. Mivins.

Und er hatte ganz recht. Mr. Smangle war sogar weit besser daran, zumal er sich nicht um einen Wohnort umzusehen brauchte.

„Lassen wir das jetzt“, sagte er, „das ist trockene Arbeit Spülen wir den Mund mit einem Tröpfchen Glühwein aus, der letzte Ankömmling hat zu bezahlen. Mivins wird ihn holen, und ich helfe ihn austrinken. Das ist, Gott straf mich, ehrliche Arbeitsteilung.“

Mr.Pickwick, der keine Lust hatte, sich abermaligen Handgreiflichkeiten auszusetzen, nahm den Vorschlag mit Vergnügen an und gab Mr. Mivins Geld, und dieser verlor, da es nahe an elf Uhr war, keine Zeit und eilte schnurstracks in die Kantine.

„Was haben Sie ihm denn gegeben?“ flüsterte Smangle in dem Augenblick, als sein Freund das Zimmer verlassen hatte.

„Einen halben Sovereign.“

„Ein verteufelt liebenswürdiger Gentleman, der Mivins“, lobte Mr. Smangle, „höllisch liebenswürdig. Ich kenne keinen bessern Kameraden, aber – hm …“

„Sie werden doch nicht sagen wollen, daß der Herr imstande wäre, das Geld für sich selbst zu verwenden?“

„O nein, Gott bewahre, das sage ich nicht; ich sage doch ausdrücklich, daß er ein Gentleman ist“, erwiderte Mr. Smangle. „Aber ich denke, wenn vielleicht jemand hinunterginge, um zu sehen, ob er nicht zufälligerweise seinen Schnabel in den Krug steckt oder am Ende auf der Treppe das Geld verliert, so könnte es nicht schaden. Heda, Sie, gehen Sie mal hinunter und sehen Sie nach dem Herrn.“

Diese Aufforderung galt einem kleinen, schüchtern dreinblickenden, nervenschwachen Manne, dessen ganze Erscheinung große Armut verriet, und der sich die Zeit über offenbar völlig betäubt über die Neuheit seiner Lage auf einem der Betten zusammengeduckt hatte.

„Sie wissen doch die Restauration? Laufen Sie hinunter und sagen Sie dem Herrn, Sie kämen, um ihm den Krug herauftragen zu helfen. Doch warten Sie mal – ich will Ihnen etwas sagen – ich will Ihnen sagen, wie wir ihn drankriegen werden“, fügte Smangle mit pfiffigem Blick hinzu.

„Nun, wie denn?“ fragte Mr. Pickwick.

„Lassen Sie ihm sagen, daß er für das übrige Geld Zigarren kaufen solle. Eine famose Idee! Laufen Sie schnell hinunter und melden Sie es ihm. – Sie sollen nicht zugrunde gehen, ich werde sie rauchen.“

Dieses Manöver war so ausnehmend scharfsinnig erdacht und wurde mit solch unerschütterlicher Ruhe und Kaltblütigkeit ausgeführt, daß Mr. Pickwick es nicht verhindert hätte, wenn es auch in seiner Macht gestanden wäre. In kurzer Zeit kam Mr. Mivins mit dem Sherry zurück, den Mr. Smangle in zwei kleine zersprungene, schmutzige Krüge schüttete und dabei die kluge Bemerkung machte, ein Gentleman dürfe unter solchen Umständen nicht heikel sein; –_ wenigstens er für seine Person schäme sich nicht, aus einem irdenen Kruge zu trinken. Um seine Aufrichtigkeit sogleich zu beweisen, tat er der Gesellschaft Bescheid mit einem Zuge, der seinen Krug zur Hälfte leerte.

Nachdem nun auf diese Weise ein so vortreffliches Einverständnis erzielt worden, begann Mr. Smangle seine Zuhörer mit einem Bericht von verschiedenen romantischen Abenteuern zu unterhalten, die er seinerzeit bestanden, und ließ dabei allerhand interessante Anekdoten von einem Vollblutpferde einfließen sowie von einer prachtvollen Jüdin, beide von ausnehmender Schönheit und sehr beliebt bei dem hohen und niederen Adel des Königreichs.

Lange bevor diese eleganten Auszüge aus der Biographie eines Gentlemans zu Ende waren, hatte sich Mr. Mevins ins Bett begeben und schnarchte, dem schüchternen Fremdling und Mr. Pickwick den vollen Genuß von Mr. Smangles Erlebnissen gönnend.

Übrigens wurden auch die zwei letztgenannten Herren von den ergreifenden Passagen, die man ihnen vortrug, nicht genügend erbaut. Mr. Pickwick war schon geraume Zeit in einem Zustande von Halbschlummer und hatte nur noch eine dunkle Vorstellung davon, daß der Betrunkene aufs neue mit seinem komischen Lied losbrach und von Mr. Smangle vermittels des Wasserkruges höflich bedeutet wurde, die Zuhörerschaft mit Gesang zu verschonen. Er nickte jedoch gleich wieder ein und hatte dabei noch das verschwommene Bewußtsein, daß Mr. Smangle immer noch eine lange Geschichte erzähle, die sich hauptsächlich darum drehte, daß er bei gewissen ausführlich geschilderten Gelegenheiten ein« große Zeche gemacht und, ohne sich etwas zu vergeben, nichts bezahlt habe.

Vierzigstes Kapitel


Vierzigstes Kapitel

Worin sich, wie im vorhergehenden, das alte Sprichwort bewährt, daß das Unglück den Menschen mit sonderbaren Schlafkameraden zusammenführt.

Als Mr. Pickwick am nächsten Morgen die Augen öffnete, war das erste, was er erblickte, Samuel Weller, der auf einem kleinen schwarzen Felleisen saß und offenbar gänzlich in Betrachtung der stattlichen Figur des lustigen Mr. Smangle versunken war, der seinerseits, bereits halb angekleidet auf dem Bette sitzend, mit dem verzweifelt hoffnungslosen Versuche beschäftigt war, Mr. Weller durch unverwandtes Anstarren aus der Fassung zu bringen. Hoffnungslos insofern, als Sam nach einem umfassenden Blick auf Mr. Smangles Mütze, Füße, Kopf, Gesicht, Beine und Schnurrbart unverdrossen fortfuhr, ihn mit allen Zeichen lebhafter Zufriedenheit zu mustern, ohne auf Mr. Smangles persönliche Gefühle dabei mehr Rücksicht zu nehmen als bei der Betrachtung einer hölzernen Statue oder einer Strohpuppe.

„Na, haben Sie sich jetzt endlich mein Gesicht gemerkt?“ murrte Mr. Smangle schließlich mit finsterem Stirnrunzeln.

„Seien Sie diesbezüglich ganz außer Sorge“, erwiderte Sam heiter.

„Und Sie, seien Sie nicht unverschämt gegen einen Gentleman, Sir“, sagte Mr. Smangle.

„Bin ich auch nich“, erwiderte Sam. „Wenn Sie mir sagen wollen, wann er aufwacht, so werde ich mir ganz extrafein gegen ihm benehmen.“

Da in dieser Bemerkung offenbar eine versteckte beleidigende Absicht lag, geriet Mr. Smangle in Zorn.

„Mivins!“ rief er heftig.

„Was gibt’s?“ erwiderte eine Stimme unter einer Bettdecke hervor.

„Wer zum Teufel ist dieser Bursche da?“

„Was weiß ich?“ gähnte Mr. Mivins verschlafen. „Darum muß ich Sie fragen. Hat er hier etwas zu tun?“

„Nein.“

„Dann werfen Sie ihn doch die Treppe hinunter und sagen Sie ihm, er solle sich nicht einfallen lassen, wieder heraufzukommen, sonst prügle ich ihn windelweich“, brummte Mr. Mivins und begann aufs neue einzuschlummern.

Um dem Gespräch eine versöhnlichere Wendung zu geben, hielt es Mr. Pickwick für angezeigt, sich ins Mittel zu legen.

„Sam“, sagte er.

„Sir?“

„Ist seit gestern Abend nichts Neues vorgefallen?“

„Nichts Besonderes, Sir“, erwiderte Sam, mit einem Seitenblick auf Mr. Smangles Schnurrbart. „Die dicke Atmosphäre scheint dem Wachstum von Unkraut auf ’ne beunruhigende Art günstig zu sein; sonst ist aber alles ganz ruhig.“

„Ich will aufstehen“, sagte Mr. Pickwick. „Gib mir meine Wäsche.“

Was für feindliche Absichten Mr. Smangle auch gehegt haben mochte, seine Gedanken erhielten schnell eine andre Richtung durch das Auspacken des Mantelsacks, dessen Inhalt ihn auf einmal mit einer höchst günstigen Meinung nicht bloß von Mr. Pickwick, sondern auch von Sam zu erfüllen schien, den er schnell Gelegenheit nahm, laut genug, um von diesem exzentrischen Manne gehört zu werden, für ein vollkommenes Original, und daher ganz für einen Mann nach seinem Herzen zu erklären. Was Mr. Pickwick betraf, kannte seine Zuneigung keine Grenzen mehr. „Kann ich Ihnen mit irgend etwas dienen, werter Herr?“ fragte er.

„Wüßte nicht, danke ganz ergebenst“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Haben Sie nichts der Wäscherin zu schicken? Ich kenne eine herrliche Wäscherin, nicht weit von hier, die zweimal in der Woche zu mir kommt, und – beim Teufel, wie schön sich das trifft! – heute ist gerade ihr Tag. Soll ich etwas von Ihren Sachen zu den meinigen legen? Es macht mir durchaus keine Mühe. Der Henker soll mich holen, was müßte man von der menschlichen Natur denken, wenn nicht ein Gentleman in Bedrängnis einem andern in derselben Lage aushelfen wollte?“ Dabei rückte Mr. Smangle so nahe wie möglich an das Felleisen, und seine Blicke erstrahlten in glühendster, uneigennütziger Freundschaft. – „Oder haben Sie vielleicht etwas zum Ausbürsten für den Aufwärter?“

„Ganz und gar nicht, mein Wertester“, antwortete Sam für seinen Herrn. „Vielleicht würde es angenehmer für alle Teile sein, wenn einer von uns das Bürsten übernähme, ohne den Mann zu bemühen, wie der Schulmeister sagte, als die jungen Schenlmän sich nich vom Büttel durchprügeln lassen wollten.“

„Haben Sie denn gar nichts, was ich in meinem Köfferchen der Wäscherin schicken könnte?“ fragte Smangle und wandte sich entmutigt von Sam zu Mr. Pickwick.

„Nich das mindeste, Sir“, antwortete Sam abermals. „Ich fürchte, der kleine Koffer muß von Ihren eignen Sachen schon übervoll sein.“

Dabei warf er einen solch ausdrucksvollen Blick auf die besonderen Einzelheiten von Mr. Smangles Anzug, daß dieser sich umdrehte und wenigstens für den Augenblick alle Absichten auf Mr. Pickwicks Börse und Garderobe aufgab. Grimmig begab er sich auf den Tennisplatz, wo er als ein leichtes und gesundes Frühstück ein paar von den in der letzten Nacht gekauften Zigarren rauchte.

Mr. Mivins, der Nichtraucher war und für den kein Kaufmann mehr eine Feder, kein Wirt eine Kreide anrührte, blieb im Bett und „schlief sich eins zum Frühstück“, wie er sich ausdrückte.

Nachdem Mr. Pickwick in einem kleinen Kabinett neben der Kantine, das den imponierenden Namen „Das Lauschestübchen“ führte, und dessen jeweiliger Gast gegen eine kleine Vergütung den unaussprechlichen Vorteil genoß, die ganze Unterhaltung nebenan mithören zu können, etwas zu sich genommen und Mr. Weller mit einigen notwendigen Aufträgen fortgeschickt hatte, ging er auf sein Zimmer zurück, um sich mit Mr. Roker wegen seiner künftigen Einrichtung zu besprechen.

„Einrichtung? So, so!“ sagte der Schließer und zog ein großes Buch zu Rate. „Einrichtung und Bequemlichkeiten genug, Mr. Pickwick. Ihre gemeinsame Zelle trägt Nummer siebenundzwanzig im dritten Stock.“

„Wie? Was sagen Sie?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ihre gemeinsame Zelle“, wiederholte Mr. Roker. „Verstehen Sie mich nicht?“

„Nicht ganz“, erwiderte Mr. Pickwick lächelnd.

„’s ist doch so klar wie dicke Tinte“, erklärte Mr. Roker. „Sie haben ’ne gemeinsame Zelle auf Nummer siebenundzwanzig im dritten Stock mit ein paar andern.“

„Sind es viele?“ fragte Mr. Pickwick bedenklich.

„Drei.“

Mr. Pickwick hustete.

„Der eine is ’n Pfarrer“, sagte Mr. Roker und füllte dabei eine Rubrik aus, „der andre ein Metzger.“

„Was?“

„Ein Metzger“, wiederholte Mr. Roker, mit dem Kiel seiner Feder an das Pult schlagend, damit sie besser Tinte lassen sollte. „Und was der für ein reicher vornehmer Mann war! Sie erinnern sich doch noch an Tom Martin, was, Neddy?“ fragte er einen andern Mann in der Stube, der soeben mit einem fünfundzwanzigklingigen Taschenmesser den Schmutz von seinen Schuhen abschabte.

„Und ob“, erwiderte der Angeredete triumphierend.

„So wahr ein Gott lebt“, fuhr Mr. Roker langsam den Kopf hin und her wiegend fort, als wolle er sich irgendeine friedliche Szene aus seiner früheren Jugend vergegenwärtigen, „’s is mir noch, als wäre es erst gestern gewesen, wie er bei Foggs under the Hill die Werft hinunterkarriolte. Ich seh ihn noch, wie er zwischen zwei Polizisten den Strand heraufkommt, ein wenig nüchtern gemacht durch den Sturz, mit einem Essigumschlag und einem braunen Pflaster über seinem rechten Augenlid.“

Der Gentleman, an den diese Worte gerichtet waren, schien schweigsamer und gedankenvoller Natur zu sein, denn er beschränkte sich darauf, bloß die Fragen nachzusprechen. Mr. Roker schüttelte die poetische schwermütige Gedankenrichtung, in die er sich hatte drängen lassen, ab, ließ sich zu den gewöhnlichen Geschäften des Lebens hernieder und nahm seine Feder aufs neue zur Hand.

„Wissen Sie auch, wer der dritte Gentleman ist?“ fragte Mr. Pickwick, nicht sehr Befriedigt durch diese Schilderung seines künftigen Zellengenossen.

„Was ist dieser Simpson eigentlich, Neddy?“ fragte Mr. Roker seinen Kollegen.

„Was für ’n Simpson?“

„No, der in Numero siebenundzwanzig im dritten Stock?“

„Mhm, der“, erwiderte Neddy, „der ist eigentlich nichts. War früher Roßkamm, jetzt aber haben sie ihm das Handwerk gelegt.“

„Aha, dachte mir’s gleich“, versetzte Mr. Roker, schloß das Buch und gab Mr. Pickwick einen Streifen Papier in die Hand, „hier ist das Billett, Sir.“

Sehr verblüfft durch das summarische Verfahren ging Mr. Pickwick in das Gefängnis zurück und überlegte, was er tun sollte. Da er ,es immerhin für ratsam hielt, bevor er weitere Schritte einleitete, mit den drei Gentlemen, denen er als Stubengenosse zugewiesen war, in persönlichen Verkehr zu treten, begab er sich schnell in den dritten Stock.

Nachdem er einige Zeit im Gang herumgetappt und bei der schwachen Beleuchtung vergebens die verschiedenen Zellennummern zu entziffern versucht hatte, wandte er sich endlich an einen Bierjungen, der gerade seiner gewöhnlichen Morgenbeschäftigung nachging, die zinnernen Kannen wieder zusammenzuholen.

„Wo ist Nummer siebenundzwanzig, Kleiner?“

„Fünf Türen weiter unten“, erwiderte der Junge. „Außen an die Türe is mit Kreide ’n Galgen angemalt, wo einer dran hängt und dabei Pfeife raucht.“

Mr. Pickwick ging langsam den Gang hinab, bis er an das oben beschriebene Porträt eines Gentleman gelangte, auf dessen Gesicht er mit dem Knöchel seines Zeigefingers das erste Mal ganz sachte, dann aber etwas vernehmlicher anklopfte. Nachdem er diesen Prozeß mehrere Male vergeblich wiederholt, wagte er es, die Tür zu öffnen und hineinzublicken.

Es war bloß ein einziger Bewohner anwesend, der sich, soweit er es ohne Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren, tun konnte, zum Fenster hinauslehnte und mit großer Beharrlichkeit bemüht war, auf den Hut eines seiner Freunde im unteren Stockwerk hinabzuspucken. Da weder Sprechen, Husten, Niesen, Klopfen, noch irgendeine andere übliche Art, die Aufmerksamkeit eines Menschen zu erregen, von. Erfolg begleitet war, schritt Mr. Pickwick nach einer Weile zürn Fenster und zupfte den Gentleman sachte am Rockflügel. Dieser zog Kopf und Schultern mit großer Schnelligkeit zurück, musterte Mr. Pickwick von oben bis unten und fragte ihn. in grämlichem Tone, was er zum Henker denn wolle. „Wenn ich nicht irre“, sagte Mr. Pickwick und zeigte sein Billett, „so ist dies Nummer siebenundzwanzig im dritten Stock.“

„Na, und?“

„Ich bin hierher gekommen, weil man. mir dies Papier gegeben hat.“

„Zeigen Sie’s her!“ brummte der Gentleman.

„Roker hätte Sie auch anderswo unterbringen können“, meinte dann Mr. Simpson – denn dieser war es – nach einer peinlichen Pause.

Mr. Pickwick dachte auch so, hielt es jedoch unter allen Umständen für eine Forderung gesunder Politik, zu schweigen.

Mr. Simpson sann einige Augenblicke nach, steckte dann den Kopf wieder zum Fenster hinaus, tat einen gellenden Pfiff und rief mehrmals ein Wort. Was dieses bedeuten sollte, konnte Mr. Pickwick nicht erraten, doch schien es ihm ein Spitzname auf Mr. Martin zu sein, da eine Menge Gentlemen unten sogleich anfingen, „Metzger“ zu schreien und dabei den quiekenden Ton nachzumachen, der dieser nützlichen Klasse der menschlichen Gesellschaft geläufig zu sein pflegt.

Mr. Pickwick fand seine Mutmaßung alsbald bestätigt, denn wenige Sekunden später stürzte beinahe atemlos ein für seine Jahre übermäßig dicker Gentleman in einem zunftmäßigen blauen Frack und mit Stulpenstiefeln und zirkelrundem Zehenleder ins Zimmer, und hinter ihm ein anderer Herr, in abgeschabtes Schwarz gekleidet, eine Mütze von Seehundsfell auf dem Kopf und den Rock abwechselnd vermittels einer Nadel und eines Knopfes bis ans Kinn geschlossen. Seinem plumpen roten Gesicht nach zu schließen, war er ein trunksüchtiger Kaplan.

Nachdem die beiden Herren, einer nach dem andern, Mr. Pickwicks Billett gelesen hatten, drückte der eine seine Meinung dahin aus, es sei ein verdammter Streich, und der gjidre erklärte, er werde das nicht zulassen, und dann sahen sie gemeinsam Mr. Pickwick mit unhöflichem Schweigen an.

„Lästige Sache das, gerade wo wir so hübsche Betten haben“, murrte der Kaplan, mit einem Blick auf drei schmutzige Matratzen, die in weißwollene Decken gewickelt waren und den Tag über in einer Ecke des Zimmers neben einem Tisch lagen, auf dem ein altes zerbrochenes Waschbecken, eine Gießkanne und ein Seifenschälchen von gemeiner gelber Töpferarbeit, mit einer blauen Blume darauf, stand. „Verdammt lästig.“

Mr. Martin erging sich in noch stärkeren Ausdrücken, und Mr. Simpson schlug, nachdem er eine Menge ausfüllender Adjektive ohne die begleitenden Substantiva über die Gesellschaft losgelassen, seine Ärmel zurück und begann, das Gemüse für das Mittagessen zu waschen. „Ich dächte, es ließe sich doch noch helfen“, meinte der Metzger nach einer längeren bangen Pause. „Was verlangen Sie dafür, daß Sie sich packen?“

„Bitte um Verzeilning“, erwiderte Mr. Pickwick. „Wie sagten Sie? Ich verstehe nicht recht.“

„Wie wir Sie ausbezahlen sollen?“ erklärte der Metzger. „Die gewöhnliche Taxe ist zwei Schillinge und sechs Pence. Wir wollen Ihnen drei geben.“

„Und einen Spanner“, fügte der geistliche Herr hinzu.

„Also gut, wir bezahlen Ihnen wöchentlich drei Schilling und sechs Pence, wenn Sie uns allein lassen“, resümierte Mr. Martin, „damit werden Sie denn doch wohl zufrieden sein?“

„Und obendrein noch ein Maß Bier, hier zu trinken“, stimmte Mr. Simpson ein.

„Ja, und zwar gleich jetzt“, rief der Kaplan.

„Ich bin wirklich mit den Regeln dieses Hauses noch so vollkommen unbekannt“, entschuldigte sich Mr. Pickwick, »daß ich Sie immer noch nicht recht verstehe. Kann ich denn eine andre Wohnung bekommen? Ich glaubte, das ginge nicht.“

Bei dieser Frage blickte Mr. Martin seine zwei Freunde höchst verwundert an, und dann deutete jeder der Gentlemen mit seinem rechten Daumen über seine linke Schulter. Dieses Freimaurerzeichen, das sich in Worten mit dem schwachen Ausdruck „links“ nur höchst unvollkommen bezeichnen läßt, hat, wenn es von einer Anzahl Damen oder Herren, die miteinander im Einverständnis sind, vollzogen wird, eine sehr anmutige und lustige Wirkung; ihr Ausdruck ist der eines munteren mutwilligen Sarkasmus.

„Ob Sie können?“ wiederholte Mr. Martin mit einem mitleidigen Lächeln.

„Wenn ich mich so wenig aufs Leben verstünde, würde ich meinen Hut fressen und die Schnalle hinunterschlucken“, rief der geistliche Herr. „Ich auch“, fügte der Metzger feierlich hinzu.

Nach dieser einleitenden Vorrede erklärten die drei Zellengenossen Mr. Pickwick in einem Atem, Geld vermöge in der Fleet genau dasselbe wie außerhalb dieser Anstalt; er könne sich damit alles, was er wünsche, sogleich beschaffen, und wenn er zahlen könne und wolle, brauche er nur einen Wunsch auszudrücken, um binnen einer halben Stunde ein wohleingerichtetes und möbliertes Zimmer für sich allein zu beziehen. Hierauf trennten sich beide Parteien mit großer Befriedigung. Mr. Pickwick verfügte sich abermals ins Zimmer des Aufwärters, und die drei Kameraden begaben sich in die Kantine, um daselbst die fünf Schilling zu verzehren, um die ihn der geistliche Herr zu diesem Zweck mit bewunderungswürdiger Geistesgegenwart angepumpt hatte.

„Wußte ich’s doch“, sagte Mr. Roker, aus vollem Halse lachend, als Mr. Pickwick ihm seinen Wunsch vortrug. „Habe ich’s nicht gesagt, Neddy?“ Der philosophische Eigner des universellen Federmessers knurrte bejahend.

„Habe mir’s doch gleich gedacht, daß Sie ein eigenes Zimmer verlangen würden. Sie wünschen doch anständige Möbel? Sie möchten ohne Zweifel das meinige mieten? Es ist eine feine Wohnung?“

„Mit großem Vergnügen“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Auf dem Gang zur Kantine liegt ein vortreffliches Zimmer, das einem Kanzleigefangenen gehört. Ich will es Ihnen gegen ein Pfund wöchentlich ablassen. Sie finden das hoffentlich nicht teuer?“

„Durchaus nicht“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Na, dann kommen Sie mal mit“, sagte Mr. Roker fröhlich, seinen Hut aufsetzend, „die Sache ist in fünf Minuten im reinen. Warum haben Sie’s denn nicht gleich gesagt, daß Sie was Hübsches verlangen?“

Die Angelegenheit war, wie der Schließer vorhergesagt, bald abgemacht. Der Kanzleigefangene hatte lange genug hier verweilt, um Freunde und Vermögen, Heimat und Glück zu verlieren und das Recht auf ein eigenes Zimmer einzubüßen. Da er außerdem an dem kleinen Ungemach litt, oft nichts zu beißen zu haben, nahm er Mr. Pickwicks Vorschlag, ihm das Zimmer abzutreten, mit Vergnügen an und überließ ihm gerne den ungestörten Besitz desselben gegen eine Vergütung von zwanzig Schilling in der Woche, mit welcher Summe er sich anheischig machte, alle Personen auszukaufen, die man in das Zimmer verweisen würde.

Als der Handel abgemacht war, betrachtete Mr. Pickwick den Mann mit schmerzlicher Teilnahme. Dieser trug einen alten Schlafrock und Pantoffeln und war ein langer hagerer Geselle von leichenhafter Gesichtsfarbe, mit eingesunkenen Wangen und lebhaften, unruhigen Augen. Seine Lippen waren blutlos und die Backenknochen standen stark hervor. Gott helfe ihm! Der Eisenzahn des Gefängnisses und der Entbehrung hatte ihn seit zwanzig Jahren langsam zernagt und zerfeilt.

„Aber wo werden Sie dann wohnen, Sir?“ fragte Mr. Pickwick, als er das Geld für die erste Woche im voraus auf den wackeligen Tisch legte. Der Mann raffte mit zitternder Faust das Geld zusammen und erwiderte, er wisse es noch nicht; er müsse sich eben umsehen, wo er sein Bett aufschlagen könne.

„Ich fürchte, Sir“, sagte Mr. Pickwick und faßte den Unglücklichen freundlich und mitleidsvoll am Arme, „ich fürchte, Sie kommen an irgendeinen lärm- und geräuschvollen Ort. Bitte, betrachten Sie dies Zimmer als Ihr eigenes so oft Sie der Ruhe bedürfen, oder wenn Ihre Freunde Sie besuchen.“

„Freunde?“ wiederholte der Mann mit röchelnder Stimme. „Wenn ich tot in der Tiefe des dunkelsten Schachtes oder im engen Sarge eingeschlossen läge, oder in dem finstern garstigen Graben verfaulte, dessen Schlamm die Grundmauern dieses Gefängnisses umgibt, ich könnte nicht vergessener und unbeachteter sein als jetzt. Ich bin ein Toter – tot für die Gesellschaft, doch ohne daß mir das Mitleid zuteil wird, das man denen schenkt, deren Seelen bereits vor den ewigen Richterstuhl berufen sind. Besuche von Freunden? Mein Gott! Ich bin an diesem Orte hier von der Blüte meines Lebens zum schwachen Greis verwelkt und niemand wird seine Hand auf mein Bett legen, wenn ich tot darin liege, und sprechen: ,Es ist ein Gottessegen, daß er dahingegangen ist!'“

Die Aufregung, die ein ungewohntes Licht über das Gesicht des Unglücklichen verbreitet hatte, solange er sprach, legte sich wieder, er schlug verstört und hastig seine abgezehrten Hände zusammen und verließ schnell das Zimmer.

„Der Mann ist etwas mürrisch“, entschuldigte Mr. Roker lächelnd, „sie sind hier wie die Elefanten; sie fühlen’s dann und wann, und das macht sie wild.“

Nach dieser tiefsinnigen Sentenz traf Mr. Roker seine Anordnungen mit solcher Schnelligkeit, daß das Zimmer binnen kurzem mit einem Teppich, sechs Stühlen, einem Tisch, einem Sofabett, einem Teekessel und verschiedenen Kleinigkeiten ausstaffiert war, für die der äußerst billige Preis von siebenundzwanzig Schilling und sechs Pence in der Woche zu bezahlen war.

„Kann ich sonst noch mit was dienen, Sir?“ fragte er dann, zufrieden um sich blickend und voll Vergnügen mit dem ersten Wochenzins in der Tasche klimpernd.

„Ja“, sagte Mr. Pickwick nach tiefem Nachsinnen. „Gibt es wohl Leute hier, die mir meine Aufträge in der Stadt oder sonst meine Angelegenheiten besorgen könnten?“

„Also keine Gefangenen?“

„Nein, sie müssen auch in die Stadt gehen können.“ „Verstehe“, sagte Mr. Roker. „Da ist zum Beispiel ein armer Teufel, der einen Freund auf der Armenseite hat und froh sein würde, einen solchen Dienst zu bekommen. Er arbeitet schon seit zwei Monaten dort in der Fron. Soll ich nach ihm schicken?“

„Ja, wenn Sie die Güte haben wollen“, erwiderte Mr. Pickwick. „Doch halt. – Die Armenseite, sagten Sie? Ich möchte sie gerne in Augenschein nehmen. – Ich will selbst zu ihm gehen.“

Die Armenseite in einem Schuldgefängnis ist, wie schon der Name besagt, der Wohnort für die armseligste und dürftigste Klasse von Schuldnern. Ein Gefangener dort bezahlt weder Wohnung noch Kost, bekommt ein schmales Essen, das aus einigen kleinen Legaten bestritten wird. Bis vor einigen wenigen Jahren war in der Mauer des Fleetgefängnisses eine Art eiserner Käfig angebracht, in das«in Mensch von verhungertem Aussehen gesteckt wurde, der von Zeit zu Zeit mit einer Geldbüchse rasselte und in kläglichem Tone rief: „Erbarmet euch der armen Schuldner! Erbarmet euch der armen Schuldner!“ Was in die Kasse einging, wurde unter die armen Gefangenen geteilt, die einander bei diesem erniedrigenden Geschäft ablösten.

Diese Gewohnheit ist nun abgeschafft und der Käfig entfernt. Man gestattet es den Schuldnern nicht mehr, einfach am Gefängnistor die Passanten um Unterstützung anzubetteln. Vielmehr ist es jetzt von Gesetzes wegen so geregelt, daß die handfesten, ruchlosen Verbrecher Kleidung und Nahrung erhalten, während die mittellosen Schuldner wahlweise verhungern oder erfrieren dürfen. – Der Respekt und die Bewunderung kommender Geschlechter sind uns deswegen sicher.

Mit diesen Betrachtungen stieg Mr. Pickwick die enge Treppe hinan, an deren Fuß Roker ihq verlassen hatte, und arbeitete sich allmählich hinauf; er war indes so aufgeregt, daß er in das Zimmer, in das man ihn gewiesen, hineinstürmte, ehe er noch eine deutliche Vorstellung von dem Platz, wo er war, oder von dem Zweck seines Besuches hatte.

Der allgemeine Anblick der Stube rief ihn auf einmal wieder zu sich; doch hatte er kaum seinen Blick auf einen Mann geworfen, der vor dem staubigen Kamin kauerte, als ihm der Hut entsank und er starr und regungslos vor Staunen dastand.

In zerlumpten Fetzen, ohne Rock, das grobe Hemd gelb und zerrissen, die Haare über die Stirn herabhängend, das Gesicht von Leiden entstellt und vor Hunger eingefallen, saß Mr. Alfred Jingle da; den Kopf hatte er auf die Hand gestützt, die Augen starr aufs Feuer geheftet, und seine ganze Erscheinung verriet Jammer und Elend in seiner schauderhaftesten Gestalt.

Nicht weit von ihm stand nachlässig an die Wand gelehnt ein kräftiger Landmann und flickte mit den Riemen einer abgenutzten Jagdpeitsche den Stulpenstiefel, der seinen rechten Fuß zierte – den linken hatte er in einen Pantoffel gestellt. Pferde, Hunde und Saufgelage hatten den Mann soweit gebracht. An dem einzelnen Stiefel trug er einen verrosteten Sporn, den er gelegentlich in die leere Luft stieß, während er dabei mit der Reitgerte auf den Stiefel schlug und Ausdrücke murmelte, wie sie der Jäger braucht, um sein Pferd aufzumuntern. Er bildete sich in diesem Augenblick offenbar ein, auf irgendeinem verzweifelten Kirchturmrennen zu sein. Der arme Teufel! Er war einst bei keinem Wettrennen auf dem flinksten Pferde seines teuren Rennstalles nur halb so geschwind über die Erde dahingeflogen, wie er die Laufbahn durchgemacht hatte, die jetzt in der Fleet endete.

In der entgegengesetzten Ecke des Zimmers saß ein alter Mann auf einem kleinen Holzbock. Er hatte seine Augen auf den Boden geheftet und in seinem Gesicht lag ein Ausdruck der tiefsten, hoffnungslosesten Verzweiflung. Ein junges Mädchen, seine kleine Enkelin, bemühte sich mit tausend kindlichen Kunstgriffen, seine Aufmerksamkeit zu erregen, allein er sah und hörte sie nicht. Die Stimme, die einst Musik für sein Ohr, und die Augen, die einst sein Licht gewesen, ließen ihn jetzt ungerührt. Seine Glieder schlotterten krankhaft, und sein Geist war wie gelähmt.

Noch zwei oder drei andre Männer standen in einer Gruppe zusammen und schwatzten laut miteinander. Eine hagere, bleiche Frau – die Gattin eines Gefangenen – begoß mit großer Sorgfalt den elenden Stumpf einer verwelkten Pflanze, die offenbar nie wieder einen grünen Schößling treiben konnte.

Das war der Anblick, der sich Mr. Pickwick darbot, als er voll Erstaunen um sich schaute. Ein Geräusch an der Tür weckte ihn wieder. Er wandte sich um und erkannte in dem neuen Ankömmling trotz aller seiner Lumpen, all seines Schmutzes und Elends die Züge Mr. Hiob Trotters.

„Mr. Pickwick!“ rief Hiob laut.

„Was!?“ fuhr Jingle in die Höhe. „Sir! Ja, wahrhaftig – kurioser Ort – sonderbare Dinge – mir ganz recht geschehen – ganz recht.“

Mit diesen Worten steckte Mr. Jingle seine Hände an den Ort, wo früher seine Hosentasche gewesen war, ließ dann den Kopf auf die Brust sinken und fiel in seinen Stuhl zurück.

Mr. Pickwick war im Innersten ergriffen, die zwei Leute sahen so unglaublich elend aus. Der heißhungrige Blick Jingles auf ein Stück rohes Hammelfleisch, das Hiob mitgebracht hatte, verriet mehr über ihre Lage, als eine zweistündige Auseinandersetzung vermocht hätte.

Mr. Pickwick sah Jingle freundlich an und sagte: „Ich möchte Sie gerne allein sprechen. Wollen Sie einen Augenblick mit mir herauskommen?“ „Sehr gern“, erwiderte Jingle und stand hastig auf. „Kann nicht weit gehen – keine Gefahr, daß man sich hier überläuft – dichtes Gehege – schöner Boden – romantisch, aber nicht ausgedehnt – offen für allgemeine Besichtigung – die Familie immer in der Stadt – der Hausvogt verzweifelt vorsichtig.“

„Sie haben Ihren Rock vergessen“, sagte Mr. Pickwick, als sie auf die Treppe hinauskamen, und schloß die Tür hinter sich zu.

„Ach nein“, sagte Jingle. „Teures Leben – Onkel Tom – konnte mir nicht helfen – mußte essen, Sie wissen ja. Naturbedürfnisse – das ist’s.“ „Was meinen Sie damit?“

„Alles fort, werter Herr – der letzte Rock – konnt’s nicht ändern – lebte von ein Paar Stiefeln – ganze vierzehn Tage. Seidener Regenschirm – elfenbeinener Griff – letzte Woche – vorbei – auf Ehre. Fragen Sie Hiob – weiß es.“

„Drei Wochen von einem Paar Stiefeln und einem seidenen Regenschirm gelebt?“ rief Mr. Pickwick, der von solchen Dingen nur bei Schiffbrüchen gehört oder in Constables Miscellany gelesen hatte.

„Freilich“, nickte Jingle. „Pfandleiher – bloß das halbe Geld – elende Summen – soviel wie nichts – lauter Spitzbuben.“

„So“, sagte Mr. Pickwick, dem bei dieser Erklärung leichter ums Herz wurde, „Sie haben also Ihre Garderobe bloß versetzt?“

„Ja, alles – Hiob ebenfalls – alle Hemden fort – tut nichts – erspart den Wäscherlohn – bald alles vorbei – auf der Bahre liegen – verhungern – sterben – Untersuchung – Anatomie – armer Gefangener – die einfachsten Bedürfnisse – fort mit ihm – die Herren von der Jury – Gefängnisarbeit – ganz in Ordnung – natürlicher Tod – Leichenbeschauer –Armenhausbegräbnis – recht geschehen – alles vorbei – Vorhang herunter.“

Jingle erledigte dieses sonderbare Summarium seiner Lebensaussichten mit seiner gewohnten Zungenfertigkeit und mit verschiedenen Gesichtsverzerrungen, um ein Lächeln zu erzwingen; Mr. Pickwick bemerkte indes deutlich, daß ihm seine Sorglosigkeit nichts weniger als von Herzen kam. Er sah ihm voll, aber nicht unfreundlich ins Gesicht und gewahrte, daß dem Komödianten die Augen voll Tränen standen.

„Guter Mensch“, sagte Jingle und faßte seine Hand mit abgewandtem Gesicht. „Undankbarer Schurke – kindisch zu jammern – kann’s nicht lassen – böses Fieber – schwach – krank – hungrig. Alles wohl verdient, aber viel gelitten – sehr viel.“

Ganz unfähig, den Schein länger zu wahren, und durch die ungewohnte Aufregung schwindelig, setzte sich der arme Vagabund auf die Treppe nieder, bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und schluchzte wie ein Kind.

„Kommen Sie, kommen Sie“, sagte Mr. Pickwick tiefgerührt, „wir wollen sehen, was sich machen läßt. Heda, Hiob; wo steckt er?“

„Hier, Sir“, meldete sich Mr. Trotter und trat vor. – Er hatte schon in seinen besten Zeiten tief eingesunkene Augen, jetzt aber sah er aus, als ob dieser Teil seines Gesichts gänzlich verschwunden sei. – „Hier, Sir.“

„Kommen Sie her“, sagte Mr. Pickwick, bemüht, streng dreinzusehen, wiewohl ihm vier große Tränen auf die Weste träufelten. „Nehmen Sie das, Sir!“

„Was nehmen?“ – Unter den obwaltenden Umständen hätte man bei diesen Worten an einen Hiob oder wenigstens, wie einmal die Menschen sind, an einen derben, tüchtigen Puff denken sollen; denn Mr. Pickwick war von dem Elenden, der jetzt gänzlich in seiner Hand war, hinters Licht geführt, betrogen und blamiert worden. Aber es war etwas Klingendes, das jetzt in Hiobs Hand fiel, und dessen Hingabe aus irgendeinem Grund das Auge des guten alten Herrn funkeln und sein Herz schwellen machte, als er hinwegeilte.

Auf seinem Zimmer angelangt, traf Mr. Pickwick Sam an, der die komfortablen Einrichtungen des Zimmers mit einer Art grimmigen Vergnügens, das sehr lustig anzusehen war, in Augenschein nahm. Da‘ Mr. Weller eine entschiedene Abneigung gegen das Verbleiben seines Herrn an einem solchen Orte hegte, schien er es für eine hohe moralische Pflicht zu halten, nichts, was hier getan, gesagt, geraten oder vorgeschlagen wurde, mit allzu großem Beifall zu beehren.

„Schön, nicht wahr, Sam?“ sagte Mr. Pickwick.

„Na, macht sich“, erwiderte Mr. Weller.

„Und recht behaglich, Sam?“

„Ja, so ziemlich, Sir“, erwiderte Sam, geringschätzig umherblickend.

„Hast du Mr. Tupman und unsre andern Freunde gesehen?“

„Jawoll. Habe sie gesehen, Herr, und sie wollen morgen kommen. Wundert mich sehr, daß sie nich heute schon da waren.“

„Hast du die Sachen gebracht, die ich verlangt habe?“

Mr. Weller deutete stumm auf verschiedene Pakete, die er so hübsch wie möglich in eine Ecke der Stube gelegt hatte.

„Sehr gut, Sam“, sagte Mr. Pickwick zögernd, „höre jetzt, was ich dir zu sagen habe, Sam.“

„Aber klar“, erwiderte Mr. „Weller, „schießen Sie los.“ „Ich habe vom ersten Augenblick an gefühlt, Sam“, begann Mr. Pickwick sehr umständlich, „daß dies kein Platz für einen jungen Menschen ist.“

„Für ’nen Alten aber auch nich, Sir.“

„Da hast du ganz recht, Sam, aber alte Leute können durch ihre eigne Unbedachtsamkeit und ein allzu großes Vertrauen auf andre hierher gebracht werden, und junge durch die Selbstsucht derer, denen sie dienen. Jedenfalls ist es für einen jungen Menschen viel besser, nicht hierzubleiben. Verstehst du mich, Sam?“

„Ich? Nö“, versetzte Sam, sich dumm stellend.

„So überlege dir’s.“

„Jawoll“, erwiderte Sam nach einer kurzen Pause. „Ich glaube zu merken, wo Sie hinaus wollen, und wenn ich hierbei wirklich auf dem rechten Wege bin, so muß ich meine Meinung dahin aussprechen, daß Sie mir zu dicke kommen, wie der Kutscher zu dem Schneegestöber sagte, wo ihm auf seiner Fahrt beunruhigte.“

„Ich sehe, du verstehst, Sam. Abgesehen von meinem Wunsche, dich in den nächsten Jahren nicht an einem Orte wie diesem müßig herumlungern zu sehen, fühle ich auch, daß es eine ungeheure Abgeschmacktheit wäre, wenn ein Schuldner im Fleetgefängnis einen eignen Bedienten halten wollte. – Sam, wir müssen uns für eine Zeitlang trennen.“

„Hm, für ’ne Zeitlang, meinen Sie?“ versetzte Mr. Weller etwas sarkastisch.

„Ja; für die Dauer meines hiesigen Aufenthalts. Deinen Lohn zahle ich dir fort. Einer von meinen drei Freunden wird dich gern aufnehmen, wäre es auch nur aus Achtung gegen mich. Und wenn ich je diesen Ort wieder verlasse“, fuhr Mr. Pickwick mit erkünstelter Heiterkeit fort, „wenn es je der Fall ist, so hast du mein Wort, daß du augenblicklich wieder in meine Dienste treten kannst.“

„Ich will Ihnen mal meine Ansicht von der Sache sagen, Sir“, erwiderte Mr. „Weller ernst und feierlich. „Es geht nich, und deshalb lassen Sie mich gefälligst nichts mehr davon hören.“

„Es ist mein fester, unabänderlicher Wille, Sam“, erklärte Mr. Pickwick.

„So? Soso! Ist das so, Sir?“ fragte Sam streng. „Na, sehr schön; denn geht es mir genauso.“

Mit diesen Worten stülpte sich Mr. Weller mit großer Entschiedenheit seinen Hut auf den Kopf und verließ das Zimmer.

„Sam!“ rief ihm Mr. Pickwick nach. „Sam! Komm noch einmal her.“

Aber die sich entfernenden Schritte verhallten in dem langen Gange. Sam Weller war fort.

Fünftes Kapitel


Fünftes Kapitel

Ein Tag im Freien. Neue Freunde. Eine Einladung aufs Land.

Viele Schriftsteller haben eine ebenso törichte wie unredliche Abneigung gegen die Angabe der Quellen, aus denen sie manch schätzbare Nachricht schöpfen. Uns liegt das fern. Unser einziges Bestreben geht dahin, unsern Pflichten als Berichterstatter gewissenhaft nachzukommen, und wie verlockend es auch sein mag, auf das Verdienst der Erfindung dieser Begebenheiten Anspruch zu machen, so verbietet uns doch die Wahrheitsliebe, mehr als das Verdienst einer zweckmäßigen Zusammenstellung und unparteiischen Erzählung in Anspruch zu nehmen. Die Pickwick-Protokolle sind unsre Quellen, und wir, sozusagen, die Wasserleitungsaktiengesellschaft. Die Arbeiten andrer haben uns mit einer ungeheuren Menge Material versehen, und wir übergeben sie der nach der Bekanntschaft mit den Pickwickiern dürstenden öffentlichkeit wahrheitsgetreu und unverfälscht.

