»Ich bin hier zu Hause!« entgegnete sie. »Ich hüte meine Herde!«
»Deine Herde?« Wo weidet sie?« versetzte er und lachte. »Hier gibt es nur Schnee und Felsen.«
»Du weißt wirklich gut Bescheid!« erwiderte sie lachend. »Hier hinten, ein klein wenig unten, ist ein herrlicher Weideplatz. Dort gehen meine Ziegen! Ich hüte sie gut. Nicht eine verliere ich, was mein ist, bleibt mein!«
»Du bist kühn!« sagte Rudi.
»Auch du!« lautete die Antwort.
»Hast du Milch, so gib mir einen Schluck. Ich durste ganz unerträglich.«
»Ich habe etwas Besseres als Milch!« entgegnete sie, »das sollst du bekommen. Gestern waren einige Reisende mit ihren Führern hier; sie vergaßen eine halbe Flasche Wein, wie du ihn noch nie gekostet hast. Sie holen sie nicht und ich trinke sie nicht; trinke du!«
Und sie holte den Wein hervor, goß ihn in eine hölzerne Schale und reichte sie Rudi.
»Der ist gut!« sagte er. »Nie kostete ich einen so wärmenden, so feurigen Wein.« Seine Augen strahlten, es kam ein Leben, eine Glut in ihn, als ob alles, was ihn traurig gemacht und bedrückt hatte, verdunstet wäre. Die sprudelnde, frische Menschennatur bewegte sich in ihm.
»Aber es ist doch Schullehrers Anette!« rief er mit einem Male aus. »Gib mir einen Kuß!«
»Wenn du mir den schönen Ring gibst, den du am Finger trägst!«
»Meinen Verlobungsring?«
»Gerade den!« sagte das Mädchen, goß Wein in die Schale und setzte sie ihm an die Lippen; und er trank. Echte Lebensfreude strömte da in sein Blut, die ganze Welt schien ihm zu gehören; weshalb sich mit Grillen plagen? Alles ist da, um uns Genuß und Glück zu gewähren! Der Lebensstrom ist ein Freudenstrom; sich von ihm forttragen zu lassen, das ist Glückseligkeit. Er sah das junge Mädchen an, es war Anette und doch auch wieder nicht, noch weniger das Spukphantom, wie er es genannt hatte, das er bei Grindelwald traf. Das Mädchen hier auf dem Berge war wie frisch wie der neugefallene Schnee, schwellend wie die Alpenrose und leicht wie ein Reh, doch immer aus Adams Rippe geschaffen, ein Mensch wie Rudi. Und er schlang seine Arme um sie, schaute in ihre wunderbaren hellen Augen hinein, nur eine einzige Sekunde war es, und in dieser – ja wer erklärt, was geschah? – war es das Leben des Geistes oder des Todes, was ihn erfüllte? Wurde er erhoben oder sank er in den tiefen tödlichen