Hans Christian Andersen

Die Eiskönigin

1. Klein-Rudi
Laßt uns die Schweiz besuchen, laßt uns in dem herrlichen Berglande umsehen, wo die Wälder die steilen Felsenwände hinaufwachsen; laßt uns die blendenden Schneegefilde emporsteigen und wieder in die grünen Wiesen hinabgehen, wo Flüsse und Bäche dahinbrausen, als befürchteten sie, das Meer nicht früh genug erreichen und verschwinden zu können. Die Sonne brennt in dem tiefen Tale; sie brennt auch auf die schweren Schneemassen, so daß sie im Laufe der Jahre zu schimmernden Eisblöcken zusammenschmelzen und rollende Lawinen, aufgetürmte Gletscher werden. Zwei solcher Gletscher liegen in den breiten Felsenklüften unterhalb des Schreckhorns und des Wetterhorns bei dem kleinen Bergstädtchen Grindelwald. Sie gehören zu den merkwürdigsten und ziehen deshalb während der Sommerzeit viele Fremde aus allen Ländern der Welt herbei. Sie kommen über die hohen schneebedeckten Berge; sie kommen aus den tiefen Tälern und müssen dann stundenlang steigen, und während sie steigen, senkt sich das Tal tiefer und tiefer, sie sehen tief hinein, als schauten sie aus einem Luftballon. Oben hängen oft die Wolken wie dicke, schwere Vorhänge um die Berggipfel, während unten im Tale, wo die vielen braunen hölzernen Häuser verstreut liegen, noch ein Sonnenstrahl glänzt und ein grünes Plätzchen wie durchsichtig hervortaucht. Das Wasser braust, rauscht und gießt herab; das Wasser rieselt und plätschert hernieder; es sieht aus, als ob silberne Bänder von den Felsen hinabflatterten.
Auf beiden Seiten des Weges liegen Balkenhäuser; jedes Haus hat seinen kleinen Kartoffelacker, und der ist ein Bedürfnis; denn hinter der Tür gibt es viele Münder, gibt es einen Reichtum an Kindern, denen allen es vortrefflich schmeckt. Aus allen Häusern wimmeln sie hervor, drängen sie sich um die Reisenden, ob sie nun zu Fuß oder zu Wagen kommen. Ganze Kinderscharen treiben Handel; die kleinen bieten niedlich ausgeschnitzte Häuschen feil, wie man sie hier im Gebirge gebaut findet. Mag es nun Regen oder Sonnenschein sein, das Kindergewimmel kommt mit seinen Waren zum Vorschein.
Vor etwa 30 Jahren stand hier bisweilen, aber stets von den anderen Kindern getrennt, ein kleiner Knabe, der auch Waren zum Verkauf bei sich hatte. Er stand mit einem so ernsten Antlitz da und hielt mit beiden Händen seine Holzschachtel so fest umklammert, als wollte er sie doch nicht loslassen. Aber gerade dieser Ernst und die Kleinheit des Bürschchens war die Ursache, daß er oftmals bemerkt, ja, angerufen wurde und nicht selten den besten Handel machte, er wusste selbst nicht weshalb. Höher hinauf wohnte sein Großvater mütterlicherseits, der die feinen niedlichen Häuser schnitzte; und in der Stube stand ein alter Schrank, vollgestopft von allerlei Schnitzwerk. Da gab es Nussknacker, Messer, Gabeln und Kästchen mit schönem Laubwerk und springenden Gemsen; da gab es alles , was Kinderaugen erfreuen konnte; aber der Kleine, Rudi hieß er, betrachtete mit größerer Lust und Sehnsucht das alte Gewehr unter dem Balken, das er einmal, wie Großvater gesagt hatte, bekommen sollte, aber er müsste erst groß und stark genug werden, um es meistern zu können.