In diesem Sinne, und uns streng an die Überlieferung haltend, gestehen wir offen, daß wir die Einzelheiten dieses und des folgenden Kapitels dem Tagebuch des Mr. Snodgraß verdanken – Einzelheiten, die wir nun, da unser Gewissen entlastet ist, der Welt ohne weiteren Kommentar vorlegen wollen.

Die ganze Bevölkerung von Rochester und den umliegenden Ortschaften erhob sich am folgenden Morgen bei Tagesgrauen in einem Zustande der höchsten Unruhe und Aufregung von ihren Betten. Eine große Truppenschau sollte stattfinden und das Falkenauge des Kommandeurs die Manöver von einem halben Dutzend Regimentern inspizieren: Festungswerke waren errichtet, die Zitadelle sollte angegriffen und genommen und eine Mine gesprengt werden.

Mr. Pickwick war, wie unsre Leser wohl bereits aus dem kurzen Auszug aus seiner Beschreibung von Chatham ersehen haben werden, ein enthusiastischer Bewunderer der Armee. Nichts konnte ihn mehr in Entzücken versetzen, nichts mit den besonderen Gefühlen eines jeden seiner Gefährten so sehr übereinstimmen als ein solcher Anblick. Bald waren sie auf den Beinen und wanderten dem Schauplatze der Handlung zu, nach dem bereits von allen Seiten her eine ungeheure Menschenmenge strömte.

Alles deutete darauf hin, daß etwas höchst Wichtiges und Bedeutungsvolles vor sich gehen sollte. Wachposten waren ausgestellt, um den Exerzierplatz für die Truppen frei zu halten, Offiziersburschen schafften auf den Batterien Platz für die Damen, Sergeanten rannten mit Pergamentbänden umher, und Oberst Bulder galoppierte in feldmarschmäßiger Adjustierung auf und nieder, ließ sein Pferd kurbettieren und steigen und schrie sich ohne besonderen Grund heiser und blau. Offiziere flogen hin und her, sprachen mit dem Oberst, erteilten ihren Sergeanten Befehle und eilten von hinnen; sogar die Gemeinen sahen hinter ihren blanken Gewehrläufen so wichtig und geheimnisvoll aus, daß man über die hohe Bedeutung der Vorgänge keinen Augenblick in Zweifel sein konnte.

Mr. Pickwick und seine drei Gefährten stellten sich in die vordersten Reihen und harrten geduldig der Dinge, die da kommen sollten. Das Gedränge wuchs von Sekunde zu Sekunde, und die Anstrengungen, die sie machen mußten, um sich auf ihren Plätzen zu behaupten, nahmen in den zwei folgenden Stunden ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Bald drängte plötzlich alles von hinten nach vorn, wodurch Mr. Pickwick einige Ellen weit vorwärts geschleudert wurde und dabei eine Hast und Elastizität entwickelte, die mit dem würdevollen Ernst, den man an ihm gewohnt war, in grellem Widerspruch stand. Bald ertönte ein gebieterisches „Zurück!“, und das Ende eines Gewehrkolbens fiel entweder auf Mr. Pickwicks Zehe nieder, um ihm den Wink verständlicher zu machen, oder stemmte sich gegen seine Brust, um dem Befehle größeren Nachdruck zu verleihen. Dann wieder machten sich Spaßvögel das Vergnügen, mit Aufgebot ihrer ganzen Kraft gegen Mr. Snodgraß anzudrängen und ihn zu ersuchen, das Drücken doch gefälligst sein zu lassen, und einmal, als Mr. Winkle als Zeuge solcher Ungebührlichkeit seine höchste Entrüstung aussprach, schlug ihm ein Schalk von hinten den Hut über die Augen und forderte ihn auf, seinen Kopf in die Tasche zu stecken. Diese und andre handgreifliche Witze, verbunden mit der unerklärlichen Abwesenheit Mr. Tupmans, der plötzlich spurlos verschwunden war, machten ihre Lage im ganzen eher unbehaglich als angenehm und beneidenswert.

Endlich durchlief das Gemurmel die Menge, das in solchen Fällen gewöhnlich die höchste Spannung verrät. Alle Augen richteten sich nach dem Ausfalltor. Sekunden atemloser Erwartung; Fahnen flatterten lustig im Wind; Waffen glänzten in der Sonne, und Kolonne um Kolonne rückte in die Ebene vor. Die Truppen machten halt und formierten sich in Reih und Glied, Kommandoworte liefen durch die Reihen; allgemeines Präsentieren und Klirren von Gewehren, und der Kommandant, gefolgt von Oberst Bulder und zahlreichen Offizieren, galoppierte die Front auf und nieder. Die Trompeten schmetterten, die Pferde bäumten sich und wedelten mit den Schweifen; die Hunde heulten, die Menge schrie, die Truppen sammelten sich, und soweit das Auge reichte, sah man auf beiden Seiten nur eine endlose Reihe von roten Röcken und weißen Hosen, starr und regungslos.

Mr. Pickwick hatte so viel Mühe, in dem wogenden Gedränge seine Stellung zu behaupten und, wie durch ein Wunder, den Hufen der Pferde zu entgehen, daß er unmöglich Zeit fand, zu beobachten, was sich vor seinen Augen abspielte, bis die Evolutionen soweit gediehen waren. Als er aber schließlich wieder fest auf den Beinen stand, kannten seine Freude und sein Entzücken keine Grenzen.

„Kann es etwas Schöneres, etwas Herrlicheres geben?“ fragte er Mr. Winkle.

„Nein“, erwiderte der Angeredete, dem schon seit einer Viertelstunde ein untersetzter Mann auf den Zehen stand.

„In der Tat, ein großartiger, ein überwältigender Anblick“, rief Mr. Snodgraß, in dessen Brust plötzlich das Feuer der Dichtkunst aufloderte. „Die tapfern Verteidiger des Vaterlandes im Strahlenglanz vor den friedlichen Bürgern zu sehen, die Gesichter glühend – nicht von kriegerischer Wildheit, nein, von gesitteter Disziplin –, die Augen flammend, nicht von dem rohen Feuer der Raublust oder der Rachgier, nein, von dem sanften Lichte der Humanität und Intelligenz.“

Mr. Pickwick ging vollkommen in den Geist dieser Lobrede ein, konnte ihr jedoch nicht buchstäblich beipflichten, denn das sanfte Licht der Intelligenz brannte doch ziemlich schwach in den Augen der Krieger – als der Ruf ertönte: „Augen grrad aus!“, und die Zuschauer einige Tausend Sehorgane vor sich hatten, die ohne allen Ausdruck gerade vor sich hin starrten.

„Wir haben uns hier trefflich postiert“, sagte Mr. Pickwick, sich nach allen Seiten umschauend. Die Menge hatte sich nämlich nach und nach verlaufen, und die Herren waren beinahe allein.

„Vortrefflich“, bestätigten Mr. Snodgraß und Mr. Winkle.

„Was geschieht jetzt?“ fragte Mr. Pickwick und setzte seine Brille auf.

„Ich – ich – glaube fast“, sagte Mr. Winkle und wurde blaß, „ich glaube fast, sie wollen schießen.“

„Unsinn“, versetzte Mr. Pickwick hastig.

„Ich – ich – glaube wirklich, es ist so“, bestätigte Mr. Snodgraß etwas unruhig.

„Unmöglich“, widersprach Mr. Pickwick. Aber kaum war das Wort seinem Munde entflohen, da legte das ganze halbe Dutzend Regimenter die Gewehre an, als hätten sie alle ein und dasselbe Ziel, nämlich die Pickwickier, und gaben die fürchterlichste Salve ab, die je die Erde erschütterte oder einen ältlichen Herrn aus der Fassung brachte.

In dieser schreckensvollen Lage, auf der einen Seite dem verderblichen Feuer blanker Gewehrläufe ausgesetzt und auf der ändern von den anrückenden Truppen bedrängt, zeigte Mr. Pickwick die ganze Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung, die von einem großen Geiste unzertrennlich sind. Er faßte Mr. Winkles Arm, drängte sich zwischen ihn und Mr. Snodgraß und bat die Herren ernstlich, zu bedenken, daß, außer der Möglichkeit, durch den Lärm des Gehörs beraubt zu werden, vom Schießen unmittelbar keine Gefahr zu gewärtigen sei.

„Aber – aber – angenommen, einer von den Soldaten würde sich zufälligerweise vergreifen und scharf laden?“ stellte ihm Mr. Winkle vor, schon bei dem bloßen Gedanken erbleichend. „Ich habe ein Zischen gehört – ssswt – hart an meinen Ohren vorbei.“

„Sollten wir uns nicht lieber flach auf den Boden werfen?“ fragte Mr. Snodgraß.

„Nein, nein, es ist schon vorüber“, antwortete Mr. Pickwick. Seine Lippen bebten, und seine Wangen erbleichten, aber kein Wort der Furcht oder Bestürzung entfloh den Lippen des unsterblichen Mannes.

Mr. Pickwick hatte recht; das Feuer wurde eingestellt, aber kaum blieb ihm Zeit, sich wegen der Richtigkeit seiner Meinung Glück zu wünschen, als Leben in die Reihen der Krieger kam. Der heisere Ruf des Kommandos lief die Front entlang, und ehe sich noch einer der Herren in Mutmaßungen über das neue Manöver ergehen konnte, rückte das ganze halbe Dutzend Regimenter mit gefälltem Bajonett im Sturmschritt auf die Stelle zu, die Mr. Pickwick und seine Freunde einnahmen.

Der Mensch ist sterblich, und es gibt einen gewissen Punkt, über den Mannesmut nicht hinaus kann. Einen Augenblick starrte Mr. Pickwick die anrückenden Truppen durch seine Brille an, drehte ihnen dann den Rücken – um den Ausdruck, er floh, erstens als ungebührlich zu vermeiden, und zweitens, weil die Figur des Gelehrten sich durchaus nicht zu dieser Art von Rückzug eignete – und trabte von dannen, immerhin jedoch so schnell, wie es die Beschaffenheit seiner Beine erlaubte. Ja, er beeilte sich so sehr, daß er das Fürchterliche seiner Lage in seinem ganzen Umfange nicht eher erfaßte, als bis es zu spät war.

Die Truppen, die Mr. Pickwick vor wenigen Sekunden durch ihren Anmarsch außer Fassung gebracht hatten, rückten vorwärts, um den Scheinangriff der Belagerer der Zitadelle zu erwidern, und die Folge davon war, daß der Meister und seine beiden Jünger sich plötzlich zwischen zwei Linien von unabsehbarer Ausdehnung eingeschlossen sahen. Die eine rückte im Sturmschritt vor, und die andere erwartete mutig den Angriff.

„Hoi!“ schrien die Offiziere der Sturmkolonnen.

„Weg da!“ riefen die Offiziere der Verteidigungslinie.

„Wohin denn?“ kreischten die bestürzten Pickwickier.

„Hoi! Hoi! Hoi!“ war die ganze Antwort.

Es war ein Augenblick grauenvoller Verwirrung; die Erde bebte unter den Tritten der stürmenden Truppen. Ein ersticktes Gelächter; das halbe Dutzend Regimenter war nur noch ein halbes Tausend Meter entfernt, und die Sohlen von Mr. Pickwicks Stiefeln schwebten in den Lüften.

Mr. Snodgraß und Mr. Winkle hatten jeder mit bewunderungswürdiger Gewandtheit einen unfreiwilligen Purzelbaum geschlagen, und das erste, was sie sahen, war ihr hochverehrter Meister, der in einiger Entfernung seinem in lustigen Sätzen dahinrollenden Hute nachlief.

Es gibt wenige Augenblicke im menschlichen Leben, in denen man mit seinem Mißgeschick so wenig auf Verständnis oder Mitleid stößt, als wenn man seinem Hut nachläuft. Es gehört keine geringe Kaltblütigkeit und ein hoher Grad von Beurteilungskraft dazu, einen fortrollenden Hut wieder einzufangen. Eile ist unangebracht: man überrennt ihn; verfällt man in das entgegengesetzte Extrem, verliert man ihn. Da heißt es, den Flüchtling genau im Auge behalten, behutsam und vorsichtig sein, die Gelegenheit scharf abpassen, ihm allmählich vorkommen, dann plötzlich die Hand ausstrecken, ihn bei der Krempe packen und fest auf das Haupt stülpen. Und dabei nur ja freundlich lächeln, als mache einem der Vorfall genausoviel Spaß wie dem lieben Zuschauer!

Eine zarte Brise wehte, und Mr. Pickwicks Hut rollte spielend dahin. Der Wind blies stärker und Mr. Pickwick desgleichen, und lustig schoß der Hut dahin, wie das Fischlein in der klaren Flut, und wäre wohl außer seines Herrn Bereich gerollt, hätte nicht in dem Augenblick, als Mr. Pickwick eben im Begriffe stand, ihn seinem Schicksale zu überlassen, eine höhere Hand eingegriffen.

Mr. Pickwick war nämlich völlig erschöpft und, wie gesagt, eben im Begriff, die Jagd aufzugeben, als der Hut mit einiger Heftigkeit an das Rad eines Wagens getrieben wurde, der neben einem halben Dutzend andrer Fuhrwerke stand, und zwar an der Stelle, auf die der Gelehrte zusteuerte. Seinen Vorteil wahrnehmend, sprang Mr. Pickwick rasch vor, versicherte sich seines Eigentums, stülpte es auf seinen Kopf und hielt inne, um Atem zu schöpfen. Noch keine halbe Minute hatte er so dagestanden, da hörte er sich laut beim Namen rufen und erkannte mit einem Male die Stimme Mr. Tupmans. Er blickte auf und sah ein Bild, das ihn mit Verwunderung und Freude erfüllte.

In einer offnen Halbchaise, deren Pferde ausgespannt waren, um mehr Platz auf dem engen Raum zu schaffen, saß ein stattlicher alter Gentleman in einem blauen Rock mit Wanken Knöpfen, Manchesterbeinkleidern und Stulpenstiefeln, zwei junge Damen mit Schleier und Federhüten, ein junger Herr, der in eine der beiden jungen Damen mit Schleier und Federhüten verliebt zu sein schien, eine Dame von schwer abzuschätzendem Alter – wahrscheinlich die Tante der Vorerwähnten – und Mr. Tupman, so behaglich und ungeniert, als ob er von jeher zur Familie gehört hätte. Hinten auf der Chaise war ein Korb von ansehnlicher Größe aufgepackt – einer von jenen Körben, die in einem kontemplativen Geiste Vorstellungen von kaltem Geflügel, Zungen und Weinflaschen erwecken –, und auf dem Bock saß in einem Zustand von Schlaftrunkenheit ein fetter rotbackiger Junge, den kein spekulativer Beobachter einen Augenblick betrachten konnte, ohne in ihm nicht mit Sicherheit eine Person zu erkennen, die dazu berufen sein mußte, den Inhalt des vorerwähnten Korbes zur geneigten Zeit zutage zu fördern.

Mr. Pickwick hatte kaum einen hastigen Blick auf diese anziehenden Gegenstände geworfen, als er abermals von seinem treuen Schüler begrüßt wurde.

„Pickwick, Pickwick“, rief Mr.Tupman, „geschwind, kommen Sie herauf.“

„Kommen Sie, mein Herr. Bitte, kommen Sie doch“, sagte auch der stattliche Gentleman. „Joe! – Der verdammte Junge, jetzt schläft er wieder – Joe, laß den Tritt hinunter.“

Der fette Junge schob sich langsam vom Bock, ließ den Tritt nieder und hielt einladend den Wagenschlag offen. In diesem Augenblicke erschienen Mr. Snodgraß und Mr. Winkle.

„Platz genug für alle, meine Herren. Zwei innen; einer außen. Joe, mach Platz auf dem Bock. Nun, Sir, kommen Sie!“ – Der stattliche Gentleman streckte seinen Arm aus und half zuerst Mr. Pickwick und dann Mr. Snodgraß in den Wagen. Mr. Winkle stieg auf den Bock, der Junge setzte sich daneben und versank sofort in Schlummer.

„Meine Herren“, sagte der stattliche Gentleman, „außerordentliches Vergnügen. Kenne Sie sehr gut, meine Herren, wenn Sie sich auch vielleicht meiner nicht mehr erinnern, Brachte letzten Winter mehrere Abende in Ihrem Klub zu – traf diesen Morgen unvermutet meinen Freund Mr. Tupman und war sehr erfreut, ihn zu sehen. Nun, Sir, und wie befinden Sie sich? Sehen vortrefflich aus – auf Ehre!“

Mr. Pickwick dankte für das Kompliment und schüttelte dem freundlichen Herrn mit den Stulpenstiefeln herzlich die Hand.

„Nun, und wie geht es Ihnen, Sir?“ fragte der stattliche Gentleman und wandte sich mit väterlicher Teilnahme an Mr. Snodgraß. „Vortrefflich? – Nun, das ist schön – das ist schön. Und wie geht es Ihnen, Mr. Winkle. Gut? Freut mich zu hören. Freut mich wirklich ungemein. Meine Töchter, meine Herren – meine Deerns, und dies ist meine Schwester, Miß Rachel Wardle. Sie ist immer noch Fräulein, so leid es ihr auch tut. Fräulein! – Sie verstehen. Ha?“ Der stattliche Gentleman stieß Mr. Pickwick vertraulich mit dem Ellenbogen in die Rippen und lachte herzlich.

„Aber Bruder!“ flötete Miß Wardle mit einem bittenden Blick.

„Freilich, freilich“, erwiderte der stattliche Gentleman. „Stimmt doch, oder nicht? Pardon, meine Herren, hier mein Freund Mr. Trundle. So, und jetzt kennen sich die Herrschaften, und da können wir’s uns ja bequem machen und sehen, was da drüben alles vorgeht; dächte ich jedenfalls!“

Der stattliche Gentleman setzte seine Brille auf, Mr. Pickwick nahm sein Fernglas, und alles stand aufrecht im Wagen und sah über die Schulter des Vordermannes den Evolutionen der Truppen zu.

Das Manöver war in vollem Gang. Man sah eine Reihe Soldaten über die Köpfe einer andern wegfeuern und davonrennen, Karrees bilden und die Offiziere in die Mitte nehmen. Dann wurde an Strickleitern auf der einen Seite der Schanze hinab- und auf der ändern wieder hinaufgeklettert, man riß Barrikaden von Schanzkörben nieder, kurz, benahm sich so tapfer wie nur irgend möglich. Ungeheure Kanonen wurden mit Instrumenten, die wie riesige Schornsteinfegerwische aussahen, geladen, und die Vorbereitungen, bis sie losgeschossen wurden, und endlich gar das Abbrennen selbst waren mit einem so entsetzlichen Lärm verbunden, daß die Lüfte vom Angstgeschrei der Damen widerhallten. Die jungen Misses Wardle waren so erschrocken, daß Mr. Trundle eine von ihnen stützen mußte, während Mr. Snodgraß der ändern seine Schulter lieh und Mr. Wardles Schwester einen solchen Nervenschock bekam, daß es Mr. Tupman für unumgänglich notwendig hielt, seinen Arm um ihre Taille zu legen, um sie aufrecht zu halten. Alles war in der größten Aufregung, nur der fette Junge nicht, der so sanft fortschlief, als wäre der Kanonendonner ein Wiegenlied.

„Joe, Joe!“ rief der stattliche Gentleman, als die Zitadelle genommen war und Belagerer und Belagerte sich zum Essen lagerten. „Verdammter Junge, schläft er schon wieder. Bitte, möchten Sie ihn nicht ein bißchen in die Waden zwicken, Sir, anders ist er nicht zu erwecken. So, besten Dank, Sir. Den Korb ausgepackt, Joe!“

Der fette Junge rutschte vom Bock herunter und begann den Korb auszuleeren, wobei er einen größeren Eifer entfaltete, als man bei seiner Trägheit von ihm hätte erwarten können.

„Jetzt müßten wir allerdings zusammenrücken“, sagte der stattliche Gentleman.

Darauf wurden zunächst viele Witze über die weiten ärmel der Damen gemacht, die jetzt wohl sehr zerdrückt werden würden, und die Damen erröteten ausgiebig über die scherzhaften Einladungen, sie möchten sich doch den Herren auf den Schoß setzen, bis endlich die ganze Gesellschaft richtig Platz in dem Wagen gefunden hatte und der stattliche Gentleman den Inhalt des Korbes aus den Händen des fetten Jungen entgegennahm, der zu diesem Zweck hinten auf die Achse gestiegen war.

„Jetzt, Joe, Messer und Gabeln!“

Die Messer und Gabeln wurden übergeben und die Damen und Herren im Wagen und Mr. Winkle außen auf dem Bock mit diesen nützlichen Werkzeugen versehen.

„Teller, Joe, Teller!“

Die Teller wurden auf gleiche Weise verteilt.

„Jetzt, Joe, das Geflügel. Verdammter Junge, schläft er schon wieder. Joe, Joe!“ – Einige Winke mit einem Stock auf den Kopf, und der fette Junge erwachte langsam aus seiner Schlaftrunkenheit. – „Geschwind, gib die Eßwaren her!“

Es lag etwas in dem Klange der letzten Worte, was den Schmalz Jüngling lebendig machte. Er sprang auf und starrte mit schwerem Auge, aus den dicken Pausbacken hervorblinzelnd, heiß und gierig auf die Speisen, die er dem Korbe entnahm.

„Nun, mach fix!“ rief Mr. Wardle, denn der fette Junge warf äußerst verliebte Blicke auf einen Kapaun, von dem er sich kaum trennen zu können schien. Mit einem tiefen Seufzer und einem glühenden Blick auf den wohlgemästeten Vogel übergab er ihn endlich mit widerstrebender Hand seinem Herrn.

„So ist’s recht – sieh genau nach. Jetzt die Zunge – die Taubenpastete. Den Kalbsbraten und den Schinken nicht vergessen – und die Hummern. Nimm den Salat aus dem Tuche, so, und die Servietten.“ Dies waren die hastigen Befehle, die Mr. Wardles Lippen entströmten, während er die genannten Gegenstände in Empfang nahm und jedem eine Menge Teller in die Hand gab oder auf die Knie setzte.

„Na, ist das nicht fein?“ fragte der heitere Mann, als das Werk der Zerstörung begonnen hatte.

„Fein!“ sagte Mr. Winkle und zerlegte sein Huhn auf dem Bock.

„Glas Wein gefällig?“

„Wenn ich bitten darf.“

„Ich will Ihnen lieber eine Flasche hinaufreichen, oder?“

„Sie sind sehr gütig.“

„Joe!“

„Ja, Sir?“ Joe schlief diesmal nicht, weil er soeben ein Kalbfleischpastetchen stibitzt hatte.

„Flasche Wein dem Herrn auf dem Bock. Wohl bekomm’s, Sir.“

„Danke.“

Mr. Winkle leerte sein Glas und stellte die Flasche neben sich.

„Darf ich mir gestatten, mein Herr?“ sagte Mr. Trundle zu Mr. Winkle.

„Prosit!“ antwortete Mr. Winkle. Die beiden Herren stießen miteinander an, und die ganze Gesellschaft beteiligte sich.

„Wie die liebe Familie mit dem fremden Herrn kokettiert!“ flüsterte Miß Wardle, die Tante, mit echtem Altjungfernneid ihrem Bruder zu.

„Wüßte nicht“, sagte aufgeräumt der alte Herr. „Finde es ganz natürlich; sozusagen – nichts Außergewöhnliches. Mr. Pickwick, etwas Wein gefällig?“

Mr. Pickwick, inzwischen tief in den Bauch einer Taubenpastete eingedrungen, nahm dankend an.

„Liebe Emilie“, verwies die Jungfer Tante mit Gouvernantenmiene, „sprich doch nicht so laut, Kind.“

„Aber Tante!“

„Die Tante und der kleine alte Herr wollen, glaube ich, allein das Recht haben zu reden“, flüsterte Miß Isabella Wardle ihrer Schwester Emilie zu. Die jungen Damen lachten herzlich, und die alte bemühte sich, liebenswürdig auszusehen, konnte es aber nicht zuwege bringen.

„Junge Mädchen sind so lebhaft“, sagte sie zu Mr. Tupman mit einer Miene des Bedauerns, als ob Lebhaftigkeit Konterbande und, ohne höhere Erlaubnis, sündhaft und verbrecherisch wäre.

„Gewiß, wohl“, entgegnete Mr. Tupman in einem Ton, der der erwarteten Antwort nicht ganz entsprach. „Es ist entzückend.“

„Hm!“ erwiderte die jungfräuliche Tante etwas verstimmt.

„Darf ich mir erlauben?“ fragte Mr. Tupman säuselnd, berührte Tante Rachels reizendes Händchen und hielt die Flasche empor. „Darf ich mir erlauben?“

„Ach, mein Herr!“

Mr.Tupmans Augen leuchteten vielsagend, und Miß Rachel drückte Besorgnis aus, man könnte schon wieder Kanonen losschießen, in welchem Falle sie natürlich abermals auf den Beistand des Herrn rechnen würde.

„Halten Sie meine Nichten für hübsch?“ flüsterte sie zärtlich.

„Ausnehmend, wenn ihre Tante nicht hier wäre“, versetzte der gewandte Pickwickier mit einem Glutblick.

„Oh, Sie Schlimmer! – Aber wirklich, wenn ihr Teint ein wenig lebhafter wäre, glauben Sie nicht, sie würden nicht übel aussehen? – Bei künstlichem Licht, meine ich.“

„Sicherlich“, erwiderte Mr. Tupman zerstreut.

„Oh, Sie Spötter – ich weiß, worauf Sie anspielen.“

„Worauf denn?“ fragte Mr. Tupman, der sich einen Augenblick gar nichts gedacht hatte.

„Sie wollten sagen, Isabella hält sich, schlecht – ihr Männer seid so scharfe Beobachter. Ja, ja, es ist so; man kann es nicht leugnen, und gewiß, wenn es etwas gibt, was ein Mädchen entstellt, so ist es eine schlechte Haltung. Wie oft habe ich ihr gesagt, wenn sie nur ein bißchen älter sein wird, wird es sie geradezu verunstalten. Ja, ja, Sie sind ein Spötter!“

Mr. Tupman hatte nichts dagegen, so wohlfeil zum Rufe eines Frauenkenners zu kommen. Er setzte eine schlaue Miene auf und lächelte geheimnisvoll.

„Welch ein sarkastisches Lächeln!“ sagte Miß Rachel im Tone der Bewunderung. „Ich versichere Ihnen, ich fürchte mich vor Ihnen.“

„Sie fürchten sich vor mir!?“

„Oh, Sie können mir nichts verbergen; ich weiß, was dieses Lächeln zu bedeuten hat. – Oh, wie gut!“

„Was denn?“ fragte Mr.Tupman, der selbst nicht den mindesten Begriff davon hatte.

„Sie meinen“, flüsterte die liebenswürdige Tante, „Sie meinen, Isabellas schlechte Haltung ist ebenso schlimm wie Emiliens Dreistigkeit. Ja, ja, sie ist sehr vorlaut! Sie können sich nicht denken, was mir das zuweilen für Sorgen macht – ich weine oft stundenlang deswegen. – Mein lieber Bruder ist so gut, so arglos, daß er es gar nicht sieht. Ach, wenn er es gewahr würde, es müßte ihm sicher das Herz brechen. Ich wollte, ich könnte mir einreden, es wäre nur eine schlechte Angewohnheit. Ach, wenn es so wäre!“ – Die zärtliche Verwandte stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte hoffnungslos den Kopf.

„Ich möchte wetten, die Tante spricht von uns“, flüsterte Miß Emilie Wardle ihrer Schwester zu. „Sie sieht so boshaft aus.“

„Glaubst du?“ fragte Isabella. „Hm! Tante, liebe Tante!“

„Was, mein Liebling?“

„Ich fürchte so, du wirst dich erkälten, Tante. Binde dir doch ein seidenes Tuch um dein liebes altes Gesicht. Du mußt dich in acht nehmen, denk an deine Jahre!“

So wohlverdient diese kleine Züchtigung auch sein mochte, soviel Rachsucht klang aus ihr. Auf welche Weise sich die Entrüstung der Tante wieder Luft gemacht haben würde, ist schwer zu erraten, aber zum Glück gab Mr.Wardle unabsichtlich der Aufmerksamkeit der Gesellschaft eine andre Richtung, indem er laut nach Joe rief.

„Verdammter Junge, schläft er schon wieder.“

„Ein höchst seltsamer Knabe das“, bemerkte Mr. Pickwick, „ist er immer so schläfrig?“

„Schläfrig?!“ sagte der alte Herr. „Er schläft den ganzen Tag. Er schläft beim Gehen ein und schnarcht, wenn er bei Tisch serviert.“

„Sehr seltsam“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Ja, in der Tat, seltsam“, versetzte der alte Herr. „Ich bin stolz auf den Jungen – ich würde mich unter keiner Bedingung von ihm trennen, wahrhaftig; es ist ein Naturspiel! He, Joe – Joe, räum die Sachen ab und mach eine neue Flasche auf – hörst du?“

Der fette Junge erwachte, öffnete die Augen, würgte das ungeheure Stück Taubenpastete hinunter, an dem er gerade gekaut hatte, als ihn der Schlaf übermannt, und kam langsam dem Befehl seines Herrn, auf die Überbleibsel des Mahles schielend, nach und räumte das Geschirr in den Korb. Eine frische Flasche erschien und wurde alsbald geleert; der Korb kam wieder auf seinen alten Platz, der fette Junge stieg auf den Bock, die Brillen und Ferngläser wurden abermals hervorgenommen, und die Manöver der Armee begannen aufs neue. Die Geschütze brüllten, die Damen kreischten, eine Mine flog zur allgemeinen Befriedigung auf, und Militär und Gesellschaft traten den Heimweg an.

„Ich hoffe“, sagte der alte Herr beim gemeinsamen Händen schütteln, als das Schauspiel zu Ende war, „ich hoffe, wir sehen uns also morgen.“

„Ganz bestimmt“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Sie haben doch meine Adresse?“

„Manor Farm, Dingley Dell“, sagte Mr. Pickwick, sein Taschenbuch zu Rate ziehend.

„Stimmt“, versetzte der alte Herr, „und ich gedenke, Sie vor einer Woche nicht fortzulassen. Sie müssen alles besichtigen, was irgend sehenswert ist. Wenn Ihnen am Landleben etwas liegt, so kommen Sie nur zu mir, dort finden Sie es in Hülle und Fülle. Joe – verdammter Junge, schläft er schon wieder – Joe, hilf Tom einspannen.“

Die Pferde wurden eingespannt, der Kutscher bestieg seinen Bock, der fette Junge rutschte an seine Seite, man verabschiedete sich allerseits, und der Wagen rollte von dannen. Als die Pickwickier sich umwandten, um einen letzten Blick auf die Scheidenden zu werfen, fielen die Strahlen der untergehenden Sonne eben auf deren Gesichter und beleuchteten die Gestalt des fetten Jungen. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken, und er schlummerte fest.

Einundvierzigstes Kapitel


Einundvierzigstes Kapitel

Zeigt, wie Mr. Samuel Weller ins Unglück kommt.

In einem hohen, schlecht erleuchteten und noch schlechter gelüfteten Zimmer in der Portugalstreet, Lincolns Inn Fields, sitzen jahraus und jahrein, wie es der Zufall mit sich bringt, ein, zwei, drei oder vier perückte Herren hinter kleinen Schreibpulten, wie sie gewöhnlich die Richter auf dem Lande besitzen, die keinen Sinn für französischen Geschmack haben. Zu ihrer Rechten sieht man eine Box für die Advokaten, zu ihrer Linken eine Abteilung für die Insolventen und vor ihnen eine geneigte Ebene von Schmutzgesichtern. Diese Herren sind die Kommissäre des Insolvenzgerichtshofes, und der Ort, an dem sie ihre Sitzungen abhalten, ist der Insolvenzgerichtshof.

Dieser Gerichtshof hat und hatte schon seit undenklichen Zeiten das Schicksal, von der ganzen Sippschaft schäbig-eleganter Bankerotteure als gemeinschaftlicher Sammelpunkt und tägliches Stelldichein angesehen zu werden. Er ist immer voll. Der Bier- und Branntweindunst steigt unaufhörlich zur Decke empor und träufelt, von der Wärme verdichtet, gleich Tau an den Wänden herab. Hier sieht man an einem Tage mehr alte Trachten, als im ganzen Houndsditch in einem Jahre feilgeboten werden, und mehr ungewaschene Gesichter und schmutzige Barte, als alle Brunnen und Barbierstuben zwischen Tyburn und Whitechapel vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne zu reinigen imstande wären.

Nicht etwa, als habe irgendeiner von diesen Besuchern auch nur ein Jota von Geschäft hier abzuwickeln. Wäre dies der Fall, so hätte die Sache durchaus nichts Wunderbares an sich. Einige schlafen den größten Teil der Sitzung hindurch; andre führen kleine tragbare Diners bei sich, die entweder in Taschentücher eingewickelt sind oder aus ihren abgenutzten Taschen hervorragen, und kauen und horchen mit gleicher Lust; aber noch keinen hat man gesehen, der auch nur das entfernteste persönliche Interesse an einem Fall gehabt hätte, der je vorgebracht wurde. Was sie immer auch zu tun unternehmen, hier sitzen sie vom ersten Augenblick an bis zum letzten. Bei starkem Regenwetter kommen sie ganz durchnäßt, und dann dunstet es im Gerichtssaal wie in einer Pilzgrube.

Wer zufälligerweise hineingerät, könnte diesen Ort für einen dem Genius des Unflats geheiligten Tempel halten. Im ganzen Hause sieht man keinen Gerichtsboten, der einen ihm auf den Leib zugeschnittenen, Rock trüge, kein Gesicht, das auch nur einen Anstrich von Lebensfrische und Gesundheit hätte, außer einem kleinen rotbackigen Gerichtsdiener mit weißen Haaren, und sogar dieser scheint wie eine wurmdurchnagte Kirsche, die in Weingeist aufbewahrt wird, das gute Aussehen, auf das er von Natur keinen Anspruch hatte, der Hand der Kunst zu verdanken. Selbst die Advokatenperücken sind schlecht gepudert, und ihre Locken schmachten nach dem Haarkräusler.

Die Anwälte, die an einem großen, nackten Tische unter den Kommissären sitzen, sind jedenfalls die größten Merkwürdigkeiten. Die berufliche Ausstattung der Wohlhabenderen dieser Herren besteht in einem blauen Aktenbeutel und einem Jungen, der gewöhnlich auf den Glauben der Hebräer eingeschworen ist. Sie haben keine bestimmten Kanzleien, denn ihre Rechtsgeschäfte werden in den Wirtshäusern und in den Gefängnishöfen abgewickelt, in die sie sich scharenweise eindrängen und wo sie sich auf die den Omnibusjungen eigne Weise nach Kunden umsehen. Ihr Äußeres ist schmutzig und mit Staub bedeckt, und wenn ihnen überhaupt Laster zugeschrieben werden können, so ist vielleicht der Hang zum Trinken und Betrügen das hervorragendste. Ihre Wohnungen haben sie meist in den Vorstädten der sogenannten Rules, die hauptsächlich im Umkreis von einer Meile um den Obelisk in St. Georg Fields herum liegen. Ihre Gesichter sind nicht einnehmend und ihre Manieren befremdlich.

Mr. Salomo Pell, einer von dieser gelehrten Körperschaft, war ein fetter Mann mit einem blassen, welken Gesicht und trug einen Oberrock, der bald grün und bald braun schimmerte, mit einem Samtkragen von denselben Chamäleonsfarben. Seine Stirn war schmal, sein Gesicht breit, der Kopf groß und die Nase auf die Seite gedrückt, als hätte ihr die Natur im Ärger über die Neigungen, die sie bei der Geburt Mr. Pells an ihm entdeckte, einen Hieb versetzt, von dem . sie sich nicht wieder erholen konnte. Da Mr. Pell jedoch kurzhalsig und engbrüstig war, so beschränkte sich seine Respiration beinahe einzig auf dieses Organ, das dadurch, was ihm an Schönheit abging, an Nützlichkeit ersetzte. „Ich bring ihn schon durch“, sagte Mr. Pell.

„Glauben Sie?“ versetzte die Person, an die diese Versicherung gerichtet war.

„Ganz bestimmt“, beteuerte Mr. Pell, „aber wenn er an irgendeinen Winkeladvokaten geraten wäre, hätte ich nix für die Folgen stehen mögen.“ „So?“ rief der andre mit offenem Munde.

„Ja, ich hätte nix dafür stehen mögen“, wiederholte Mr. Pell, warf die Lippen auf, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf mit geheimnisvoller Miene.

Der Ort, an dem dieses Gespräch geführt wurde, war das Wirtshaus, das dem Insolvenzgerichtshofe gegenübersteht, und die Person, mit der es geführt wurde, niemand anders als Mr. Weller senior, der hierhergekommen war, um einem Freunde Trost und Stärkung zu bringen, dessen Crida an diesem Tage verhandelt werden sollte und dessen Anwalt er 111 diesem Augenblick um seine Meinung befragte.

„Und wo is Schorsch?“ fragte der alte Herr.

Mr. Pell winkte mit dem Kopfe nach einem Hinterzimmer, in das sich Mr. Weller alsbald begab und zur Beglückwünschung von einem halben Dutzend Kollegen aufs wärmste und schmeichelhafteste begrüßt wurde. Der Herr in Zahlungsschwierigkeiten, der aus spekulativer, aber unkluger Leidenschaft für das Befahren weiter Stationen in seine gegenwärtige Verlegenheit geraten war, trug ein äußerst heiteres Aussehen zur Schau und bekämpfte seine Aufregung erfolgreich mit Krabben und Porter.

Die Begrüßung zwischen Mr. Weller und seinen Freunden hielt sich ganz in den Schranken der Gewerbsfreimaurerei und bestand lediglich in einem die Runde mach enden Händedruck und einem gleichzeitigen Schnalzen mit dem kleinen Finger der Linken. Es gab einmal zwei berühmte Kutscher – sie sind jetzt tot, die armen Burschen –, die Zwillinge waren, und zwischen denen eine ungeheuchelte und innige Zuneigung bestand. Sie kamen seit zwanzig Jahren jeden Tag an der Dowerstreet aneinander vorüber und wechselten nie einen anderen Gruß als diesen, und doch, als der eine starb, welkte der andre dahin und folgte ihm bald nach.

„Na, Schorsch“, sagte Mr. Weller senior, seine Rockschöße zusammennehmend und sich mit der gewohnten Würde niedersetzend. „Wie steht’s? Alles in Ordnung hinten, und innen voll?“

„Alles in Ordnung, alter Kamerad“, erwiderte der Cridatar.

„Is die graue Stute in Flege gegeben?“ forschte Mr. Weller bewegt.

Schorsch nickte bejahend.

„Na, denn is ja alles gut“, sagte Mr. Weller. „Die Kutsche auch beiseite geschafft?“

„In ’nen sichern Verwahrungsort gebracht“, versetzte Schorsch, riß einem halben Dutzend Krabben die Köpfe ab und verschlang sie ohne weitere Präliminarien.

„Famos“, bemerkte Mr. Weller. „Immer schön die Bremse anziehen, wenn’s bergab geht. Is der Frachtzettel deutlich?“

„Sie meinen das Inventar, Sir“, sagte Pell, erratend, was Mr. Weller sagen wollte, „alles so klar und bestimmt, wie es nur Tinte und Feder machen können.“

Mr. Weller nickte auf eine Weise, die seine innere Billigung aller dieser Anordnungen aussprach, und sagte dann, auf seinen Freund Schorsch deutend, zu Mr. Pell:

„Wann, nehmen Sie an, geht er vom Start?“

„Nu“, versetzte Mr. Pell, „er is der dritte auf der Liste, und ich glaube, es werd ungefähr in aner halben Stund an ihn kommen. Ich hab mein Schreiber die Weisung gegeben, er soll erüberkommen und melden, wenn ä Parteienwechsel vorkommt.“

Mr. Weller betrachtete den Anwalt bewundernd von Kopf bis zu Fuß und sagte dann mit Emphase:

„Was wollen Sie trinken?“

„Nu, wirklich“, zierte sich Mr. Pell, „Sie sind sehr – mei Ehrenwort, es ist nicht meine Gewohnheit – es ist noch so früh am Tage, daß ich wirklich – doch, Sie können mir für drei Pence Rum bringen, meine Liebe.“

Die Kellnerin war dem Befehl bereits zuvorgekommen, setzte Mr. Pell ein Glas Brandy vor und verschwand.

„Meine Herren“, sagte Mr. Pell und sah sich rund in der Gesellschaft um, „auf gutes Gelingen für Ihren Freund! Ich will mich nicht rühmen, meine Herren, das ist nix meine Gewohnheit, aber ich muß bemerken, daß, wenn Ihr Freund nicht das Glück gehabt hätte, zu mir zu kommen – na, ich sag lieber nix. Meine Herren, auf Ihre Gesundheit!“

Mr. Pell leerte sein Glas in einem Augenblick, schnalzte mit den Lippen und sah die versammelten Kutscher, die offenbar eine Art göttlichen Wesens in ihm verehrten, nacheinander mit großer Selbstgefälligkeit an.

„Nun, laß mer sehen“, sagte er dann. „Was wollt ich sagen, meine Herren?“

„Sie sagten gerade, daß Sie gegen ein zweites vom gleichen nichts einzuwenden haben“, fiel Mr. Weller mit würdevoller Heiterkeit ein.

„Haha!“ lachte Mr. Pell. „Nicht übel, nicht übel. Versteht sein Fach, der Mann. Um diese Morgenstunde könnte es auch nicht schaden . .. Nu, ich weiß nicht, meine Liebe – Sie können es ja repetieren, wenn es Ihnen gefällig ist. – Hem hem!“

Das „Hem“ war ein feierliches und würdevolles Husten das sich Mr. Pell bei Wahrnehmung einer unziemlichen Neigung einiger seiner Zuhörer zur Fröhlichkeit erlauben zu müssen glaubte.

„Der letzte Lordkanzler, meine Herren, hielt große Stücke auf mir“, begann er dann.

„Und vertraute ihm auch bannich viel an“, fiel Mr. Weller ein.

„Hört, hört“, rief der Cridatar aus. „Und warum hätte er auch nich sollen?“

„Ja – hm!“ bemerkte ein Mann mit einem hochroten Gesicht, der bis jetzt noch nichts gesagte hatte und auch gar nicht danach aussah, als wollte er mehr sagen. „Warum hätte er auch nich sollen?“

Ein Beifallsgemurmel lief durch die Gesellschaft.

„Ich erinnere mich, meine Herren“, nahm Mr. Pell seine Rede wieder auf, „daß ich einmal bei ihm zu Mittag gegessen hab – mir waren nur unser zwei; aber es war alles so splendid, als ob mer zwanzig Personen erwartet hätt; das große Siegel lag rechts auf einem Drehtisch, und ein Mann mit einer Zopfperücke und ’n Harnisch bewachte das Zepter mit gezücktem Schwert und seidenen Strümpfen, was immer der Fall ist, meine Herren, Tag und Nacht. – ,Pell‘, sagte er, der Lordkanzler, ,keine falsche Bescheidenheit, Pell. Sie sin ä Mann von Talent; Sie bringen alles im Insolvenzgerichtshofe durch, Pell, und das Land derf stolz auf Ihnen sein.‘ Das waren seine eigenen Worte. – ,Mylord‘, erwiderte ich, ,Sie schmeicheln.‘ – ,Pell‘, sagte er, ,wenn ich schmeichle, so will ich verdammt sein.'“

„Sagte er das wirklich?“ fragte Mr. Weller.

„Ja, das sagte er“, beschwor Pell.

„Na, denn“, bemerkte Mr. Weller, „hätte das Parlament von wegen Fluchen einschreiten sollen, und wenn es ’n armer Kerl gewesen wäre, um den es sich drehte, denn wäre es sicher auch passiert.“

„Aber lieber Freund“, erklärte Mr. Pell, „es war doch im Vertrauen gesprochen.“

„In was?“

„Im Vertrauen.“

„Na gut“, versetzte Mr. Weller nach einigem Nachdenken, „wenn er sich im Vertrauen verdammt hat, denn is das natürlich ganz was anderes.“

„Natürlich war es was anderes“, sagte Mr. Pell. „Der Unterschied fällt in die Augen, wie Sie gleich sehen werden.“

„Ändert die Sache gänzlich“, bemerkte Mr. Weller. „Nu mal weiter!“

„Nein, ich fahr nicht fort“, erwiderte Mr. Pell mit gedämpftem, geheimnisvollem Ton. „Sie haben mich daran erinnert, Sir, daß die Unterredung eine geheime war; eine geheime und vertrauliche, meine Herren. Meine Herren, ich bin ä Mann vom Fach. Mag sein, daß ich in den Augen meiner Kollegen dadurch gehoben wurde, möglich auch, daß es nich der Fall war. Die meisten Leute wissen das. Ich sag kein Wort. Bemerkungen sind schon in dem Zimmer gemacht worden, die den Ruf meines vornehmen Freundes angetastet haben. Sie werden mich entschuldigen, meine Herren, ich war unvorsichtig. Ich seh ein, daß ich nicht recht daran getan hab, das Thema ohne seine Beistimmung zu berühren.“ Und Mr. Pell steckte seine Hände in die Taschen und klimperte mit grimmigem Stirnrunzeln und furchtbarer Entschlossenheit mit drei Halbpencestücken.

Plötzlich stürmten der Junge und der blaue Beutel, die unzertrennliche Gefährten waren, ins Zimmer herein und sagten – wenigstens der Junge, der blaue Beutel schwieg –, die Sache komme im Augenblick zur Verhandlung. Sofort eilte die ganze Gesellschaft auf die Straße und brach sich in dem Gerichtshof Bahn – eine Maßnahme, die in gewöhnlichen Fällen eine Zeit von fünfundzwanzig bis dreißig Minuten in Anspruch nehmen würde.

Mr. Weller, ein starker Mann, warf sich ohne weiteres ins Gedränge, mit der verzweifelten Hoffnung, um jeden Preis einen Platz zu erobern, der für ihn angemessen wäre. Der Erfolg entsprach jedoch seinen Erwartungen nicht ganz, denn sein Hut, den er abzunehmen vergessen hatte, wurde ihm von einem Unsichtbaren, dem er ziemlich stark auf die Zehen getreten hatte, über die Augen geschlagen. Offenbar bereute aber der Täter seine Heftigkeit sofort, denn er zog gleich darauf, einen unbestimmten Ausruf der Überraschung murmelnd, den alten Herrn in die Vorhalle und befreite ihn durch einen heftigen Ruck von seiner Maske.

„Samuel?“ rief Mr. Weller, dieser Art in. den Stand gesetzt, seinen Befreier zu sehen. Sam nickte.

„Du bist ja ’n recht zärtlicher Knabe, daß du deinem Vater in seinen alten Tagen den Deckel über die Ohren drischst.“

„Konnte nich wissen, wer’s war“, rechtfertigte sich der Sohn. „Du nimmst doch nich etwa an, daß ich dir am Gewicht von deine Latschen erkennen kann?“

„Das is ja nu wahr, Sammy“, gab Mr. Weller, vollständig besänftigt, zu. „Aber was treibst du hier? Dein Herr kann doch hier nichts ausrichten. Die stoßen dem Verdikt nich wieder um; machen die nich, Sammy.“

Und Mr. Weller schüttelte den Kopf mit der Feierlichkeit eines Rechtsgelehrten.

„Was is das nu wieder für dummes Zeug!“ rief Sam. „Immer nur Verdikte und Alibis und dergleichen. Wer sagt denn was von Verdiktumstoßen?“

Mr. Weller gab keine Antwort, sondern schüttelte nur den Kopf mit einer noch gelehrteren Miene.

„Kümmer dich nich um Sachen, wo du nich verstehen tust“, sagte Sam ungeduldig, „und quatsch nich. Ich war übrigens gestern abend im ,Marquis von Granby‘.“

„Haste die Markise von Granby gesehen, Sammy?“ fragte Mr. Weller mit einem Seufzer. „Jawoll.“

„Wie sah der Seelenhirte aus?“

„Sonderbar“, versetzte Sam. „Ich glaube, er richtet sich allmählich selbst zugrunde mit zuviel Ananasgrog und andern starken Medizinen.“ „Glaubste?“ fragte Mr. Weller senior mit ernstem Ton. „‚türlich.“

Mr. Weller ergriff die Hand seines Sprößlings, drückte sie und ließ sie dann wieder fallen. Es lag während dieses Verfahrens ein Ausdruck auf seinem Gesicht, nicht von Besorgnis oder Angst, sondern von aufdämmernder süßer Hoffnung. Ein Schimmer von Ergebung und sogar von Heiterkeit ging über sein Gesicht, als er langsam sagte:

„Ich bin mir die Sache nich gewiß, Sam; ich möchte nich gerade sagen, daß ich ganz positiv darin bin; ich könnte mir schließlich täuschen; aber ich nehme doch beinahe an, mein Junge, ich nehme beinahe an, daß der Vizehirt sich ’n Leberleiden angesoffen hat.“

„Sah er so schlimm aus?“ fragte Sam.

„Du, der is ganz ungewöhnlich blaß. Bloß um die Nase rum nich. Die glüht wie noch nie. Sein Appetit is aber bloß soso; bloß saufen kann er wie ’ne Eins.“

Mr. Wellers Geist schienen sich auch einige Gedanken an den von ihm so geliebten Rum aufzudrängen, denn er sah trübe und nachdenklich drein; aber bald sammelte er sich wieder, wie ein lebendiges Alphabet von Augenzwinkern verriet, dem er nur zu huldigen pflegte, wenn er besonders vergnügt war.

„Aber jetzt mal“, sagte Sam, „zu meinen Angelegenheiten. Spitz die Ohren und unterbrich mich nich, bis ich fertig bin.“

Nach dieser kurzen Einleitung erzählte Sam so gedrängt wie möglich die letzte merkwürdige Unterredung, die er mit Mr. Pickwick gehabt hatte. „Sitzt da allein, der arme Deubel“, rief Mr. Weller senior aus, „und kein Mensch kümmert sich um ihn! Das geht so nich weiter, Samuel, geht einfach nich.“

„Natürlich nich“, pflichtete Sam bei, „das wußte ich schon, bevor ich herkam.“

„Die fressen ihn da bei lebendigem Leibe auf, Sammy.“

Sam nickte zustimmend.

„Rein geht er grün, Sammy“, sagte Mr. Weller metaphorisch, „und rauskommt er so furchtbar braun, daß ihn seine besten Freunde nich mehr kennen werden, ’ne gebratene Taube is da nichts gegen, Sammy.“

Wieder nickte Sam Weller.

„Sollte aber nich sein, Samuel“, bemerkte Mr. Weller ernst.

„Darf einfach nich sein“, bekräftigte Sam. „Du bist ’n famoser Prophet; wie der rotbackige Nix, wo auf den Sixpencebüchern abkonterfeit ist.“ „Wer war denn das, Sammy?“

„Ach, egal, wer es war“, erwiderte Sam, „ein Kutscher war es nich, und das muß dir genügen.“

„3ch kannte mal ’nen Hausknecht dieses Namens“, sagte Mr. Weller nachdenklich.

„Der war es nich“, erwiderte Sam. „Der Schendlmän, wo ich meine, war Prophet.“

„Was is eigentlich ’n Prophet?“ fragte Mr. Weller mit forschendem Blick.

„Na, so ’n Mensch, wo die Zukunft voraussagt.“

„Schade, daß ich den nich gekannt habe, Sammy“, meinte Mr. Weller, „vielleicht hätte der mir ’n kleines Licht von wegen dem Leberleiden aufstecken können, wo ich ebend drüber sprach. Wo er nu aber tot is und keinem sein Geschäft hinterlassen hat, ist da ebend nichts zu machen. Rede weiter, Sammy“, seufzte Mr. Weller.

„Na“, bemerkte Sam. „Du hast doch aber die Zukunft vorausgesagt. Von wegen dem, was dem Gouverneur passieren wird, wenn er alleine bleibt. Weißt du denn kein Mittel nich, wie man für ihn sorgen könnte?“

„Nö, weiß keins, Sammy“, erwiderte Mr. Weller mit nachdenklichem Gesicht, „außer“, und der Schein eines inneren Lichtes überstrahlte sein Gesicht, als er seine Stimme zu einem Geflüster dämpfte und seinen Mund so nahe wie möglich dem Ohr seines Sprößlings näherte, „außer, er läßt sich in ’nem Kastenbett heimlich rausschaffen oder würde sich als altes Weib mit ’nem grünen Schleier verkleiden.“

Sam Weller nahm beide Vorschläge mit unerwarteter Verachtung auf und wiederholte seine Frage.

„Nö“, sagte der alte Herr, „wenn er dich nich bei sich lassen will, denn sehe ich absolut kein Mittel. Nichts zu machen, Sammy, nichts zu machen!“

„Na, denn will ich dir mal was sagen“, versetzte Sam. „Pump mir fünfundzwanzig Fund.“

„Wozu denn?“

„Is doch gleichgültig. Kannst mich doch denn vielleicht so nach fünf Minuten mahnen; vielleicht bezahle ich denn nich und werde frech gegen dir. Ich meine, du wirst doch denn nich etwa dran denken, daß du dein eigenen Sohn wegen Schulden schnappen und nach der Fleet bringen lassen wirst; oder würdest du das womöglich doch machen, du unnatürlicher Landstreicher?“

In Mr. Wellers senior Blick leuchtete ein Blitz des Einverständnisses auf. Er setzte sich auf eine steinerne Bank und lachte, bis er ganz blau war.

„Was ist das doch für ’n alter Holzgötze!“ rief Sam, unwillig über diesen Zeitverlust. „Was hockst du da und verdrehst die Visage zu ’nem Türklopfer, wo doch so viel zu tun is. Wo is das Geld?“

„Im Kutschkasten, Sammy, im Kutschkasten. Da, halt mal meinen Hut, Sammy!“ erwiderte Mr. Weller, sich sammelnd, gab seinem Körper einen Schwung auf die Seite und förderte vermöge einer geschickten Wendung seiner rechten Hand aus seinem Rock nach entsetzlicher Anstrengung schnaufend eine dicke Brieftasche in Großoktavformat zutage, die mit einem starken ledernen Riemen umwickelt war. Aus dieser nahm er ein paar Peitschenschnüre, drei oder vier Schnallen, eine Musterkarte und endlich ein Röllchen schmieriger Banknoten, von dem er die verlangte Summe ablöste und seinem Sohn einhändigte.

„Und nu, Sammy“, sagte der alte Herr, als Peitschenschnüre, Schnallen und Musterkarte wieder eingepackt und die Brieftasche wohlverwahrt war. „Nu, Sammy, kenne ich ’nen Herrn hier, wo den übrigen Teil von unserem Geschäft im Augenblick besorgen wird. – Ein Glied der Gesetzgebung, Sammy! Sein ganzer Körper is mit Gehirn vollgepackt – wie beim Frosch – bis in die Fingerspitzen! ’n Freund vom Lordkanzler, Sammy; dem brauchst du bloß kurz sagen, was du willst, und denn versorgt der dir fürs ganze Leben.“

„Und ich sage dir“, murrte Sam, „nichts davon!“

„Nichts wovon?“

„Na, nichts von solchen verfassungswidrigen Mitteln“, erwiderte Sam. „Sieh mal, der Hast-du-was-Corpus is nach dem Perpendikel-Mobilum eine von den segensreichsten Erfindungen, wo jemals gemacht worden sind. Ich habe sogar in den Zeitungen von gelesen.“

„Was soll das nu wieder?“ fragte Mr. Weller.

„Na“, erklärte Sam, „ich will doch eben die Erfindung begünstigen und mich auf die Art einbuchten lassen. Aber bloß kein Getuschel beim Lordkanzler; ich will das nich haben. Ich würde denn nämlich Manschetten haben, von wegen das Wiederrauskommen.“

Den Gefühlen seines Sohnes hierin beipflichtend, suchte Mr. Weller alsbald den Gelehrten Mr. Samuel Pell auf und teilte ihm seinen Wunsch mit, unverzüglich gegen einen gewissen Samuel Weller einen Verhaftungsbefehl wegen fünfundzwanzig Pfund und der Gerichtskosten ergehen zu lassen, wofür die Gebühren Mr. Samuel Pells im voraus entrichtet werden sollten.

Der Anwalt war sehr aufgeräumt, denn der zahlungsunfähige Rosselenker war durchgerutscht. Er lobte Sams Anhänglichkeit an seinen Herrn außerordentlich, erklärte, daß ihn das ganz an seine eignen Gefühle der Ergebenheit gegen seinen Freund, den Kanzler, erinnere, und führte dann Mr. Weller senior unverzüglich nach dem „Temple“, um ihn daselbst die Richtigkeit seiner Schuldforderung beschwören zu lassen, ein Akt, der auch unter Beihilfe des blauen Beutels, den der Junge nachtrug, vollzogen wurde.

Mittlerweile war Sam dem freigesprochnen Herrn und seinen Freunden in aller Form als Sprößling Mr. Wellers von Belle Savage vorgestellt und zur Feier des Anlasses, sich mit der übrigen Gesellschaft gütlich zu tun, eingeladen worden, was er natürlich ohne Zieren annahm.

Die Fröhlichkeit der Herren vom Rosselenkerberuf trägt gewöhnlich einen ernsten und ruhigen Charakter; aber der gegenwärtige Anlaß war ein zu festlicher, als daß sie diesmal nicht eine entsprechende Abweichung von diesem Prinzip hätten eintreten lassen.

Nach mehreren lautgebrüllten Toasten auf den Oberkommissär und Mr. Salomo Pell, der an diesem Tage so bewunderungswürdige Fähigkeiten entwickelt hatte, machte ein Herr mit einem buntscheckigen Gesicht und einer blauen Halsbinde den Vorschlag, es solle jemand einen Rundgesang anstimmen. Natürlich folgte auf diese Zumutung das Ersuchen, der Buntscheckige möge doch selbst singen, wenn es ihm so sehr darum zu tun sei; aber dies lehnte der Buntscheckige standhaft und einigermaßen beleidigt ab, worauf wie das in solchen Fällen nichts Ungewöhnliches ist, eine Art Wortwechsel folgte.

„Meine Herren!“ sagte endlich der Rosselenker. „Um die Eintracht des köstlichen Festes nich zu stören, wird vielleicht Mr. Samuel Weller die Gesellschaft erfreuen.“

„Na, meine Herren“, erwiderte Sam, „ich bin es eigentlich nich gewöhnt, ohne Musikbegleitung zu singen; aber nichts übern ruhiges Leben, wie der Mann sagte, als er die Wächterstelle auf ‚m Leuchtturm annahm.“

Nach diesen einleitenden Worten stimmte er unverzüglich folgende wilde und schöne Romanze an, die wir, in der Voraussetzung, daß sie nicht allgemein bekannt sein dürfte, hier wiedergeben. Wir bitten, eine besondere Aufmerksamkeit der genialen Einschaltung der Endsilben zu schenken, die es nicht nur dem Sänger ermöglicht, an dieser Stelle Atem zu schöpfen, sondern auch das Versmaß sehr unterstützt.

Romanze

Kühn Turpin einst auf der Hounslowhaid
Seine kühne Mähre ritt – hem,
Als er den Wagen des Erzbischofs
Ihm entgegenkommen sieht – hem.
Er sprengt sofort im Galopp herbei
Und steckt seinen Kopf hinein – hem.
Und der Bischof sagt: „Ist ein Ei ein Ei,
So muß das Turpin sein – hem.“

(Chor)

Und der Bischof sagt: „Ist ein Ei ein Ei,
So muß das Turpin sein – hem.“

2

Und Turpin sagt: „Da friß dein Wort
Mit dem bleiernen Kügelein“ – hem,
Setzt ihm ein Pistol an den Mund
Und jagt ihm den Schuß hinein – hem.
Der Kutscher hat das Schießen satt
Und sprengt im Galopp davon – hem.
Doch Dick jagt ihm eins ins Genick,
Da hält der Bursche schon – hem.

(Chor sarkastisch)
Doch Dick jagt ihm eins ins Genick,
Da hält der Bursche schon – hem.

„Das Lied is für den ganzen Stand ’ne Beleidigung“, fiel der Buntscheckige ein. „Ich bitte um den Namen des Kutschers.“

„Unbekannt“, erwiderte Sam. „Hatte keine Karte nich in der Tasche.“

„Ich protestiere gegen das Hereinziehen der Politik“, rief der Buntscheckige erregt. „Ich behaupte, daß das Lied ’ne politische Anspielung is, und was dasselbe is, einfach erstunken und erlogen is. Glaube es einfach nich, daß der Kutscher davonfuhr, sondern daß er im gerechten Kampfe erschossen wurde – oder auf der Jagd, wie ’n Fasan, und rate es niemand, mir zu widersprechen.“

Da der Buntscheckige mit großer Energie und Bestimmtheit sprach und die Ansichten der Gesellschaft über diesen Gegenstand voneinander abzuweichen schienen, so drohte wieder ein neuer Wortwechsel auszubrechen, als gerade im rechten Augenblick die Herren Weller und Pell erschienen.

„All right, Sammy“, sagte Mr. Weller.

„Die Verhaftung wird um vier Uhr stattfinden“, ergänzte Mr. Pell. „Ich hoffe, Sie werden während der Zeit nicht davonlaufen; nicht wahr? Haha!“

„Vielleicht läßt sich mein grausamer Papa bis dahin noch erweichen“, versetzte Sam mit breitem Grinsen.

„Ausgeschlossen“, sagte Mr. Weller senior.

„Bitte, bitte!“ bat Sam.

„Gibt’s nich“, erwiderte der unerbittliche Gläubiger.

„Ich will Monatsraten zu sechs Pence eingehen“, erbot sich Sam.

„Glatt abgelehnt“, entgegnete Mr. Weller.

„Hahaha! Sehr gut, sehr gut!“ lachte Mr. Salomo Pell und legte seine kleine Rechnung vor. „Wahrhaftig ein sehr lustiger Fall. Benjamin, schreib das ab.“ Und wieder lächelte Mr. Pell, als er Mr. Wellers Aufmerksamkeit auf den Betrag der Summe lenkte.

„Danke schöön, danke schöön“, sagte er, als er eine von den schmutzigen Banknoten in Empfang nahm, die Mr. Weller aus seiner Brieftasche hervorgezogen hatte. „Drei Zehner und ein Zehner macht fünf. Sehr verbunden, Mr. Weller. Ihr Sohn ist ein sehr verdienstvoller junger Mann; in der Tat, Sir, ein sehr schöner Charakterzug bei einem jungen Manne – wirklich, ein sehr schöner Zug“, fügte er hinzu, sah sich mit süßem Lächeln in der Gesellschaft um und steckte das Geld ein.

„’n Riesenjux, was?“ lachte Mr. Weller, „’n wahres Wunderkind.“

„Wundert sich nur ein bißchen wenig, Sir“, warf Mr. Pell ein.

„Hat nichts zu sagen, Sir“, versetzte Mr. Weller mit Würde. „Weiß, was die Glocke geschlagen hat, Sir.“

Als der Gerichtsdiener erschien, hatte sich Sam bereits so außerordentlich beliebt gemacht, daß sämtliche Herren den Entschluß faßten, ihn in corpore ins Gefängnis wandern zu sehen. Man brach auf; Kläger und Beklagter gingen Arm in Arm; der Gerichtsdiener schritt voran, und acht wohlgenährte Kutscher bildeten den Nachtrab. Am Sergeants Inn-Kaffeehause machte die ganze Gesellschaft nochmals halt, um Erfrischungen zu sich zu nehmen.

In der Fleetstreet trat durch den Eigensinn der acht Herren in der Nachhut, die durchaus zu viert nebeneinander gehen wollten, eine kleine Störung ein, und man fand es für notwendig, den Buntscheckigen zurückzulassen, der darauf bestand, sich mit einem Zettelträger zu boxen, und erst nach Ausfechtung dieses Kampfes nachkam. Außer diesen unbedeutenden Zufällen ereignete sich unterwegs nichts Denkwürdiges. Als die Herren das Fleettor erreichten, nahmen sie vom Kläger Abschied und brachten dem Beklagten drei donnernde Lebehochs.

Als Sam zum ungeheuren Erstaunen Rokers und zur augenscheinlichen Verwirrung des phlegmatischen Mr. Neddy eingeliefert worden war, schritt er unverzüglich auf das Zimmer seines Herrn zu und pochte an die Tür.

Mr. Pickwick rief: „Herein!“

Sam trat ein, nahm den Hut ab und lächelte.

„Was, du, Sam, mein guter Junge?“ rief Mr. Pickwick, sichtlich erfreut, seinen Getreuen wiederzusehen. „Es lag nicht in meiner Absicht, gestern durch meine Worte deine Gefühle zu verletzen, mein braver Junge. Lege ab, Sam, ich will mich jetzt näher erklären.“

„Muß das gleich sein, Sir?“ fragte Sam.

„Jawohl“, antwortete Mr. Pickwick. „Warum denn nicht?“

„Na, ich würde es ebend lieber später abmachen, Sir. Ich habe da noch ’n kleines Geschäft zu erledigen. Nichts Besonderes, aber ich muß mir erst mal um ein Bett für meine Person kümmern. Ich bin nämlich diesen Nachmittag wegen Schulden verhaftet worden.“

„Du, wegen Schulden verhaftet?“ rief Mr. Pickwick, in einen Stuhl sinkend.

„Ja. Wegen Schulden, Sir, und der Mann, wo mir setzen ließ, will mich nich mehr rauslassen, bis Sie gehen.“

„Gütiger Himmel! Was willst du damit sagen?“ rief Mr. Pickwick aus.

„Na, genau das, was ich gesagt habe, Sir. Und wenn es – vierzig Jahre dauert, denn bin ich ebend solange Gefangener, und es is mir sehr recht so. Und wenn sie in Newgate sitzen würden, denn würde es dasselbe sein. So, nu is es draußen, und damit Schluß; verflucht noch mal!“

Mit diesen Worten, die er mit großer Emphase und Heftigkeit hervorstieß, warf Sam Weller in einem außergewöhnlichen Zustand von Aufregung seinen Hut auf den Boden, verschränkte die Arme und sah seinen Herrn herausfordernd an.

Neunundzwanzigstes Kapitel


Neunundzwanzigstes Kapitel

Wie die Pickwickier die Bekanntschaft zweier feiner junger Herren machten, und wie sie sich auf dem Eise belustigten.

„Nun, Sam“, fragte Mr. Pickwick, als Mr. Weller am Weihnachtsmorgen mit warmem Wasser im Schlafzimmer erschien, „friert es immer noch?“

„Das Wasser im Waschbecken hat ’ne Eismaske aufgesetzt, Sir“, antwortete Sam. „’n prächtiges Wetter, wenn man gut eingewickelt is, wie der Eisbär zu sich selbst sagte, als er Schlittschuh laufen ging.“

„Ich werde in einer Viertelstunde unten sein, Sam“, sagte Mr. Pickwick und knüpfte seine Nachtmütze auf.

„Sehr wohl, Sir“, erwiderte Sam, „es sin ’n paar Beinsäger angekommen.“

„Ein paar was?“ rief Mr. Pickwick und richtete sich im Bette auf.

„’n paar Beinsäger.“

„Was ist denn das, ein Beinsäger?“ fragte Mr. Pickwick, im Zweifel, ob es ein Tier oder etwas zu essen wäre.

„Sie wissen nich, was ’n Beinsäger is, Sir?“ rief Mr. Weller verwundert. „Doch natürlich ’n Feldscher.“

„Oh, ein Chirurg also?“ sagte Mr. Pickwick lächelnd.

„Ganz richtig, Sir. Die unten sind noch keine regelrecht ausgebrüteten Beinsäger, sondern bloß Lehrlinge.“

„Mit andern Worten, es sind Studenten der Medizin, vermutlich?“

Sam Weller nickte bejahend.

„Das freut mich“, sagte Mr. Pickwick und warf seine Nachtmütze mit einem kräftigen Schwung auf die Bettdecke. „Mediziner sind famose, treffliche junge Leute mit durch Beobachtung und Nachdenken gereiftem Urteil und einem durch Lektüre und Studium verfeinerten Geschmack.“

„Sie rauchen Zigarren beim Küchenfeuer“, sagte Sam.

„Aha“, bemerkte Mr. Pickwick und rieb sich die Hände. „Überschuß an jugendlichem Feuer.“

„Und einer davon“, fuhr Sam fort, ohne die Bemerkung Mr. Pickwicks zu beachten, „einer davon hat die Beine auf den Tisch gepackt und trinkt Branntwein unverdünnt; währenddem hat der andre – der Brillenaugust – ’n Fäßchen Austern zwischen den Knien und knackt die Schalen auf wie die Nüsse, und denn lutscht er sie aus, und denn schmeißt er die Schalen nach dem jungen fetten Siebenschläfer, wo in der Kaminecke schläft.“ „Exzentrizitäten des Genies, Sam“, sagte Mr. Pickwick. „Aber du kannst jetzt gehen.“

Sam entfernte sich, und Mr. Pickwick ging nach Verlauf einer Viertelstunde zum Frühstück hinunter.

„Da ist er endlich“, rief ihm der alte Wardle entgegen. „Pickwick, erlaube, daß ich dir Miß Allens Bruder, Mr. Benjamin Allen – Ben, wie wir ihn nennen –, vorstelle. Dieser Herr ist sein spezieller Freund, Mr. Bob Sawyer.“

Mr. Pickwick verbeugte sich, und Bob Sawyer desgleichen, und dann machten sich die beiden jungen Herren mit großem Eifer über das Frühstück her, wobei Mr. Pickwick Gelegenheit hatte, sie genauer zu betrachten.

Mr. Benjamin Allen war ein kräftiger, derbgliedriger, untersetzter junger Mann mit schwarzem kurzgeschnittnem Haar und einem blassen, etwas langen Gesicht. Er trug eine Brille und ein weißes Halstuch. Unter seinem einreihigen schwarzen Oberrock, der bis ans Kinn zugeknöpft war, erschien die übliche Zahl pfeffer- und salzfarbiger Beine, mit ein Paar mangelhaft geputzten Stiefeln an den unteren Enden. Obwohl die Ärmel seines Rockes kurz waren, so zeigte sich doch keine Spur von Manschetten, wie auch sein Gesicht, wenn auch lang genug, um eine Verkürzung durch Vatermörder recht gut zu vertragen, einer solchen Zierde entbehrte. Überhaupt schien das ganze Äußere des Jünglings vom Meltau heimgesucht zu sein, während es zugleich intensiv nach den Wohlgerüchen Kubas duftete.

Mr. Bob Sawyer, in einen groben blauen Rock, ein Mittelding zwischen Gehrock und Überzieher, gekleidet, besaß die nachlässige, windbeutelhafte Art, die gewissen jungen Herren, die bei Tage auf der Straße rauchen, bei Nacht toben und lärmen, die Kellner bei ihren Taufnamen rufen und sich durch ähnliche ungezwungne Handlungen auszeichnen, eigen ist. Er trug ein Paar gestreifte Beinkleider, eine zottige geschloßne Weste mit zwei Reihen Knöpfen und beim Ausgehen einen dicken Stock mit einem großen Knopf. Handschuhe vermied er geflissentlich, und im großen und ganzen sah er wie ein liederlicher Robinson Crusoe aus.

Das waren die zwei Gentlemen, denen Mr. Pickwick vorgestellt wurde, als er am Christtag seinen Sitz am Frühstückstisch ein nahm.

„Ein herrlicher Morgen, meine Herren“, begann er liebenswürdig die Unterhaltung.

Mr. Bob Sawyer nickte beifällig und bat Benjamin Allen tun den Senf.

„Kommen Sie von weither, meine Herren?“

„Vom ,Blauen Löwen‘ zu Muggleton“, antwortete Mr. Allen kurz.

„Sie hätten gestern abend bei uns sein sollen“, sagte Mr. Pickwick.

„Ja, hätten sollen“, erwiderte Bob Sawyer. „Aber der Brandy war zu gut, als daß man so schnell hätte abkommen können. Nicht wahr, Ben?“

„Gewiß“, bestätigte Mr. Benjamin Allen. „Auch die Zigarren waren nicht übel und der Schweinebraten ebenfalls nicht. Was, Bob?“

„Allerdings“, entgegnete Bob. Und die Busenfreunde erneuerten ihren Angriff auf das Frühstück mit größerem Eifer als zuvor. Die Erinnerung an die gestrige Abendmahlzeit schien ihre Eßlust aufs neue gereizt zu haben.

„Säbel noch eins herunter, Bob“, ermunterte Mr. Allen seinen Gefährten.

„Machen wir“, erwiderte Bob Sawyer verständnisvoll.

„Geht nichts übers Sezieren. Das macht Appetit“, sagte er dabei und ließ seine Blicke über die Gesellschaft schweifen.

Mr. Pickwick überlief ein leichter Schauder.

„Apropos, Bob“, sagte Mr. Allen, „bist du bald zu Ende mit deinem Fuß?“

„Fast“, erwiderte Sawyer und bediente sich mit einem halben Huhn. „Er ist sehr muskulös für einen Kinderfuß.“

„So?“ versetzte Mr. Allen nachlässig.

„Hm, ja“, entgegnete Bob Sawyer, mit vollem Munde kauend.

„Ich habe auf einen Arm subskribiert“, sagte Mr. Allen. „Wir legen für eine ganze Leiche zusammen. Die Liste ist bald voll, nur haben wir noch niemand bekommen können, der einen Kopf braucht. Kannst du nicht einen brauchen?“

„Nein“, erwiderte Bob Sawyer, „meine Mittel erlauben mir das nicht.“

„Lächerlich!“ meinte Allen.

„Nein, nein. Wirklich nicht“, entgegnete Bob Sawyer. „Ein Gehirn ließe ich mir noch gefallen, aber für einen ganzen Kopf langt’s nicht.“

„St, st, meine Herren, bitte“, warnte Mr. Pickwick, „ich höre die Damen.“ Und schon traten die Damen, galant geleitet von den Herren Snodgraß, Winkle und Tupman, heimgekehrt von einem Morgenspaziergang, ins Zimmer.

„Um Gottes willen, du, Ben?“ rief Arabella in einem Ton, der mehr Erstaunen als Vergnügen beim Anblick ihres Bruders ausdrückte.

„Bin gekommen, dich morgen nach Hause zu bringen“, erwiderte Benjamin.

Mr. Winkle erblaßte und wandte sich ab.

„Aber siehst du denn Bob Sawyer nicht, Arabella?“ fügte Ben vorwurfsvoll hinzu.

Arabella reichte Bob Sawyer anmutig die Hand, und Ingrimm erfüllte Mr. Winkles Herz, als Bob Sawyer dieselbe augenscheinlich mit großem Eifer ergriff und tüchtig drückte.

„Lieber Ben“, sagte Arabella errötend, „bist du – bist du Mr. Winkle schon vorgestellt worden?“

„Bis jetzt nicht. Wird mir aber ein Vergnügen sein, Arabella“, erwiderte Mr. Ben Allen mit Zurückhaltung und verbeugte sich kühl gegen Mr. Winkle, während dieser und Mr. Bob Sawyer mißtrauische Blicke miteinander wechselten.

Die Ankunft der zwei neuen Gäste und die daraus resultierende gezwungene Stimmung zwischen Mr. Winkle und der jungen Dame mit den Pelzstiefeln würden wahrscheinlich eine sehr unangenehme Unterbrechung in der allgemeinen Heiterkeit hervorgebracht haben, hätten nicht der fröhliche Sinn Mr. Pickwicks und der gute Humor Mr. Wardles befreiend gewirkt. Mr. Winkle setzte sich allmählich in Gunst bei Benjamin Allen und knüpfte sogar eine Unterhaltung mit Bob Sawyer an, der, durch Brandy, Frühstück und Gespräch belebt, nach und nach sehr aufgeräumt wurde und mit großem Behagen eine Geschichte von einer Kopfgeschwulstoperation erzählte, die er an Hand eines Austernmessers und eines Laibes Brot zur Erbauung der versammelten Gesellschaft genau demonstrierte. Dann begab sich alles in die Kirche, wo Mr. Benjamin Allen fest einschlief, während Mr. Bob Sawyer seine Gedanken von weltlichen Dingen dadurch ablenkte, daß er seinen Namen mit vier Zoll langen Buchstaben in den Kirchenstuhl einschnitt.

„Nun“, sagte Mr. Wardle nach einem sehr ausgiebigen Lunch mit den entsprechenden Mengen Doppelbier und Kirschgeist. „Was meinen Sie zu einer Stunde auf dem Eis? Wir haben noch massenhaft Zeit.“

„Kapital!“ sagte Mr. Allen.

„Fein!“ rief Mr. Bob Sawyer.

„Sie laufen doch Schlittschuh, Winkle?“ fragte Mr. Wardle.

„Ja. Hm, ja. Natürlich“, erwiderte Mr. Winkle. „Ich – ich – bin nur ein wenig aus der Übung.“

„Ach ja, bitte, laufen Sie Schlittschuh, Mr. Winkle“, rief Arabella. „Ich sehe es so gern.“

„Es ist so graziös“, fiel eine andre junge Dame ein, und eine dritte meinte, es wäre elegant, und eine vierte drückte ihre Ansicht dahin aus, daß es „schwanengleich“ wäre.

„Ich würde es mit Vergnügen tun“, sagte Mr. Winkle, und wurde rot, „aber ich habe keine Schlittschuhe.“

Dieser Einwurf war alsbald beseitigt, Trundle besaß ein Paar, und der feiste Junge erklärte, unten sei noch ein halbes Dutzend, worüber Mr. Winkle, wenn auch mit sehr betretenem Gesicht, große Freude bezeigte.

So führte denn der alte Mr. Wardle die Gesellschaft zu der Eisbahn, und der feiste Junge und Mr. Weller schaufelten und kehrten den Schnee weg, der über Nacht gefallen war. Bob Sawyer schnallte sogleich seine Schlittschuhe mit einer Gewandtheit an, die Mr. Winkle wahrhaft wunderbar vorkam, beschrieb abwechselnd mit dem linken und rechten Bein einen Achter und führte unermüdlich noch viele andre erstaunliche Künste auf dem Eise aus, alles zum unsäglichen Vergnügen Mr. Pickwicks, Mr. Tupmans und der jungen Damen, deren Entzücken seinen Höhepunkt erreichte, als der alte Mr. Wardle und Benjamin Allen, assistiert durch Bob Sawyer, allerlei mystische Evolutionen, die sie einen Eistanz nannten, zum besten gaben.

Unterdessen hatte Mr. Winkle, blau vor Kälte an Gesicht und Händen, ein Loch in seine Schuhsohlen gebohrt, seine Schlittschuhe verkehrt angezogen und die Riemen in einen gordischen Knoten geschürzt, unterstützt von Mr. Snodgraß, der noch weniger Kenntnis vom Eissport hatte als ein Hindu. Endlich waren mit Hilfe Mr. Wellers die unheilvollen Eisen befestigt, und Mr. Winkle stellte sich auf die Füße.

„Also los, Sir!“ ermutigte Sam. „Los! Und zeigen Sie, was Sie können.“

„Halt, Sam, halt“, rief Mr. Winkle und erhaschte heftig zitternd Sams Arm, wie ein Ertrinkender. „Es ist furchtbar glatt hier.“

„Kunststück! Auf ‚m Eis!“ erwiderte Mr. Weller. „Hö, hö, Sir!“

Der letzte Ausruf Mr. Wellers bezog sich auf eine Demonstration Mr. Winkles, die ganz so aussah, als wolle er nach Art eines Parterreakrobaten die Beine in die Luft werfen und einen Salto nach rückwärts vollführen.

„Das – das – sind ja entsetzliche Schlittschuhe. Nicht wahr, Sam?“ stammelte Mr. Winkle und griff in der Luft herum.

„Also, was ist denn, Winkle, kommen Sie doch; die Damen warten schon“, rief Mr. Pickwick, ahnungslos, wie die Sache stand.

„Jaja“, erwiderte Mr. Winkle mit krampfhaftem Lächeln. „Ich komme schon.“

„Er kommt schon“, sagte Sam und trachtete sich loszumachen. „Also, Sir, los jetzt!“

„Nur noch einen Augenblick, Sam“, keuchte Mr. Winkle, sich fest an Mr. Weller klammernd. „Es fällt mir gerade ein, ich habe ein paar Röcke zu Hause, die ich nicht brauche, Sam. Ich schenke sie Ihnen, Sam.“

„Danke schönstens, Sir“, erwiderte Mr. Weller.

„Sie brauchen nicht an den Hut zu greifen, Sam“, sagte hastig Mr. Winkle. „Halten Sie mich lieber fest. Ich wollte Ihnen heute morgen fünf Schilling zu Weihnachten schenken, Sam. Ich werde sie Ihnen nachmittags geben, Sam.“

„Sie sin sehr gütig, Sir“, erwiderte Mr. Weller.

„Halten Sie mich noch ein wenig, Sam. Wollen Sie? So, so ist’s recht. Ich werde bald v/wieder hineinkommen, Sam. Nur nicht zu schnell, Sam, nicht zu schnell.“ Und Mr. Winkle segelte, den Oberkörper vorgebeugt, unter Beihilfe Mr. Wellers, auf nichts weniger als schwanengleiche Weise dahin, als Mr. Pickwick in seiner Unschuld von drüben herüberrief:

„Sam!“

„Sir?“ rief Mr. Weller zurück.

„Komm mal her. Ich brauche dich.“

„Lassen Sie los, Sir!“ sagte Sam. „Hören Sie nicht, mein Herr ruft mir? Lassen Sie los, Sir.“

Mit einer gewaltsamen Anstrengung befreite sich Mr. Weller von dem Griff des tödlich erschrockenen Mr. Winkle und gab ihm dabei einen kräftigen Schwung. Mit einer Genauigkeit, wie es weder Gewandtheit noch große Übung besser hätten bewirken können, sauste der unglückliche Gentleman mitten in den Eistanz hinein, gerade als Mr. Bob Sawyer einen Bogen von unvergleichlicher Schönheit beschrieb. Mit lautem Krach taten beide einen schweren Fall. Im Augenblick war Mr. Pickwick zur Stelle. Bob Sawyer stand bereits wieder auf den Beinen, aber Mr. Winkle war viel zu klug, ihm so etwas auf Schlittschuhen nachzumachen. Er blieb vielmehr auf dem Eise sitzen und machte krampfhafte Versuche zu lächeln, doch die Angst malte sich nur zu deutlich in seinen Zügen.

„Haben Sie sich verletzt?“ fragte Mr. Benjamin Allen voll Eifer.

„Nicht besonders“, sagte Mr. Winkle und rieb sich den Rücken.

„Wenn Sie wollen, lasse ich Sie zur Ader“, erbot sich Mr. Benjamin Allen freudig.

Nein, nein, ich danke Ihnen“, lehnte Mr. Winkle hastig ab.

„Ohne Spaß, Sie täten besser daran.“

„Nein, nein, ich danke“, erwiderte Mr. Winkle. „Wirklich nicht.“

„Was meinen Sie, Mr. Pickwick?“ mischte sich Bob Sawyer ein.

Mr. Pickwick war aufgebracht und unwillig. Er winkte Mr. Weller und sagte mit fester Stimme:

„Nimm ihm seine Schlittschuhe ab.“

„Aber ich habe doch eben erst angefangen“, wandte Mr. Winkle ein.

„Nimm ihm seine Schlittschuhe ab!“ wiederholte Mr. Pickwick streng.

Dagegen gab es keinen Widerspruch, und Mr. Winkle ließ sich stillschweigend die Eisen abschnallen.

„Hilf ihm auf“, befahl Mr. Pickwick. Dann entfernte er sich einige Schritte von den Umstehenden, winkte seinem Jünger, heftete einen durchbohrenden Blick auf ihn und sprach in leisem, aber vernehmlichem Tone die inhaltsschweren Worte:

„Sie sind ein Aufschneider, Sir!“

„Was bin ich?“ fuhr Mr. Winkle auf.

„Ein Aufschneider, Sir! Ich will deutlicher sprechen, wenn Sie es wünschen. Ein Schwindler, Sir!“

Mit diesen Worten drehte sich Mr. Pickwick auf dem Absatz um und ging zu seinen Freunden zurück.

Mittlerweile hatten Mr. Weller und der feiste Junge mit vereinten Kräften eine Schlitterbahn zurechtgemacht und glitten meisterhaft und mit Glanz dahin. Sam Weller insbesondere produzierte die kunstvolle Art des Schlitterns, die unter der Bezeichnung „an des Schuhflickers Tür anklopfen“ bekannt ist und darin besteht, daß man den einen Fuß aufhebt und mit ihm gelegentlich einen Doppelschlag auf das Eis gibt, wie ein Briefträger. Es war eine gute, lange Bahn, und die Bewegung hatte für Mr. Pickwick, der vom Stillstehen tüchtig durchfroren war, etwas Verlockendes.

„Allem Anschein nach eine treffliche Art, um sich warm zu machen, nicht wahr?“ sagte er zu Mr. Wardle, der infolge seiner unablässigen Anstrengungen, komplizierte Figuren m das Eis zu ritzen, schon ganz außer Atem war.

„Ja, das ist es“, erwiderte Wardle. „Schlitterst du?“

„Ich pflegte wohl in Gossen zu schlittern, als ich noch ein Knabe war“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Na, dann versuch’s doch mal“, riet Wardle.

„Ach ja, ja, bitte, Mr. Pickwick“, riefen sämtliche jungen Damen.

„Ich würde mich sehr glücklich schätzen, zu Ihrer Erheiterung etwas beizutragen“, erwiderte Mr. Pickwick, „aber wirklich, ich habe es seit dreißig Jahren nicht mehr probiert.“

„Lächerlich! Unsinn!“ sagte Wardle und legte seine Schlittschuhe mit jenem Ungestüm ab, das alle seine Handlungen charakterisierte. „Komm nur! Ich mache auch mit.“ Und der muntere alte Knabe sauste die Bahn hinunter, mit einer Geschwindigkeit, daß er fast Mr. Weller über den Haufen rannte und der Ruhm des feisten Jungen zu nichts verblaßte.

Mr. Pickwick besann sich eine Weile, zog seine Handschuhe aus, warf sie in seinen Hut, nahm zwei oder drei kurze Anläufe, hielt ebensooft wieder an und glitt endlich unter dem Beifallsgeschrei aller Zuschauer langsam und gravitätisch dahin, die Füße ungefähr anderthalb Ellen auseinandergespreizt.

„Halten Sie den Topf im Kochen, Sir. Nur so weiter“, rief Sam, und Wardle nahm einen zweiten Anlauf, und dann Mr. Pickwick, und dann Sam und Mr. Winkle und Bob Sawyer, der feiste Junge und Mr. Snodgraß, einer hinter dem andern, alle mit einem Eifer, als ob ihr künftiges Lebensglück davon abhinge.

Unendlich fesselnd war der Anblick, wie Mr. Pickwick seiner Aufgabe nachkam, die Seelenangst, mit der er auf seinen Hintermann blickte und ihn immer näher kommen sah, wie er sich langsam auf der Bahn umdrehte, mit dem Gesicht gegen den Punkt, von dem er ausgegangen, wenn seine Anfangsgeschwindigkeit nachließ, das heitere Lächeln zu betrachten, das sich über sein Antlitz verbreitete, wenn er am Ende der Bahn war, und die Geschwindigkeit, mit der er wieder einlenkte und seinem Vorgänger nachrannte, mit den schwarzen Gamaschen fröhlich durch den Schnee stampfend, die Augen blitzend vor Frohsinn und Heiterkeit hinter seinen Brillengläsern. Und wenn er niedergeworfen wurde, was sich im Durchschnitt jedes dritte Mal zutrug, so war es das entzückendste, was man sich denken konnte, ihm zuzusehen, wie er mit glühendem Antlitz Hut, Handschuhe und Sackruch aufhob und seine Stelle in der Reihe mit einem Feuereifer wieder einnahm, den nichts zu hemmen vermochte. Das Schlittern war in vollem Gange, der Jubel wurde immer lauter, da ertönte plötzlich ein heftiges Krachen. Alles rannte dem Ufer zu, die Damen schrien, und Mr. Tupman rief um Hilfe. Eine grolle Eismasse war eingebrochen, das Wasser wogte darüber her, und Mr. Pickwicks Hut, Handschuhe und Taschentuch schwammen auf der Oberfläche. Das war alles, was man von dem Gelehrten sehen konnte.