So klein der Knabe war, wurde ihm doch schon das Hüten der Ziegen anvertraut und, wenn es zu den Vorzügen eines guten Ziegenhirten gehört, mit seinen Untergebenen um die Wette klettern zu können, ja dann war Rudi ein guter Hirt. Er kletterte sogar noch höher als sie; die Vogelnester im Gipfel hoher Bäume auszunehmen, war seine Lust. Keck und verwegen war er, aber lächeln sah man ihn nur, wenn er im brausenden Wasserfalle stand oder eine Lawine rollen hörte. Nie spielte er mit den anderen Kindern, Er kam nur mit ihnen zusammen, wenn ihn sein Großvater zum Verkauf hinabsandte, und daran war Rudi nicht viel gelegen. Er zog es vor, sich allein auf den Bergen umherzutummeln oder beim Großvater zu sitzen und auf seine Erzählungen aus alter Zeit und über den Volksstamm zu lauschen, der in seiner alten Heimat Meiringen ansässig war. Der Stamm gehörte, wie man sich erzählte, nicht zu den Ureinwohnern, sondern war erst in späterer Zeit eingewandert. Hoch oben vom Norden war er herabgekommen, wo die Schweden wohnten. Es gehört schon immer eine gewisse Klugheit dazu, das zu wissen, und Rudi wusste es; aber eine n och ungleich größere Klugheit verdankte er einem anderen guten Umgange, und zwar mit den Hausbewohnern aus der Tierwelt. Sie teilten das Häuschen mit einem großen Hunde, Ajola, den Rudis Vater hinterlassen hatte, und mit einem Kater. Besonders dieser Kater hatte für Rudi große Bedeutung gewonnen, denn er hatte ihm das Klettern beigebracht.
»Komm mit auf das Dach hinaus!« hatte der Kater völlig deutlich und verständlich gesagt; denn wenn man ein Kind ist und noch nicht sprechen kann, versteht man Hühner und Enten, Katzen und Hunde ganz vortrefflich; sie sprechen ebenso verständlich wie Vater und Mutter, nur muß man recht klein sein. Selbst Großvaters Stock kann dann wiehern, kann sich in ein Pferd mit Kopf, Beinen und Schwanz verwandeln. Bei einigen Kindern verliert sich dieses Verständnis später als bei anderen, und von diesen sagt man, dass sie weit zurück sind, daß sie sich sehr spät entwickeln. Man sagt ja so viel!
»Komm mit, Rudichen, komm mit hinaus aufs Dach!« war mit das erste, was der Kater sagte, und Rudi verstand. »Das Hinunterfallen kommt nur in der Einbildung vor. Man fällt nicht, wenn man sich davor nicht fürchtet.. Komm, setzt dein eines Pfötchen so, das andere so! Setze die Vorderpfötchen voreinander! Habe Augen im Kopf und sei gewandt! Ist eine Spalte da, so spring hinüber und halte dich fest, ich mache es auch so!«
Und Rudi machte es gleichfalls so. Deshalb saß er so oft bei ihm auf dem Dache, saß mit ihm in den Baumgipfeln, ja hoch oben auf den Felsenrändern, wohin der Kater nicht kam.
»Höher, höher!« sagten Bäume und Büsche. »Siehst du, wie wir hinaufklettern, wie hoch wir gelangen, wie fest wir uns selbst auf den äußersten schmalen Felsenspitzen halten!«
Und Rudi kletterte den Berg hinauf, oft ehe die ersten Sonnenstrahlen auf ihn fielen, und dort bekam er seinen Morgentrunk, die frische stärkende Bergluft, den Trunk, den nur Gott bereiten kann. Die Menschen lesen sein Rezept und darauf steht geschrieben: der frische Duft der Gebirgskräuter und der Krauseminze und des Thymians im Tale. Alles, was schwer ist, saugen die hängenden Wolken in sich und strömen es dann auf die Nachbarwälder aus, aber der Geist des Duftes wird Luft, leicht und frisch und immer frischer; sie war Rudis Morgentrunk.