Schrecken und Angst malten sich auf jedem Gesicht, die Herren wurden blaß und die Damen ohnmächtig. Mr. Snodgraß und Mr. Winkle hielten einander an der Hand und starrten entsetzten Blickes nach der Stelle, wo der Meister verschwunden war, während Mr. Tupman, um schleunigst Hilfe zu scharfen und zugleich allen, die sich im Hörbereich befanden, die möglichst deutliche Vorstellung von dem Unfall zu geben, querfeldein rannte und aus Leibeskräften „Feurio!“ schrie.

Fast im selben Augenblick, als der alte Mr. Wardle und Sam Weller sich dem Eisloch vorsichtig näherten und Mr. Benjamin Allen eiligst mit Mr. Bob Sawyer sich über die Zweckmäßigkeit beriet, die ganze Gesellschaft zur Ader zu lassen, um sich ein wenig in ihrer Praxis zu üben – im selben Augenblick tauchte ein Kopf bis zu den Schultern aus dem Wasser auf und zeigte das Antlitz und die Brille Mr. Pickwicks.

„Halten Sie sich einen Augenblick, nur einen einzigen Augenblick!“ kreischte Mr. Snodgraß.

„Ja, tun Sie es! Ich beschwöre Sie, um meinetwillen!“ schrie fassungslos Mr. Winkle.

Die Beschwörung war eigentlich unnötig; denn selbst für den Fall, daß es Mr. Pickwick abgelehnt hätte, sich um eines andern willen über Wasser zu halten, würde er es doch wahrscheinlich um seiner selbst willen getan haben.

„Hast du Grund, alter Freund?“ fragte Wardle.

„Ja, gewiß“, keuchte Mr. Pickwick, sich das Wasser von £0pf und Gesicht schüttelnd und nach Luft schnappend. „Ich bin auf den Rücken gefallen. Ich konnte nicht gleich festen Fuß fassen.“

Der Schlamm auf Mr. Pickwicks Rock – soweit dieser noch sichtbar war – bezeugte die Richtigkeit seiner Aussage; überdies minderten sich die Besorgnisse der Zuschauer, als der feiste Junge sich plötzlich erinnerte, daß die Wassertiefe nirgends über fünf Fuß betrug. Nun wurden allenthalben Anstrengungen gemacht, den Gelehrten herauszuziehen. Unter vielem Planschen und Krachen und Strampeln gelang es auch, Mr. Pickwick aus seiner unbehaglichen Lage zu befreien, so daß er plötzlich wieder auf festem Boden stand.

„Ach, er wird sich den Tod holen in der Kälte“, jammerte Emilie.

„Der liebe alte Herr!“ sagte Arabella. „Darf ich Sie in meinen Schal wickeln, Mr. Pickwick?“

„Ja, das ist das beste, was du tun kannst“, sagte Wardle, „und wenn du eingewickelt bist, dann lauf nach Hause, so schnell deine Beine dich tragen, und hopse gleich ins Bett.“

Im Nu war ein Dutzend Schale zur Hand, worunter die drei oder vier dicksten ausgesucht und um Mr. Pickwick geschlungen wurden, der sich dann unter Führung von Mr. Weller in Bewegung setzte. Er bot nun einen einzigartigen Anblick: ein älterer, triefender Herr ohne Hut, die Arme seitlich an den Körper gebunden, der ohne ersichtlichen Grund mit einer Geschwindigkeit von sechs englischen Meilen pro Stunde durch die Gegend hetzte.

Natürlich dachte Mr. Pickwick in einem so ernsten Fall nicht an den äußeren Schein. Fortgezogen von Sam Weller, eilte er, was er nur konnte, bis er Manor Farm erreicht hatte, wo Mr. Tupman bereits fünf Minuten zuvor angekommen war und die alte Mrs. Wardle bis zum Herzklopfen erschreckt hatte, indem er ihre fixe Idee, es brenne im Kamin – ein Unglück, das sich ihrem Geiste stets in glühenden Farben darstellte, so oft jemand in ihrer Nähe die geringste Unruhe zeigte –, durch sein Benehmen wieder geweckt hatte.

Als Mr. Pickwick wohlverwahrt im Bett lag, fachte Weller ein helloderndes Feuer an und trug das Mittagessen auf. Der alte Wardle wollte nichts von Aufstehen hören braute eine Bowle Punsch und arrangierte zur Feier der glücklichen Rettung ein großes Trinkgelage, bei dem Mr. Pickwick im Bett den Vorsitz führte. Als er am nächsten Morgen erwachte, war kein Symptom von Erkältung an ihm zu bemerken, ein Beweis, wie Mr. Bob Sawyer ganz richtig bemerkte, daß in solchen Fällen nichts über den Punsch geht, wenn nicht der Patient in den gewöhnlichen Fehler verfällt, zuwenig davon zu trinken.

Die fröhliche Gesellschaft trennte sich am nächsten Morgen. Mr. Pickwick und seine Freunde nahmen ihre Sitze oben auf der Muggletonkutsche wieder ein, und Arabella Allen reiste unter dem Schutz ihres Bruders Benjamin und seines intimen Busenfreundes, Mr. Bob Sawyers, nach ihrem Bestimmungsort ab. Wo dieser sein mochte, war Mr. Winkle wohlbekannt. Wir haben uns vergeblich bemüht, ihn zu eruieren.

Ehe sie schieden, nahmen Mr. Bob Sawyer und Mr. Benjamin Allen mit geheimnisvollen Mienen Mr. Pickwick beiseite. Mr. Bob Sawyer legte seinen Zeigefinger zwischen zwei Rippen Mr. Pickwicks, um den Mediziner herauszukehren, und fragte burschikos:

„Alter Knabe, wo hausen Sie eigentlich?“

Mr. Pickwick erwiderte, daß er gegenwärtig sein Quartier im „Georg und Geier“ aufgeschlagen habe.

„Da könnten Sie mich mal besuchen kommen“, meinte Bob Sawyer.

„Nichts würde mir ein größeres Vergnügen machen.“

„Meine Wohnung ist“, sagte Mr. Bob Sawyer und zog eine Visitenkarte hervor, „Landstreet, Borough, nahe bei Guys und deshalb bequem für mich. Wenn Sie an der St.-Georgen-Kirche vorbei sind, führt der Weg ein klein wenig rechter Hand von Highstreet ab.“

„Ich werde es schon finden“, meinte Mr. Pickwick, und dann schüttelten sie sich die Hände und verabschiedeten sich.

Mr. Winkle und Mr. Snodgraß hatten sich währenddessen angelegentlichst mit Arabella Allen beziehungsweise mit Emilie Wardle im Flüsterton unterhalten. Um so schweigsamer waren sie später auf der Reise. Zu Mr. Pickwick oder Mr. Tupman sprachen sie volle achtundzwanzig Meilen auch nicht ein Wort, seufzten sehr oft, verschmähten Ale und Brandy und sahen düster darein. Der Grund dazu entzieht sich vollständig unsrer Beurteilung.

Dreißigstes Kapitel


Dreißigstes Kapitel

Handelt lediglich von Gerichtspraxis und verschiedenen bedeutenden Rechtsgelehrten.

Verstreut in den vielen Trakten und Winkeln des „Tempels“ liegen gewisse düstere und schmutzige Zimmer, in denen selbst während der Gerichtsferien den ganzen Vormittag über und während der Sitzungsperiode auch noch den ganzen Nachmittag lang bis in den halben Abend hinein ein fast ununterbrochenes Kommen und Gehen von Menschen herrscht, die Aktenbündel unter den Arm geklemmt oder aus den Taschen heraushängen haben: es sind die Advokatenschreiber.

Es gibt bekanntlich verschiedene Klassen von Advokatenschreibern. Da ist vor allem der Volontär, der bezahlt hat und ein Rechtsanwalt in spe ist. Er hat Jahresrechnung beim Schneider, verkehrt in Gesellschaften, kennt eine Familie in Gowerstreet und eine andre in Tavistocksquare, besucht in den Ferien seinen Vater, der eine Unzahl Pferde hält – kurz, er ist der Aristokrat unter den Schreibern. Dann kommt im Rang der salarierte Schreiber, der den größten Teil seines Wochengehaltes von dreißig Schilling auf sein Vergnügen und seine Garderobe verwendet, wenigstens dreimal wöchentlich zu halbem Preis ins Adelphitheater geht, darauf in den Mostkellern eine Orgie feiert und eine Art schäbige Karikatur der vorletzten Mode ist. Dann gibt es noch den Kopisten, den Mann in mittleren Jahren, mit einer großen Familie, immer abgeschabt gekleidet und öfters betrunken, und endlich die kleinen Praktikanten in ihren ersten Überröcken, die auf die Schuljugend mit Verachtung herabsehen und, wenn sie abends die Schreibstube verlassen und in die Kneipe rennen, denken: Es geht doch nichts über das „Leben“.

Diese abgelegenen Winkel sind die Werkstätten des Gesetzes, wo Vorladungen ausgefertigt, Gutachten unterzeichnet, Klagen eingeleitet und eine Menge andrer sinnreicher Maschinerien in Bewegung gesetzt werden, die zur Marter der getreuen Untertanen Seiner Majestät und zu Nutz und Frommen der Juristen erfunden sind. Die meisten dieser Stuben sind niedrige, dumpfe Gemächer, in denen zahllose Pergamentrollen, modrig schon seit einem Jahrhundert, ihren angenehmen Geruch tagsüber mit dem Aroma der Trockenfäule und abends mit den verschiedenen Ausdünstungen nasser, dampfender Mäntel, triefender Regenschirme und schlechtester Talglichter vermischen.

Eines Abends, ungefähr zehn bis vierzehn Tage nach der Rückkehr Mr. Pickwicks und seiner Freunde, erschien gegen halb acht Uhr in einer dieser Gerichtsstuben in großer Eile ein junger Mensch in einem braunen Überrock mit messingenen Knöpfen, das lange Haar unter dem Rand des abgetragenen Hutes sorgfältig gescheitelt und die beschmutzte grobe Hose so straff über die Blücherstiefel gezogen, daß die Knie jeden Augenblick aus ihrer Verhüllung hervorzubrechen drohten, und zog aus seiner Rocktasche einen langen, schmalen Pergamentstreifen, auf den der diensthabende Schreiber einen unleserlichen schwarzen Stempel drückte. Dann legte er vier Papierschnitzel von ähnlichen Dimensionen vor, deren jeder eine gedruckte Abschrift des Pergamentstreifens enthielt – mit einem freien Raum darunter für einen Namen –, ließ die freien Räume ausfüllen, steckte die fünf Dokumente wieder in die Tasche und enteilte.

Der Mann mit dem braunen Rock und den geheimnisvollen Dokumenten war Mr. Jackson von Dodson und Fogg, Freemans Court, Cornhill. Statt aber in die Schreibstube zurückzukehren, aus der er gekommen war, lenkte er seine Schritte gerade auf Sun Court zu und ging in den „Georg und Geier , wo er nach Mr. Pickwick verlangte.

„Wie ist Ihr Name, Sir?“ fragte der Kellner.

„Jackson.“

Der Kellner eilte die Treppe hinauf, um Mr. Jackson zu melden, aber dieser überhob ihn der Mühe, folgte ihm auf dem Fuße nach und trat ins Zimmer, ehe jener noch eine Silbe hervorzubringen vermochte. Mr. Pickwick hatte seine drei Freunde zu Tisch geladen, und die Herren saßen vor dem Kamin gerade beim Wein.

„Wie geht’s, Sir?“ fragte Mr. Jackson und nickte Mr. Pickwick zu.

Der leutselige Gelehrte verbeugte sich und sah etwas verblüfft drein, denn Mr. Jacksons Züge waren seinem Gedächtnis nicht mehr gegenwärtig. „Ich komme von Dodson und Fogg“, bemerkte Mr. Jackson erklärend.

Mr. Pickwick erhob sich empört.

„Ich verweise Sie an meinen Anwalt, Sir, Mr. Perker in Grays Inn“, sagte er. „Kellner, begleiten Sie den Herrn wieder hinaus.“

„Bitte um Entschuldigung, Mr. Pickwick“, fiel Jackson ein, legte ungeniert seinen Hut ab und zog den Pergamentstreifen aus der Tasche, „es handelt sich um persönliche Einhändigung. Sie verstehen, Mr. Pickwick, in solchen Fällen geht nichts über Vorsicht – wie?“

Dabei warf Mr. Jackson einen Blick auf das Pergament, stützte sich mit den Händen auf den Tisch, sah sich mit gewinnendem und beredtem Lächeln ringsum und fuhr ungeniert fort:

„Also zur Sache. Welcher von den Herren nennt sich Snodgraß?“

Bei dieser Frage machte Mr. Snodgraß eine so unzweideutige und lebhafte Bewegung, daß es keiner weiteren Erklärung bedurfte.

„Habe mir’s gleich gedacht“, sagte Mr. Jackson noch freundlicher als zuvor. „Ich habe hier eine Kleinigkeit, womit ich Sie belästigen muß, Sir.“

„Mich?“ rief Mr. Snodgraß.

„Es ist nur eine Zeugenvorladung in Sachen Bardell kontra Pickwick“, erwiderte Jackson, suchte unter den Papierstreifen einen heraus und zog einen Schilling aus der Westentasche. „Der Termin ist auf den vierzehnten Februar anberaumt; wir haben eine Vorverhandlung beantragt. Da ist Ihre Vorladung, Mr. Snodgraß.“

Mit diesen Worten drückte Jackson Mr. Snodgraß das Papier und den Schilling in die Hand und wiederholte das Manöver mit Lebendigkeit bei Mr. Tupman und Mr. Winkle.

„Sie werden mich vielleicht für aufdringlich halten“, fuhr er fort, „aber ich muß noch nach jemand fragen. Ich habe hier noch den Namen Samuel Weller stehen, Mr. Pickwick.“

„Schicken Sie nach meinem Diener, Kellner“, befahl Mr. Pickwick. Der Kellner entfernte sich äußerst erstaunt, und Mr. Pickwick bot Mr. Jackson einen Stuhl an.

Nach einer längern Pause peinlichen Stillschweigens sagte der Gelehrte mit steigendem Unwillen:

„Ich vermute, Sir, Ihre Prinzipale haben die Absicht, durch das Zeugnis meiner eigenen Freunde Beweismaterial für meine angebliche Schuld gegen mich zu sammeln?“

Mr. Jackson legte seinen Zeigefinger an die Nase, um dadurch anzudeuten, daß er nicht aus der Schule schwatzen dürfe.

„Wozu werden denn meine Freunde vorgeladen, wenn nicht aus diesem Grunde?“

„Eine verfängliche Frage, Mr. Pickwick“, erwiderte Jackson kopfschüttelnd. „Kann wirklich nicht dienen. Nützt alles nichts. Aus mir werden Sie nichts herausbringen. Nein, nein, Mr. Pickwick“, setzte er hinzu. „Perkers Leute müssen den Zweck dieser Vorladungen schon selbst erraten. Wenn’s ihnen nicht gelingt, so müssen sie eben warten, bis die Sache verhandelt wird.“

Mr. Pickwick warf einen Blick höchsten Widerwillens auf seinen unwillkommenen Gast und würde wahrscheinlich Fluch und Verdammnis auf die Häupter der Herren Dodson und Fogg herabgerufen haben, hätte ihn nicht in diesem Augenblick Sams Eintritt unterbrochen. „Samuel Weller?“ fragte Mr. Jackson.

„Das is eins von den wahrhaftigsten Worten, wo Sie seit vielen Jahren gesagt haben“, versetzte Sam gelassen.

„Hier ist eine sub poena für Sie, Mr. Weller“, sagte Jackson.

„Was heißt das in unserer Muttersprache?“ fragte Sam.

„Hier ist das Original“, fuhr Jackson fort, ohne sich auf verlangte Erklärung einzulassen.

„Welches?“

„Dieses hier“, erwiderte Jackson und hielt das Pergament hin.

„So, so, das ist also das Original“, sagte Sam. „Na, das freut mich aber. Da fällt mir richtiggehend ’n Stein vom Herzen.“

„Und hier ist der Schilling“, fuhr Jackson fort. „Von Dodson und Fogg.“

„Ach, das is ja ungemein hübsch von Dodson und Fogg, wo die mir doch so wenig kennen, daß sie mir ’n Präsent schicken“, sagte Sam. „Ich empfinde es als ein großes Kompliment, Sir, und es macht denen sehr viel Ehre, daß sie Verdienste belohnen, wo sie welche finden. Es schlägt einem direkt aufs Gemüt.“

Bei diesen Worten rieb sich Mr. Weller theatralisch mit dem Rockärmel das rechte Augenlid.

Mr. Jackson schien durch Sams Benehmen ein wenig aus der Fassung gebracht, aber da er sich seiner Vorladungen entledigt hatte und nichts weiter zu sagen wußte, machte er eine Bewegung, als wenn er den einzigen Handschuh, den er des guten Eindrucks wegen immer in der Hand trug, anziehen wollte, und kehrte in seine Kanzlei zurück, um Rapport zu erstatten.

Mr. Pickwick schlief in dieser Nacht wenig; man hatte seinem Gedächtnis einen reichlich unangenehmen Denkzettel wegen der Bardellschen Klage verabfolgt.

Er frühstückte am folgenden Morgen beizeiten und machte sich in Sams Begleitung nach dem Grays-Inn-Viertel auf den Weg.

„Sam!“ sagte er, als sie das Ende von Cheapside erreicht hatten, sah einige Sekunden lang seinem Diener mit einem leeren Blick ins Gesicht und stieß einen schweren Seufzer aus.

„Was is Ihnen, Herr?“ fragte Sam.

„Also am Vierzehnten nächsten Monats soll die Sache zur Verhandlung kommen.“

„Ein merkwürdiges Zusammentreffen das, Sir“, versetzte Sam.

„Wieso, merkwürdig, Sam?“

„’s is gerade Valentinstag, Sir“, erwiderte Sam scherzend „’n sehr geeigneter Tag zu ’ner Gerichtsverhandlung wegen Bruchs eines Eheversprechens.“

Mr. Wellers Anspielung rief nicht das geringste Lächeln auf seines Herrn Gesicht hervor. Mr. Pickwick wandte sich um und nahm schweigend seinen Weg wieder auf.

Sie waren eine Strecke weit gegangen – Mr. Pickwick in tiefes Nachdenken versunken voraus –, als Sam, entschlossen, seinen Herrn aufzuheitern, seine Schritte beschleunigte, bis er hart hinter ihm stand, und auf ein Haus deutend, an dem sie vorüberkamen, sagte:

„Ein sehr hübscher Fleischladen das, Sir.“

„Ja, es scheint“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Berühmte Wurstfabrik.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich“, wiederholte Sam mit wichtiger Miene; „das will ich meinen. Gott segne Ihre unschuldigen Augenbrauen; das is doch dasselbe Haus, wo vor ’n paar Jahren ’n achtbarer Handelsmann auf geheimnisvolle Weise verschwand.“

„Er wurde doch nicht ermordet, Sam?“ fragte Mr. Pickwick, sich hastig umsehend.

„Nö nich gerade ermordet, Sir“, erwiderte Mr. Weller, „ich wollte, ’s wäre so, denn es ging ihm noch viel schlimmer. Der Laden gehörte ihm und er war der Erfinder von „ne Patentwurstdampfmaschine, wo „n Flasterstein so leicht zu Mettwurst zerreiben kann wie „n kleines Kind. War natürlich mächtig stolz auf diese Maschine und stand immer im Keller und sah ihr zu, wenn sie so richtig in Schwung war, bis er vor Freude ganz melancholisch wurde. Er hätte ’n sehr glücklicher Mann sein können, mit seiner Maschine und den zwei netten Kindern, die er hatte, wenn seine Frau nich gewesen wäre. Das war ’ne böse Sieben. Immer war sie hinter ihm her und lag ihm in den Ohren, bis er es schließlich nich mehr aushaken konnte. ,Ich will dir mal was sagen, mein Schatz‘, sagte er, ,ich will verdammt sein, wenn ich nich nach Amerika abhaue, und damit Punktum.‘ – ,Du bist ’n Taugenichts‘, sagte sie, ,und ich wünsche den Amerikanern Glück zu dem Fang.‘ Und denn keifte sie noch ’ne halbe Stunde lang und lief in das Ladenstübchen und fing an zu schreien, daß er noch ihr Tod sein würde, und denn bekam sie ’n Anfall und schlug mit Händen und Füßen um sich; drei ganze Stunden lang. Na, und am andern Morgen wurde der Mann vermißt. Er hatte nichts aus der Kasse genommen, nich mal seinen großen Überrock angezogen; es war also klar, daß er nich nach Amerika gegangen war. Kam am andern Tag nich, kam in der andern Woche nich; die Frau ließ veröffentlichen, daß ihm alles vergeben sein sollte, wenn er zurückkommen würde – Kunststück, wo er gar nichts gemacht hatte. – Alle Kanäle wurden abgefischt, und wenn sie in den nächsten zwei Monaten irgendwo ’ne Leiche fanden, denn wurde die in den Wurstladen gebracht, als ob es ganz selbstverständlich war. Aber – er wurde auch so nich gefunden, und da hieß es denn, er wäre abgehauen, und sie machte denn mit dem Geschäft weiter. Einen Samstag gegen Abend kam ’n kleiner dürrer alter Herr ganz aufgeregt in den Laden und sagte: ,Gehört Ihnen dieser Laden?‘ – ,Allerdings gehört er mir‘, sagte sie. – ,Na gut, Ma’am‘, schreit er, ,denn muß ich Sie sagen, daß ich mitsamt meine Familie für nichts und gar nichts beinahe erstickt wäre. Wenn Sie schon nich das beste Fleisch für ihre Wurstmachern nehmen, denn nehme ich doch an, daß Sie aber wenigstens die Hosenknöpfe weglassen könnten.‘ – ,Hosenknöpfe, Sir?‘ sagte sie. Ja, Hosenknöpfe, Madam!‘ sagte der kleine alte Herr, wickelt ’n Papier aus und zeigt ihr zwanzig bis dreißig halbe Knöpfe. ,Das sind die Knöpfe von meinem Mann‘, sagt die Witwe und wird beinahe ohnmächtig. ,Was?‘ schreit der kleine alte Herr und wird ganz blaß. Jetzt ist mir alles klar‘, sagte die Witwe, ,er hat sich selbst in einem Anfall von Wahnsinn Hals über Kopf in Wurst verwandeln lassen!‘ – Und so war es denn auch“, schloß Mr. Weller und blickte Mr. Pickwick ruhevoll in das schreckensbleiche Antlitz, „oder is er vielleicht zufällig zu nahe an die Maschine gekommen – aber wie es nu auch war, der kleine alte Herr, wo von Kindheit an so gerne Wurst gegessen hatte, raste aus dem Laden raus und ließ nie wieder was von sich hören.“

Herr und Diener waren während der rührenden Erzählung dieses ergreifenden Begebnisses aus dem Privatleben in der Wohnung Mr. Perkers angekommen. Mr. Lowten unterhielt sich gerade zwischen Tür und Angel mit einem schlecht gekleideten, erbärmlich aussehenden Klienten in Stiefeln, aus denen die Zehen hervorguckten, und Handschuhen ohne Fingerspitzen. Das eingefallene und abgehärmte Gesicht des Mannes trug die Spuren der Entbehrung und des Leidens, ja, beinahe der Verzweiflung; er war sich seiner Armut offenbar sehr bewußt, denn er trat bei Mr. Pickwicks Kommen in den Schatten der Treppe zurück.

„Das ist sehr, sehr mißlich“, hörte ihn Mr. Pickwick seufzen.

„Ja, sehr“, erwiderte Lowten, seinen Namen an den Türpfosten kritzelnd und mit der Fahne der Feder wieder auswischend. „Soll ich ihm etwas ausrichten?“

„Wann glauben Sie wohl, daß er zurückkommen wird?“ fragte der Fremde.

„Ganz unbestimmt“, erwiderte Lowten, Mr. Pickwick zuzwinkernd, als der Fremde gerade zur Seite sah.

„Glauben Sie nicht, daß es gut wäre, wenn ich ihn hier erwarten würde?“ fragte der Fremde mit einem sehnsüchtigen Blick in die Schreibstube. „O nein, gewiß nicht“, erwiderte Mr. Lowten und stellte sich mehr in die Mitte der Tür. „In dieser Woche kommt er nicht mehr zurück, und ob in der nächsten, ist fraglich; wenn Perker einmal verreist ist, so beeilt er sich mit seiner Rückkehr nie besonders.“

„Er ist verreist?“ fragte Mr. Pickwick. „Ach Gott, wie ärgerlich!“

„Bleiben Sie nur, Mr. Pickwick“, sagte Lowten, „ich habe einen Brief an Sie.“

Der Fremde schien unschlüssig und blickte abermals zu Boden. Der Schreiber warf Mr. Pickwick einen schlauen Blick zu.

„Treten Sie doch ein, Mr. Pickwick“, drängte er. „Also, soll ich etwas ausrichten, Mr. Watty, oder wollen Sie wieder vorsprechen?“

Bitten Sie Mr. Perker, er möge so liebenswürdig sein zu hinterlassen, was in meiner Sache geschehen sei“, sagte der Mann „Aber ich bitte Sie um Gottes willen, vergessen Sie es nicht“ Mr. Lowten!“

Nein, nein, werde es nicht vergessen , erwiderte der Schreiber. „Treten Sie ein, Mr. Pickwick. – Guten Morgen, Mr. Watty. – Ein schöner Tag zum Spazierengehen, nicht wahr?“

Als er sah, daß der Fremde immer noch zögerte, winkte er Sam Weller und seinem Herrn, einzutreten, und schlug dem Klienten die Tür vor der Nase zu.

„Einen solchen lästigen Bankerottierer hat es, glaube ich, seit Erschaffung der Welt nicht gegeben“, rief er dann und warf seine Feder mit der Miene eines schwer gekränkten Mannes auf den Tisch. „Seine Sachen liegen noch nicht volle vier Jahre bei Gericht, und ich will verdammt sein, wenn er uns nicht jede Woche zweimal mit Mahnungen quält. Bitte, hier herein, Mr. Pickwick! Perker ist selbstverständlich zu Hause und wird Sie gleich empfangen. Aasig kalt“, setzte er verdrießlich hinzu. „Unter der Tür stehen und sich von solchen lumpigen Vagabunden um seine Zeit bringen lassen zu müssen!“

Nachdem er noch schnell und in großer Aufregung mit einem winzigen Schüreisen ein Riesenfeuer angefacht, ging er in das Arbeitszimmer seines Prinzipals und meldete Mr. Pickwick an.

„Ach, mein lieber Herr“, rief der kleine Mr. Perker und sprang von seinem Stuhl auf. „Was gibt es denn Neues in unsrer Angelegenheit? Wieder etwas von unsern Freunden in Freemans Court? Sie haben diese Zeit über nicht geschlafen, kann es mir denken. Oh, es sind rührige Leute – sehr rührig, ich versichere Ihnen!“ Und der kleine Mann nahm mit wichtiger Miene eine Prise Tabak, um dadurch der Rührigkeit der Herren Dodson und Fogg seine Huldigung darzubringen.

„Große Spitzbuben sind es“, sagte Mr. Pickwick.

„Nun, nun“, begütigte der kleine Mann, „wie man’s nimmt. Wir wollen nicht über Worte streiten, denn natürlich kann man von Ihnen nicht erwarten, daß Sie die Sache mit den Augen des Fachmanns ansehen. Aber wir haben auch alles getan, was zu tun war. Ich habe den Prokurator Snubbin gewonnen.“

„Ist der so gut?“ fragte Mr. Pickwick.

„Gut?! Beim Himmel, mein lieber Herr, Snubbin ist einer der renommiertesten Sachwalter! Hat dreimal mehr zu tun als irgendein Advokat; ist bei allen Gerichtssachen beteiligt. Unter uns gesagt, bei uns Leuten vom Fach heißt es immer, der Prokurator Snubbin führe den Gerichtshof an der Nase herum.“

„Dodson und Fogg haben meine drei Freunde als Zeugen vorgeladen“, erzählte Mr. Pickwick.

„Das war nicht anders zu erwarten“, meinte Perker. „“Wichtige Zeugen! Haben Sie in einer delikaten Situation gesehen.“

„Aber sie fiel doch absichtlich in Ohnmacht“, warf Mr. Pickwick ein, „sie fiel mir absichtlich in die Arme.“

„Sehr wahrscheinlich, mein lieber Herr“, versetzte Perker, „sehr wahrscheinlich und sehr natürlich. Nichts natürlicher, mein lieber Herr; aber wie das beweisen?“

„Sie haben auch meinen Diener vorgeladen“, ließ Mr. Pickwick das Thema fallen, durch Perkers Frage ein wenig aus der Fassung gebracht.

„Mr. Sam?“

Mr. Pickwick bejahte.

„War auch zu erwarten, mein lieber Herr, auch zu erwarten. Sie mußten das tun; ich hätte Ihnen das schon vor einem Monat sagen können. Das kommt davon, mein lieber Herr, wenn Sie selbst noch Schritte tun, nachdem Sie Ihre Sache bereits Ihrem Anwalt übergeben haben. Dann müssen Sie eben die Folgen tragen.“

Und Mr. Perker richtete sich im Bewußtsein seiner Würde auf und schnippte einige verirrte Schnupftabakskörner von seiner Hemdkrause.

„Und was wollen sie denn mit ihm beweisen?“ fragte Mr. Pickwick nach einer Pause von ein paar Minuten.

„Daß Sie ihn zu der Klägerin geschickt haben, um ihr einen Vergleich anzubieten, vermute ich“, erwiderte Perker.

„Es hat aber nicht viel auf sich, denn ich glaube, aus ihm werden sie wenig herausbringen.“

„Dieser Ansicht bin ich auch“, bemerkte Mr. Pickwick, trotz seiner Verstimmung bei dem Gedanken an ein Auftreten Sams vor Gericht lächelnd. „Was sollen wir aber anfangen?“

„Es steht uns nur ein Weg offen, mein lieber Herr“, erwiderte Perker, „nämlich die Zeugen mit Querfragen zu verwirren, Snubbins Beredsamkeit zu vertrauen, dem Richter Sand in die Augen zu streuen und auf die Geschworenen zu bauen.“

„Und gesetzt, der Spruch fiele gegen mich aus?“

Mr. Perker lächelte, nahm gemächlich wieder eine Prise, schürte das Feuer, zuckte die Achseln und beobachtete ein bedeutungsvolles Stillschweigen.

„Sie glauben, daß ich in diesem Falle die Entschädigung zahlen müßte?“ fragte Mr. Pickwick, der alle diese stummen telegrafischen Antworten mit steigender Erregung beobachtet hatte.

Perker gab dem Brennstoff noch einen höchst unnötigen Stoß und sagte:

„Ich fürchte, ja.“

„Dann gestatte ich mir, Ihnen meinen unabänderlichen Entschluß kundzutun, daß ich durchaus keine Entschädigung zu zahlen gedenke“, sagte Mr. Pickwick mit großem Nachdruck. „Durchaus keine, Perker! Nicht ein Pfund, nicht ein Penny von meinem Geld soll den Weg in Dodson und Foggs Taschen finden. Das ist mein wohlüberlegter und unwiderruflicher Entschluß.“ – Und zur Bestätigung der Unwiderruflichkeit seiner Absicht schlug Mr. Pickwick heftig auf den Tisch.

„Ganz recht, mein lieber Herr, ganz recht“, sagte Mr. Perker, „Sie müssen das natürlich am besten wissen.“

„Natürlich“, erwiderte Mr. Pickwick hastig. „Wo wohnt Prokurator Snubbin?“

„In Lincolns Inn, Old Square.“ „Ich möchte ihn sogleich sprechen.“

„Prokurator Snubbin sprechen, mein lieber Herr!?“ fiel Perker im Tone des höchsten Erstaunens ein. „Aber mein lieber Herr, das ist doch unmöglich. Prokurator Snubbin sprechen! Wo denken Sie hin! So was ist noch nie vorgekommen, ohne daß die Konsultationsgebühr vorher entrichtet und die Audienz anberaumt wurde. Es geht durchaus nicht, mein lieber Herr, geht durchaus nicht.“

Aber Mr. Pickwick hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß es nicht nur gehen könne, sondern daß es sogar gehen müsse; und die Folge davon war, daß er zehn Minuten, nachdem er die Versicherung erhalten, es könne keinesfalls sein, von seinem Sachwalter in das Vorzimmer des großen Prokurators Snubbin geführt wurde.

Es war dies ein ziemlich geräumiges Gemach, das durch Abwesenheit von Bodenteppichen glänzte. Vor dem Feuer stand ein großer Schreibtisch, dessen wollener Überzug längst seine Ansprüche auf sein ursprüngliches Grün aufgegeben hatte und mit Ausnahme der Stellen, deren natürliche Farbe durch Tintenflecken verwischt war, vom Staub und Alter allmählich grau geworden war. Hinter einer Menge kleiner Aktenbündel, die mit rotem Zwirn zusammengebunden waren, saß ein ältlicher Schreiber, dessen stattliches Äußere und schwere goldene Uhrkette den imponierenden Beweis von der ausgedehnten und einträglichen Praxis des Herrn Prokurator Snubbin ablegte.

„Ist der Prokurator auf seinem Zimmer, Mr. Mallard?“ fragte Perker und hielt mit ausgesuchtester Höflichkeit dem Schreiber seine Dose hin. „Ja“, war die Antwort, „hat aber vollauf zu tun. Sehen. Sie hier, alle diese Sachen warten noch auf ein Gutachten, trotzdem die Gebühren bereits bezahlt sind.“

„Das nenne ich mir eine Praxis“, rief Perker.

„Ja, und das beste dabei ist“, schmunzelte der Schreiber, „daß niemand des Prokurators Handschrift lesen kann als ich, und die Leute also, nachdem die Gutachten schon ausgestellt sind, warten müssen, bis ich sie abgeschrieben habe – hahaha!“

„Was außer dem Prokurator noch einem gewissen Jemand zugute kommt, der aus den Klienten noch etwas mehr herauszieht, nicht wahr?“ sagte Perker. „Hahaha!“

Wiederum lachte der Schreiber des Prokurators, aber diesmal nicht laut, sondern ganz still und innerlich, was Mr. Pickwick gar nicht gefiel. Wenn jemand innerlich blutet, so ist es gefährlich für ihn selbst; aber wenn er innerlich lacht, so bedeutet es für andere Leute nichts Gutes.

„Haben Sie mir die Gebühren noch nicht herausgeschrieben, die ich Ihnen schulde?“ fragte Mr. Perker.

„Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen“, erwiderte der Schreiber.

„Es wäre mir lieb, wenn Sie’s täten. Stellen Sie mir die Rechnung zu, und ich werde Ihnen einen Scheck schicken. Sie haben natürlich zuviel mit dem laufenden Inkasso zu tun, als daß Sie an Ihre Außenstände denken könnten – nicht wahr? Hahaha!“

Dieser Witz schien den Schreiber ordentlich zu kitzeln, denn er lachte wieder geräuschlos und innerlich.

„Aber Mr. Mallard, lieber Freund“, sagte Perker, wurde plötzlich wieder ernst und zog den großen Gehilfen des großen Anwaltes am Rockzipfel in eine Ecke, „Sie müssen den Prokurator dazu bewegen, mich und meinen Klienten vorzulassen.“

„Aber ich bitte Sie!“ ereiferte sich der Schreiber; „ich bitte Sie! – Den Prokurator sprechen! Gehen Sie, das ist doch zu absurd.“ Ungeachtet der Absurdität des Vorschlages hörte er jedoch Mr. Perker noch weiter freundlich zu und nach einem kurzen im Flüsterton geführten Gespräch ging er leise einen schmalen dunklen Gang hinab und verschwand in dem Allerheiligsten, aus dem er bald nachher auf den Zehen wieder hervorkam und Mr. Perker und Mr. Pickwick eröffnete, der Prokurator sei dazu überredet worden, sie gegen alle hergebrachte Ordnung und Norm sogleich vorzulassen.

Der Herr Prokurator Snubbin war ein Mann in den Fünfzigern mit einem eingefallenen, erdfahlen Gesicht. Sein Auge hatte den glanzlosen, erloschenen Blick, den man so oft bei Leuten sieht, die sich eine Reihe von Jahren hindurch einem langwierigen und mühevollen Studium gewidmet haben und machte auch ohne die Lorgnette, die an einem breiten schwarzen Bande herabhing, den Eindruck der Kurzsichtigkeit. Sein Haar war dünn und spärlich, was teils dem Mangel an Zeit für seine Toilette, teils einer neben ihm hängenden Juristenperücke, die er fünfundzwanzig Jahre lang getragen, zuzuschreiben war. Die Puderspuren auf seinem Rockkragen und das unsaubere und verschobene weiße Halstuch deuteten darauf hin, daß er seit seiner Rückkehr vom Gerichtssaal noch keine Zeit gefunden hatte, eine Änderung in seinem Anzug vorzunehmen, wobei die sonstige Nachlässigkeit in seinem Äußeren die Vermutung begründet erscheinen ließ, seine Person würde wenig dabei gewonnen haben, wenn es auch der Fall gewesen wäre. Bücher über Gerichtswesen, Stöße von Akten und offene Briefe waren ohne alle Rücksicht auf Ordnung oder Symmetrie auf dem Tisch zerstreut; das Meublement des Zimmers war alt und schadhaft, die Türen des Bücherschrankes rosteten in ihren Angeln, bei jedem Schritt flog der Staub in kleinen Wolken von dem Laufteppich empor, die Vorhänge waren vom Alter verblichen, und alles im Zimmer wies unzweideutig darauf hin, daß der Herr Prokurator Snubbin viel zuviel mit seinen Berufsgeschäften zu tun hatte, als daß er seiner Person große Aufmerksamkeit hätte schenken können.

Er schrieb gerade, als seine Klienten eintraten, verbeugte sich kurz, als Mr. Pickwick durch seinen Sachwalter vorgestellt wurde, ersuchte dann die Herren, Platz zu nehmen, steckte seine Feder sorgfältig in das Tintenzeug, streichelte sein linkes Bein und erwartete, daß man ihm die Sache vortrage.

„Mr. Pickwick ist der Beklagte in Sachen Bardell kontra Pickwick, Prokurator Snubbin“, begann Perker.

„Bin ich dabei engagiert?“ fragte der Prokurator.

„Gewiß, Sir.“

Der Prokurator nickte mit dem Kopf und wartete, was weiter folgen werde.

„Mr. Pickwick wünschte mit Ihnen zu sprechen, Prokurator Snubbin“, fuhr Perker fort, „um Ihnen zu versichern, daß er ausdrücklich in Abrede stellt, der gegnerischen Partei den geringsten Anlaß zur Klageführung gegeben zu haben, und daß er gar nicht vor Gericht aufträte, wenn er es nicht mit reinem Gewissen und mit der festen Überzeugung tun könne, auch nicht das mindeste verschuldet zu haben. Ich erlaube, Ihrer Ansicht richtig Ausdruck verliehen zu haben, nicht wahr, mein lieber Herr?“ wendete sich der kleine Mann an Mr. Pickwick.

„Ganz richtig.“

Der Herr Prokurator Snubbin nahm seine Lorgnette, betrachtete Mr. Pickwick einige Sekunden lang mit großer Aufmerksamkeit, wandte sich dann an Mr. Perker und fragte mit leichtem Lächeln:

„Hat Mr. Pickwick eine sichere Sache?“

Der Anwalt zuckte die Achseln.

„Stellen Sie Zeugen?“

„Nein.“

Das Lächeln auf dem Gesicht des Prokurators nahm einen bestimmteren Ausdruck an; er wiegte sein Bein stärker, lehnte sich in seinem Armstuhl zurück und hustete zweideutig.

So unmerklich diese Andeutungen die Gedanken des Prokurators über den Fall verrieten, sie entgingen der Aufmerksamkeit Mr. Pickwicks keineswegs. Er setzte daher die Brille fester auf die Nase und sagte, ohne auf Mr. Perkers Winke und Stirnrunzeln Rücksicht zu nehmen, mit großem Nachdruck:

„Mein Wunsch, Sie lediglich aus einem Grunde wie diesem um Audienz zu bitten, Sir, erscheint Ihnen, wo Sie notwendigerweise so viel mit solchen Dingen zu tun haben müssen, ohne Zweifel wohl höchst sonderbar?“

Der Prokurator machte den Versuch, mit ernster Miene ins Feuer zu sehen, konnte jedoch ein Lächeln nicht unterdrücken.

„Herren von Ihrem Fach, Sir“, fuhr Mr. Pickwick fort, „sehen immer nur die schlechteste Seite der menschlichen Natur – alle ihre Streitsucht, alle ihre Böswilligkeit und Gehässigkeit entschleiert sich vor Ihnen. Sie wissen aus Erfahrung, wieviel es bei den Geschworenengerichten auf den Effekt ankommt – ich will damit weder Ihnen, noch diesen Institutionen zu nahe treten – und sind daher geneigt, bei andern die Absicht vorauszusetzen, die Mittel, die Sie aus den reinsten, ehrenvollsten Gründen und in dem löblichen Bestreben, Ihren Klienten soviel wie möglich zu nützen, stets in Anwendung zu bringen und durch den Gebrauch nach ihrem vollen Werte zu schätzen gelernt haben – Sie sind geneigt, sage ich, bei andern die Neigung vorauszusetzen, diese Mittel zu Betrug und selbstsüchtigen Zwecken zu mißbrauchen. Ich glaube in der Tat, daß dieser Umstand die niedrige, aber sehr verbreitete Ansicht hervorgerufen hat, nach der Ihr Stand als argwöhnisch, mißtrauisch und allzu vorsichtig gilt. Ich bin mir zwar bewußt, Sir, daß mir unter den gegebenen Verhältnissen eine solche Erörterung Ihnen gegenüber nur schaden kann, aber ich bin dennoch hierhergekommen in dem Wunsche, Ihnen verständlich zu machen, was schon mein Freund Mr. Perker gesagt hat, daß ich nämlich an der Treulosigkeit, die mir zur Last gelegt wird, gänzlich unschuldig bin; und wenn ich auch von dem unschätzbaren Wert Ihres Beistandes überzeugt bin, Sir, so wollen Sie mir doch gestatten, noch hinzuzufügen, daß, im Fall Sie mir nicht unbedingt Glauben schenken sollten, ich jede Unterstützung seitens Ihrer Talente lieber missen möchte.“

Lange bevor Mr. Pickwick diese Rede, die im Verhältnis zu seiner ganzen Denkungsweise sehr prosaisch war, geschlossen hatte, war der Prokurator in tiefes Nachdenken versunken. Erst nach einigen Minuten, während deren er mit seiner Feder gespielt hatte, schien er sich der Anwesenheit seiner Klienten wieder zu erinnern. Er blickte auf und fragte ein wenig unvermittelt:

„Wer ist mein Assistent in dieser Sache?“

„Mr. Phunky, Sir“, erwiderte der Anwalt.

„Phunky – Phunky“, wiederholte der Prokurator, „hm, diesen Namen habe ich noch nie gehört. Er muß ein sehr junger Mann sein?“

„Allerdings, er ist ein sehr junger Mann“, versetzte der Anwalt. „Er ist erst – ja, ganz richtig, er ist erst seit acht Jahren zu den Schranken zugelassen.“

„Hm, habe ich mir gedacht“, sagte der Prokurator mit dem mitleidigen Tone, in dem man gewöhnlich von kleinen hilflosen Kindern spricht. „Mr. Mallard, schicken Sie nach Herrn – Herrn –“

„Phunky – Holborn Court, Grays Inn“, half Perker aus. Mr. Phunky. Und lassen Sie ihm sagen, es würde mich freuen, wenn er .sich auf einen Augenblick hierherbemühen wollte.“

Mr. Mallard entfernte sich, um seinen Auftrag auszurichten, und Prokurator Snubbin versank wieder in tiefes Nachdenken, bis Mr. Phunky erschien.