Die Sonnenstrahlen, der Sonne segenspendende Töchter, küssten seine Wangen, und der Schwindel stand daneben und lauerte auf ihn, durfte sich ihm aber nicht nahen. Die Schwalben unten von Großvaters hause, an dem sich nicht weniger als sieben Nester befanden, flogen zu ihm und den Ziegen empor, lustig zwitschernd: »Wir und ihr! Ihr und wir!« Grüße brachten sie von daheim, selbst von den beiden Hühnern, den einzigen Vögeln in der Stube, mit denen sich Rudi nie einließ.
Wie klein er auch war, so hatte er sich doch schon in der Welt umgesehen. Für so einen kleinen Knirps war seine Reise ziemlich bedeutend gewesen. Geboren war er drüben im Kanton Wallis und über die Berge hierher getragen. Vor kurzem hatte er zu Fuß den nahegelegenen Staubbach besucht, der vor der Jungfrau, diesem schneebedeckten blendenweißen Berge, wie ein Silberschleier in der Luft flattert. Auch in Grindelwald war er bei dem großen Gletscher gewesen, aber das war eine traurige Geschichte. Seine Mutter hatte hier den Tod gefunden. »Der hat dem kleinen Rudi die Kinderlust fortgetragen«, sagte der Großvater. Als der Knabe noch kein Jahr alt war, da hatte er, wie die Mutter schrieb, mehr gelacht als geweint, seit er aber in der Gletscherspalte gesteckt hatte, war ein ganz anderer Sinn über ihn gekommen. Großvater sprach sonst nicht viel davon, aber auf dem ganzen Berge wusste man Bescheid.
Rudis Vater war Postillon gewesen, der große Hund dort in der Stube hatte ihn auf seinen Fahrten über den Simplon nach dem Genfer See hinab regelmäßig begleitet. Im Rhonetale im Kanton Wallis wohnte noch Rudis Geschlecht väterlicherseits. Der Bruder seines Vaters war ein geschickter Gemsenjäger und wohlbekannter Führer. Rudi war erst ein Jahr alt, als er seinen Vater verlor. Seine Mutter wollte nun gern mit ihrem kleinen Kinde zu ihrer Familie im Berner Oberlande zurück. Einige Stunden Weges von Grindelwald entfernt wohnte ihr Vater, er war Holzschnitzer und verdiente sich durch seine Arbeit so viel, daß er sich durchschlagen konnte. Im Monat Juni ging sie mit ihrem kleinen Kinde in Gesellschaft zweier Gemsjäger über die Gemmi, um auf dem kürzesten Wege ihre Heimat zu erreichen. Schon hatten sie den größten Teil ihres Weges zurückgelegt, schon hatten sie den Kamm des Gebirges mit seinem ewigen Schnee überschritten, schon überblickte sie ihr heimisches Tal mit all seinen ihr wohlbekannten zerstreuten Holzhäusern, und es galt nur noch einen gr0ßen Gletscher zu passieren. Frischgefallener Schnee bedeckte ihn und verhüllte eine Spalte, die zwar nicht bis auf den Boden hinabbreichte, wo das Wasser rauschte, aber doch tiefer als Manneshöhe war. Die junge Frau, die ihr Kind trug, glitt aus, sank hinein und war verschwunden. Man hörte keinen Schrei, keinen Seufzer, aber man hörte ein kleines Kind weinen. Mehr als eine Stunde verging, ehe ihre beiden Begleiter aus dem nächstgelegenen Hause Stricke und Stangen geholt hatten, womit sie ihr möglicherweise Hilfe bringen konnten; und nach unendlicher Mühe wurden zwei Leichen, wie es schien, aus der Eisspalte hervorgezogen. Alle Mittel wurden angewendet, und es glückte wirklich, das Kind wieder ins Leben zurückzurufen, nicht aber die Mutter; und deshalb bekam der Großvater einen Tochtersohn anstatt einer Tochter ins Haus, jenen Kleinen, der mehr lachte als weinte. Aber das schien er sich jetzt abgewöhnt zu haben; die Veränderung war wahrscheinlich in der Gletscherspalte4 vor sich gegangen, in der kalten wunderbaren Eiswelt, wo, wie der Schweizerbauer glaubt, die Seelen der Verdammten bis zum Tage des Gerichts eingesperrt sind.
Nicht unähnlich einem brausenden Wasser, zu grünen Glasblöcken erstarrt und zusammengedrückt, liegt der Gletscher da, ein großes Eisstück immer über das andere gewälzt. Unten in der Tiefe rauscht der reißende Strom von geschmolzenem Schnee und Eis. Tiefe Löcher, mächtige Spalten zeigen sich in ihm, er bildet einen wunderbaren Glaspalast, und darin wohnt die Eisjungfrau, die Gletscherkönigin. Sie, die Todbringende, die Zerschmetternde, ist halb ein Kind der Luft, halb des Flusses mächtige Beherrscherin. Deshalb vermag sie sich mit der Geschwindigkeit der Gemse zu dem höchsten Gipfel des Schneegebirges zu erheben, wo sich die kühnsten bergbesteiger, um festen Fuß fassen zu können, Tritte in das Eis hauen müssen. Sie schwebt auf dem dünnen Tannenzweige zu dem reißenden Fluße hinab und springt dort von Felsblock zu Felsblock, von ihrem langen schneeweißen Haare und ihrem blaugrünen Gewande umflattert, welches wie das Wasser der tiefen Schweizer Seen glänzt und schimmert.
»Zerschmettre, halte fest, mein ist die Macht!« ruft sie. »Einen schönen Knaben stahl man mir, einen Knaben, den ich geküsst hatte. Er ist wieder unter den Menschen, er weidet die Ziegen auf dem Berge, er klettert hinauf, immer hinauf, fort von den anderen, nicht von mir! Mein ist er, ich hole ihn!«
Und sie bat den Schwindel, ihren Auftrag auszuführen. Im Sommer war es der Eisjungfrau zu schwül im Grünen, wo die Krauseminze wächst. Und der Schwindel erhob und verbeugte sich. Da kam einer, nein, da kamen drei. Der Schwindel hat viele Brüder, eine ganze Schar. Die Eisjungfrau wählte die stärksten aus der großen Menge, die draußen in der Natur wie drinnen in den Gebäuden herrschen. Sie sitzen auf dem Treppen-und auf dem Turmgeländer, sie laufen wie ein Eichhörnchen am Felsenrand entlang, sie springen von ihm hinab und treten Luft, wie der Schwimmer Wasser tritt, und locken ihre Opfer über den Abgrund hinaus und hinab. Der Schwindel und die Eisjungfrau, beide greifen sie nach den Menschen, wie der Polyp nach allem greift, was sich um ihn bewegt. Der Schwindel sollte Rudi ergreifen.
»Ja, greift ihn mir nur!« sagte der Schwindel, »Ich vermag es nicht, die böse Katze hat ihn ihre Künste gelehrt. Dem Menschenkinde steht eine Macht bei, die mich fortstößt. Ich kann den kleinen Burschen nicht erreichen, so oft er an einem Zweige über den Abgrund hinaushängt, wenn ich ihn auch unter den Fußsohlen kitzelte oder ihn tief unter die Luft tauchte! Ich vermag es nicht!«
»Wir vermögen es!« sagte die Eisjungfrau, »du oder ich, ich, ich!«
»Nein, nein!« schallte es zu ihnen hinüber, als wäre es das Echo der Kirchenglocken; aber es war Gesang, es war Rede, es war der zusammenschmelzende Chor anderer Naturgeister, milder, liebevoller und guter, der Töchter der Sonnenstrahlen. Sie lagern sich jeden Abend auf den Gipfeln der Bergesgipfeln und breiten ihre rosigen Schwingen aus, die, je tiefer die Sonne sinkt, desto röter und röter aufflammen. Die hohen Alpen glühen, die Menschen nennen es das »Alpenglühen«. Wenn dann die Sonne hinunter ist, flüchten sie sich in die Felsenspitzen, in den weißen Schnee hinein, schlafen dort, bis sich die Sonne erhebt, und kommen dann wieder hervor. Besonders lieben sie die Blumen, die Schmetterlinge und die Menschen, und unter diesen hatten sie sich vorzüglich den kleinen Rudi erkoren. »Ihr fangt ihn nicht! Ihr fangt ihn nicht!« sangen sie.