Obgleich als Sachwalter noch in den Kinderschuhen, war Mr. Phunky doch ein völlig ausgewachsener Mann. Er benahm sich außerordentlich schüchtern und sprach immer mit zitterndem Tone, was jedoch nicht von einem Gebrechen, sondern vielmehr von einer gewissen Befangenheit und dem Bewußtsein herrührte, daß er durch den Mangel an Gold oder Gönnern, Konnexionen oder Unverschämtheit „niedergehalten“ wurde. Er sah mit Ehrfurcht an dem Prokurator empor und machte dem Anwalt eine tiefe Verbeugung.

„Ich habe bisher noch nicht das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen. Mr. Phunky“, begann Prokurator Snubbin mit vornehmer Herablassung. Mr. Phunky verbeugte sich. Er hatte das Vergnügen gehabt, den Prokurator zu sehen und ihn auch mit dem ganzen Neid des armen Mannes schon achtundeinviertel Jahr lang beneidet.

„Wie ich höre, sollen Sie in dieser Sache mein Assistent sein?“

Wäre Mr. Phunky ein reicher Mann gewesen, so hätte er augenblicklich nach seinem Schreiber geschickt, um seinem Gedächtnis nachhelfen zu lassen. Wäre er ein kluger Mann gewesen, so hätte er den Zeigefinger an die Stirn gelegt und sich zu erinnern versucht, ob er bei der großen Menge seiner Geschäfte auch dieses übernommen habe; so aber war er weder reich noch klug – wenigstens nicht in diesem Sinne –, errötete demnach und verbeugte sich zustimmend.

„Haben Sie die Akten gelesen, Mr. Phunky?“ fragte der Prokurator.

Hier hätte Mr. Phunky selbstverständlich die Bemerkung hinwerfen sollen, er habe die Sache augenblicklich nicht im Kopf, aber da er die Akten, die ihm inzwischen vorgelegt worden waren, gelesen und seit den zwei Monaten, während deren er zu des Herrn Prokurator Snubbins Assistenten erhoben worden war, Tag und Nacht an nichts anderes mehr gedacht hatte, errötete er noch tiefer und machte abermals eine tiefe Verbeugung.

„Dies ist Mr. Pickwick“, stellte der Prokurator vor und deutete mit seiner Feder auf den Beklagten.

Mr. Phunky machte Mr. Pickwick mit der Ehrerbietung, die ein erster Klient stets erweckt, eine Verbeugung und verneigte sich dann wieder gegen den Prokurator.

„Sie gehen vielleicht mit Mr. Pickwick“, sagte dieser, „und – und – hören, was er Ihnen mitzuteilen hat. „Wir werden natürlich eine Konferenz darüber halten.“

Mit dieser Andeutung, daß er jetzt lange genug aufgehalten worden sei, hielt der Herr Prokurator Snubbin, der nach und nach immer gedankenvoller geworden war, für einen Augenblick seine Lorgnette ans Auge, machte nach allen Seiten eine leichte Verbeugung und vertiefte sich wieder in die vor ihm liegenden Akten eines endlosen Prozesses, bei dem es sich um die Sperrung eines unbegangenen Fußpfades handelte. Draußen auf dem Square gingen die Herren Phunky, Pickwick und Perker noch auf und ab und hielten eine lange Besprechung mit dem Ergebnis, daß es sehr schwer zu bestimmen sei, wie der Spruch ausfallen werde, und daß es ein sehr großes Glück bedeute, der Gegenpartei in bezug auf die Akquisition Mr. Snubbins zuvorgekommen zu sein, und was dergleichen Trostgründe mehr waren.

Hierauf weckte Mr. Pickwick Mr. Weller aus süßem Schlummer, der eine Stunde gedauert hatte, verabschiedete sich von Mr. Lowten und kehrte nach der City zurück.

Viertes Kapitel


Viertes Kapitel

Die Erzählung des wandernden Schauspielers.

„Es ist nichts Außerordentliches, Ja, nicht einmal etwas Ungewöhnliches an dem, was ich jetzt erzählen will“, begann der Trübsinnige. „Entbehrungen und Krankheit sind in manchen Lebenslagen etwas zu Alltägliches, um mehr Aufmerksamkeit zu verdienen, als den gewöhnlichsten Wechselfällen des menschlichen Lebens zuteil wird. Ich habe die folgenden kurzen Notizen gesammelt, weil ich den Mann, von dem ich rede, vor einigen Jahren sehr gut kannte. Ich war Augenzeuge, wie er immer tiefer und tiefer sank, bis er zuletzt jenen Abgrund von Elend erreichte, aus dem er sich nicht wieder erhob.

Der Mann, von dem ich erzähle, war ein kleiner Pantomimenschauspieler und, wie so viele seines Berufes, ein Gewohnheitstrinker. In seinen besseren Tagen, als er noch nicht durch Ausschweifungen herabgekommen und durch Krankheit geschwächt war, bezog er ein gutes Einkommen, das er bei einem geordneten Lebenswandel noch mehrere Jahre lang hätte beziehen können – wenn auch nicht viele –, denn solche Leute sterben entweder frühzeitig oder verlieren durch übermäßige Anstrengung die körperlichen Fähigkeiten bald, von denen allein ihr Erwerb abhängt. Seine Leidenschaft beherrschte ihn in einem Grade, daß er in kurzer Zeit fü die Rollen, in denen er etwas leisten konnte, unfähig wurde. Die Schenke übte einen Zauber auf ihn aus, dem er nicht widerstehen konnte. Vernachlässigte Krankheit. und hoffnungslose Armut mußten so sicher sein Los werden wie der Tod, wenn er bei seinem Laster beharrte Dennoch ließ er nicht davon, und die Folgen sind leicht zu erraten. Er konnte kein Engagement mehr finden und wurde brotlos.

Jeder, der nur einigermaßen mit dem Theaterleben bekannt ist, weiß, welche Menge armer Schlucker sich gewöhnlich im Troß einer größeren Bühne befindet – keine ordnungsgemäß angestellten Schauspieler, sondern Ballettvolk, Statisten, Hanswüste und so weiter, die fü eine bestimmte Pantomime oder Lokalposse, die gerade im Schwange ist, angenommen und dann wieder entlassen werden, bis wieder irgendein Zugstück gegeben wird, bei dem man ihrer Dienste aufs neue bedarf. Zu solchem Leben mußte der Mann seine Zuflucht nehmen. Er besorgte in kleinen Theatern das Stühlehinaustragen und erwarb sich dadurch einige Schillinge wöchentlich, die er seiner alten Leidenschaft opferte. Aber auch diese Erwerbsquelle versiegte bald. Seine Ausschweifungen verschlangen zuviel von seinen Einnahmen, um auch nur fü die geringsten Bedüfnisse etwas übrigzulassen, und er war nahe daran, zu verhungern. Er borgte bisweilen einem alten Bekannten eine Kleinigkeit ab oder trat auf irgendeinem Winkeltheater letzter Sorte auf; aber was er auch verdiente, wanderte denselben Weg.

So hatte er sich länger als ein Jahr herumgetrieben und durchgeschlagen, ohne daß man wußte, wie, als ich ihn auf einem der Theater an der Surreyseite des Flusses, wo ich gerade ein kurzes Engagement hatte, plötzlich wieder zu Gesicht bekam. Ich hatte ihn fü einige Zeit aus den Augen verloren, denn ich durchreiste das Land, während er sich in den Winkeln Londons herumtrieb. Er klopfte mir eines Abends auf die Schulter, als ich eben im Begriff war, das Theater zu verlassen, und über die Bühne ging. Nie werde ich den abschreckenden Anblick vergessen, der sich meinen Augen darbot, als ich mich umwandte. Er spielte eine kleine Rolle in einer Pantomime und stand in der ganzen Abgeschmacktheit eines Hanswurstanzuges vor mir. Die Gespenster im Totentanz, die grauenhaftesten Gestalten, die jemals der Pinsel des geschicktesten Malers auf die Leinwand zaubern könnte, waren nicht halb so entsetzlich anzusehen. Sein aufgedunsener Leib und seine hageren Beine, deren Mißgestalt durch die Narrenkleidung erst recht hervorgehoben wurde, die gläsernen Augen, die gegen das dick aufgetragene Weiß, womit sein Gesicht beschmiert war, füchterlich abstachen, der grotesk aufgeputzte, paralytisch zitternde Kopf und die langen, mit Kreide bemalten, fleischlosen Hände – alles gab ihm ein gräßliches, unnatüliches Aussehen, von dem man sich keine Vorstellung machen kann und an das ich mich bis auf diesen Tag nur mit Schaudern erinnere. Seine Stimme war hohl und bebte, als er mich beiseite nahm, mir in abgerißnen Worten ein langes und breites von Krankheit und Entbehrungen vorschwatzte und dann, wie gewöhnlich, mit der flehentlichen Bitte schloß, ihm eine Kleinigkeit vorzustrecken. Ich drückte ihm ein paar Schillinge in die Hand, und als ich mich umdrehte, hörte ich das schallende Gelächter, das sein Auftreten auf den Brettern hervorrief.

Wenige Tage später drückte mir abends ein Junge einen schmutzigen Papierfetzen in die Hand; darauf waren mit Bleistift einige Worte gekritzelt, aus denen hervorging, daß der Mann schwerkrank war und mich bat, ihn nach der Vorstellung in seiner Behausung aufzusuchen, die irgendwo in der Nähe des Theaters lag; mir fällt im Augenblick nicht der Straßenname ein. Jedenfalls versprach ich, sobald wie möglich zu kommen, und sobald der Vorhang unten war, trat ich meinen traurigen Weg an.

Es war spät, denn ich hatte im letzten Akt gespielt, und da es eine Benefiz gewesen, dauerte die Vorstellung ungewöhnlich lange. Es war eine finstere, traurige Nacht; ein naßkalter Wind trieb den Regen heftig gegen Fenster und Haustüen. Das Wasser hatte sich in den schmalen, wenig besuchten Gäßchen zu Pfützen angesammelt, und da das Ungestüm des Windes die wenigen Lampen, die hin und wieder angebracht waren, ausgelöscht hatte, war der Weg nicht nur sehr mühsam, sondern auch höchst unsicher. Doch hatte ich glücklicherweise die richtige Gasse gewählt und fand endlich nicht ohne Schwierigkeit das bezeichnete Haus – ein Kohlenmagazin, mit einem Stockwerk darüber, in dessen Hinterzimmer der Mann lag, dem mein Besuch galt.

Ein abgezehrt aussehendes Weib, die Frau des Unglücklichen, empfing mich auf der Treppe, führte mich mit den Worten, ihr Mann sei eben in eine Art Schlummer gefallen, leise in die Stube und stellte mir einen Stuhl vor das Bett. Der Kranke hatte das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und da er meinen Eintritt nicht gewahr wurde, so blieb mir Muße, das Zimmer zu betrachten, in dem ich mich befand.

Er lag in einem alten Bettgestell, das den Tag über zusammengeklappt werden konnte. Die zerlumpten Überreste eines buntscheckigen Vorhanges umschlossen den oberen Teil des Bettes, um den Wind abzuhalten, der das unbehagliche Gemach frei durchstrich, indem er durch die zahlreichen Spalten der Tü eindrang und die Lappen fortwährend hin und her bewegte. In einem rostigen, freistehenden Becken glomm ein mattes Kohlenfeuer, und davor stand ein alter, dreieckiger, schmieriger Tisch mit Arzneifläschchen, einem zerbrochenen Glas und einigen andern Gegenständen. In einem Bett auf dem Boden schlief ein kleines Kind, und neben ihm saß die Frau auf einem Stuhl. Auf zwei Simsbrettern an der Wand standen einige Schüsseln, Teller und Tassen, und darunter hingen ein Paar Bühnenschuhe und zwei Rapiere. Außer einigen Bündeln alter Lumpen, die unordentlich in den Winkeln lagen, war nichts im Zimmer zu erblicken.

Ich hatte Zeit gehabt, dies alles mit den Blicken zu überfliegen und die schweren Atemzüge und fieberischen Zuckungen des Kranken zu beobachten, ehe dieser meine Gegenwart gewahr wurde. Bei den unaufhörlichen Versuchen, seinen Kopf in eine bessere Lage zu bringen, streckte er seine Hand aus dem Bett und bekam die meinige zu fassen. Er schrak empor und starrte mir ins Gesicht.

,Mr. Hutley, John‘, sagte sein Weib, ,Mr. Hutley, nach dem du diesen Abend geschickt hast – du weißt.‘

,Ah!‘ rief der Kranke und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. ,Hutley – Hutley – wart einmal.‘ Er schien seine Gedanken sammeln zu wollen, dann faßte er mich heftig beim Handgelenk und sagte: ,Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht, alter Freund. Sie will mich ermorden, ich weiß, sie will mich umbringen.‘

,Liegt er schon lange so da?‘, fragte ich sein weinendes Weib.

,Seit gestern abend‘, antwortete sie. ,John, John, kennst du mich denn nicht?‘

,Laß sie nicht zu mir‘, sagte der Mann mit einem Schauder, als sie sich über ihn beugte. Jag sie fort! Ich kann ihre Nähe nicht vertragen.‘ Er starrte sie wild und mit einem Blicke voll Todesangst an und flüsterte mir dann ins Ohr: ,Ich hab sie geschlagen, Jem, ja, ich hab sie geschlagen, gestern, und so manches Mal. Ich hab sie dem Hungertode preisgegeben, und das Kind auch, und jetzt, wo ich schwach und hilflos bin, will sie mich dafü ermorden; ich weiß es. Hättest du ihr Jammergeschrei gehört wie ich, du wüßtest es auch. Halte sie fern.‘ Er ließ meine Hand los und sank erschöpft auf das Kissen zurück.

Ich verstand nur zu gut, was das alles zu bedeuten hatte, Hätte ich einen Augenblick im Zweifel sein können, so wüde mich ein Blick auf. das blasse Gesicht und die abgezehrte Gestalt des Weibes hinlänglich von der Sachlage unterrichtet haben. ,Ziehen Sie sich lieber zurück‘, sagte ich zu der ärmsten. ,Sie können doch nichts fü ihn tun. Vielleicht wird er ruhiger werden, wenn er Sie nicht mehr sieht.‘ Sie ging ihrem Manne aus den Augen. Er öffnete nach wenigen Sekunden seine Lider und sah sich ängstlich um.

,Ist sie fort?‘

,Ja, ja‘, antwortete ich. ,Sie wird dir nichts zuleide tun.‘

,Ich will dir was sagen, Jem‘, flüsterte er voll Furcht, ,sie trachtet mir nach dem Leben. Etwas in ihren Augen bringt eine so füchterliche Angst in mir hervor, daß es mich wahnsinnig macht. Die ganze Nacht über habe ich ihre großen stieren Augen und ihr bleiches Gesicht dicht über mir gesehen. Wohin ich mich wandte, da waren sie, und so oft ich aus dem Schlafe auffuhr, stand sie neben meinem Bette und starrte mich an.‘ Er zog mich näher zu sich und flüsterte aufgeregt und bebend vor Todesangst: ,Jem, sie muß ein böser Geist sein, ein Teufel! Hu! Ich weiß es, sie ist’s. Wäre sie ein Weib, so müßte sie schon lange tot sein. Ein Weib kann nicht tragen, was sie getragen hat.‘

Ich schauderte bei dem Gedanken an die lange Reihe von Grausamkeiten und Mißhandlungen, die dem allem vorhergegangen sein mußten, um bei einem Menschen wie er einen solchen Eindruck zu hinterlassen. Ich wußte nichts zu erwidern, denn wer konnte dem Verworfenen, den ich vor mir hatte, Hoffnung oder Trost geben?

Ich saß über zwei Stunden bei ihm, während er, vor Schmerzen und Ungeduld ächzend, ruhelos seine Arme hin und her warf und sich immer wieder von einer Seite auf die andre wälzte. Endlich verfiel er in die Art bewußtlosen Halbschlummers, in dem der Geist unruhig von Vorstellung zu Vorstellung, von Ort zu Ort wandert, ohne die leitende Hand der Vernunft und ohne die Fähigkeit, sich von einem unbeschreiblichen Gefühle vorhandenen Leidens loszumachen. Da ich aus seinen Delirien entnahm, daß dies bei ihm der Fall und alle Wahrscheinlichkeit vorhanden war, das Fieber werde sich vorderhand nicht mehr steigern, so entfernte ich mich und versprach dem bedauernswerten Weibe, am nächsten Abend meinen Besuch zu wiederholen und nötigenfalls die Nacht über bei dem Kranken zu wachen.

Ich hielt mein Versprechen. Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten eine furchtbare Veränderung in dem Trunkenbold hervorgebracht. Seine Augen, obgleich tief eingefallen und schwer, leuchteten in einem schrecklichen Glanze. Die Lippen waren wie Pergament und an manchen Stellen aufgesprungen; die trockne, harte Haut fühlte sich glühend heiß an, und in seinem Gesicht lag ein beinahe unirdischer Ausdruck wilder Angst, der die Verheerungen der Krankheit noch stärker hervorhob. Das Fieber hatte seinen höchsten Grad erreicht.

Ich setzte mich wie am verflossenen Abend an sein Bett, und hier vernahm ich stundenlang Töne, die das gefühlloseste Herz tief hätten ergreifen müssen – die furchtbaren Phantasien eines Sterbenden. Wie ich vom Arzte vernommen, war keine Hoffnung mehr vorhanden. Ich saß an einem Sterbebette. Ich sah die abgezehrten Glieder, die er noch kurz zuvor zur Belustigung eines rohen Haufens verdreht, sich unter den Martern der Fieberglut krümmen – ich hörte das schrille Gelächter des Harlekins, gemischt mit dem leisen Röcheln des Sterbenden.

Es ist ergreifend, den Geist zu den gewöhnlichen Beschäftigungen der Tage der Gesundheit zurückwandern zu sehen, während der Körper schwach und hilflos daliegt; aber wenn diese Beschäftigungen der Art sind, daß sie Zuständen, die eine ernste und feierliche Stimmung in uns hervorrufen»geradezu entgegenlaufen, so geht dieser Eindruck noch unendlich tiefer.

Die Bühne und die Schenke waren die Hauptschauplätze, auf denen sich die Phantasie des irren Elenden erging. Es war gegen Abend, bildete er sich ein. Er mußte auftreten. Es war spät, und er durfte keinen Augenblick mehr säumen, Warum hielten sie ihn zurück und ließen ihn nicht gehen? – Seine Einnahme stand auf dem Spiel. – Er mußte gehen. Nein! Sie wollten ihn nicht fortlassen. Er barg sein Gesicht in seine glühenden Hände und beklagte seine Schwäche und die Grausamkeit seiner Widersacher. Eine kurze Pause. Dann keuchte er einige elende Reimereien hervor, die letzten, die er auswendig gelernt hatte. Er richtete sich im Bett auf, streckte seine abgezehrten Hände in die Höhe und wand sich in seltsamen Krümmungen hin und her: er spielte. – Er war auf der Bühne. Ein minutenlanges Stillschweigen, und er murmelte den Schlußreim eines Trinkliedes. Endlich war er wieder zu Hause: wie heiß war es im Zimmer! Er war krank gewesen, sehr krank, aber jetzt fühlte er sich wieder wohl und glücklich. – Einschenken! Einschenken! Wer schlägt ihm da das Glas vom Munde weg? Derselbe Feind, der ihn vorhin verfolgte. – Er fiel auf sein Kissen zurück und jammerte laut. Eine kurze Pause der Vergessenheit, und er wanderte durch ein nimmer endendes Labyrinth niederer, gewölbter Zimmer – so nieder bisweilen, daß er auf allen vieren fortkriechen mußte; es war eng und dunkel, und mit jeder Wendung des Weges stieß ihm ein neues Hindernis auf. Er sah Insekten, häßliches Gewüm, mit Augen, die ihn anstierten und den ganzen Raum anfüllten – füchterlich schimmernd durch die dichte Finsternis. Wände und Decke wimmelten von Ungeziefer, das Gewölbe dehnte sich ins ungeheure – füchterliche Gestalten schwebten auf und nieder, und unter ihnen bekannte Gesichter, gräßlich verzerrt. Sie brannten ihn mit glühenden Eisen und umschnüten seinen Kopf mit Stricken, bis das Blut herausspritzte.

Nach einem solchen Anfall, währenddessen ich ihn mit großer Mühe im Bett festhielt, sank er in eine Art von Schlummer. Von langem Wachen und von der Anstrengung überwältigt, waren mir fü einige Minuten die Augen zugefallen, als ich durch einen heftigen Schlag auf meine Schulter erwachte. Er hatte sich aufgerichtet und saß im Bett. – Eine füchterliche Veränderung war auf seinem Gesicht vorgegangen, aber das Bewußtsein war zurückgekehrt, denn er kannte mich augenscheinlich. Das Kind, das durch sein Irrereden lange Zeit eingeschüchtert gewesen, stand von seinem Bettchen auf und lief weinend zu seinem Vater. Die Mutter nahm es eilends auf den Arm, damit er ihm in der Raserei kein Leid zufüge, aber durch die Veränderung seiner Züge erschreckt, blieb sie regungslos stehen. Er krallte sich krampfhaft in meine Schulter ein und machte einen verzweifelten Versuch zu sprechen, während er sich mit der andern Hand vor die Brust schlug. Es war vergeblich. Er streckte die Hände gegen die Seinen aus und machte einen zweiten gewaltsamen Versuch zu sprechen. Noch ein Röcheln in der Kehle, ein Blitzen im Auge, ein kurzes ersticktes Stöhnen – und tot sank der Unglückliche auf das Kissen zurück. Vorbei.“

Herr Pickwick hatte sein Glas niedergesetzt, das er während des letzten Abschnittes der Erzählung in der Hand gehalten, und war eben im Begriffe, zu sprechen – hatte bereits, wie Mr. Snodgraß‘ Notizbuch besagt, den Mund geöffnet –, als der Kellner eintrat und „Einige Herren“ anmeldete.

Vermutlich stand Mr. Pickwick gerade im Begriff, einige Bemerkungen, die, wenn auch nicht das Themsegebiet, so doch die übrige Welt erleuchtet haben wüden, zum besten zu geben, als er auf diese Art unterbrochen wurde. Er starrte dem Kellner ins Gesicht und ließ dann seine Blicke fragend die Runde in der Gesellschaft machen, als wünschte er nähere Aufklärung, was das zu bedeuten habe.

„Oh!“ sagte Mr. Winkle aufstehend. „Einige Freunde von mir. Führen Sie die Herren herein. Sehr angenehme Leute“, fügte er hinzu, nachdem sich der Kellner entfernt hatte. „Offiziere, vom siebenundneunzigsten Regiment, deren Bekanntschaft ich diesen Morgen auf eine etwas seltsame Weise gemacht habe. Sie werden Ihnen sehr gefallen.“

Mr. Pickwicks Gleichmut war sofort wiederhergestellt. Der Kellner kehrte zurück und führte drei Herren ins Zimmer.

„Leutnant Tappleton“, stellte Mr. Winkle vor. „Leutnant Tappleton, Mr. Pickwick – Dr. Payne, Mr. Pickwick – Mr. Snodgraß, den Sie bereits kennen, mein Freund Mr. Tupman, Dr. Payne – Dr. Slammer, Mr. Pickwick – Mr. Tupman, Dr. Slam …“

Mr. Winkle hielt plötzlich inne, denn in den Mienen Mr. Tupmans und des Doktors malte sich eine seltsame Bewegung.

„Ich habe diesen Herrn schon einmal getroffen“, sagte der Doktor mit starker Betonung.

„Wirklich?“ versetzte Mr. Winkle.

„Und – und diesen Menschen auch, wenn ich mich nicht irre“, sagte der Doktor, einen prüfenden Blick auf den grüngekleideten Fremden werfend. „Ich glaube, ich ließ an ihn gestern abend eine dringende Einladung ergehen, die er jedoch ablehnen zu müssen vermeinte.“

Bei diesen Worten warf der Doktor einen verächtlichen Blick auf den Fremden und flüsterte seinem Freund Leutnant Tappleton etwas ins Ohr.

„Wahrhaftig?“ fragte dieser, nachdem er das Geflüster endlich verstanden.

„Wahrhaftig“, versicherte Dr. Slammer.

„Sie müssen ihm auf der Stelle einen Fußtritt geben“, murmelte der Eigentümer des Feldstuhles mit großer Wichtigkeit.

„Seien Sie ruhig, Payne“, vermittelte der Leutnant. „Erlauben Sie mir gütigst die Frage, mein Herr“, sagte er, sich an Mr. Pickwick wendend, der ob dieses höchst unhöflichen Zwischenspiels äußerst indigniert dreinsah, „wollen Sie mir gütigst die Frage erlauben, mein Herr, ob dieser Mensch zu Ihrer Gesellschaft gehört?“

„Nein, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick. „Er ist unser Gast.“

„Er ist ein Mitglied Ihres Klubs, oder irre ich mich?“

„Nein, gewiß nicht“, antwortete Mr. Pickwick.

„Und trägt er nie Ihre Klubknöpfe?“ fragte der Leutnant weiter.

„Nein – nie!“ entgegnete erstaunt Mr. Pickwick.

Leutnant Tappleton wandte sich zu Dr. Slammer mit einem kaum merklichen Achselzucken, als käme ihm die Erinnerungsfähigkeit seines Freundes bedenklich vor. Der Doktor sah zornig, aber verwirrt aus, und Mr. Payne starrte wild in das staunende Gesicht des ahnungslosen Pickwick.

„Mein Herr“, begann der Doktor, sich plötzlich an Mr. Tupman wendend, in einem Tone, der diesen Gentleman ebensosehr erschreckte, als hätte ihn plötzlich eine Natter in die Ferse gestochen. „Sie waren gestern abend auf dem Ball?“

Mr. Tupman hauchte ein schwaches Ja, fortwährend auf Mr. Pickwick blickend.

„Dieser Mensch war Ihr Begleiter?“ fragte der Doktor weiter, auf den Fremden deutend, der keine Miene verzog.

Mr. Tupman gab es zu.

„Nun, mein Herr“, sagte der Doktor zu dem Fremden, „Ich frage Sie noch einmal in Gegenwart aller Anwesenden, ob Sie mir Ihre Karte geben und als Mann von Ehre behandelt sein oder mich in die Notwendigkeit versetzen wollen, Sie auf der Stelle persönlich zu züchtigen?“

„Halten Sie ein, mein Herr“, rief Mr. Pickwick. „Ich kann wirklich nicht dulden, daß die Sache weitergetrieben wird, ehe ich nicht weiß, um was es sich handelt. Tupman, erzählen Sie den Vorfall!“

So feierlich aufgefordert, berichtete Mr. Tupman die Sache mit fliegenden Worten. Das Entlehnen des Frackes berührte er nur leicht. Großen Nachdruck legte er darauf, daß es „nach dem Diner“ stattgefunden hätte, ließ flüchtig ein gelindes Reuegefühl über sein eigenes Betragen durchblicken und überließ es dem Fremden, sich zu rechtfertigen, so gut er könne.

Dieser war eben im Begriff, es zu tun, als ihn Leutnant Tappleton, der ihn bis dahin mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte, mit großer Geringschätzung fragte:

»Habe ich Sie nicht schon auf dem Theater gesehen, Sir?“

„Vermutlich“, erwiderte der Fremde unbefangen.

„Er ist ein wandernder Schauspieler“, sagte der Leutnant verächtlich und wandte sich an Dr. Slammer. „Er tritt in dem Stück auf, das morgen das Offizierskasino des zweiundfünfzigsten Regiments in Rochester aufführen läßt. Sie können in der Sache nicht weitergehen, Slammer, unmöglich!“

„Nein, unmöglich!“ bestätigte Payne pathetisch.

„Bedaure, Sie in diese unangenehme Lage versetzt zu haben“, fuhr Leutnant Tappleton fort, sich an Mr. Pickwick wendend. „Erlauben Sie mir übrigens, Ihnen zu bemerken, daß der sicherste Weg, in Zukunft dergleichen Auftritte zu vermeiden, größere Vorsicht in der Wahl Ihrer Gesellschaft sein wird. Guten Abend, mein Herr!“ – Und rasch verließ er das Zimmer.

„Und mir erlauben Sie, Ihnen zu bemerken, mein Herr“, fügte der rauflustige Dr. Payne hinzu, „daß ich, wenn ich Tappleton oder Slammer gewesen wäre, Ihnen und den sämtlichen Mitgliedern dieser Gesellschaft die Nase eingedroschen hätte. Ja, das hätte ich. Allen miteinander. Mein Name ist Payne, mein Herr, Dr. Payne vom Dreiundvierzigsten. Guten Abend, mein Herr.“

Die vier letzten Worte sprach er laut und mit großem Nachdruck und schritt sodann majestätisch aus dem Zimmer. Ihm folgte Dr. Slammer, schweigend und mit einem Blick voll Verachtung auf die ganze Gesellschaft.

Zorn und höchste Entrüstung über die Brüskierung hätten Mr. Pickwicks edle Brust beinahe bis zum Zerspringen seiner Weste geschwellt. Wie angewurzelt, ins Leere starrend, stand er da, und erst das Knarren der Tüe brachte ihn wieder zu sich selbst. Mit wutentbrannten Blicken und funkelnden Augen wollte er dem Beleidiger nachstüzen. Seine Hand hatte die Tüklinke gefaßt, und im nächsten Augenblick wüde sie den Dr. Payne, von Dreiundvierzig, an der Kehle gepackt haben, hätte ihn nicht. Mr. Snodgraß am Rockschoße ergriffen und zurückgezogen.

„Haltet ihn“, rief Mr. Snodgraß. „Winkle, Tupman! – Er darf sein kostbares Leben nicht in einer solchen Angelegenheit aufs Spiel setzen.“

„Lassen Sie mich“, rief Mr. Pickwick.

„Haltet ihn fest“, schrie Mr. Snodgraß wieder. Und den vereinten Kräften der sämtlichen Anwesenden gelang es schließlich, Mr. Pickwick in einen Lehnstuhl zu drängen.

„Allein lassen“, riet der grüngekleidete Fremde. „Brandy und Wasser – feuriger alter Herr – einen Schluck – einmal kosten – ah! – Kapitalstoff!“

Nachdem der Fremde den Inhalt eines vollen, von dem Trübsinnigen gemischten Glases gekostet, führte er es an Mr. Pickwicks Lippen, der es im nächsten Augenblick bis auf die Neige leerte.

Es trat eine kurze Pause ein. Das Getränk hatte indessen seine Wirkung getan, und das freundliche Gesicht Mr. Pickwicks nahm schnell den gewohnten Ausdruck wieder an.

„Diese Menschen verdienen nicht, daß Sie Notiz von ihnen nehmen, Sir“, sagte der Trübsinn-Jemmy.

„Sie haben recht, Sir“, versetzte Mr. Pickwick. „Sie verdienen es nicht. Ich schäme mich, daß ich mich so habe hinreißen lassen. Ziehen Sie Ihren Stuhl näher heran, Sir.“

Der Trübsinnige tat es; der Kreis versammelte sich um den Tisch, und die frühere Eintracht war wiederhergestellt. In Mr. Winkles Brust schien noch eine Spur heimlichen Unmutes zurückgeblieben zu sein – in bezug auf die temporäre Entwendung seines Frackes –, aber es ist kaum denkbar, daß ein so geringfügiger Umstand auch nur ein vorübergehendes Gefühl des Mißbehagens in der Seele eines Pickwickiers sollte hervorgerufen haben. Abgesehen davon war übrigens die Heiterkeit wieder völlig hergestellt, und der Abend endete auf dieselbe trauliche Weise, wie er begonnen hatte.

Einunddreißigstes Kapitel


Einunddreißigstes Kapitel

Mr. Bob Sawyer gibt eine lustige Abendgesellschaft in seiner Wohnung im Borough.

In der Gegend von Landstreet herrscht gewöhnlich eine Ruhe, die die Seele melancholisch stimmt. Immer sind in ihr eine Menge Häuser zu vermieten, und wer sich von der Welt zurückzuziehen wünscht und der Möglichkeit einer Versuchung entgehen will, zum Fenster hinauszusehen, dem kann nur angelegentlichst geraten werden, eine Wohnung in Landstreet zu beziehen.

Die Mehrzahl der Bewohner wendet ihre Tätigkeit unmittelbar der Vermietung möblierter Zimmer zu oder widmet sich dem gesunden und muskelstärkenden Geschäfte des Wäschemangelns. Die Hauptformen der unbelebten Natur in. dieser Straße sind grüne Fensterläden, Mietzettel, messingene Türplatten und Glockenzüge; die Hauptarten der belebten sind der Küchenjunge, der Semmelbursche und der Kartoffelmann. Die Mieter sind eine Art von Zugvögeln; sie verschwinden gewöhnlich am Ende des Quartals und meistens zur Nachtzeit. Die Einkünfte Seiner Majestät werden in diesem Paradiese nur selten eingesammelt, die Zinse sind unsicher, und die Trinkwasserleitungen werden sehr häufig gesetzlich gesperrt.

An dem Abend, zu dem Mr. Pickwick eingeladen worden war, saßen Mr. Bob Sawyer und Mr. Ben Allen im Vorderzimmer des Erdgeschosses am Kamin, einander gegenüber. Die Vorbereitungen zum Empfang der Gäste schienen bereits vollendet. Der Regenschirmständer im Hausflur war in der kleinen Ecke vor der Stubentür untergebracht, die Haube und der Schal des Dienstmädchens vom Treppengeländer entfernt, ein Paar Überschuhe standen auf der Strohmatte am Haustor, und auf dem Gesims des Treppenfensters brannte ein munteres Küchenlicht mit einer sehr langen Schnuppe. Mr. Bob Sawyer hatte die Getränke in einem Weingewölbe in der Highstreet eigenhändig eingekauft und den Träger derselben begleitet, um der Möglichkeit der Ablieferung in einem unrechten Hause vorzubeugen. Der Punsch wartete in einem roten Krug im Schlafgemach, ein mit grünem Tuch überzogenes Tischchen war von einem Mitbewohner des Hauses geborgt worden, um als Spieltisch verwendet zu werden, und die Gläser des Etablissements samt denen, die man aus einem Wirtshaus entlehnt, standen auf einem stummen Diener auf dem Treppenabsatz vor der Tür. Trotz dieser höchst befriedigenden Anordnungen lag eine Wolke auf Mr. Bob Sawyers Mienen, als er am Fenster saß und auch die Züge Mr. Ben Allens trugen das gleiche Gepräge, während er aufmerksam auf die Kohlen starrte, und seine Stimme hatte etwas Melancholisches, als er nach einer langen Pause das Stillschweigen brach:

„Es ist wirklich ärgerlich, daß sie es sich in den Kopf gesetzt hat, gerade bei dieser Gelegenheit auf die Pauke zu hauen. Sie hätte wenigstens bis morgen warten können.“

„Aus purer Bosheit“, brach Mr. Bob Sawyer los. „Sie sagt, wenn ich Gesellschaften geben könne, müsse ich auch imstande sein, ihre verdammte ,kleine Rechnung‘ zu bezahlen.“

„Wie lange läuft sie denn jetzt?“ fragte Mr. Ben Allen.

Eine Rechnung ist, beiläufig gesagt, das merkwürdigste Perpetuum mobile, das der menschliche Scharfsinn je ausgedacht hat. Sie würde das längste Menschenleben lang laufen, ohne je aus eigenem Antrieb stehenzubleiben.

„Bloß ein Vierteljahr und einen Monat oder so was“, erwiderte Mr. Bob Sawyer.

Ben Allen hustete hoffnungslos und richtete einen forschenden Blick auf die beiden Stangen am Ofen.

„Es wäre doch eine verdammte Geschichte, wenn sie sich in den Kopf setzen würde, vor der Gesellschaft hier aufzubegehren, was?“ sagte er endlich.

„Schauderhaft“, versetzte Bob Sawyer, „schauderhaft.“

Ein leises Pochen ließ sich in diesem Moment an der Zimmertür hören. Bob Sawyer warf seinem Freund einen bedeutsamen Blick zu, rief: „Herein!“, und ein schmutziges, schlampiges Mädchen in schwarzen Baumwollstrümpfen, die ganz gut für die verwahrloste Tochter eines dienstunfähigen Straßenkehrers in reduzierten Umständen hätte gelten können, steckte den Kopf herein und sagte:

„Mit Verlaub, Mr. Sawyer, Mrs. Raddle wünscht Sie zu sprechen.“

Ehe aber noch Mr. Bob Sawyer etwas erwidern konnte, verschwand das Mädchen plötzlich mit einem gellenden Schrei, wie wenn ihr jemand von hinten einen heftigen Stoß versetzt hätte, und unmittelbar nach diesem geheimnisvollen Verschwinden erfolgte ein abermaliges Klopfen – ein kurzes entschiedenes Klopfen, das zu sagen schien: „Hier bin ich und lasse mich nicht abweisen.“

Bob Sawyer starrte seinen Freund mit einem Blick hoffnungsloser Angst an und rief abermals:

„Herein!“

Die Erlaubnis wäre indes nicht notwendig gewesen, denn ehe er das Wort ausgesprochen, stürzte eine grimmerfüllte kleine Person ins Zimmer, an allen Gliedern zitternd vor Zorn und ganz bleich vor Wut.

„Na, Mr. Sawyer“, keuchte sie, bemüht, möglichst ruhig zu erscheinen, „wenn Sie die Güte haben wollen, meine kleine Rechnung da zu berichtigen, so werde ich Ihnen sehr dankbar sein, denn ich muß heute mittag ebenfalls meine Miete bezahlen, und der Hausbesitzer wartet unten.“ Dabei rieb sie sich die Hände und blickte unverwandt über Mr. Sawyers Kopf auf die Wand.

„Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie in Ungelegenheiten bringe, Mrs. Raddle“, stotterte Bob Sawyer demütig, „aber …“

„Oh, von Ungelegenheiten ist nicht die Rede“, entgegnete die kleine Frau mit schrillem Ton. „Ich habe es bis jetzt noch nicht gebraucht, und da war’s mir gleichgültig, ob Sie es hatten oder ich, wo ich’s sowieso dem Hausherrn geben muß. Sie haben mir’s zu heute nachmittag versprochen, Mr. Sawyer, und jeder Gentleman, wo hier gewohnt hat, hat sein Wort gehalten, wie das auch natürlicherweise von jedem erwartet werden muß, wo sich für einen Gentleman ausgeben tut.“

Und Mrs. Raddle schüttelte ihr Haupt, biß sich in die Lippen, rieb ihre Hände noch stärker und blickte noch starrer nach der Wand. Man konnte deutlich sehen, wie Mr. Allen bei einer späteren Gelegenheit in orientalisch-allegorischem Stil bemerkte, daß sie zu „dampfen“ anfing. „Es tut mir sehr leid, Mrs. Raddle“, sagte Bob Sawyer mit aller erdenklichen Demut; „aber das Geld, das man mir heute in der City versprochen hat, ist ausgeblieben. Es ist wirklich ein Pech, der Geldgeber hat es mir als ganz sicher zugesagt.“

„Ganz gut, Mr. Sawyer“, schrillte Mrs. Raddle und pflanzte sich entschlossen auf eine in den Kidderminsterteppich gewebte purpurfarbene Blume, „aber was geht das mich an, Sir?“

„Ich – ich – zweifle nicht, Mrs. Raddle“, erwiderte Mr. Sawyer, die letzte Frage scheinbar überhörend, „daß wir noch vor Mitte der nächsten Woche miteinander abrechnen können, und dann soll es künftighin besser gehen.“

Mehr verlangte Mrs. Raddle nicht. Sie war mit so bestimmter Absicht, einen Skandal zu machen, in des unglücklichen Bob Sawyers Zimmer gestürzt, daß sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei sofortiger Bezahlung kaum zufriedengegeben hätte, und war in der vorzüglichsten Stimmung zu einem kleinen Herzenserguß, zumal da sie soeben in der Küche mit Mr. Raddle eine Art Generalprobe zu dem Zweck abgehalten hatte. „Nehmen Sie etwa an, Mr. Sawyer“, begann sie und erhob dabei ihre Stimme, um der Nachbarschaft das Verständnis zu erleichtern, „nehmen Sie etwa an, ich lasse Tag für Tag einen Burschen bei mir wohnen, wo nie daran denkt, seine Miete zu bezahlen – noch nich mal die baren Auslagen für frische Butter, Zucker und Milch, wo ich ihm zum Frühstück besorge? – Nehmen Sie etwa an, eine fleißige Frau, wo schwer arbeiten tut und schon zwanzig Jahre in diese Straße gewohnt hat – zehn Jahre auf die andre Seite und neundreiviertel Jahr in dies Haus hier –, hat weiter nichts zu tun, als sich für Tagediebe totzurackern, wo dauernd bloß rauchen und saufen und Maulaffen feilhalten, anstatt sich ’ne Beschäftigung zu suchen, damit sie ihre Rechnungen bezahlen können? Nehmen Sie etwa …“

„Aber liebe Frau“, unterbrach Mr. Benjamin Allen begütigend.

„Sind Sie so gut und behalten Sie Ihre Bemerkungen für sich, ja“, rief Mrs. Raddle, bremste plötzlich den mitreißenden Schwung ihrer Rede ab und wandte sich mit eindrucksvoller Gemessenheit und Feierlichkeit an den Sprecher. „Ich bin mir gar nicht die Sache bewußt, Sir, daß Sie irgendwie berechtigt sind, eine Anrede an mir zu richten. Soviel ich weiß, habe ich das Zimmer nicht an Ihnen vermietet, Sir.“

„Nein, das haben Sie freilich nicht“, gab Mr. Benjamin Allen zu.

„Na also“, erwiderte Mrs. Raddle voll stolzer Höflichkeit, „dann begnügen Sie sich vielleicht am besten damit, den armen Leuten in den Spitälern Arme und Beine zu knacken und den Dreck vor Ihre eigene Tür wegzufegen, sonst könnten sich Leute finden, wo Ihnen daran erinnern möchten.“

„Sie sind aber wirklich sehr unvernünftig“, wandte Mr. Benjamin Allen ein.

„Gestatten Sie mal, junger Mann“, sagte Mrs. Raddle noch lauter und nachdrücklicher, „war die Bemerkung etwa auf meine Person gerichtet?“ „Sie war; na und?“ sagte Mr. Benjamin Allen.

„Haben Sie das auf mir gemeint, frage ich Ihnen, Sir?“ schrie Mrs. Raddle, deren Zorn nun. in Weißglut geraten war, und riß die Tür weit auf. „Aber ja, natürlich“, erwiderte Mr. Benjamin Allen.

„Ja, natürlich!“ schrie Mrs. Raddle so laut wie möglich, damit Mr. Raddle in der Küche alles hören konnte. „Ja, natürlich haben Sie das getan! Es weiß ja auch jeder, daß man mich in meinem eigenen Hause ungestraft beleidigen tut, weil mein Mann ganz ruhig unten schnarcht und sich nich mehr um mir kümmern tut wie um ein‘ Straßenköter. Er sollte sich was schämen“, schluchzte Mrs. Raddle, „daß er seine Frau so behandeln läßt, und dazu noch von ein paar junge Menschen, wo die Leute lebendig zerschneiden und zermetzgern tun und bloß Schimpf und Schande für das Haus sind. So ein niederträchtiger, lumpiger, feiger Kerl! Traut sich nicht, raufzukommen und die unverschämten Burschen zu zeigen … Traut sich nicht … Traut sich nicht zu kommen!“

Einen Augenblick hielt Mrs. Raddle inne, um zu horchen, ob die Wiederholung dieser Aufforderung ihre stärkere Hälfte aufgestachelt habe; als sie aber sah, daß sie erfolglos blieb, ging sie unter zahllosem Schluchzen und Seufzen die Treppe hinab, wo man jetzt ein lautes wiederholtes Klopfen am Haustor vernahm. Dann brach sie in ein hysterisches Weinen und jammervolles Geächze und Gewimmer aus, warf in „Ja“, sagte das Mädchen. „Im ersten Stock; die erste Tür, wenn Sie die Treppe raufkommen.“

Dann verschwand das Mädchen, das unter den Ureinwohnern Southwarks aufgewachsen war, mit dem Licht in der Hand nach der Küche hin, vollkommen mit sich selbst zufrieden, da sie alles getan zu haben glaubte, was unter diesen Umständen von ihr verlangt werden konnte.

Mr. Snodgraß, der zuletzt eintrat, verschloß die Tür nach mehreren vergeblichen Versuchen durch Vorziehen der Kette und stolperte mit Mr. Pickwick die Treppe hinauf, wo sie von Mr. Bob Sawyer empfangen wurden, der sich aus Angst, Mrs. Raddle möchte ihm den Weg verlegen, nicht heruntergewagt hatte.

„Wie geht es Ihnen?“ fragte der Student ein wenig verstört. „Sehr erfreut, Sie zu sehen – Achtung, Gläser!“

Die Warnung galt Mr. Pickwick, der seinen Hut auf den Tisch gestellt hatte.

„Ah, Pardon“, entschuldigte sich Mr. Pickwick.

„Hat nichts zu sagen“, erwiderte Bob Sawyer. „Ich bin im Räume etwas beschränkt; aber man muß überall Nachsicht haben, wenn man zu einem Junggesellen kommt. Bitte, treten Sie ein. Diesen Herrn da kennen Sie wohl schon?“

Mr. Pickwick drückte Mr. Benjamin Allen die Hand und seine Freunde folgten seinem Beispiel. Sie hatten sich kaum gesetzt, als man abermals ein Doppelklopfen vernahm.

„Das wird hoffentlich Jack Hopkins sein“, sagte Bob Sawyer. „Ja, er ist’s. Nur herauf, Jack, herauf!“

Man hörte schwere Fußtritte auf der Treppe, und Jack Hopkins trat ein. Er trug eine schwarze Samtweste mit Donner-und-Blitz-Knöpfen und ein blaugestreiftes Hemd mit einem falschen weißen Kragen.

„Warum so spät, Jack?“ fragte Benjamin Allen.

„Wurde im Spital aufgehalten“, erwiderte Hopkins.

„Was gibt’s Neues?“

„Nichts von Belang; aber es war ein ganz eigentümlicher Fall.“

„Darf man Näheres wissen, Sir?“ fragte Mr. Pickwick.

„Es ist ein Mann vom vierten Stockwerk aus dem Fenster gestürzt; aber es ist ein schöner Fall, wirklich ein sehr schöner Fall.“

„Meinen Sie damit, daß der Kranke Hoffnung habe, wieder aufzukommen?“

„Nein“, entgegnete Hopkins gleichgültig, „im Gegenteil, ich bezweifle es sehr. Aber morgen muß eine glänzende Operation stattfinden, ein famoser Anblick, wenn Slasher sie vornimmt.“

„Sie halten also Mr. Slasher für einen geschickten Operateur?“ fragte Mr. Pickwick.

„Es lebt kein besserer auf Erden. In der letzten Woche hat er einem Knaben das Bein abgenommen, der dabei fünf Äpfel und einen Pfefferkuchen aß. Und zwei Minuten, nachdem alles vorüber war, sagte der Junge, er liege nicht da, um sich zum Narren halten zu lassen, und wenn sie nicht bald anfingen, so werde er es seiner Mutter sagen.“

„Wirklich?“ staunte Mr. Pickwick.

„Oh, das ist noch gar nichts“, versetzte Jack Hopkins. „Was, Bob?“

„Ganz und gar nichts“, bekräftigte Mr. Bob Sawyer.

„Beiläufig gesagt“, fuhr Hopkins mit einem kaum bemerkbaren Seitenblick auf Mr. Pickwicks aufmerksames Gesicht fort, „gestern abend wurde ein Kind gebracht, das eine Halskette verschluckt hatte.“

„Was verschluckt, Sir?“ unterbrach Mr. Pickwick.

„Eine Halskette. Es versteht sich: nicht auf einmal, denn das wäre zuviel gewesen – Sie selbst könnten keine verschlucken, viel weniger ein Kind. – Habe ich nicht recht, Mr. Pickwick? Haha!“ – Mr. Hopkins schien an seinem Witz großen Gefallen zu finden und fuhr fort:

„Die Sache war so. Die Eltern des Kindes sind arme Leute und wohnen auf einem Hof. Das älteste Mädchen kaufte sich eine Halskette – eine gewöhnliche Halskette mit großen schwarzen Holzperlen. Das Kind hat seine Freude daran, versteckt die Halskette, spielt damit, zerreißt die Schnur und verschluckt eine Perle. Das machte ihm einen Hauptspaß; es macht sich am folgenden Tage wieder daran und verschluckt eine zweite Perle.“

„Meiner Seel“, rief Mr. Pickwick, „das ist ja etwas Erschreckliches. Doch entschuldigen Sie meine Unterbrechung, Sir, und erzählen Sie uns weiter.“

„Am Tage darauf verschluckte das Kind zwei Perlen, am vierten drei und so fort, bis es in einer Woche das ganze Halsband, bestehend aus fünfundzwanzig Perlen, im Leibe hatte. Die Schwester, ein fleißiges Mädchen, die sich nur selten ein bißchen Putz anschaffte, weinte sich fast die Augen aus über den Verlust der Kette und durchsuchte das Haus von oben bis unten; aber ich brauche wohl nicht zusagen, daß sie sie nicht fand. Einige Tage darauf sitzt die Familie beim Mittagessen um eine gebackne Hammelkeule mit Kartoffeln herum, und das Kind spielt im Zimmer. Auf einmal hört man einen verteufelten Lärm, wie einen kleinen Hagelsturm. ,Lärm doch nicht so, Junge‘, sagte der Vater. ,Ich tue ja nichts‘, antwortete das Kind. ,Nun gut, bleib nur ruhig‘, ermahnte der Vater. – Einige Zeit war alles still, aber auf einmal begann der Lärm aufs neue, ärger als zuvor. ,Wenn du nicht folgst, Junge‘, sagte der Vater, ,mußt du augenblicklich ins Bett.‘ Dabei schüttelte er das Kind, und nun erfolgte ein Gerassel, wie noch nie jemand eins gehört hatte. ,Gott straf mich‘, sagte der Vater, ,mit dem Jungen, ist etwas los; es muß ihm das Kreuz locker geworden sein.‘ – ,Ach nein, Vater‘, schluchzte das Kind und fing an zu weinen, ,ich hab doch die Kette verschluckt.‘ Natürlich nahm der Vater schnell das Kleine und rannte damit ins Spital; die Perlen in seinem Magen rasselten bei der schnellen Bewegung dermaßen, daß die Leute bald in die Luft hinauf-, bald in die Keller hinabsahen, um diesem ungewöhnlichen Geräusch auf die Spur zu kommen. – Das Kind ist noch im Spital“, fügte Jack Hopkins hinzu, „und macht beim Gehen einen so teufelsmäßigen Lärm, daß man es in einen großen Mantel wickeln mußte, damit die übrigen Patienten nicht aus dem Schlaf geweckt würden.“

„Das ist wahrhaftig der außerordentlichste Fall, von dem ich ja gehört habe“, rief Mr. Pickwick mit einem Schlag auf den Tisch.

„Ach Gott“, erwiderte Jack Hopkins, „das will weiter noch nicht viel heißen, was, Bob?“

„Allerdings nicht“, bekräftigte Mr. Bob Sawyer. „Bei unserm Geschäft kommen höchst seltsame Dinge vor, das kann ich Ihnen versichern.“ „Das glaube ich recht gern“, erwiderte Mr. Pickwick.

Ein neues Klopfen an die Tür verkündete das Kommen eines dickköpfigen jungen Mannes mit einem schwarzen Haarwust in Begleitung eines hagern, mit Skorbut behafteten Jünglings. Der nächste Gast war ein Herr, der ein mit kleinen goldnen Ankern geschmücktes Hemd trug, und unmittelbar auf diesen folgte ein blasser Jüngling mit einer plattierten Uhrkette. Die Ankunft eines geckenhaften Burschen mit auffallend saubrer Wäsche und Tuchstiefeln machte die Gesellschaft vollzählig. Der kleine grüne Spieltisch wurde auseinandergezogen, die erste Punschauflage in einem gewaltigen Humpen herbeigebracht und die ersten drei Stunden dem edlen „Siebzehn und vier“, das Dutzend Marken zu sechs Pence, gewidmet – nur ein einziges Mal unterbrochen durch einen kleinen Streit zwischen dem skorbutischen Jüngling und dem Herrn mit den vergoldeten Ankern, wobei der skorbutische Jüngling das glühende Verlangen ausdrückte, dem Herrn mit den Sinnbildern der Hoffnung die Nase einzuschlagen, dieser aber mit großer Entschiedenheit 2u verstehen gab, er lasse sich unter keinen Umständen etwas gefallen, weder von dem zornigen jungen Herrlein mit dem skorbutischen Gesicht noch von sonst irgendeinem Menschen, der einen Kopf auf den Schultern habe.

Als die letzte Runde gemacht und Gewinn und Verlust zur allgemeinen Zufriedenheit festgestellt waren, klingelte Mr. Bob Sawyer nach dem Abendessen, und seine Gäste drückten sich in die verschiedenen Stubenecken, bis es aufgetragen sein würde.

Dies ging indes nicht so schnell, wie man hätte glauben sollen. Vor allem mußte man das Dienstmädchen wecken, das, mit dem Kopf auf dem Küchentisch liegend, eingeschlafen war. Dadurch ging schon einige Zeit verloren, und selbst als sie endlich auf das wiederholte Klingeln erschien, wurde noch eine Viertelstunde mit fruchtlosen Bemühungen zugebracht, ihr einen schwachen Begriff von ihrer Pflicht beizubringen. Dem Mann, bei dem man die Austern bestellt, hatte man nicht gesagt, daß er sie auch öffnen solle; und da es sehr schwer ist, eine Auster mit einem schwachen Messer oder einer zweizinkigen Gabel zu öffnen, so ging die Sache hart und langsam. Das Ochsenfleisch war auch nicht zum besten ausgefallen, und die Hammelkeule, aus dem deutschen Wurstladen an der Ecke geholt, verdiente gleichfalls kein sonderliches Lob. Dagegen war in einer zinnernen Kanne eine Menge Porter vorhanden, und der Käse fand großen Beifall, da er sehr pikant war. So war denn das Essen im großen und ganzen vielleicht gerade so gut, wie es in solchen Fällen überhaupt zu sein pflegt.

Nach Tisch wurde abermals Punsch nebst mehreren andern Flaschen mit geistigen Getränken und ein Teller mit Zigarren hereingebracht. Der Anblick der Gläser erhob Bob Sawyer wieder auf einen Grad von Zuversicht, den er seit seiner Unterhaltung mit der Hausfrau nicht besessen hatte. Sein Gesicht heiterte sich auf, und es wurde ihm wieder ganz wirtshäuslich zumute.

„Jetzt, Betsy“, sagte er sehr freundlich und verteilte den‘ ungeordneten Haufen Gläser, den das Mädchen mitten auf dem Tisch abgeladen hatte, „jetzt, Betsy, bring das warme Wasser und tummle dich ein wenig, liebes Kind.“

„Sie können kein warmes Wasser haben“, erklärte Betsy.

„Kein warmes Wasser?“ rief Mr. Bob Sawyer.

„Nein“, sagte das Mädchen mit einem Kopfschütteln, das den höchsten Grad der Verneinung ausdrückte, „Mrs. Raddle hat gesagt, Sie dürfen keins nich kriegen.“

Das Erstaunen, das sich auf den Gesichtern seiner Gäste abzeichnete, flößte Bob Sawyer Mut ein.

„Bring sofort das warme Wasser! – Sofort!“ befahl er mit verzweifelter Strenge.

„Nein. Kann ich nicht“, erwiderte das Mädchen. „Mrs. Raddle hat das Feuer in der Küche ausgelöscht, bevor sie ins Bett ging, und den Kessel eingeschlossen.“

„Tut nichts, tut nichts. Beunruhigen Sie sich doch nicht wegen einer solchen Kleinigkeit“, tröstete Mr. Pickwick, der den Konflikt der auf Bob Sawyers Angesicht sich spiegelnden Leidenschaften wohl bemerkte, „kaltes Wasser ist auch sehr gut.“

„Gewiß ja“, fügte Mr. Benjamin Allen hinzu.

„Meine Hausfrau hat zuweilen Anfälle von Geistesabwesenheit“, entschuldigte sich Bob Sawyer mit einem gezwungenen Lächeln. „Ich fürchte, ich muß ihr die Wohnung aufkündigen.“

„Tu das lieber nicht“, riet Ben Allen.

„Ich werde wohl müssen“, erwiderte Bob mit heroischer Festigkeit. „Ich will ihr morgen meine Rechnung bezahlen und auf übermorgen aufkündigen.“

Der arme Bursche. Wie sehnlich wünschte er, es nur wirklich auch ausführen zu können.

Mr. Bob Sawyers herzzerbrechende Bemühungen, sich von diesem Schlage zu erholen, übten einen entmutigenden Einfluß auf die Gesellschaft, und der größere Teil suchte seine Heiterkeit dadurch wiederzugewinnen, daß er dem kalten Branntwein mit Wasser so fleißig wie möglich zusprach. Die ersten sichtbaren Wirkungen davon zeigten sich in einer Erneuerung der Feindseligkeiten zwischen dem skorbutischen Jüngling und dem Herrn mit den vergoldeten Ankern. Die beiden kriegführenden Parteien machten ihren Gefühlen gegenseitiger Verachtung eine Zeitlang durch provozierendes Stirnrunzeln und höhnisches Naserümpfen Luft, bis zuletzt der skorbutische Jüngling es für nötig fand, sich deutlicher zu erklären, worauf denn folgende unzweideutige Auseinandersetzung stattfand.

„Sawyer!“ rief der skorbutische Jüngling mit lauter Stimme.

„Was gibt’s, Noddy?“ fragte Bob Sawyer.

„Es tut mir sehr leid, Sawyer, am Tisch eines Freundes, und besonders an dem deinigen, Sawyer, eine Störung zu veranlassen, allein ich muß diese Gelegenheit ergreifen, um Mr. Gunter zu sagen, daß er kein Gentleman ist.“

„Und mir“, fiel Mr. Gunter ein, „mir würde es sehr leid tun, Sawyer, in deiner Straße eine Störung zu verursachen; allein ich fürchte, ich werde mich in die Notwendigkeit versetzt sehen, die Nachbarschaft zu beunruhigen, indem ich den Menschen, der soeben gesprochen hat, zum Fenster hinauswerfe.“

„Was meinen Sie damit, Sir?“ fragte Mr. Noddy.

„Nichts andres, als was ich gesagt habe.“

„Dann möchte ich doch sehen, wie Sie es anstellen, Sir“, höhnte Mr. Noddy.

„Sie werden es in einer halben Minute fühlen, Sir!“

„Ich bitte um Ihre Karte“, sagte Mr. Noddy.

„Gebe ich Ihnen nicht, mein Herr.“

„Warum nicht, Sir?“

„Weil Sie sie an Ihren Spiegel stecken und dadurch Leute, die Sie besuchen, auf den falschen Glauben bringen würden, es sei ein Gentleman bei Ihnen gewesen, Sir.“

„Sir, ich werde morgen früh einen meiner Freunde zu Ihnen schicken“, sagte Mr. Noddy.

„Ich bin Ihnen für diese Mitteilung sehr verbunden, Sir. Ich werde meinem Dienstmädchen jedenfalls einschärfen, die Löffel einzuschließen“, erwiderte Mr. Gunter.

Jetzt legten sich die übrigen Gäste ins Mittel und machten beide Teile auf die Unziemlichkeit ihres Benehmens aufmerksam, worauf schließlich Mr. Noddy um Erlaubnis bat, versichern zu dürfen, daß sein Vater ein ebenso ehrenwerter Mann gewesen sei wie Mr. Gunters Vater, und Mr. Gunter erwiderte, sein Vater sei in jeder Beziehung so respektabel gewesen wie Mr. Noddys Vater, und seines Vaters Sohn sei alle sieben Tage in der Woche ein ebenso rechtschaffener Mensch wie Mr. Noddy. Da diese Äußerungen als Vorspiel zur Erneuerung der Feindseligkeiten betrachtet wurden, mischte sich die Gesellschaft zum zweiten Male ein, und nun entstand ein heftiges Hinundherreden und Gelärme, in dessen Verlauf Mr. Noddy sich allmählich von seinen Gefühlen überwältigen ließ und laut bekannte, er habe von jeher aufrichtige Neigung für Mr. Gunter gehegt. Mr. Gunter erwiderte, Mr. Noddy sei ihm lieber als der eigne Bruder, und als Mr. Noddy dies Geständnis vernahm, stand er großmütig von seinem Sitz auf und bot seinem Widersacher die Hand. Mr. Gunter ergriff sie mit liebevoller Wärme, und alle waren einstimmig der Meinung, der Streit sei auf eine Art geführt worden, die beiden Teilen zu hoher Ehre gereiche.

„Um aber jetzt wieder recht ins Geleise zu kommen, Bob“, schlug Jack Hopkins vor, „so dächte ich, wir singen ein Liedchen.“ Und unter stürmischem Applaus stimmte er das „Gott erhalte unsern König“ an, so laut er konnte zwar, aber nach einer ganz neuen und nicht recht darauf passenden Melodie. Der Chor war geradezu hervorragend, und da jeder der Herren nach der ihm geläufigsten Melodie sang, war die Wirkung hinreißend.

Nach der ersten Strophe erhob Mr. Pickwick lauschend die Hand und sagte: „Ich bitte um Entschuldigung, aber ich glaube, es hat unten jemand gerufen.“

Sofort trat allgemeine Stille ein, und Mr. Bob Sawyer erbleichte sichtlich.

„Ich glaube, ich höre es wieder. Haben Sie doch die Güte, die Tür zu öffnen.“

„Mr. Sawyer! Mr. Sawyer!“ kreischte jetzt deutlich eine Stimme von unten herauf.

„Es ist meine Hausfrau“, erklärte Bob Sawyer, in großer Verlegenheit um sich blickend. „Ja, Mrs. Raddle?“

„Was soll das heißen, Mr. Sawyer?!“ zeterte die gellende Stimme. „Ist es nicht genug, daß man um seinen Hauszins und um die baren Auslagen geprellt und von Ihren Freunden, wo doch Männer von Bildung sein wollen, beschimpft und mißbraucht wird? Mir scheint, Sie wollen auch noch das Haus einreißen und machen um zwei Uhr früh ein‘ Spektakel, daß man mit der Feuerspritze angefahren kommen möchte. – Augenblicklich schicken Sie mir die sauberen Brüder weg!“

„Sie sollten sich vor Ihnen selbst schämen“, erschallte jetzt aus weiter Ferne auch die Stimme Mr. Raddles – wie es schien, unter einer Bettdecke hervor.

„Nein, du sollst dich was schämen“, schrie Mrs. Raddle, „was gehst du nicht rauf und schmeißt sie alle mitsamt die Treppe runter? Wenn du ’n Kerl wärest, würdest du es machen.“

„Ja, wenn ich noch ein Dutzend bei mir hätte, mein Schatz“, erwiderte Mr. Raddle friedfertig, „aber so sind sie mir zahlenmäßig überlegen.“

„Pfui, du Memme“, hörte man Mrs. Raddle mit abgründiger Verachtung sagen. „Wollen Sie das Pack jetzt wegjagen oder nicht, Mr. Sawyer?“

„Die Herren gehen ja schon, Mrs. Raddle“, besänftigte der erbarmungswürdige Bob und wandte sich an seine Freunde: „Ich dächte, es wäre am besten, Sie gingen jetzt. Ich dachte mir gleich, daß Sie zuviel Lärm gemacht haben.“

„Trauriger Fall“, sagte der Geck. „Es wurde doch grade so ’n bißchen gemütlich. Man sollte sich das nicht gefallen lassen. Es ist eigentlich allerhand.“

„Ja, allerhand“, stimmte Jack Hopkins ein, „wir wollen wenigstens noch eine Strophe singen, Bob. Los, feste!“

„Nein, nein, Jack“, fiel Bob Sawyer ängstlich ein. „Das Lied ist zwar wundervoll, aber ich fürchte, es wäre wirklich besser, wenn wir den nächsten Vers nicht singen würden. Die Leute im Hause sind schrecklich grob.“

„Soll ich vielleicht mal die Treppe runtergehen und den Hauswirt in die Mache nehmen?“ erkundigte sich Hopkins, „oder „n bißchen Klingelkonzert machen oder auch ’n bißchen Skandal auf der Treppe? Du brauchst nur zu befehlen, Bob.“

„Ich bin dir von Herzen verbunden für deine Freundschaft und Gutmütigkeit, Hopkins“, sagte der arme Mr. Bob Sawyer, „aber ich denke, wir vermeiden allen weiteren Krach am besten, wenn wir sofort Schluß machen.“

„Na, Mr. Sawyer!“ keifte Mrs. Raddles gellende Stimme wieder, „wann geht denn die Bande endlich?“

„Sie suchen doch bloß noch ihre Hüte, Mrs. Raddle“, besänftigte Bob, „sie gehen ja schon.“

„Gehen schon?“ sagte Mrs. Raddle und erschien im Schmuck einer Nachtmütze, als Mr. Pickwick, gefolgt von Mr. Tupman, eben das Zimmer verließ. „Gehen schon? Was haben die überhaupt hier zu tun gehabt?“

„Meine teure Madam“, begütigte Mr. Pickwick und blickte auf.

„Machen Sie, daß Sie rauskommen, Sie alter Saufbruder“ erwiderte Mrs. Raddle und zupfte ihre Nachthaube schnell wieder herunter. „Sie sind ja alt genug, um der Großvater V0n der Bande zu sein, Sie sind der Schlimmste von allen.“

Mr. Pickwick hielt es für vergebliche Mühe, seine Unschuld zu beteuern, und rannte die Treppe hinab auf die Straße, wohin ihm die Herren Tupman, Winkle und Snodgraß auf dem Fuße nachfolgten. Mr. Ben Allen, den das Trinkgelage und die verschiedenen Auftritte gewaltig angegriffen hatten, begleitete sie bis zur Londoner Brücke und vertraute unterwegs Mr. Winkle als einem Mann von anerkannter Verschwiegenheit an, daß er entschlossen sei, außer Bob Sawyer jeden, der es wagen würde, sich um die Neigung seiner Schwester Arabella zu bewerben, die Kehle durchzuschneiden. Nachdem er seine Entschlossenheit, diese peinliche Bruderpflicht zu erfüllen, noch auf angemessene Weise bekräftigt hatte, brach er in Tränen aus, stülpte sich den Hut bis über die Augen herab, klopfte zu wiederholten Malen an verschiedenen Haustoren von Borough Market an und schlummerte abwechselnd hie und da auf den Treppen bis Tagesanbruch, in der festen Meinung, er wohne hier und habe nur seine Schlüssel vergessen.

Als sich so die Gäste auf die dringende Aufforderung Mrs. Raddles alle entfernt hatten, blieb der unglückliche Bob Sawyer allein zurück und dachte noch lange nach über die wahrscheinlichen Ereignisse des morgigen Tages sowie über die Vergnügungen des Abends.

Zweiunddreißigstes Kapitel


Zweiunddreißigstes Kapitel

Mr. Weller senior macht einige kritische Bemerkungen über Briefstellerei und Poesie und übt mit Hilfe seines Sohnes Samuel eine kleine Wiedervergeltung an dem hochwürdigen Herrn mit der roten Nase.

Am Morgen des dreizehnten Februar, der dem Tag, an dem der Prozeß Mrs. Bardells verhandelt werden sollte, vorausging, hatte Mr. Samuel Weller alle Hände voll zu tun, denn er mußte unaufhörlich von morgens neun Uhr bis mit tags um zwei von dem „Georg und Geier“ nach der Wohnung Mr. Perkers und wieder zurück gehen und kleine Briefe abgeben, in denen Mr. Pickwick, außer sich vor Unruhe seinem Anwalt unaufhörlich die Frage schrieb: „Lieber Perker, steht alles gut?“ Prompt antwortete Mr. Perker jedesmal: „Lieber Pickwick, den Umständen angemessen“, denn es ließ sich nicht gut etwas anderes berichten, ehe nicht die Sitzung des Gerichtshofes am folgenden Morgen vorüber war.

Sam hatte sich mittags mit einem sehr angenehmen kleinen Mahl erquickt und wartete in der Schenkstube auf das warme Getränk, mit dem er sich Mr. Pickwicks Weisung gemäß nach den Mühseligkeiten seiner Morgenwanderung stärken sollte, als ein junger Bursche von etwa drei Fuß Höhe, dessen Fellmütze und Barchent-Überhosen, ebenso wie seine ganze übrige Kleidung den lobenswerten Ehrgeiz verrieten, sich mit der Zeit zur Würde eines Stallknechts aufzuschwingen, in dem Hausflur des „Georg und Geier“ nach ihm verlangte.

„Was, ’n alter Herr hat nach mir gefragt?“ knurrte Sam mit tiefer Verachtung.

„Der Herr, wo die Postkutsche nach Ipswich fährt und bei uns absteigt“, erwiderte der Junge. „Er sagte gestern morgen zu mir, ich soll heute mittag in den ,Georg und Geier‘ gehen und nach Sam fragen.“

„Das is mein Vater, Schätzchen“, erklärte Mr. Weller mit einem erläuternden Blick der jungen Dame in der Schenkstube, „ich glaube wahrhaftig, er weiß meinen Familiennamen nich mehr. Na, und was will er denn von mir, du junger Frechdachs?“

„Na“, erwiderte der Junge, „Sie sollen heute abend um sechs in unser Haus kommen; er will Sie da treffen – ,Blauer Eber‘ auf dem Leadenhall Market. Soll ich ihm sagen, daß Sie kommen?“

„Ja, Sie können das melden, Sir“, erwiderte Sam, und der junge Gentleman entfernte sich, indem er sämtliche Echos in George Yard durch verschiedene diskrete und äußerst korrekte Nachahmungen von Kutscherliedern aufweckte, die er mit klangvollem Tone pfiff.

Nachdem Sam Weller Urlaub von Mr. Pickwick erhalten hatte, der in seinem Zustand von Aufregung und Angst gerne allein blieb, machte er sich lange vor der bestimmten Stunde auf den Weg, und da er noch über hinreichend Zeit zu verfügen hatte, schlenderte er nach Mansion House, wo er haltmachte und mit der Ruhe eines Philosophen die zahllosen Kutschen betrachtete, die sich zum großen Schrecken und zur Beunruhigung der vielen alten Damen dieses Viertels an diesem berühmten Sammelplatz einzustellen pflegten. Allda verweilte er etwa ein halbes Stündchen, kehrte dann um und begann durch eine Reihe von Nebenstraßen den Weg nach dem Leadenhall Market einzuschlagen. Da er seine überflüssige Zeit darauf verwandte, bei allen Gegenständen, die sich seinen Blicken darboten, stehenzubleiben und sie zu betrachten, so darf es nicht wundernehmen, daß er auch vor dem Fenster eines kleinen Buch- und Bilderhändlers haltmachte. Auffallend jedoch war, daß er beim Anblick der diversen zum Verkauf ausgesetzten Bilder plötzlich zusammenfuhr, mit dem rechten Fuß heftig auf den Boden stampfte und lebhaft ausrief: „Wahrhaftig, jetzt hätte ich beinahe die ganze Geschichte vergessen. Und denn nachher wäre es zu spät gewesen.“

Das Bild, an dem Sam Wellers Augen hingen, war ein mit starken Farben aufgetragenes Gemälde zweier durch einen Pfeil verbundener Menschenherzen, die auf einem lustigen Feuer gebraten wurden, während ein Kannibale und eine Kannibalin, beide modern gekleidet, der Herr in einem blauen Frack und weißen Beinkleidern, die Dame in einem dunkelroten Schal mit ditofarbigem Sonnenschirm, sich auf einem mit Kies bestreuten Schlangenpfad mit hungrigen Augen dem Mahl näherten. Ein entschieden unanständig mit ein paar Flügeln und sonst weiter nichts bekleideter junger Herr besorgte das Kochen. In einiger Entfernung erblickte man den Kirchturm von Langham Place, und das Ganze stellte einen Liebesbriefsteller vor, wovon, laut der geschriebenen Ankündigung im Fenster, hier ein großes Lager vorrätig war, das der Buchhändler an seine Landsleute stückweise zu dem herabgesetzten Preis von einem Schilling und sechs Pence zu verkaufen sich anheischig machte.

„Ich hätte es vergessen, wahrhaftig, ich hätte es vergessen“ murmelte Sam, ging sogleich in den Laden und verlangte einen Bogen feines Briefpapier mit goldenem Rand nebst einer hartgeschnittenen Feder, die aber nicht spritzen dürfe, und ging, nachdem er diese Artikel schnell erhalten, beschwingten Schrittes nach dem Leadenhall Market. Hier sah er sich um und erblickte ein Schild, auf dem die Kunst des Malers etwas dargestellt hatte, was eine entfernte Ähnlichkeit mit einem himmelblauen Elefanten darbot, der statt des Rüssels eine Adlernase besaß. Da er daraus mit Recht schloß, dies sei der „Blaue Eber“, trat er in das Haus und fragte nach seinem Vater.

„Er wird erst in drei viertel Stunden oder noch später kommen“, sagte die junge Dame, die den häuslichen Geschäften des „Blauen Ebers“ vorstand.

„Sehr wohl, mein Schätzchen“, erwiderte Sam. „Haben Sie inzwischen die Güte, mir für neun Pence Brandy mit Wasser und zugleich das Schreibzeug zu geben.“

Das Verlangte wurde sogleich in das kleine Gastzimmer gebracht, und nachdem die junge Dame die Kohlen sorgfältig zusammengedrückt hatte, damit sie nicht zu hell lodern sollten, nahm sie das Schüreisen mit, um der Möglichkeit vorzubeugen, daß ohne vorher eingeholte Mitwisserschaft und Erlaubnis des „Blauen Ebers“ das Feuer wieder mehr angefacht würde. Sam Weller setzte sich an einen Tisch nahe am Kamin, zog sein goldgerändertes Briefpapier nebst der hartgeschnittenen Feder aus der Tasche, betrachtete sie sorgfältig, ob sie nicht vielleicht ein Haar in der Spalte habe, blies den Tisch ab, um keine Brotkrumen unter das Papier zu bekommen, schlug seine Rockärmel zurück, legte seine Ellenbogen auf und schickte sich an zu schreiben.

Für die Damen und Herren, die sich in der Wissenschaft der Federführung keine praktischen Kenntnisse erworben haben, ist das Briefschreiben keineswegs eine leichte Aufgabe. Sie halten es in solchen Fällen für unumgänglich notwendig, den Kopf auf den linken Ami niederzubeugen, so daß die Augen möglichst in gleicher Höhe mit dem Papier liegen, und, während Seitenblicke auf die eben entstehenden Buchstaben fallen, die Zunge die entsprechenden Laute nachsprechen zu lassen. So zweckmäßig und förderlich diese Maßnahmen auch unbestreitbar für originelle Kompositionen sein mögen, so verzögern sie doch die Geschwindigkeit beim Schreiben einigermaßen, und Sam hatte, ohne es zu merken, schon volle anderthalb Stunden geschrieben, wobei er häufig mißratene Buchstaben mit seinem kleinen Finger auslöschte und neue an ihre Stelle setzte, wobei oft große Nachhilfe nötig war, um sie durch die alten Flecken hindurch sichtbar zu machen, als er auf einmal durch das Aufgehen der Tür und den Eintritt seines Vaters unterbrochen wurde.

„Na, Sammy!“ rief Mr. Weller senior.

„Na, alte biedere Haut!“ antwortete der Sohn und legte die Feder weg. „Wie is es mit der Stiefmutter? Wie lautet die neueste Bekanntmachung?“ „Mrs. Weller verbrachte ’ne recht gute Nacht; aber sie is heute morgen vollkommen verdreht und launisch; unterzeichnet: S- Weller, Hochwohlgeboren senior. Das is die letzte Nachricht, wo ausgegeben wurde, Sammy“, antwortete Mr. Weller und knotete sein Halstuch auf.

„Also noch nich besser?“ forschte Sam.

„Ach was, alle Anzeichen haben sich verschlimmert“, entgegnete Mr. Weller kopfschüttelnd. „Aber was treibst du da? Womöglich wissenschaftliche Beschäftigung unter erschwerende Umstände, Sammy?“

„Ich bin schon fertig“, sagte Sam etwas verlegen, „hab da bloß was geschrieben.“

„Das sehe ich“, erwiderte Mr. Weller, „aber doch nich etwa an ’n junges Frauenzimmer, Sammy, will ich doch hoffen?“

„Warum soll ich es nich sagen?“ versetzte Sam. „Es is ’n Liebesbrief.“

„Was is es?“ rief Mr. Weller, offensichtlich starr vor Entsetzen über dieses Wort.

„’n Liebesbrief“, wiederholte Sam.

„Samuel, Samuel!“ sagte Mr. Weller in vorwurfsvollem Ton, „das hätte ich nicht von dir erwartet. Wo dir doch die lästerliche Neigung deines Vaters hätte warnen müssen, wo ich dir so viel über diese Sache gesagt habe, wo du sogar selber deine Stiefmutter gesehen hast und mit ihr zusammen gewesen bist, da würde ich doch annehmen, das mußte dir eine moralische Lehre sein, wo niemand vergessen kann. Bis zu seinem letzten Tage nich! Das hätte ich nicht erwartet Sammy, das hätte ich nicht erwartet, daß du so was machen würdest!“ Der gute alte Mann wurde von seinen eigenen Betrachtungen überwältigt; er führte Sams Krug an seine Lippen und trank ihn aus.

„Na, was is denn dabei?“ sagte Sam.

„Jedenfalls, Sammy“, erwiderte Mr. Weller, „wird es mir auf meine alten Tage ein schwerer Kummer sein. Aber ich bin ja zum Glück schon ziemlich zähe geworden, und das ist mein Trost, wie der alte Puter sagte, als der Pächter meinte, er wollte ihn für den Markt schlachten.“

„Was wird dir Kummer machen?“ erkundigte sich Sam.

„Wenn ich dir verheiratet sehen werde, Sammy, wenn ich dir als betörtes Schlachtopfer erblicken muß“, erwiderte Mr. Weller, „wo obendrein noch in seiner unschuldigen Dummheit glaubt, daß es glücklich wird. Ach, Sammy, das is ’n schrecklicher Kummer für ’n Vaterherz.“ „Unsinn!“ sagte Sam. „Ich will mir doch gar nich verheiraten. Mach dir keine Sorgen deswegen; ich weiß doch, daß du in solchen Sachen orntlich beschlagen bist. Steck dir ’ne Feife ins Gesicht, und ich will dir den Brief vorlesen.“

Ob es nun die Aussicht auf die Pfeife oder der tröstliche Gedanke war, daß ein Heiratstrieb unwiderstehlich im Blut der Familie stecke, was Mr. Wellers Unruhe beschwichtigte und seinen Kummer verscheuchte, jedenfalls klingelte er, um sich Tabak bringen zu lassen, zog seinen Überrock aus, nahm die Pfeife, stellte sich mit dem Rücken gegen den Kamin, so daß er dessen volle Hitze empfing und sich zugleich an das Kaminsims anlehnen konnte, wandte sich zu Sam und bat ihn mit einer durch den besänftigenden Eindruck des Tabaks um ein Erkleckliches aufgeheiterten Miene um Feuer.

Sam tauchte seine Feder ein, um sich zu allen nötigen Verbesserungen bereit zu halten, und begann mit theatralischem Pathos: “ ,Liebliches …'“

„Halt!“ unterbrach Mr. Weller und klingelte wieder, „’n Doppelglas von dem Bewußten, liebes Kind!“

„Ganz recht, Sir“, erwiderte das Mädchen, das mit großer Schnelligkeit erschien, verschwand, wieder erschien und wieder verschwand.

„Sie scheinen deinen Geschmack hier schon zu kennen“, bemerkte Sam. „Also: ,Liebliches Wesen …'“

„Stürzt du dir etwa in Verse?“ unterbrach der Vater.

„Nein, nein!“ versicherte Sam.

„Das freut mich zu hören. Verse sind was ganz Unnatürliches, kein Mensch redet in Verse, außer den Büttel an Boxtage oder die, wo Warrens Schuhwichse oder Makassaröl ausschreien und anderes Lumpengesindel von der Sorte. Du darfst also nie im Leben so weit runterkommen, mein Sohn, daß du in Verse sprichst.“ – Mr. Weller führte mit kritischer Feierlichkeit seine Pfeife wieder an den Mund, und Sam begann abermals: “ ,Liebliches Wesen, ich fühle mir ganz beschmiert…'“

„Is kein schicklicher Ausdruck“, verwies Mr. Weller und nahm die Pfeife aus dem Mund.

„Ach nein, heißt auch nicht ,beschmiert'“, wandte Sam ein und hielt den Brief ans Licht, „es heißt ,beschämt‘, es is ’n Tintenklecks da – ,ich fühle mir beschämt!‘ „

„Na gut“, brummte Mr. Weller, „weiter!“

“ ,Fühle mir beschämt und gänzlich ver…‘ Da weiß ich schon wieder nich, wie das Wort heißt“, murmelte Sam und kratzte sich in vergeblichen Bemühungen, die Buchstaben zu entziffern, mit der Feder am Kopf.

„Warum liest du nich?“ forschte Mr. Weller.

„Ich lese doch“, antwortete Sam, „aber da is schon wieder so ’n Tintenklecks; ich erkenne bloß ’n v und ’n e.“

„Verloren vielleicht?“ riet Mr. Weller.

„Nö, is es nich. Verzaubert. Das is es!“

„Is aber kein so gutes Wort wie ,verloren‘, Sammy“, wendete Mr. Weller ernsthaft ein.

„Meinst du nich?“

„Mag vielleicht zärtlicher sein“, gab Mr. Weller nach einigem Nachdenken zu. „Lies weiter, Sammy!“

“ ,Fühle mir beschämt und vollständig verzaubert, indem daß ich an Ihnen schreibe, denn Sie sind so ein hübsches Mädchen, wie keine andere nicht.‘ „

„Sehr hübsch gesagt“, meinte Mr. Weller senior und nahm die Pfeife aus dem Mund, um seiner Bemerkung Platz zu machen.

„Ja, ich denke, es is nich übel“, gab Sam zu und fühlte sich höchlichst geschmeichelt.

„Was mir an diese Art Schreibweise besonders gefallen tut“, sagte Mr. Weller senior, „is, daß da keine solche fremden Namen drin vorkommen, keine Venüsse und so was; was kommt dabei raus, Sammy, daß man ein junges Weibsbild Venus oder Engel nennt?“

„Da hast du ganz recht“, erwiderte Sam.

„Ebensogut könntest du sie Vogel Greif oder Einhorn nennen, was doch bekanntlich auch bloß fabelhafte Tiere sind, was?“

„Ganz richtig. – Also: ,Bevor ich Ihnen zu Gesicht bekam, dachte ich, alle Frauenzimmer sind egal…'“

„Das sind sie aber auch“, warf Mr. Weller senior in Parenthese hin.

„, … aber jetzt merke ich erst, was für ein Hornochse ich gewesen bin, denn es gibt kein Frauenzimmer, wo Ihnen gleichen tut, und ich liebe Ihnen mehr, als wie alle andern zusammen.‘ – Ich dachte, es haut am besten hin, wenn ich’s ’n bißchen wuchtig mache“, erklärte Sam aufschauend.

Mr. Weller nickte beifällig.

„,Ich bediene mir also, Mary, mein Schatz, mit dem Prifilegium dieses Tages – wie der verschuldete Schenlmän, als er am Sonntag ausging – um Ihnen zu sagen, daß Ihr Bild sich das erste und einzige Mal, als ich Ihnen sah, schneller und in glänzendere Farben in mein Herzen eindrückte, als wie jemals ein Bild von der Silhouttiermaschine aufgefaßt wurde (Sie haben vielleicht auch schon von gehört, liebste Mary), obgleich dieselbe ein Portreh nebst Rahmen, Glas und Haken zum Aufhängen innerhalb von zweiundeineviertel Minute fix und fertig macht.'“ „Ich habe Sorge, Sammy, das streift schon wieder ans Poetische“, meinte Mr. Weller unschlüssig.

„Ganz und gar nicht“, erwiderte Sam und las schnell weiter, um weitere Erörterungen über diesen Punkt zu vermeiden. „,Nehmen Sie mir als Ihren Fallentin an, schönste, und überlegen Sie, was ich gesagt habe. – Meine teuerste Mary, jetzt will ich schließen.‘ – Das is alles“, setzte er hinzu.

„’n bißchen plötzlich angehalten, Sammy“, meinte Mr. Weller.

„Ach wo“, erklärte Sam. „Sie wird eben wünschen, daß noch mehr kommt, und das is eben die große Kunst beim Briefschreiben.“

„Na gut. Auch nich ohne. Ich wünschte bloß, daß deine Stiefmutter sich in ihre Unterhaltungen nach dasselbe Prinzip richten würde. Aber willst du nich mit Namen unterzeichnen?“

„Das ist doch die Schwierigkeit“, meinte Sam, „ich weiß nich, wie ich unterzeichnen soll.“

„Unterzeichne doch .Weller'“, riet der älteste noch lebende Träger dieses Namens.

„Nicht doch“, sagte Sam, „als Fallentin darf man doch nicht mit dem eigenen Namen unterzeichnen.“

„Na, denn schreib ,Pickwick‘. ’s is ’n sehr hübscher Name und läßt sich auch leicht buchstabieren.“

„Da hast du recht“, sagte Sam. „Da könnte ich auch mit ’nem Vers schließen. Was hältst du davon?“

„Will mir nich recht gefallen, Sam. Habe noch nie ’n ehrenwerten Kutscher kennengelernt, wo in Verse schreiben tat, außer einen einzigen, und der wurde in der Nacht darauf wegen Straßenraubs gehängt, ’s war aber bloß einer aus Camberwell und muß also als Ausnahme angesehen werden.“ Sam ließ sich jedoch von seiner poetischen Idee, die sich in seinem Kopf festgesetzt hatte, nicht mehr abbringen und schrieb unter den Brief:

„Von Liebe krank den Brief ich schick

Ihr guter Freund Pickwick.“

Sodann faltete er das Schreiben auf eine höchst verwickelte Art zusammen und verfertigte in einem schiefen Winkel die Adresse: „An Mary, Dienstmädchen bei Mayor Nupkins, Ipswich, Suffolk“, versiegelte es und steckte es in seine Tasche, um es selbst auf die Post zu tragen. Nachdem dieses ‚Wichtige Geschäft beendet war, brachte Mr. Weller senior die Angelegenheit, deretwegen er seinen Sohn hatte rufen lassen zur Sprache.

„Vor allem, Sammy“, sagte er, „wollen wir von deinem Herrn sprechen. Wird nich sein Prozeß morgen verhandelt werden?“

„Allerdings.“

„Na gut. Ich habe mir nun gedacht, er wird vielleicht ’n paar Zeugen brauchen, damit daß er seinen guten Ruf nachweisen tut, oder vielleicht auch seinen Alibi. Die ganze Geschichte is mir lange im Kopf rumgegangen, aber jetzt kann er ohne Sorgen sein, Sammy. Ich habe ’n paar Freunde parat, die werden beides für ihn beschwören; ich habe bloß noch den Rat für ihn, daß er nich so sehr fest auf seinem guten Ruf bestehen soll, lieber soll er sich mit den Alibi begnügen. Ich versichere dir, Sammy, es geht nichts über einen Alibi.“

Mr. Weller blickte sehr gelehrt drein, als er dieses Rechtsgutachten abgab, begrub seine Nase in dem Humpen und blinzelte über den Rand hinüber seinem erstaunten Sohne zu.