»Größere und Stärkere habe ich gefangen und bekommen!« erwiderte die Eisjungfrau.
Da sangen die Töchter der Sonne ein Lied von dem Wandersmann , dem der Wirbelwind den Mantel entriß und in stürmischer Eile entführte. »Die Hülle trug der Wind fort, aber nicht den Mann. Ihn könnt ihr Kinder der Kraft ergreifen, aber nicht halten. Er ist stärker, er ist geistiger als wir selbst. Er steigt höher als die Sonne, unsere Mutter. Er kennt das Zauberwort, das Wind und Wasser bindet, so dass sie ihm dienen und gehorchen müssen. Ihr löst nur das schwere hinabziehende Gewicht, und er erhebt sich desto höher.«
So herrlich lautete der glockenklingende Chor.
Und jeden Morgen schienen die Sonnenstrahlen durch das einzige kleine Fenster in Großvaters Haus hinein, zu dem stillen Kinde hinein. Die Töchter der Sonnenstrahlen küßten ihn, sie wollten die Eisküsse auftauen, erwärmen, vernichten, welche ihm die königliche Maid der Gletscher gegeben hatte, als er im Schoße seiner toten Mutter in der tiefen Eiskluft lag und wie durch ein Wunder daraus gerettet wurde. 2. Die Reise nach der neuen Heimat
Rudi war jetzt acht Jahre alt; sein Onkel im Rhonetal auf der anderen Seite des Gebirges wollte den Knaben zu sich nehmen. Dort konnte er besser unterrichtet werden und es einmal weiter bringen; das sah auch sein Großvater ein und setzte sich deshalb dem Plane nicht entgegen.
Rudi sollte fort. Großvater war es nicht allein, von dem es nun galt abschied zu nehmen; da war zuerst Ajola, der alte Hund.
»Dein Vater war Postillon, und ich war Posthund«, sagte Ajola. »Wir sind auf und ab gefahren; ich kenne die Hunde und Menschen auch auf der anderen Seite des Gebirges. Viel zu reden war nicht meine Gewohnheit, aber jetzt, wo wir leider nicht mehr lange miteinander sprechen können, will ich etwas mehr als sonst reden. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die ich schon lange mit mir herumgetragen habe. Ich kann sie nicht verstehen und du kannst es auch nicht, aber das tut auch weiter nichts, denn so viel habe ich doch daraus ersehen, daß in der Welt die Lose der Hunde und der Menschen nicht völlig richtig verteilt sind. Nicht alle sind dazu geschaffen, auf dem Schoße zu liegen oder Milch zu schlürfen. Ich bin nicht daran gewöhnt worden, aber ich habe ein Hündchen mit im Postwagen fahren und einen Menschenplatz einnehmen sehen. Die Frau, die seine Herrschaft war (wenn nicht etwa das Hündchen ihre Herrschaft war), hatte eine Milchflasche bei sich, aus der sie ihm zu trinken gab. Es erhielt Zuckerbrot, mochte es aber nicht einmal fressen, sondern schnüffelte nur daran, und sie aß es dann selbst. Ich lief in der Sonnenhitze neben dem Wagen her, hungrig wie ein Hund nur sein kann, und kaute an meinen eigenen Gedanken. Das war nicht in der Ordnung – aber wie vieles gibt es freilich noch außerdem, was nicht in der Ordnung ist. Möchtest du doch auf den Schoß kommen und in der Kutsche fahren können! Aber das kann man sich leider nicht selbst verschaffen, ich habe es wenigstens nicht vermocht, weder durch Bellen noch durch Heulen.«
So lautete Ajolas Rede, und Rudi fasste ihn um den Hals und küßte ihn gerade auf seine feuchte Schnauze. Dann nahm er den Kater in seine Arme, der sich jedoch seinen Liebkosungen entzog.
»Du wirst mir zu stark, und gegen Dich will ich meine Krallen nicht gebrauchen. Klettere nur über die Berge ich habe dir das Klettern ja beigebracht! Bilde dir nie ein, daß du hinabfällst, dann hältst du dich gewiß fest!« Nach diesen Worten lief der Kater davon, denn er wollte Rudi nicht sehen lassen, dass ihm der Kummer aus den Augen leuchtete.
»Rudi will über die berge!« sagte das Huhn.
»Er hat immer Eile!« versetzte das andere, »und ich liebe die Abschiedsszenen nicht!« Und schnell trippelten sie beide fort.
Den Ziegen sagte er gleichfalls Lebewohl, und sie riefen: »Mit! mit! Meck! Meck! Was gar traurig klang.
Zwei Leute aus der Gegend, tüchtige, flinke Führer, mußten gerade über die Berge und wählten den Weg über die Gemmi. Rudi begleitete sie, und zwar zu Fuß. Es war ein anstrengender Marsch für einen so kleinen Burschen, aber Kräfte hatte er und einen Mut, der unermüdlich war.
Die Schwalben flogen eine Strecke mit. »Wir und ihr, ihr und wir!« sangen sie. Der Weg führte über die reißende Lütschine, die in vielen kleinen Bächlein aus der schwarzen Kluft des Grindelwaldgletschers hervorstürzt. Frei daliegende schwankende Baumstämme und zertrümmerte Felsenblöcke dienen hier als Brücken. Jetzt waren sie oberhalb des Erlengebüsches und begannen den Berg hinaufzusteigen, dicht neben der Stelle, wo sich der Gletscher vom Berge gelöst hat. Darauf traten sie auf den Gletscher selbst hinaus über Eisblöcke, fort oder um sie herum. Bald mußte Rudi kriechen, bald gehen. Seine Augen strahlten vor Entzücken. Mit seinen eisenbeschlagenen Bergschuhen trat er so fest auf, als wollte er in dem zurückgelegten Wege seine Fußstapfen zurücklassen.
Aufwärts, immer aufwärts ging es; hoch erstreckte sich der Gletscher. Er glich einer Flut wild übereinandergetürmter Eismassen, die zwischen steilen Felsen eingeklemmt dalagen. Rudi dachte einen Augenblick an das, was ihm erzählt worden war, dachte daran, daß er mit seiner Mutter in einer dieser Kälte aushauchenden Spalten gelegen hatte, aber bald lenkte er seine Gedanken wieder auf andere Gegenstände. Es galt ihm nicht mehr als jede andere der vielen Geschichten, die er gehört hatte. Ein und das andere mal, wenn die Männer das unaufhörliche Steigen zu beschwerlich für den kleinen Buben hielten, reichten sie ihm die Hand, aber er ermüdete nicht und stand auf dem Glatteise fest wie eine Gemse. Jetzt gelangten sie auf Felsenboden; bald gingen sie zwischen nackten Steinen hindurch, bald unter niedrigen Tannen fort und wieder auf grüne Weideplätze hinaus, fortwährend dem Blicke Neues darbietend. Ringsumher erhoben sich schneebedeckte Berge, deren Namen er wie jedes Kind hiesiger Gegend kannte: Jungfrau, Mönch und Eiger.