„Was meinst du damit?“ fragte Sam. „Glaubst du vielleicht, sein Prozeß wird in Old Bailey verhandelt?“

„Kommt hier weiter nich in Betracht, Sammy. Die Sache mag abgehandelt werden, wo sie will, ’n Alibi muß seine Freisprechung bewirken. Wir haben Tom Wildpark, der auf Totschlag angeklagt war, mit ’nem Alibi losgekriegt, als alle die gelehrten Perücken, dachten, ihn kann nichts mehr retten. Wenn dein Herr keinen Alibi nich nachweisen kann, denn is er unten durch, wie die Italiener sagen.“

Da Mr. Weller der festen und unabänderlichen Überzeugung war, Old Bailey sei der oberste Gerichtshof des Landes und nach seinen Normen müßten sich alle übrigen richten, so achtete er sehr wenig auf die Versicherungen und Beweisgründe seines Sohnes, der ihm auseinandersetzen wollte, daß ein Alibi hier unzulässig sei, und behauptete mit großer Heftigkeit, in diesem Fall werde Mr. Pickwick „ein Schlachtopfer“. Als Sam sich endlich überzeugt hatte, daß ein weiteres Streiten über diesen Gegenstand doch zu nichts führen würde, brach er davon ab und fragte nach dem zweiten Punkt, über den sein verehrter Vater sich mit ihm zu beraten wünschte.

„Es betrifft die häuslichen Angelegenheiten, Sammy“, sagte Mr. Weller. „Dieser Stiggins da …“

„Der Rotnasige?“

„Ja, derselbe. Dieser rotnasige Schlingel besucht deine Stiefmutter mit ’ner Freundlichkeit und Beharrlichkeit, wo ihresgleichen sucht. Er is ’n solcher Freund unsrer Familie, Sammy, daß es ihm außerhalb unsres Hauses nirgends wohl ist, wofern er nich irgend ’n Andenken an uns hat.“ „An deiner Stelle“, meinte Sam, „würde ich ihm ’n Denkzettel auf ’n Rücken schreiben, den er die nächsten zehn Jahre nich vergessen sollte.“

„Nur nichts übereilen“, wandte Mr. Weller ein, „ich wollte gerade sagen, er bringt jedesmal ’ne Flasche mit, wo so ihre anderthalb Maß enthält, und ehe er geht, füllt er sie mit Ananasgrog.“

„Und wahrscheinlich leert er sie jedesmal, bevor er wiederkommt?“

„Bis auf den letzten Tropfen! Er läßt nich mehr übrig als den Korken und den Geruch. Und diese Halunken wollen heute nacht an der Monatsversammlung von der Bricklane-Abteilung, von den vereinigten großen Ebenezer-Mäßigkeitsvereinen dran teilnehmen. Deine Stiefmutter wollte auch hingehen, Sammy, aber sie hat sich verkühlt und kann nich; na, und da habe ich die beide Einlaßkarten eingesteckt, wo sie ihr geschickt haben.“

Mr. Weller brachte dieses Geheimnis mit großer Fröhlichkeit vor und blinzelte dabei so unermüdlich, daß Sam schon glaubte, er habe einen Krampf im rechten Augenlid.

„Na und?“

„Na und“, fuhr Sams Erzeuger fort und blickte vorsichtig umher, „wir beide wollen heute abend frühzeitig hingehen, und der Vizehirt will nich, Sammy, der Vizehirt will nich.“

Wie von einem Paroxismus ergriffen, fing Mr. Weller aus vollem Halse zu lachen, an und lachte so lange, als es ein ältlicher Herr nur wagen kann, wenn er nicht geradezu ersticken will.

„Sammy“, flüsterte er dann und blickte mit noch größerer Vorsicht um sich, „ich muß dir was erzählen. Zwei von meine Freunde, was auf der Oxfordstreet fahren tun und gerne mal ’n Spaß haben, die haben den Vizehirten ins Schlepptau genommen, und wenn er in den Ebenezer-Verein kommt, denn wird er so voll Grog sein, wie er jemals im ,Marquis von Granby‘ gewesen is, und das will bestimmt allerhand heißen.“

Bei diesen Worten schlug Mr. Weller senior abermals ein unmäßiges Gelächter an und verfiel aufs neue in einen Zustand unvollständiger Erstickung.

Nichts hätte mit Sam „Wellers Gefühlen und Wünschen mehr übereinstimmen können als dieser Plan zur Entlarvung des rotnasigen Heuchlers, und da die Zeit zur Versammlung herannahte, machte er sich mit seinem Vater auf den Weg nach Bricklane; dabei vergaß er natürlich nicht, seinen Brief gelegentlich auf einem Postbüro abzugeben.

Die monatlichen Versammlungen der Bricklane-Abteilung des Vereinigten großen Ebenezer Mäßigkeitsvereins wurden in einem großen freundlich und luftig gelegenen Saal gehalten, in den man vermittels einer sichern und bequemen Leiter leicht gelangen konnte. Präsident war ein gewisser Mr. Anthony Humm, ein bekehrter Spritzenmann, derzeit Schulmeister und gelegentlich Wanderprediger. Das Sekretariat bekleidete Mr. Jonas Mudge, Inhaber eines Kramladens, ein enthusiastisches, uneigennütziges Mitglied, das an die Gesellschaft den Tee verkaufte, denn vor Beginn der Geschäfte pflegten die Damen, auf Bänken sitzend, so lange Tee zu trinken, bis sie nicht mehr konnten, während auf dem mit einem grünen Tuch überzogenen Amtstisch, jedermann weithin sichtbar, eine große hölzerne Geldbüchse stand und hinter ihr der Sekretär, um jeden neuen Zuwachs der darin verborgenen Kupfermünzensammlung mit holdseligem Lächeln zu quittieren.

Dieses Mal tranken die Damen wirklich unglaublich viel Tee, zum großen Abscheu Mr. Wellers senior, der trotz aller warnenden Winke Sams mit dem unverstelltesten Erstaunen nach allen Richtungen umherstarrte.

„Sammy“, flüsterte er, „wenn morgen früh nich mehrere von die Weiber abgezapft werden müssen, denn bin ich nich dein Vater, und damit Punktum. Sieh bloß, die Alte da neben mir ersäuft noch im Tee.“

„Kannst du denn gar nich ruhig sein?“ brummte Sam.

„Sammy“, flüsterte Mr. Weller einen Augenblick später im Ton tiefster Bewegung, „merke dir, was ich jetzt sagen tue: Wenn der Sekretär da bloß noch fünf Minuten so weitermacht, denn muß er vor lauter Butterbrot und Wasser auseinanderplatzen.“

„Na, laß ihn doch, wenn es ihm Spaß macht“, erwiderte Sam, „es geht dir doch nichts an.“

„Wenn das so weitergeht, Sammy“, flüsterte Mr. Weller, der sich gar nicht beruhigen konnte, „denn halte ich es für meine Menschenpflicht, aufzustehen und mir an den Präsidenten zu wenden. Dort auf der dritten Bank, da sitzt ’n junges Frauenzimmer, die hat schon neuneinhalb große Tassen getrunken; die schwillt richtig an, ich seh es ganz deutlich.“

Ohne allen Zweifel hätte Mr. Weller seine wohlwollende Absicht sofort ausgeführt, hätte ihn nicht zum Glück ein großes Geräusch, das durch Abräumen der Tassen und Kannen entstand, daran erinnert, daß die Teezeit vorüber war. Nach Entfernung des Geschirrs wurde der grüne Tisch mitten in den Saal gestellt, und ein sehr lebhafter kleiner Mann mit einem Kahlkopf und lichtbraunen Kniehosen, der hurtig und mit augenscheinlicher Gefahr, seine zwei in besagte lichtbraune Hosen eingeschlossene Schenkelchen zu verlieren, die Leiter erkletterte, eröffnete die Sitzung mit der Ansprache:

„Meine Herren und Damen, ich mache den Vorschlag, daß unser vortrefflicher Bruder, Mr. Anthony Humm, den Präsidentenstuhl einnehme.“

Die Damen ließen auf diesen Vorschlag eine auserlesene Sammlung von Taschentüchern wehen, und der ungestüme kleine Mann beförderte Mr. Humm im buchstäblichen Sinn des Wortes in den Präsidentenstuhl, indem er ihn an den Schultern nahm und in einen alten Mahagonisessel warf.

Mr. Humm, ein Mann mit blassem Gesicht, der sich beständig in Transpiration befand, verbeugte sich holdselig zum großen Entzücken der Damen und waltete sofort mit würdevoller Feierlichkeit seines Amtes. Der kleine Mann in den lichtbraunen Hosen gebot Stillschweigen und las folgendes Dokument vor:

„BERICHT
DES KOMITEES DER BRICKLANE-ABTEILUNG
DES VEREINIGTEN GROSSEN EBENEZER
MÄSSIGKEITSVEREINS

Das Komitee hat im verflossenen Monat seine dankbaren Arbeiten fortgesetzt und kann mit unaussprechlichem Vergnügen folgende neue Bekehrungen zur Mäßigkeit mitteilen:

I. Mr. Walker, Schneider, nebst Frau und zwei Kindern.

Er bekennt, in bessern Umständen täglich Ale und Bier getrunken zu haben, und weiß nicht mit Bestimmtheit anzugeben, ob er nicht seit zwanzig Jahren wöchentlich zweimal ,Hundsnase‘ genossen hat, ein Getränk, das den Nachforschungen unseres Komitees zufolge aus warmem Porter, Farinzucker, Wacholderbranntwein und Muskatnuß gebraut wird. (Stöhnen und Zustimmung im Publikum.) Gegenwärtig ist er ohne Arbeit und ohne Geld und der Ansicht, daß daran der Porter (Beifall) oder der Umstand schuld ist, daß er seine rechte Hand nicht mehr gebrauchen kann. Er ist zwar noch im Zweifel darüber, hält es aber für sehr wahrscheinlich, daß, wenn er in seinem ganzen Leben nichts als Wasser getrunken hätte, sein Geselle ihn nicht mit einer verrosteten Nadel gestochen und dadurch sein Unglück herbeigeführt haben würde. (Stürmischer Beifall.) Er trinkt jetzt lediglich kaltes Wasser und fühlt sich nicht mehr so durstig wie zuvor. (Lauter Beifall.)

II. Betsy Martin, Witwe mit einem Kind und einem Auge – Sie wäscht um Tagelohn, hat nie mehr als ein Auge besessen, weiß aber, daß ihre Mutter starkes Doppelbier trank, und würde sich nicht wundern, wenn ihr Unglück davon herrührte. Sie hält es nicht für ausgeschlossen, daß sie, wenn sie sich stets geistiger Getränke enthalten hätte, dadurch den Gebrauch ihres andern Auges auch erlangt haben würde.

(Stürmischer Zuruf.) Sie erhielt gewöhnlich an jedem Ort, wohin sie ging, täglich achtzehn Pence, eine Maß Porter und ein Glas Brandy, hat aber, seitdem sie Mitglied der Bricklane-Abteilung geworden, statt dessen immer drei Schilling und sechs Pence verlangt. (Die Verkündigung dieses höchst interessanten Falles wurde mit Enthusiasmus aufgenommen.)

III. Henry Beller – war viele Jahre hindurch Toastausbringer bei den Diners mehrerer Korporationen und hat in dieser Zeit eine Menge ausländische Weine getrunken, mag auch zuweilen eine Flasche oder zwei mit nach Hause genommen haben – weiß dies zwar nicht ganz gewiß, ist aber überzeugt, daß er, wenn er es tat, sie auch ausgetrunken hat. Er fühlt sich sehr niedergeschlagen, hat oft Fieber, leidet an beständigem Durst und glaubt, dies seinem früheren Weintrinken zuschreiben zu müssen. (Beifall.) Ist gegenwärtig ohne Beschäftigung und rührt unter keinen Umständen mehr einen Tropfen fremden Wein an. (Schallender Zuruf.)

IV. Thomas Burton – versorgt den Lordmajor, die Sheriffs und mehrere Mitglieder des Geheimrats mit Katzenfleisch (atemlose Aufmerksamkeit, als der Name dieses Gentleman genannt wird), hat ein hölzernes Bein, findet es kostspielig, damit über das Pflaster zu gehen, pflegte sich alte gebrauchte hölzerne Beine zu kaufen und jeden Abend ein Glas heißen Wacholderbranntwein mit Wasser zu trinken – manchmal auch zwei. (Tiefe Seufzer.) Fand, daß die alten, schon gebrauchten hölzernen Beine sehr schnell zersplitterten und faulten, und ist fest überzeugt, daß ihre Beschaffenheit durch den Genuß von Wacholderbranntwein mit Wasser untergraben wurde. (Anhaltender Beifall.) Kaufte sich kürzlich neue hölzerne Beine und trinkt nichts als Wasser und schwachen Tee. Die neuen Beine halten zweimal so lange als die andern, und er schreibt dies einzig und allein seiner gegenwärtigen Mäßigkeit zu.“ (Triumphgeschrei.)

Anthony Humm machte sodann den Vorschlag, ein Lied zu singen. Mit besonderer Rücksicht auf die geistlich-sittlichen Genüsse der Versammelten habe Bruder Mordlin die schönen Verse: „Wer kennt ihn nicht, den lustigen Matrosen“ und so weiter, einer alten wohlbekannten Volksmelodie angepaßt und bitte nun, ihn bei diesem Liede zu akkompagnieren. (Großer Beifall.) Zugleich nähme er Gelegenheit, seine feste Überzeugung auszusprechen, daß der selige Mr. Dibdin der Komponist, nachdem er die Irrtümer seines früheren Lebenswandels eingesehen, dieses Lied geschrieben habe, um die Vorteile der Enthaltsamkeit darzutun. „Es ist“, sagte Mr. Humm, „ein Temperenzlerlied.“ (Wirbelwind von Beifall.) „Der schmucke Anzug des interessanten jungen Mannes im Liede, die Gewandtheit seiner Bewegungen, der beneidenswerte Gemütszustand, kraft dessen er, um mit den schönen Worten des Dichters zu sprechen, ,Dahingerudert aller Sorgen bar‘ und so weiter, alles dies vereinigt sich zu dem Beweise, daß er ein Wassertrinker gewesen sein muß. (Beifall.) O welch ein Zustand tugendhafter Fröhlichkeit!“ (Entzückter Beifall.) Während des Gesangs verschwand das kleine Männlein mit den lichtbraunen Hosen, kehrte aber nach Beendigung desselben schnell zurück und flüsterte mit überaus wichtiger Miene dem Präsidenten etwas ins Ohr.

„Meine Freunde und Freundinnen“, sprach Mr. Humm, indem er, um Ruhe bittend, seine Hand emporhob, um diejenigen von den alten Damen, die noch um ein paar Takte zurück waren, zum Schweigen zu bringen, „meine Freunde und Freundinnen, ein Abgesandter der Dorkinger-Abteilung unserer Gesellschaft, Bruder Stiggins, wartet unten, erfahre ich soeben.“

Aufs neue flogen die Taschentücher heraus und wehten stärker als je, denn Mr. Stiggins war bei den weiblichen Mitgliedern von Bricklane außerordentlich beliebt.

„Also soll er kommen, dächte ich“, sagte Mr. Humm, mit einem fetten Lächeln um sich blickend. „Bruder Tadger, führen Sie ihn herauf.“

„Er kommt, Sammy“, flüsterte Mr. Weller und wurde vor unterdrücktem Lachen purpurrot im ganzen Gesicht.

„Sprich jetzt nicht“,, mahnte Sam, „ich kann mir sonst nich halten. Er is dicht vor der Tür. Ich höre, wie er mit dem Kopp an die Latten und an die Wand anschlägt.“

Gleich darauf flog die kleine Tür auf und herein trat Bruder Tadger, gefolgt von dem ehrwürdigen Mr. Stiggins, dessen Anblick mit gewaltigem Applaus, Füßegetrampel und Taschentücherwehen begrüßt wurde – Freudenbezeigungen, die er nur dadurch erwiderte, daß er mit stieren Augen und einem dummen Lächeln in das Licht auf dem Tisch glotzte, wobei er höchst unsicher hin und her schwankte.

„Sind Sie unwohl, Bruder Stiggins?“ fragte Mr. Anthony Humm flüsternd.

„Ach was, mir ist ganz gut, Sir“, erwiderte Mr. Stiggins heftig, aber mit schwerer Zunge. „G – ganz g – gut, Sir.“

„Oh, bitte sehr“, entschuldigte sich Mr. Anthony Humm und wich ein paar Schritte zurück.

„Ich hoffe, daß sich hier niemand unterstehen wird, zu sagen, es sei mir nicht g – ganz g – gut, Sir!“ schrie Mr. Stiggins. „Oh, gewiß nicht“, erwiderte Mr. Humm.

„Hätt es auch niemand geraten, Sir; h – hätt es niemand ge – geraten“, lallte Mr. Stiggins.

Inzwischen war die ganze Versammlung mäuschenstill geworden und sah mit Bangigkeit dem weitern Verlauf der Dinge entgegen.

„Wollen Sie vielleicht eine Rede an die Versammlung halten?“ fragte Mr. Humm mit einem einladenden Lächeln.

„Nein, Sir“, erwiderte Mr. Stiggins, „nein Sir; ich will nicht, Sir.“

Die Versammelten blickten einander mit großen Augen an und ein Murmeln der Verwunderung lief durch den Saal.

„Meine Meinung, Sir, ist – „, begann Mr. Stiggins mit sehr lauter Stimme und knöpfte seinen Rock auf, „m – meine M – Meinung, Sir, ist – d – daß diese Versammlung b – betrunken ist, Sir. Bruder Tadger“, fuhr er fort, wurde immer aufgeregter und drehte sich barsch nach dem kleinen Männchen in den lichtbraunen Hosen um, “ Sie sind betrunken, Sir.“

Da naturgemäß Mr. Stiggins den Wunsch hegte, die Nüchternheit der Versammlung zu fördern und deswegen alle ungeeigneten Charaktere auszuschließen, so schlug er nach Bruder Tadger und traf seine Nasenspitze mit solcher Sicherheit, daß die lichtbraunen Höslein wie ein Blitz verschwanden. – Bruder Tadger war kopfüber die Leiter hinabgestürtzt.

Sofort erhoben die Damen ein lautes Jammergeschrei stellten sich gruppenweise vor ihren Lieblingsbrüdern auf und schlangen die Arme um sie, um sie vor Gefahren zu schützen. Dieser Beweis von Zärtlichkeit wäre Mr. Humm beinahe schlecht bekommen, denn da er ungemein beliebt war, so warfen sich ihm so viele fromme Schöne an den Hals und hingen sich so fest an ihn, daß er beinahe erstickt wäre. Der größere Teil der Lichter wurde ausgelöscht, und von allen Seiten hörte man nichts als Geschrei und wildes Lärmen.

„Jetzt, Sammy“, sagte Mr. Weller und entledigte sich mit großer Kaltblütigkeit seines Überziehers, „jetzt geh raus und hole ’n Konstabler.“ „Und was willst du einstweilen unternehmen?“ fragte Sam.

„Laß mich nur machen, Sammy. Ich will inzwischen mit diesem Stiggins ’n bißchen abrechnen.“

Und ehe noch Sam es verhindern konnte, war sein heroischer Vater in einen entfernten Winkel des Saales gedrungen, wo er Ehrwürden Mr. Stiggins mit ungemeiner Geschicklichkeit angriff.

„Komm mit!“ rief ihm Sam zu.

„Nur ran, du Halunke!“ schrie Mr. Weller seinem Gegner zu. Und ohne weitere Aufforderung versetzte er Ehrwürden Mr. Stiggins einen gewaltigen Faustschlag auf den Kopf und tanzte, während er ihn bearbeitete, so flink und lustig um ihn herum, wie man es von einem Herrn in seinem Alter gar nicht erwartet hätte.

Da Sam sah, daß alle seine Vorstellungen vergeblich waren, drückte er seinen Hut fest auf den Kopf, warf seines Vaters Überrock über die Schultern, faßte den alten Herrn fest um den Leib und zog ihn mit Gewalt die Leiter hinab und auf die Straße; ja, er ließ ihn nicht eher los, bis sie die Ecke erreicht hatten.

Von dort noch konnten sie das Geschrei der versammelten Volksmenge, die Zeuge der Abführung Ehrwürden Stiggins in ein wohlverwahrtes Nachtquartier war, und den Lärm vernehmen, unter dem sich die Mitglieder der Bricklane-Abteilung des Vereinigten großen Ebenezer Mäßigkeitsvereins nach allen Richtungen zerstreuten.

Dreiunddreißigstes Kapitel


Dreiunddreißigstes Kapitel

Das einzig und allein einem ausführlichen und wahrheitsgetreuen Bericht über die denkwürdige Gerichtsverhandlung in Sachen Bardell kontra Pickwick gewidmet ist.

„Ich möchte nur wissen, was der Obmann der Geschworenen heute gefrühstückt hat“, sagte Mr. Snodgraß an dem verhängnisvollen Morgen des vierzehnten Februar, um ein Gespräch anzuknüpfen.

„Hoffentlich etwas Gutes“, meinte Perker. „Das ist nämlich sehr wichtig, mein lieber Mr. Pickwick, sehr wichtig. Nur von einem wohlgesättigten zufriedenen Geschwornen läßt sich etwas Tüchtiges erwarten. Mißvergnügte oder hungrige Geschworne aber, mein lieber Herr, sind schon im voraus für den Kläger eingenommen. Aber es ist zehn Minuten über neun“, fügte der kleine Mann, auf seine Uhr sehend, hinzu. „Es ist Zeit, aufzubrechen, mein lieber Herr; ein gebrochenes Eheversprechen – bei solchen Fällen ist der Gerichtssaal gewöhnlich überfüllt. Sie sollten nach einem Wagen schicken, mein lieber Herr, sonst kommen wir zu spät.“

Mr. Pickwick klingelte; der Wagen kam, die drei Jünger und Mr. Perker schlüpften hinein und fuhren nach Guildhall; Sam Weller, Mr. Lowten und der blaue Aktenbeutel folgten in einem Cab.

„Lowten“, sagte Perker, als sie in die Vorhalle des Gerichtshofs traten, „führen Sie Mr. Pickwicks Freunde in die Studentenloge; Mr. Pickwick selbst bleibt besser bei mir. Hierher, wenn ich bitten darf, mein lieber Herr, hierher.“ Dabei faßte der kleine Mann Mr. Pickwick am Rockärmel und führte ihn zu einer niedrigen Bank gerade unter dem Pult des königlichen Prokurators, das zur Bequemlichkeit der Advokaten angebracht ist, damit sie von hier aus dem Hauptanwalt ins Ohr flüstern können, wenn sie während der Verhandlung noch einige Instruktionen für nötig erachten. Der großen Menge der Zuschauer sind die hier Sitzenden unsichtbar, da die Bank viel niedriger ist als der Platz für die Anwälte oder für das Publikum.

„Dies ist wohl die Zeugenlose?“ fragte Mr. Pickwick, und zeigte auf eine Art Katheder mit messingenem Geländer.

„Ja, mein lieber Herr“, erwiderte Perker und zog eine Menge Dokumente aus dem blauen Beutel hervor, den Lowten soeben zu seinen Füßen niedergelegt hatte.

„Und dort sitzen wohl die Geschworenen?“

„Erraten, mein lieber Herr“, erwiderte Perker, auf den Deckel seiner Schnupftabakdose klopfend.

Mr. Pickwick stand in großer Unruhe auf und überschaute den ganzen Saal. Es hatten sich bereits eine bunte Schar von Zuschauern auf der Galerie und zahlreiche Exemplare von Herren mit Perücken auf der Anwaltsbank eingefunden, die, als Körperschaft betrachtet, jene lustige und reiche Mannigfaltigkeit an Backenbärten und Nasen darboten, durch die der englische Advokatenstand mit Recht so berühmt ist. Diejenigen von den Herren, die einen Prozeß zu führen hatten, trugen die Aktenstücke so ostentativ wie möglich zur Schau und kratzten sich gelegentlich die Nasen damit, um auf die beobachtenden Blicke der Zuschauer den Eindruck nach Möglichkeit zu verstärken. Andere, die nicht mit Prozeßvollmachten versehen waren, trugen gewaltige Bände unter dem Arm, die unter dem technischen Namen „Juristen-Kalbsleder“ bekannt sind. Die, die weder Akten noch Bücher bei sich hatten, steckten die Hände in die Taschen und blickten möglichst weise um sich oder liefen mit großer Unruhe und unendlicher Wichtigtuerei hin und her, zufrieden, die Bewunderung und das Erstaunen des Laien zu erregen. Zu Mr. Pickwicks großem Befremden hatte sich die ganze Zunft in kleine Gruppen zerteilt, in denen man so gleichgültig wie möglich über die Tagesneuigkeiten plauderte, als wenn gar kein Rechtsstreit verhandelt werden sollte.

Eine Verbeugung Mr. Phunkys, als dieser eintrat und sich hinter die für den königlichen Anwalt bestimmte Bank setzte, zog Mr. Pickwicks Aufmerksamkeit auf sich, und er hatte sie kaum erwidert, als Prokurator Snubbin erschien, gefolgt von Mr. Mallard, der einen gewaltigen karmesinroten Beutel auf den Tisch legte und, nachdem er Perker die Hand gedrückt, sich entfernte. Es kamen dann noch zwei der drei Prokuratoren herein und unter ihnen einer mit einem dicken Bauch und einem roten Gesicht, der Sergeant Snubbin freundlich zunickte und zu ihm sagte: „Ein schöner Morgen heute.“

Wer ist der Herr mit dem roten Gesicht, der unserm Anwalt zunickte und sagte, es sei ein schöner Morgen?“ flüsterte Mr. Pickwick.

„Das ist der Herr Prokurator Buzfuz“, erwiderte Perker, „der erste Sachverwalter der Gegenpartei. Der Herr hinter ihm heißt Skimpin und ist sein Assistent.“

Mr. Pickwick war eben im Begriff, mit großer Empörung zu fragen, wie Prokurator Buzfuz, der gegnerische Anwalt, die Unverschämtheit haben könne, zu Prokurator Snubbin, seinem eigenen Sachwalter, zu sagen, es sei ein schöner Morgen, als er durch ein allgemeines Aufstehen der Anwälte und eine laute Aufforderung zum Schweigen von Seiten der Gerichtsdiener daran verhindert wurde. Er sah sich um und bemerkte, daß soeben der Richter eingetreten war.

Mr. Stareleigh, der an diesem Tage die Stelle des wegen Krankheit abwesenden Lord-Oberrichters einnahm, war ein auffallend kurz geratener Mann und dabei so kugelrund, daß man nichts als Gesicht und Bauch zu sehen glaubte. Er watschelte auf zwei kleinen krummen Beinen herein, und nachdem er sich gravitätisch gegen die Advokaten und die Advokaten sich gegen ihn verbeugt hatten, steckte er die kurzen Beine unter das Pult und legte seinen kleinen dreispitzigen Hut auf die Tischplatte, so daß man nichts mehr von ihm sehen konnte, als zwei wässerige Äuglein und ein breites rosenfarbiges Gesicht, das zur Hälfte unter einer großen, höchst possierlichen Perücke hervorblickte.

Kaum hatte er seinen Sitz eingenommen, als die Gerichtsdiener mit gebieterischem Ton im Saale und auf der Galerie Schweigen geboten. Als dies geschehen war, rief ein schwarz gekleideter, etwas niedriger als der Richter sitzender Gentleman die Namen der Geschworenen auf, und nach langem Geschrei, daß nur zehn Mitglieder der Spezial-Jury zugegen seien, beantragte der Prokurator Buzfuz die Wahl von Ersatzmännern. Der schwarz gekleidete Herr preßte daraufhin kurzerhand zwei Mitglieder der allgemeinen Jury in das Spezial-Geschworenengericht und bestimmte einen Gewürzkrämer und einen Apotheker.

„Geben Sie Antwort auf den Namensaufruf, meine Herren, damit man Sie vereidigen kann“, sagte er. „Richard Upwitch!“

„Hier!“ meldete sich der Gewürzkrämer.

„Thomas Groffin!“

„Hier!“ erwiderte der Apotheker.

„Nehmen Sie das Buch, meine Herren. Sie sollen also treulich und gewissenhaft untersuchen …“

„Ich bitte den Gerichtshof um Nachsicht“, unterbrach der Apotheker, ein langer hagerer Mann von gelber Gesichtsfarbe, „aber ich hoffe, der Gerichtshof wird mich für diesmal entschuldigen.“

„Aus was für Gründen, Sir?“ fragte der Richter Stareleigh.

„Ich habe keinen Gehilfen im Geschäft, Mylord.“

„Da kann ich Ihnen nicht helfen, Sir“, erwiderte Mr. Stareleigh. „Sie sollten sich einen anschaffen.“

„Ich kann die Kosten nicht erschwingen, Mylord.“

„Dann sollten Sie sich eben Mühe geben, sie erschwingen zu können, Sir!“ sagte der Richter und wurde feuerrot, denn er war äußerst reizbarer Natur und konnte keinen Widersprach ertragen.

„Ich würde es auch können, wenn es mir nach Verdienst erginge; aber das ist leider nicht der Fall, Mylord“, antwortete der Apotheker. „Vereidigen Sie den Herrn!“ befahl der Richter gebieterisch.

Der Beamte kam mit der Verlesung der Eidesformel nicht weiter als vorhin, denn der Apotheker unterbrach ihn aufs neue. „Ich soll also vereidigt werden, Mylord?“ fragte er.

„Allerdings, Sir“, erwiderte der eigensinnige kleine Richter.

„Nun gut, Mylord“, sagte der Apotheker ergeben. „Dann wird es noch vor Ende der Sitzung einen Unfall mit tödlichem Ausgang geben. Bitte vereidigen Sie mich nur, Sir, wenn’s gefällig ist.“

„Ich wollte nur noch bemerken, Mylord“, sagte er, als er unter Eid genommen worden und mit großer Fassung seinen Sitz einnahm, „daß ich niemand als einen Laufburschen in meinem Laden zurückgelassen habe. Es ist ein recht wackerer Junge, Mylord, der sich aber auf die Arzneimittel noch nicht ganz versteht und mit Vorliebe Oxalsäure mit Epsomsalz und Laudanum mit Sennesblättersirup verwechselt.“

Mit diesen Worten setzte sich der lange Apotheker behaglich zurecht, nahm eine zufriedene Miene an und schien auf das Schlimmste gefaßt zu sein.

Mr. Pickwick betrachtete ihn eben mit Gefühlen des tiefsten Abscheus, als im Hintergrund des Saales eine Bewegung entstand, und unmittelbar darauf wurde Mrs. Bardell, gestützt auf Mrs. Cluppins, in schmachtendem Zustande hereingeführt, und ihr am andern Ende derselben Bank, auf der Mr. Pickwick saß, ein Platz angewiesen. Mr. Dodson trug ihr einen Schirm von ungewöhnlicher Größe, Mr. Fogg ein Paar Überschuhe nach, und beide Herren hatten für die Sitzung höchst mitleidsvolle und melancholische Gesichter aufgesetzt. Sodann erschien Mrs. Sanders und führte den jungen Master Bardell herein. Beim Anblick ihres Kindes fuhr Mrs. Bardell auf, faßte sich aber schnell wieder und küßte es wie wahnsinnig. Sofort versank sie dann aufs neue in einen Zustand hysterischen Traumwachens und fragte, wo sie denn eigentlich sei? Statt aller Antwort wandten Mrs. Cluppins und Mrs. Sanders die Köpfe von ihr ab und weinten, indes die Herren Dodson und Fogg die Klägerin baten, sie möge sich doch beruhigen. Prokurator Buzfuz rieb sich mit einem großen weißen Sacktuch die Augen beinahe wund und warf einen appellierenden Blick auf die Geschworenen; der Richter schien sichtlich ergriffen zu sein und mehrere der Zuschauer husteten laut, um ihre Rührung zu verbergen.

„Ein fein ausgedachter Plan“, flüsterte Perker Mr. Pickwick zu. „Kapitalburschen das, diese Dodson und Fogg; wirklich, eine vortreffliche Effektberechnung, mein lieber Herr.“

Allmählich begann Mrs. Bardell wieder zu sich zu kommen, indes Mrs. Cluppins den jungen Master Bardell nach sorgfältiger Musterung, ob seine Knöpfe auch nicht schief geknöpft seien, gerade vor seine Mutter stellte, so daß er nicht verfehlen konnte, das volle Erbarmen und Mitgefühl sowohl des Richters als der Geschworenen zu erwecken. Es ging dies freilich nicht ohne beträchtliche Widersetzlichkeiten und eine Menge Tränen von seiten des jungen Herrn vonstatten, der offenbar fürchtete, seine Zurschaustellung vor den Augen der Richter sei bloß ein formelles Vorspiel zu einer alsbaldigen Hinrichtung oder zumindest Deportation über das Meer für Lebenszeit.

„Bardell kontra Pickwick!“ las der schwarz gekleidete Gentleman laut von der Liste ab.

„Ich vertrete die Klägerin, Mylord“, meldete sich der Prokurator Buzfuz.

„Wer assistiert Ihnen, Kollega Buzfuz?“ fragte der Richter.

Mr. Skimpin verbeugte sich, zum Zeichen, daß er es sei.

„Ich bin für den Beklagten erschienen, Mylord“, sagte Prokurator Snubbin.

„Und wer ist Ihr Assistent, Kollega Snubbin?“

„Mr. Phunky, Mylord.“

„Prokurator Buzfuz und Mr. Skimpin für die Klägerin“, diktierte der Richter und schrieb sich die Namen in sein Notizbuch, „für den Beklagten Prokurator Snubbin und Mr. – Monkey.“

„Bitte um Verzeihung, Mylord: – Phunky.“

„Ah, sehr gut“, sagte der Richter, „ich hatte noch nie das Vergnügen, den Namen des Herrn zu hören.“

Mr. Phunky verbeugte sich und lächelte, der Richter verbeugte sich ebenfalls und lächelte, und Mr. Phunky, rot bis in das Weiße seiner Augen, suchte sich das Ansehen zu geben, als wisse er nicht, daß alle Augen auf ihn gerichtet seien.

„Also beginnen wir“, sagte der Richter.

Die Gerichtsdiener geboten abermals Stillschweigen, und Mr. Skimpin schritt zur Darstellung der Vorgeschichte, die aber sehr wenig Redestoff zu bieten schien, denn er behielt die ihm bekannten besonderen Umstände gänzlich für sich, setzte sich nach drei Minuten wieder und ließ die Geschworenen ganz auf derselben hohen Stufe der Erleuchtung wie zuvor.

Prokurator Buzfuz erhob sich gleich nach ihm mit all der Majestät und Würde, die die ernste Natur der Verhandlung erheischte, und nachdem er Dodson einige Worte zugeflüstert und auch mit Fogg ein wenig konferiert hatte, zupfte er seinen Mantel und seine Perücke zurecht und begann seine Rede an die Geschworenen.

Es fing mit der Erklärung an, daß ihm während seiner ganzen Praxis, ja, vom ersten Augenblick an, als er sich auf das Studium und die Ausübung des Rechtes verlegt, noch nie ein Fall vorgekommen sei, der ihn so im Innersten ergriffen oder mit einem solch klaren Bewußtsein der auf ihm lastenden Verantwortlichkeit erfüllt habe – einer Verantwortlichkeit, unter deren Gewicht er erlegen wäre, hätte ihn nicht die feste, ja einer positiven Gewißheit gleichkommende Überzeugung aufrechterhalten, daß die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit, oder mit andern Worten, die Sache seiner schwer verletzten und auf eine schmähliche Art getäuschten Klientin bei den edelgesinnten und einsichtsvollen zwölf Herren, die er vor sich sehe, obsiegen müssen.

Sogleich begannen denn auch mehrere Geschworene mit dem größten Eifer, sich lange Notizen zu machen.

„Sie haben von meinem gelehrten Kollegen vernommen“, fuhr Prokurator Buzfuz fort, sich gar wohl bewußt, daß die Herren von der Jury von seinem gelehrten Kollegen soviel wie nichts vernommen hatten, „Sie haben von meinem gelehrten Kollegen vernommen, meine Herren, daß es sich hier um den Bruch eines Eheversprechens handelt und ein Schadenersatz von fünfzehnhundert Pfund beansprucht wird, aber die näheren Tatsachen und Umstände haben Sie von feinem gelehrten Kollegen nicht vernommen, wie es meinem gelehrten Kollegen auch nicht zukam, sie Ihnen mitzuteilen. Diese Tatsachen und Umstände, meine Herren, Werde ich Ihnen nunmehr ausführlich auseinandersetzen und Ihnen eine einwandfreie Zeugin vorführen, die sie beweisen wird.“

Um dem Wort „beweisen“ einen kraftvollen Nachdruck zu geben, schlug Prokurator Buzfuz auf den Tisch und blickte die Herren Dodson und Fogg an, die ihm voll Bewunderung ob seiner Rednergabe zuzwinkerten.

„Die Klägerin, meine Herren“, fuhr Prokurator Buzfuz mit sanfter, melancholischer Stimme fort, „die Klägerin ist Witwe. Ja, meine Herren, Witwe. Der selige Mr. Bardell schlummerte, nachdem er sich viele Jahre lang als Wächter der königlichen Einkünfte der Achtung und des Vertrauens seines Souveräns erfreut, sanft in eine andere Welt hinüber, um sich im Jenseits die Ruhe und den Frieden zu suchen, die ein Zollhaus hinieden nimmermehr gewähren kann.“

Bei dieser pathetischen Beschreibung vom Hinscheiden Mr. Bardells, der in einem Wirtshauskeller mit einer Bierkanne erschlagen worden war, bebte die Stimme des Anwalts.

„Kurze Zeit vor seinem Tode erblickte er noch sein Ebenbild in einem Söhnlein, und mit diesem Söhnlein, dem einzigen Liebespfand von ihrem entschlafenen Gatten, zog sich Mrs. Bardell von der Welt zurück, suchte die Abgeschiedenheit und Ruhe der Goswellstreet und hängte dort an ihrem Fenster eine Anzeige aus des Inhalts: ,Möblierte Zimmer für einen ledigen Herrn zu vermieten. Zu erfragen im Hause.'“

Prokurator Buzfuz hielt hier inne, indes mehrere Herren von der Jury sich diese wichtige Tatsache notierten.

„Hatte die Anzeige kein Datum?“ fragte einer der Geschworenen.

„Nein, Sir“, erwiderte Prokurator Buzfuz, „aber ich bin ermächtigt zu sagen, daß sie gerade vor drei Jahren ans Fenster der Klägerin gesteckt wurde. Ich muß die Aufmerksamkeit der Herren Geschworenen auf die wörtliche Abfassung dieses Dokuments lenken: ,Möblierte Zimmer für einen ledigen Herrn zu vermieten.‘ Mrs. Bardells Ansichten über das andre Geschlecht gründeten sich auf eine lange Beobachtung der unschätzbaren Eigenschaften ihres verstorbenen Gatten. Sie war frei von Mißtrauen – hegte keinen Verdacht – kurz, war voll argloser Zuversicht. ,Mr. Bardell‘, sagte sich die Witwe, ,Mr. Bardell war ein Mann von Ehre – Mr. Barde!! war ein Mann von Wort – Mr. Bardell war kein Betrüger – Mr. Bardell war auch einst ein lediger Herr und bei ledigen Herren will ich daher Schutz, Beistand, Hilfe und Trost suchen – in ledigen Herren werde ich beständig etwas sehen, was mich daran erinnert, wie Mr. Bardell war, als er das erste Mal die Neigung meines jungen, unerfahrenen Herzens gewann. An einen ledigen Herrn will ich also meine Wohnung vermieten.‘ Beseelt von diesem schönen rührenden Beweggrund – einer der besten Beweggründe unsrer unvollkommnen Natur – trocknete die einsame verlassene Witwe ihre Tränen, möblierte ihren untern Stock, drückte ihren unschuldigen Knaben an den mütterlichen Busen und hängte die Anzeige an das Fenster. Blieb sie lange dort? frage ich. Nein. Die Schlange lag bereits auf der Lauer, die Zündschnur war gelegt, die Mine gegraben, der Sappeur und der Mineur waren in voller Tätigkeit. Kaum hing die Anzeige drei Tage am Fenster – drei Tage, meine Herren –, als ein Individuum, das ganz die äußre Gestalt eines Mannes, nicht etwa die eines Ungeheuers hatte, an Mrs. Bardells Haustür anklopfte. Er erkundigte sich, mietete die Wohnung und nahm am nächstfolgenden Tage Besitz davon. Dieser Mann war Pickwick – Pickwick, der Beklagte.“

Prokurator Buzfuz hatte mit solcher Zungenfertigkeit gesprochen, daß sein Gesicht ganz blaurot geworden war und er innehalten mußte, um Atem zu schöpfen. Sein Schweigen erweckte den Richter Stareleigh, der sogleich mit einer uneingetunkten Feder etwas schrieb und ganz außerordentlich vertieft aussah, um die Geschworenen glauben zu machen, er habe mit geschlossenen Augen der Sache bis in ihre heimlichsten Tiefen nachgeforscht. Prokurator Buzfuz fuhr fort: „Von diesem Pickwick werde ich nicht viel sagen; das Thema bietet nicht sehr viel Anziehendes, und ich, meine Herren, bin nicht der Mann, sowenig wie Sie, meine Herren, bei der Betrachtung empörender Herzlosigkeit und systematischer Verworfenheit mit Lust zu verweilen.“

Hier fuhr Mr. Pickwick, der sich seit einiger Zeit ruhig Notizen aufgeschrieben hatte, heftig auf, wie wenn sich ihm er Wunsch aufgedrängt hätte, in Gegenwart des versammelten hohen Gerichtshofs dem Prokurator Buzfuz zu Leibe zu gehen. Eine abratende Gebärde von Perker hielt ihn jedoch zurück, und er hörte den ferneren Vortrag des gelehrten Herrn mit einer Entrüstung an, die den stärksten Gegensatz zu den von Bewunderung strahlenden Gesichtern der Damen Cluppins und Sanders bildete.

„Ich sage systematische Verworfenheit‘, meine Herren“, fuhr Prokurator Buzfuz fort und schien Mr. Pickwick mit seinen Blicken durchbohren zu wollen, „und wenn ich ,systematische Verworfenheit‘ sage, so lassen Sie mich dem beklagten Pickwick, wenn er sich, wie ich gehört habe, im Saale befindet, erklären, daß es weit anständiger und schicklicher, weit gescheiter und vernünftiger gewesen wäre, er wäre hier fern geblieben. Lassen Sie mich ihm sagen, meine Herren, daß alle Zeichen von Meinungsverschiedenheit oder Mißbilligung, die er sich im Gerichtssaale erlauben könnte, bei Ihnen nichts fruchten werden und daß Sie sich sie wohl zu deuten wissen werden. Lassen Sie mich ihm ferner sagen, wie Seine Lordschaft Ihnen, meine Herren, bestätigen wird, daß ein Anwalt in Erfüllung seiner Pflichten gegen seinen Klienten sich weder einschüchtern noch beirren oder zum Schweigen bringen läßt und daß jeder Versuch, das eine oder das andere, das erste oder das letztere zu tun, auf das Haupt dessen zurückfällt, der den Versuch wagt, sei er nun Kläger oder Beklagter, möge er nun Pickwick oder Noakes, Stoakes oder Stiles, Brown oder Thompson heißen.“

Diese kleine Abschweifung von der Sache konnte die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlen, aller Augen auf Mr. Pickwick zu lenken. Nachdem Prokurator Buzfuz der moralischen Entrüstung, zu der er sich hatte hinreißen lassen, wieder einigermaßen Meister geworden, fuhr er fort: „Ich werde Ihnen nachweisen, meine Herren, daß Pickwick zwei Jahre lang fortwährend ohne Unterbrechung im Hause Mrs. Bardells gewohnt hat. Ich werde Ihnen nachweisen, daß ihn Mrs. Bardell diese ganze Zeit über bediente, auf jede Art für seine Behaglichkeit sorgte, für ihn kochte, sein Weiß“ zeug zur Wäscherin schickte, es flickte, in Ordnung hielt und wieder instand setzte, mit einem Wort, daß sie sich seines vollkommensten Vertrauens erfreute. Ich werde Ihnen nachweisen, daß er ihrem kleinen Knaben manchmal einen halben Penny, einige Male sogar sechs Pence schenkte, und ich werde Ihnen durch eine Zeugin, deren Aussagen mein gelehrter Herr Kollega weder zu entkräften noch zu bestreiten imstande sein wird, dartun, daß er einmal den Knaben auf den Kopf tätschelte, und, nachdem er ihn gefragt, ob er viele Murmeln – wie ich höre, eine besondere Art von Steinkugeln, die von der Jugend unsrer Stadt sehr geschätzt wird – gewonnen habe, sich der bemerkenswerten Äußerung bediente: ,Würde es dich freuen, wenn du wieder einen Vater bekämest?‘ Ich werde Ihnen ferner nachweisen, meine Herren, daß Pickwick zwar vor etwa einem Jahre plötzlich mehrere Male auf längere Zeit verreiste, wie wenn er im Sinn gehabt hätte, allmählich mit meiner Klientin zu brechen; aber ich werde Ihnen auch dartun, daß er sich in seinem Entschluß damals noch nicht gehörig befestigt hatte oder daß seine besseren Gefühle, wenn er überhaupt deren fähig ist, obsiegten oder daß die Reize und Vorzüge meiner Klientin seinen unwürdigen Plan über den Haufen warfen. Ich werde Ihnen schließlich beweisen, daß er eines Tages, als er vom Lande zurückkehrte, ihr in nicht mißzuverstehenden Worten und Ausdrücken einen Heiratsantrag machte, wobei er freilich die besondre Vorsicht gebraucht hatte, bei dem feierlichen Versprechen Zeugen auszuschließen. Ja, ich bin imstande, durch das Zeugnis von dreien seiner eignen Freunde – höchst unfreiwillige Zeugen, meine Herren, höchst unfreiwillige Zeugen – zu erhärten, daß man ihn an demselben Morgen antraf, wie er eben die Klägerin in seinen Armen hielt und ihre Aufregung durch Schmeicheleien und Liebkosungen zu beschwichtigen suchte.“

Besonders der letzte Teil der Rede brachte einen sichtlichen Eindruck auf das Publikum hervor. Der Prokurator zog zwei schmale Papierstreifen aus der Tasche und fuhr fort:

„Und nun, meine Herren, nur noch ein Wort: Es sind zwischen den Parteien zwei Briefe gewechselt worden, Briefe, deren Handschrift der Beklagte als die seinige anerkennen muß und deren Inhalt von höchster Wichtigkeit ist. Diese Briefe werfen ein helles Licht auf den Charakter des Mannes. Es sind nicht etwa offene, feurige, beredte Episteln, die die Sprache leidenschaftlicher Liebe atmen; nein, es sind versteckte, schlaue zweideutige Mitteilungen, die aber glücklicherweise mehr Aufschlüsse geben, als wären sie in der glühendsten Sprache und in den poetischsten Bildern abgefaßt – Briefe, die man mit vorsichtig argwöhnischem Au“e betrachten muß – Briefe, durch die Pickwick offenbar etwaige dritte Personen, denen sie vielleicht in die Hände hätten geraten können, hinters Licht zu führen und auf eine falsche Spur zu leiten beabsichtigte. Lassen Sie mich den ersten vorlesen:

,Garraway, um 12 Uhr.

Liebe Frau B.!
Kotelettes und Tomatensauce.

Ihr
Pickwick.‘

Was soll man davon denken, meine Herren? Kotelettes und Tomatensauce. Ihr Pickwick!‘ – Kotelettes! Gütiger Gott! Und Tomatensauce! Meine Herren, darf das Glück einer gefühlvollen und arglosen Frau durch so elende Chiffrierkunststücke mit Füßen getreten werden? – Das zweite Billett hat gar kein Datum, wodurch es schon von vornherein verdächtig wird:

,Liebe Frau B. Ich werde erst morgen nach Hause kommen. Eile mit Weile.‘ Und dann folgt noch der sehr bemerkenswerte Zusatz: ,Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Wärmflasche.‘ – Die Wärmflasche! Wie, meine Herren? Wer macht sich denn Sorgen wegen einer Wärmflasche? Wann wurde je der Seelenfrieden eines Mannes oder einer Frau durch eine Wärmflasche gestört oder vernichtet, die an sich selbst ein harmloses nützliches, und, meine Herren, ich möchte noch hinzufügen, ein komfortables Hausgerät ist? Warum wird Mrs. Bardell so angelegentlich ersucht, sich wegen der Wärmflasche keine Sorgen zu machen, wenn diese nicht (wie es hier offenbar der Fall ist) ein heimliches Liebesfeuer bedeuten soll – wenn sie nicht bloß die Stelle eines zärtlichen Wortes oder Versprechens vertritt, gemäß einem verabredeten Korrespondenzsystem, das Pickwick behufs langst beabsichtigter Treulosigkeit mit Vorbedacht ausgeheckt hat und das ich nicht näher erklären kann? Und was soll diese Anspielung: ,Eile mit Weile‘ bedeuten? Soweit ich die Sache zu durchschallen vermag, bezieht es sich auf Pickwick selbst, der in der Tat während dieses ganzen Verhältnisses sehr ,Eile mit Weile‘ hat walten lassen. Na, vielleicht wird er sich künftig, wie er auf seine Kosten erfahren wird, von Ihnen zu größrer Eile anspornen lassen.“

Prokurator Buzfuz machte eine Pause, um zu sehen, ob die Geschworenen zu seinem Witz lächelten; da dies aber niemand tat als der Gewürzkrämer, dessen Empfänglichkeit dafür höchstwahrscheinlich dadurch hervorgerufen wurde, daß er erst diesen Morgen noch hatte eine Droschke nehmen müssen, um nicht zu spät zu Gericht zu kommen, so hielt es der gelehrte Redner für ratsam, vor Schluß seines Vortrags noch ein wenig auf die Rührung der Geschworenen einzuwirken.

„Doch genug hiervon, meine Herren“, lenkte er ein, „es ist schwer, mit blutendem Herzen zu lächeln, es scherzt sich nicht leicht, wenn unser tiefstes Mitgefühl erregt ist. Alle Hoffnungen und Aussichten meiner Klientin sind vernichtet, und es ist keine bloße Redewendung, wenn ich sage, daß es um ihr Fortkommen geschehen ist. Die Anzeige hängt nicht mehr am Fenster, und noch wohnt kein Herr im Hause. Es kommen ledige Herren, unter denen man auswählen könnte, genug am Hause vorüber – aber es ist keine Aufforderung mehr da, einzuziehen. Düsteres Schweigen herrscht jetzt in dieser Wohnung; selbst die Stimme des Knaben ist verhallt; seine kindlichen Spiele machen ihm kein Vergnügen mehr, da seine Mutter beständig weint; seine Murmeln sind ihm gleichgültig geworden; er überhört die Aufforderung seiner Kameraden zum ,schwarzen Mann‘, und wollen sie ,Grad oder ungrad‘ mit ihm spielen, so rührt er keine Hand. Aber Pickwick, meine Herren, Pickwick, der mitleidslose Zerstörer dieser häuslichen Oase in der Wüste der Goswellstreet – Pickwick, der die Quelle versiegen gewacht und auf den grünen Rasen Asche gestreut hat – Pickwick, der mit seiner herzlosen Tomatensauce und seiner Wärmflasche heute vor Ihnen erscheint – Pickwick erhebt noch immer mit frecher Schamlosigkeit sein Haupt und blickt ohne Reue auf die Verwüstung hin, die er angerichtet hat. Eine Geldentschädigung, meine Herren, eine bedeutende Geldentschädigung ist die einzige Strafe, womit Sie ihn belegen, der einzige Ersatz, den Sie meiner Klientin gewähren können. Um diese Geldentschädigung nun wende ich mich hiermit an eine erleuchtete, großherzige, gewissenhafte, leidenschaftslose, mitfühlende und einsichtsvolle Jury von gebildeten Mitbürgern.“

Mit dieser schönen Wendung setzte sich Prokurator Buzfuz nieder, und Richter Stareleigh erwachte zum zweiten Male. Nach einer Minute erhob sich Prokurator Buzfuz wieder mit frischer Kraft und verlangte, daß Elisabeth Cluppins vorgerufen werde.

Der zunächststehende Gerichtsdiener rief Elisabeth Tuppkins, ein andrer in einiger Entfernung fragte nach Elisabeth Juppkins und ein dritter rannte atemlos in die Kingstreet und schrie sich heiser nach einer Elisabeth Muffins.

Mittlerweile wurde Mrs. Cluppins durch die vereinigte Hilfe der Damen Bardell und Sanders sowie der Herren Dodson und Fogg in die Zeugenloge gebracht, und als sie die oberste Stufe erklommen, stellte sich Mrs. Bardell an die unterste, mit dem Taschentuch und den Überschuhen in der einen und einer Flasche, die ungefähr eine Viertelpinte Riechsalz enthalten mochte, in der andern Hand, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Mrs. Sanders, deren Augen unverwandt am Gesicht des Richters hingen, pflanzte sich mit dem großen Regenschirm dicht neben ihr auf und hielt mit ernster Miene ihren rechten Daumen an das Schloß ihrer Tasche gedrückt, um nötigenfalls sogleich ein Stärkungsmittel hervorholen zu können.

„Mrs. Cluppins“, redete Prokurator Buzfuz ihr zu, „ich bitte Sie, beruhigen Sie sich, Madam.“

Die Erinnerung daran war keineswegs unnötig, denn Mrs. Cluppins schluchzte und seufzte, daß es einen Stein hätte erweichen können; ja, es stellten sich sogar beunruhigende Symptome einer herannahenden Ohnmacht ein, denn sie konnte, wie sie später sagte, ihre Gefühle kaum bewältigen.

„Erinnern Sie sich, Mrs. Cluppins“, fragte Prokurator Buzfuz nach einigen unwichtigen Präliminarien, „erinnern Sie sich, an einem gewissen Morgen des vergangenen Juli in einem Hinterstübchen Mrs. Bardells gewesen zu sein, als sie eben das Zimmer Mr. Pickwicks abstaubte?“

„Ja, Mylord und meine Herren Geschworenen, ich erinnere mich“, erwiderte Mrs. Cluppins.

„Aber Mr. Pickwicks Wohnzimmer war doch, wie ich glaube, im ersten Stock und liegt nach der Straße hinaus?“

„Allerdings, Sir.“

„Was hatten Sie denn im Hinterstübchen zu schaffen, Ma’am?“ fragte der kleine Richter.

„Mylord und meine Herren Geschworenen“, begann Mrs. Cluppins in rührender Aufregung, „ich will Ihnen nicht täuschen …“

„Sie würden auch nicht gut daran tun“, bemerkte der kleine Richter.

„Ich war dorten“, erzählte Mrs. Cluppins, „ohne daß Mrs. Bardell es gewußt hat. Ich war gerade mit ein’m klein’n Korb ausgegangen, meine Herren, um drei Pfund rote Kartoffeln einzuholen, was im ganzen dritthalb Pence ausmacht, als ich die Haustür von der Mrs. Bardell halb offen gesehen habe, und da bin ich also reingegangen, meine Herren, um ihr einen guten Morgen zu wünschen, aber ich bin in Gedanken die Treppe rauf und in das Hinterzimmer gegangen. Meine Herren, da habe ich im Vorderzimmer mehrere Stimmen gehört, und …“

„Sie haben also gehorcht, Mrs. Cluppins?“ unterbrach Prokurator Buzfuz.

„Bitt um Verzeihung, Sir“, erwiderte Mrs. Cluppins in majestätischem Toni, „so was tu ich niemals nicht. Ich nicht, bitte! Die Stimmen sind sehr laut gewesen und haben sich mir mit Gewalt aufgedrängt.“

„Nun gut, Mrs. Cluppins, Sie horchten also nicht, hörten aber dennoch die Stimmen. War eine derselben die Mr. Pickwicks?“

„Ja, Sir.“ Und Mrs. Cluppins trug jetzt, nachdem sie aufs bestimmteste angegeben, daß Mr. Pickwick mit Mrs. Bardell gesprochen habe, langsam und mit vielen Umschweifen die damalige verhängnisvolle Unterhaltung vor.

Die Geschworenen sahen bedenklich drein, und Prokurator Buzfuz setzte sich lächelnd nieder. Noch düsterer wurden aber die Mienen, als Prokurator Snubbin erklärte, er habe die Zeugin weiter nichts zu fragen, da Mr. Pickwick zugebe daß ihre Aussagen im wesentlichen .richtig seien.

Da nun Mrs. Cluppins einmal im Zuge war, hielt sie die Gelegenheit für günstig, sich auf eine kurze Darstellung ihrer eigenen häuslichen Verhältnisse einzulassen. Sie klärte daher den Gerichtshof auf, daß sie gegenwärtig Mutter von acht Kindern sei und die zuversichtliche Hoffnung nähren dürfe, nach etwa sechs Monaten Mr. Cluppins mit einem neunten zu beschenken. Bei dieser interessanten Mitteilung legte sich der kleine Richter voll Zorn ins Mittel, und die Folge davon war, daß sowohl die würdige Dame, als auch Mrs. Sanders unter Begleitung Mr. Jacksons kurzerhand aus dem Gerichtssaal geführt wurden.

„Nathaniel Winkle!“ rief sodann Mr. Skimpin. „Hier!“ meldete sich eine schüchterne Stimme, und Mr. Winkle trat in die Zeugenloge und verbeugte sich, nachdem er den vorgeschriebenen Eid geleistet, ehrfurchtsvollst gegen das Richterpult.

„Sehen Sie nicht mich an, Sir“, verwies Mr. Stareleigh, statt für den Gruß zu danken, in strengem Tone, „sehen Sie nur auf die Geschworenen!“ Mr. Winkle gehorchte, sah nach dem Platze, wo seiner Wahrscheinhchkeitsberechnung nach die Geschworenen sitzen mußten, denn in seinem verwirrten Geisteszustand war es ihm schlechterdings unmöglich, etwas genau zu erkennen, und wurde sofort von Mr. Skimpin, einem vielversprechenden jungen Manne von zweiundvierzig bis dreiundvierzig Jahren, verhört, dem natürlich alles daran gelegen sein mußte, einen bekanntermaßen für die Gegenpartei eingenommenen Zeugen möglichst aus dem Konzept zu bringen. „Nun, Sir“, begann Mr. Skimpin, „haben Sie die Güte, Seine Lordschaft und die Jury Ihren Namen wissen zu lassen“ – dabei warf er den Geschworenen einen Seitenblick zu, der deutlich genug sagte, bei Mr. Winkles natürlichem Hange zur Lüge könne man von ihm auch die Angabe eines falschen Namens gewärtigen.

„Winkle“, antwortete der Zeuge.

„Ihr Taufname, Sir?“ fragte der kleine Richter ärgerlich.

„Nathaniel, Sir.“

„Daniel. – Vielleicht noch andre Taufnamen?“

„Nathaniel, Sir – Mylord, wollte ich sagen.“

„Nathaniel Daniel oder Daniel Nathaniel?“

„Nein, Mylord, bloß Nathaniel, nicht Daniel.“

„Warum sagten Sie denn vorhin, Sie hießen Daniel, Sir?“ fragte der Richter.

„Das habe ich nicht gesagt, Mylord“, rechtfertigte sich Mr. Winkle.

„Freilich haben Sie es gesagt, Sir“, erwiderte der Richter mit strengem Stirnrunzeln, „wie hätte ich denn Daniel aufschreiben können, wenn Sie es nicht gesagt hätten, Sir?“

Gegen diesen Beweisgrund ließ sich natürlich nichts erwidern.

„Mr. Winkle hat ein kurzes Gedächtnis, Mylord“, fiel Mr. Skimpin mit einem abermaligen bedeutsamen Blick nach den Geschworenen ein, „ich denke aber, wir werden Mittel finden, es aufzufrischen.“

„Also nehmen Sie sich in acht, Sir!“ warnte der kleine Richter mit einem finstern Blick.

Der arme Mr. Winkle verneigte sich und gab sich alle Mühe, unbefangen zu erscheinen, gewann aber in seiner Verlegenheit weit eher das Aussehen eines in flagranti ertappten Taschendiebes.

„Jetzt, Mr. Winkle“, fing Mr. Skimpin wieder an, „geben Sie gefälligst auf meine Fragen acht, Sir, und folgen Sie um Ihrer selbst willen meinem Rat, der Ermahnungen Seiner Lordschaft eingedenk zu sein. Soviel ich weiß, sind Sie ein vertrauter Freund Mr. Pickwicks, des Angeklagten, nicht wahr?“

„Wenn ich mich in diesem Augenblick recht erinnere, so kenne ich Mr. Pickwick beinahe …“

„Ich muß bitten, Mr. Winkle, daß Sie keine ausweichende Antworten geben. Sind Sie wirklich ein vertrauter Freund des Angeklagten, oder sind Sie es nicht?“

„Ich wollte soeben sagen, daß …“

„Wollen Sie meine Frage beantworten, Sir, oder nicht?“

„Wenn Sie nicht antworten, so laß ich Sie einsperren Sir“, fiel der kleine Richter ein mit einem Blick über sein Notizenbuch herüber.

„Nun also, Sir? Ja oder nein.“

„Ja, ich bin’s“, antwortete Mr. Winkle.

„Natürlich sind Sie es! Warum haben Sie es nicht gleich gesagt, Sir? Vielleicht kennen Sie auch die Klägerin? – Wie, Mr. Winkle?“

„Nein, ich kenne Sie nicht; das heißt, gesehen habe ich sie schon.“

„So, Sie kennen sie nicht, haben sie aber gesehen? Nun, so haben Sie die Güte, den Herren Geschworenen zu erklären, was Sie damit meinen, Mr. Winkle.“

„Ich meine damit, daß ich nicht genauer mit ihr bekannt bin, sie aber gesehen habe, wenn ich Mr. Pickwick in der Goswellstreet besuchte.“

„Wie oft haben Sie sie gesehen, Sir?“

„Wie oft?“

„Ja, Mr. Winkle, wie oft? Ich will Ihnen die Frage ein dutzendmal wiederholen, Sir, wenn Sie es wünschen, Sir.“ – Dabei stemmte der gelehrte Mr. Skimpin mit Stirnrunzeln die Hände in die Seite und lächelte den Geschworenen verdächtig zu.

Diese Frage zog das erbauliche Geschraube nach sich, das bei solchen Gelegenheiten üblich ist. Zuvörderst gab Mr. Winkle an, es sei ihm rein unmöglich zu sagen, wie oft er Mrs. Bardell gesehen habe. Dann fragte man ihn, ob er sie vielleicht zwanzigmal gesehen, und auf seine Antwort: „Gewiß – auch noch öfter“, wollte man genau wissen, ob er sie hundertmal gesehen – ob er nicht schwören könne, daß er sie mehr als fünfzigmal gesehen – ob er nicht angeben könne, daß er sie mehr als fünfundsiebzigmal gesehen, und so fort, bis man endlich zu dem befriedigenden Schlüsse gelangte, ihn nochmals zu ermahnen, er solle sich wohl in acht nehmen und bedenken, was er aussage. Nachdem er auf diese Art so verwirrt geworden, daß er kaum mehr wußte, wo ihm der Kopf stand, wurde das Verhör folgendermaßen fortgesetzt:

„Erinnern Sie sich, Mr. Winkle, an einem gewissen Morgen im vergangenen Juli den Beklagten Pickwick in seiner Wohnung bei der Klägerin in der Goswellstreet besucht zu haben?“

„Ja, ich erinnere mich.“

„Hatten Sie damals einen Freund namens Tupman und einen andern namens Snodgraß bei sich?“

„Ja.“

„Sind sie hier?“

„Ja“, erwiderte Mr. Winkle, sehr angelegentlich nach dem Platze blickend, wo seine Freunde saßen.

„Sehen Sie gefälligst mich an, Mr. Winkle, und nicht Ihre Freunde“, ermahnte Mr. Skimpin mit neuerlichem ausdrucksvollem Lächeln auf die Jury. „Die Herren müssen ihre Aussagen ohne vorherige Beratung mit Ihnen ablegen, falls solche etwa nicht schon stattgefunden hat (abermals ein Blick auf die Jury). Nun, Sir, sagen Sie jetzt den Herren Geschworenen, was Sie am selbigen Morgen beim Eintritt ins Zimmer des Beklagten gesehen haben? Nur heraus damit, Sir, wir müssen es früher oder später doch erfahren.“

„Der Beklagte, Mr. Pickwick, hielt die Klägerin in seinen Armen und hatte ihren Leib umschlungen“, erwiderte Mr. Winkle mit begreiflichem Zögern, „und die Klägerin schien in Ohnmacht gefallen zu sein.“

„Hörten Sie den Beklagten etwas sprechen?“

„Ja, ich hörte, daß er Mrs. Bardell ,liebe Frau‘ nannte und sie bat, sich zu beruhigen; dann, was man denn glauben müßte, wenn jemand käme, und ähnliche Redensarten.“

„Jetzt, Mr. Winkle, habe ich nur noch eine einzige Frage an Sie zu richten, und ich bitte Sie, hierbei der Ermahnung Seiner Lordschaft wohl eingedenk zu sein. – Wollen Sie beschwören, daß beklagter Pickwick bei dieser Gelegenheit nicht gesagt hat: ,Meine gute Bardell, Sie sind eine liebe Frau; beruhigen Sie sich, es wird schon noch dazu kommen‘, oder dem ähnliche Redensarten?“

„Ich – ich habe es wahrhaftig nicht so verstanden“, sagte Mr. Winkle, erstaunt über die listige Verdrehung der wenigen Worte, die er angegeben. „Ich war noch auf der Treppe und konnte es nicht deutlich hören; aber der Eindruck, den es auf mich machte, ist …“

„Die Herren Geschworenen wollen nichts von den auf Sie gemachten Eindrücken wissen, Mr. Winkle, die, fürchte ich ohnehin ehrlichen und rechtschaffenen Leuten wenig nützen würden“, unterbrach ihn Mr. Skimpin. „Sie waren also auf der Treppe und hörten es nicht deutlich, wollen aber nicht beschwören, daß Pickwick sich der von mir erwähnten Ausdrücke nicht bedient hat? Habe ich es so zu verstehen?“

„Nein, ich will es nicht beschwören“, erwiderte Mr. Winkle, und Mr. Skimpin setzte sich mit triumphierender Miene.

Mr. Pickwicks Sache hatte bis jetzt keinen so überaus günstigen Verlauf genommen, daß sie noch neue Verdachtsgründe hätte ertragen können. Da sie jedoch möglicherweise noch in ein besseres Licht zu stellen war, so erhob sich Mr. Phunky, um seinerseits Mr. Winkle noch einige wichtige Aufschlüsse zu entlocken.

„Ich glaube, Mr. Winkle“, begann er, „Mr. Pickwick ist kein junger Mann mehr?“

„O nein“, erwiderte Mr. Winkle, „er könnte mein Vater sein.“

„Sie haben meinem wertgeschätzten Kollegen gesagt, Sie kennen Mr. Pickwick schon lange. Hatten Sie jemals Grund zu vermuten oder zu glauben, er beabsichtige, sich zu verheiraten?“

„Nein, niemals“, antwortete Mr. Winkle mit solchem Eifer, daß ihn Mr. Phunky am liebsten so schnell wie möglich aus der Zeugenloge entfernt hätte. In den Augen der Rechtsgelehrten gibt es zwei Arten besonders schlechter Zeugen; solche, die gar nichts, und solche, die zuviel aussagen. Das Schicksal wollte, daß Mr. Winkle beide Arten trefflich in sich vereinigte.

„Ich will sogar noch weitergehen, Mr. Winkle“, fuhr Phunky mit freundlichem und einschmeichelndem Tone fort. „Bemerkten Sie in Mr. Pickwicks Benehmen gegen das andere Geschlecht je etwas, das Sie hätte auf den Glauben bringen können, er hege in den letzten Jahren überhaupt Heiratsgedanken?“

„O nein, nicht das mindeste“, versicherte Mr. Winkle.

„War sein Benehmen in Gesellschaft von Damen nicht das eines Mannes, der, an Jahren schon ziemlich vorgerückt, nur noch an seine Geschäfte oder Vergnügungen denkt und sie bloß behandelt wie ein Vater seine Töchter?“

„Daran ist kein Zweifel“, antwortete Mr. Winkle in der Fülle seines Herzens. „Das heißt – ja – hm, o ja –“

„Sie haben also in seinem Benehmen gegen Mrs. Bardell oder sonst gegen eine Frau nie etwas auch nur im mindesten Verdächtiges wahrgenommen?“ fragte Mr. Phunky und wollte sich niedersetzen, denn Prokurator Snubbin hatte ihm einen Wink gegeben.

„Nein, nein“, erwiderte Mr. Winkle, „außer in einem einzigen unbedeutenden Fall, der sich aber, wie ich nicht bezweifle, leicht wird aufklären lassen.“

Hätte sich der unglückliche Mr. Phunky sofort gesetzt, als Prokurator Snubbin ihm zuzwinkerte, oder wäre Prokurator Buzfuz gleich im Anfang gegen dieses unstatthafte Zeugenverhör aufgetreten (er hatte sich gehütet, es zu tun, da er Mr. Winkles Ängstlichkeit bemerkte und Hoffnung hatte, dieselbe zu seinem Vorteil ausbeuten zu können), so wäre ‚dieses unglückselige Geständnis Mr. Winkle nicht entschlüpft. Kaum aber waren die Worte seinen Lippen entflohen, so setzte sich Phunky, und Prokurator Snubbin rief Mr. Winkle im größten Eifer zu, er solle die Zeugenloge verlassen, wozu er sich auch mit aller Bereitwilligkeit anschickte, als Prokurator Buzfuz es mit dem Ruf verhinderte:

„Bleiben Sie, Mr. Winkle. Bleiben Sie. Wollen Euer Lordschaft die Güte haben, den Zeugen zu fragen, worin der einzige Fall bestand, wo ihm das Benehmen dieses Herrn, der sein Vater sein könnte, gegen Frauen verdächtig vorkam?“

„Sie hören, was der Herr Anwalt sagt“, nahm der Richter das Wort, sich an den unglücklichen, von neuem Schreck ergriffenen Mr. Winkle wendend. „Erklären Sie sich näher über den Fall, den Sie angedeutet haben.“

„Mylord“, stotterte Mr. Winkle zitternd vor Verlegenheit, „ich – ich möchte es lieber nicht sagen.“

„Das ist wohl möglich“, knurrte der kleine Richter, „aber Sie müssen.“

Und unter dem tiefsten Stillschweigen der ganzen Versammlung erklärte Mr. Winkle mit stockender Stimme; Der einzige unbedeutende Vorfall, der Verdacht erregen könne, sei, daß man Mr. Pickwick einmal um Mitternacht im Schlafzimmer einer Dame gefunden habe, und soviel er wisse, sei infolge dieser Entdeckung die projektierte Heirat besagter Dame rückgängig gemacht worden. Auch wisse er bestimmt, daß damals alle dabei Beteiligten mit Gewalt vor George Nupkins, Esquire, den Friedensrichter und Bürgermeister von Ipswich, geführt worden seien.

„Jetzt können Sie die Zeugenloge verlassen, Sir“, sagte Prokurator Snubbin.

Mr. Winkle tat es und rannte wie besessen nach dem „Georg und Geier“, allwo der Kellner ihn einige Stunden nachher jammervoll stöhnend und ächzend, den Kopf in die Sofakissen begraben, entdeckte.

Tracy Tupman und Augustus Snodgraß wurden, hierauf nacheinander in die Zeugenloge gerufen. Beide bestätigten die Aussage ihres unglücklichen Freundes, und beide wurden durch verfängliche Fragen aus der Fassung gebracht.

Als vorletzter Zeuge wurde Susanna Sanders aufgerufen und zuerst von Prokurator Buzfuz und dann von Prokurator Snubbin befragt. Sie habe, erklärte sie, immer gesagt und geglaubt, Mr. Pickwick werde Mrs. Bardell heiraten; sie wisse, daß nach der Ohnmachtsgeschichte im Juli die ganze Nachbarschaft von nichts gesprochen habe, als von dem Verlöbnisse zwischen Mrs. Bardell und Mr. Pickwick; sie habe es Mrs. Muderry, die eine Mangel besitze, und Mrs. Bunkin, die Weißnäherin, mehr als einmal sagen hören, obgleich sie keine von beiden hier im Saale erblicke. Sie habe gehört, wie Mr. Pickwick das Kind gefragt, ob es sich freuen würde, wenn es wieder einen Vater bekäme. Sie wisse absolut nichts davon, daß Mrs. Bardell in vertraulichen Beziehungen zu dem Bäcker gestanden, nur soviel könne sie sagen, daß der Bäcker damals ledig gewesen sei, sich aber inzwischen verheiratet habe. Sie könne nicht darauf schwören, daß Mrs. Bardell nicht sehr verliebt in den Bäcker gewesen sei, glaube aber, der Bäcker müsse nicht sehr verliebt in Mrs. Bardell gewesen sein, weil er sonst gewiß nicht eine andere geheiratet hätte. Sie glaube, Mrs. Bardell sei an jenem Julimorgen in Ohnmacht gefallen, weil Mr. Pickwick in sie gedrungen sei, den Hochzeitstag zu bestimmen; sie erinnere sich noch, daß sie (die Zeugin) wie tot niedergefallen sei, als ihr jetziger Gatte sie seinerzeit gebeten, den Hochzeitstag festzusetzen, und sie glaube, daß es jedem anständigen Frauenzimmer unter ähnlichen Umständen ebenso ergehen müsse. Sie habe ferner gehört, wie Mr. Pickwick den Knaben wegen seiner Murmeln gefragt habe, sie könne aber nicht einmal unter Eid den Unterschied zwischen einem Stein und einer Murmel angeben.

Auf weitere Fragen des Richters erzählte sie noch, sie habe während ihres Brautstandes mit Mr. Sanders auch Liebesbriefe von ihm erhalten wie andre Frauen. Mr. Sanders habe sie in seiner Korrespondenz zwar oft „Ente“ genannt, niemals aber Kotelettes oder Tomatensauce. Er habe aber Enten für sein Leben gern gegessen. Vielleicht würde er, wenn er ebensogern Kotelettes und Tomatensauce gegessen hätte, sie in seiner Zärtlichkeit auch so geheißen haben.

Prokurator Buzfuz erhob sich schließlich mit womöglich noch größerer Wichtigkeit als vorher und rief laut nach Mr. Samuel Weller.

Es war höchst unnötig, so laut zu schreien, denn Samuel Weller befand sich in der Zeugenloge, als sein Name kaum ausgesprochen war. Er legte seinen Hut neben sich auf den Boden, die Arme auf das Geländer, besah sich die Anwälte aus der Vogelperspektive und ließ mit merkwürdiger Unbefangenheit und Heiterkeit seinen Blick über die Herren schweifen.

„Wie heißen Sie?“ fragte der Richter.

„Sam Weller, Mylord.“

„Schreibt man Sie mit einem V oder mit einem W?“ fragte der Richter weiter.

„Kommt ganz auf den Geschmack und das Belieben des Schreibenden an, Mylord“, erwiderte Sam, „ich selbst habe bloß ’n paarmal in meinem Leben Veranlassung gehabt, meinen Namen zu schreiben, aber ich mache immer ’n. V.“

Hier rief eine Stimme von der Galerie herab:

„Ganz recht, Samuel, ganz recht; machen Sie ’n V, Mylord, machen Sie ’n V.“

„Wer untersteht sich da, den Gerichtshof anzureden?“ rief der kleine Richter, in die Höhe blickend. – „Gerichtsdiener!“

„Hier, Mylord!“

„Führen Sie diese Person sogleich vor.“ „Sehr wohl, Mylord.“

Da aber der Gerichtsdiener die Person nicht fand, so führte er sie auch nicht vor, und unter großem Geräusch setzten sich die Leute alle wieder, die aufgestanden waren, um den Verbrecher zu sehen. Das Richterlein wandte sich aufs neue an den Zeugen, sobald seine Entrüstung ihm zu sprechen erlaubte, und fragte: „Wissen Sie, wer das war?“

„Mylord“, antwortete Sam, „ich vermute fast, mein Vater war’s.“

„Sehen Sie ihn jetzt noch?“

„Nein, Mylord“, antwortete Sam und starrte unverwandt auf die Laterne, die an der Decke des Gerichtssaales hing. „Wenn Sie ihn mir hätten zeigen können, so hätte ich ihn sogleich verhaften lassen“, sagte der Richter. Sam verbeugte sich dankbar und wandte sich dann mit unverminderter Heiterkeit wieder zu dem Prokurator Buzfuz.

„Nun, Mr. Weller?“ begann der Prokurator Buzfuz. „Nun, Sir?“

„Ich glaube, Sie stehen im Dienst Mr. Pickwicks, der hier der Beklagte ist. Sprechen Sie gefälligst unumwunden, Mr. Weller.“

„Werde schon unumwunden sprechen“, erwiderte Sam. „Ich stehe allerdings im Dienst dieses Gentleman, und es is ’n sehr guter Dienst.“

„Wenig zu tun und recht viel zu kriegen – was?“ meinte der Prokurator Buzfuz scherzend.

„Hm, gerade genug zu kriegen, Sir, wie der Soldat sagte, als man ihm dreihundertfünfzig Stockprügel zumaß.“

„Sie brauchen uns nicht zu sagen, was der Soldat oder sonst jemand gesagt hat“, schnauzte der Richter Sam an, „das ist keine Zeugenaussage.“ „Sehr wohl, Mylord“, antwortete Sam.

„Erinnern Sie sich irgendeines besondern Umstandes von dem Morgen her, wo der Beklagte Sie in seine Dienste nahm, Mr. Weller?“ fragte der Prokurator Buzfuz wieder.

„Jawohl, Sir.“

„Haben Sie die Güte, den Geschworenen zu sagen, was es war.“

„Ich bekam an diesem Morgen ’n ganz neuen Anzug, meine Herren Geschworenen“, sagte Sam, „und das war für mich in den Tagen ’n sehr einschneidendes Ereignis.“

Ein allgemeines Gelächter brach los. Der kleine Richter blickte zornentbrannt über seinen Schreibtisch hinüber und sagte:

„Nehmen Sie sich in acht, Sir!“

„So sagte damals auch Mr. Pickwick, Mylord“, antwortete Sam, „und ich nahm mir mit dem Anzug auch sehr in acht; sehen Sie nur, wie ich ’n geschont habe, Mylord.“

Zwei Minuten lang blickte der Richter Sam streng an; aber Sams Züge waren so vollkommen ruhig und heiter, daß er nichts zu sagen wußte und daher den Prokurator Buzfuz aufforderte, weiter fortzufahren.

„Mr. Weller“, nahm der Prokurator Buzfuz das Verhör wieder auf, verschränkte würdevoll die Arme und wandte sich halb gegen die Geschworenen, als wollte er ihnen stumm versichern, er werde diesen Zeugen schon noch fangen. „Wollen Sie damit wirklich sagen, Mr. Weller, daß Sie nichts davon gesehen haben, wie die Klägerin ohnmächtig in den Armen des Beklagten lag, was die Zeugen vorhin bereits ausführlich zugegeben haben?“ „Habe wirklich nischt gesehen“, erwiderte Sam. „Ich war im Gang, bis man mir rief, und dann war die alte Dame schon nich mehr da.“

„Merken Sie wohl auf, Mr. Weller“, ermahnte der Prokurator Buzfuz, eine große Feder in das vor ihm stehende Tintenfaß tauchend, damit Sam Angst bekommen und glauben solle, er wolle seine Antwort niederschreiben. „Sie waren im Gang und haben nichts von dem gesehen, was vorging? Haben Sie nicht ein paar Augen im Kopf, Mr. Weller?“

„Jawoll habe ich ’n paar Augen“, erwiderte Sam. „Eben drum. Wenn ich ’n paar Patent-Doppelmillionen-Vergrößerungsgläser von Extragüte hätte, war’s mir ’n leichtes gewesen, durch ’ne eichene Tür zu sehen; aber da es bloß ’n paar einfache Augen sin, is mein Gesichtskreis leider beschränkt.“

Bei dieser Antwort, die ohne den geringsten Anschein von Aufregung und mit der vollkommensten Unbefangenheit und Gleichmütigkeit gegeben wurde, kicherten die Zuschauer, der kleine Richter schmunzelte, und Prokurator Buzfuz schaute ausnehmend albern drein. Nach einer kurzen Beratung mit Dodson und Fogg wandte sich der Rechtsgelehrte abermals an Sam und sagte, mit Mühe seinen Ärger verbeißend:

„Jetzt, Mr. Weller, werde ich Ihnen, wenn Sie gestatten, eine Frage über einen andern Punkt vorlegen.“

„Ganz wie’s Ihnen beliebt“, erwiderte Sam mit der besten Laune von der Welt.

„Erinnern Sie sich noch, im vergangenen November einmal bei Nacht zu Mrs. Bardell gegangen zu sein?“

„O ja, recht gut.“

„So, Sie erinnern sich dessen also, Mr. Weller?“ sagte Prokurator Buzfuz, frischen Mut fassend. „Ich dachte mir doch, wir würden am Ende noch etwas von Ihnen erfahren.“

„Habe ich mir auch gedacht, Sir“, entgegnete Sam.

Die Zuschauer kicherten aufs neue.

„Gut. Sie gingen ohne Zweifel zu ihr, um mit ihr ein bißchen über den Prozeß zu sprechen, was, Mr. Weller?“ fragte Prokurator Buzfuz, den Geschworenen bedeutsame Blicke zuwerfend.

„Ich ging hin, um die Miete zu bezahlen; aber wir haben allerdings auch über den Prozeß gesprochen“, erwiderte Sam.

„Aha, Sie sprachen auch über den Prozeß!“ rief Buzfuz, strahlend im Vorgenuß einer wichtigen Entdeckung. „Nun, und was wurde denn über den Prozeß gesprochen? Wollen Sie die Güte haben, es uns zu sagen, Mr. Weller?“

„Mit dem größten Vergnügen, Sir. Nach ’n paar unwichtigen Bemerkungen, wo die zwei tugendfesten Frauenzimmer, wo Sie vorhin befragt haben, also gemacht haben, ließen sich die Damen mit große Bewunderung über das ehrenwerte Benehmen von die Herren Dodson und Fogg aus, die wo da neben Ihnen sitzen.“

Das zog natürlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf Dodson und Fogg, die möglichst tugendhafte Gesichter schnitten.

„Die Sachwalter der Klägerin? Die Damen haben also mit großem Lob von dem ehrenhaften Benehmen der Herren Dodson und Fogg, den Sachwaltern der Klägerin, gesprochen?“

„Ja. Sie meinten, daß es doch sehr schön von denen is, daß sie den Prozeß bloß auf Spekulation übernommen haben und daß sie sich nichts für die Unkosten bezahlen lassen wollen, wenn Mr. Pickwick nicht verurteilt wird.“

Bei dieser höchst unerwarteten Antwort kicherten die Zuschauer abermals. Die Herren Dodson und Fogg wurden feuerrot, beugten sich zu Prokurator Buzfuz und flüsterten ihm hastig etwas ins Ohr.

„Sie haben vollkommen recht“, sagte Prokurator Buzfuz laut mit erzwungener Ruhe. „Es ist durchaus nutzlos, Mylord, von der unverbesserlichen Dummheit dieses Zeugen irgendeinen Aufschluß zu erwarten. Ich will den Gerichtshof nicht länger damit aufhalten, daß ich noch mehr Fragen an ihn richte. Sie können gehen, Sir.“

„Hat einer von den Herren vielleicht Lust, mir noch was zu fragen?“ sagte Sam, nahm seinen Hut und blickte bedächtig um sich.

„Ich nicht, Mr. Weller, danke Ihnen“, antwortete Prokurator Snubbin lachend.

„Sie können sich entfernen, Sir“, sagte Prokurator Buzfuz, ungeduldig mit der Hand winkend.

Sam trat demgemäß ab, nachdem er der Sache der Herren Dodson und Fogg den größtmöglichen Schaden zugefügt, über Mr. Pickwick aber so wenig wie möglich ausgesagt hatte, was beides von Anfang an seine Absicht gewesen war.

Prokurator Snubbin hielt jetzt eine sehr lange und nachdrucksvolle Rede zugunsten des Beklagten an die Geschworenen, worin er dem Lebenswandel und Charakter Mr. Pickwicks das größte Lob angedeihen ließ. Er versuchte klarzulegen, daß die vorgelegten Billette sich lediglich auf Mr. Pickwicks Mittagessen oder auf die Vorbereitungen zu seinem Empfang bezogen, als er von einer ländlichen Exkursion zurückkehrte. Kurz, er tat für Mr. Pickwick sein möglichstes und mehr kann man bekanntlich auch vom Besten nicht verlangen.

Richter Stareleigh resümierte in der althergebrachten und üblichen Form. Er las den Geschworenen so viel von seinen Notizen vor, als er bei der Schnelligkeit, mit der er sie niedergeschrieben, entziffern konnte, und ließ allgemeine Bemerkungen mit einfließen, wie zum Beispiel, wenn Mrs. Bardell recht habe, so sei es sonnenklar, daß Mr. Pickwick unrecht habe, und wenn die Geschworenen die Aussagen der Mrs. Cluppins glaubwürdig fänden, so müßten sie ihnen Glauben schenken, wo nicht, so würden sie es nicht tun; wenn sie überzeugt seien, daß ein Eheversprechen nicht gehalten worden sei, so würden sie der Klägerin eine angemessene Entschädigung zuerkennen, wenn sie dagegen glaubten, das Eheversprechen habe überhaupt nicht stattgefunden, so würden sie den Beklagten vollkommen freisprechen. Die Geschworenen zogen sich hierauf in ihr Beratungszimmer zurück; und der Richter begab sich auf sein Privatbüro, um sich an einer Hammelkeule und einem Glas Champagner zu laben.

Es verstrich eine ängstliche Viertelstunde; die Jury kam zurück, und der Richter wurde hereingeholt. Mr. Pickwick setzte seine Brille auf und starrte mit unruhevollem Gesicht und heftig klopfendem Herzen nach dem Vorsitzenden hin.

„Meine Herren“, fragte das schwarzgekleidete Individuum, „haben Sie sich über Ihren Ausspruch geeinigt?“

„Ja“, antwortete der Vorsitzende.

„Für wen haben Sie entschieden, meine Herren, für die Klägerin oder den Beklagten?“

„Für die Klägerin.“

„Welche Entschädigung erkennen Sie ihr zu?“

„Siebenhundertundfünfzig Pfund.“

Mr. Pickwick nahm seine Brille ab, wischte die Gläser sorgfältig ab, steckte sie ins Futteral und dieses in die Tasche; dann zog er mit großer Sorgfalt seine Handschuhe an, und nachdem er die ganze Zeit über den Vorsitzenden unverwandt angestarrt, folgte er mechanisch Mr. Perker und dem blauen Aktenbeutel zum Saale hinaus.

Sie begaben sich in ein Seitenzimmer, wo Perker die Gebühren bezahlte und wohin bald darauf auch Mr. Pickwicks Freunde kamen. Hier trafen sie auch die Herren Dodson und Fogg, die sich mit allen Zeichen größter Zufriedenheit die Hände rieben.

„Nun, meine Herren?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nun, Sir?“ sagte Mr. Dodson für sich und seinen Associé.

„Sie bilden sich wahrscheinlich ein, daß Sie Ihre Kosten bekommen werden, meine Herren?“

Fogg erwiderte, sie zweifelten nicht daran, und Dodson meinte, sie wollten es auf einen Versuch ankommen lassen.

„Versuchen Sie es, solange Sie wollen, meine Herren Dodson und Fogg“, sagte Mr. Pickwick heftig, „von mir bekommen Sie keinen Heller, und wenn ich mein ganzes noch übriges Leben im Schuldgefängnis zubringen müßte.“

„Haha!“ lachte Dodson. „Sie werden sich noch vor dem nächsten Gerichtstag eines Bessern besinnen, Mr. Pickwick.“

„Hihihi“, grinste Fogg, „das wollen wir doch mal sehen, Mr. Pickwick.“

Sprachlos vor Entrüstung ließ sich Mr. Pickwick von seinem Anwalt und seinen Freunden hinausführen und stieg in eine Mietkutsche, die der allzeit aufmerksame Sam Weller flink zu diesem Behufe herbeigeholt hatte.

Sam hatte den Tritt hinauf geschlagen und wollte eben auf den Bock springen, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Er sah sich um, und sein Vater stand vor ihm. Das Gesicht des alten Herrn trug den Ausdruck tiefer Betrübnis; er schüttelte ernsthaft sein Haupt und sagte in vorwurfsvollem Tone:

„Siehste wohl, Sammy. Warum habt ihr kein Alibi nachgewiesen! – Sammy, Sammy!“