Rudi war nie zuvor so hoch gewesen, hatte nie zuvor das ausgedehnte Schneemeer betreten. Es lag mit seinen unbeweglichen Schneewogen da, von denen der Wind die einzelnen Flocken weggeblasen hatte, wie er den Schaum von den Wellen des Meeres bläst. Ein Gletscher reicht, wenn man so sagen kann, dem anderen die Hand; jeder ist ein Glaspalast der Eisjungfrau, deren Macht und Wille ist: zu fangen und zu begraben. Die Sonne brannte heiß, der Schnee war blendend und wie mit bläulich blitzendem Diamantengefunkel übersät.
Unzählige Insekten, hauptsächlich Schmetterlinge und Bienen, lagen massenhaft tot auf dem Schnee; sie hatten sich zu hoch gewagt, oder der Wind hatte sie, die in dieser Kälte notwendig zugrunde gehen mussten, so hoch getrieben. Um das Wetterhorn hing gleich ein Büschel schwarzer Wolle eine drohende Wolke. Sie senkte sich, von dem, was sie in sich barg, dem Föhn, immer mehr anschwellend. Zerstörend und schreckerregend mußte sich seine Macht offenbaren, wenn er losbrach. Der Eindruck der ganzen Wanderung, das nachtquartier hier oben, der Weg am folgenden tage, die tiefen Felsenspalten, welche das Wasser in unvordenklicher Zeit in die harten Steinblöcke hineingerissen hatte, hafteten unvergesslich in Rudis Erinnerung. Ein verlassenes steinernes Gebäude jenseits des Schneemeeres gewährte ihnen für die Nacht ein sicheres Obdach. Hier fanden sie Holzkohlen und Tannenzweige; bald war das Feuer angezündet und das Nachtlager, so gut man konnte, hergestellt. Die Männer setzten sich um das Feuer, rauchten ihr Pfeifchen und erquickten sich an dem warmen gewürzreichen Tranke, den sie sich selbst bereitet hatten. Rudi erhielt redlich seinen Anteil. Die Unterhaltung drehte sich um die geheimnisvollen Wesen des Alpenlandes, um die seltsamen Riesenschlangen in den tiefen Seen, um die nächtlichen Erscheinungen, das Gespensterheer, das den Schlafenden nach der wunderbaren schwimmenden Stadt Venedig durch die Luft trägt, den wilden Hirten, der seine schwarzen Schafe über die Weideplätze triebt. Hatte sie man auch nicht gesehen, so hatte man doch den Ton ihrer Glocken, das unheimliche Gebrüll der Herde gehört. Rudi lauschte neugierig, aber ohne alle Furcht zu, die kannte er nicht; und während er zulauschte, glaubte er das spukartige, hohle Gebrüll zu vernehmen. Ja, es wurde immer lauter und deutlicher, die Männer hörten es auch, unterbrachen ihr Gespräch, horchten und forderten Rudi auf, nicht zu schlafen.
Es war ein Föhn, der einherblies, der gewaltige Sturmwind, der sich von den Bergen in die Täler hinabstürzt und in seiner Heftigkeit Bäume bricht, als wären sie Rohrstengel, und die Blockhäuser von einem Flussufer auf das andere versetzt, wie wir die Schachfiguren hin-und herrücken.
Erst nach einer Stunde sagten sie zu Rudi, daß es nun überstanden wäre und er jetzt schlafen könnte, und, müde vom Marsch, schlief er wie auf Befehl.
Früh am folgenden Morgen brachen sie auf. Die Sonne zeigte dem kleinen Rudi heute neue Berge, neue Gletscher und Schneefelder. Sie hatten die Grenzen des Kanton Wallis überschritten und befanden sich jetzt auf der anderen Seite des Bergrückens, den man von Grindelwald aus wahrnahm, waren aber von des Knaben neuer Heimat noch immer weit entfernt. Andere Bergklüfte, andere Weideplätze, Wälder und Felsenpfade entfalteten sich, andere Häuser, andere Menschen zeigten sich, aber welche Menschen er auch sah, alle waren Missgestalten, widerliche, fette, weißlichgelbe Gesichter, der Hals ein schwerer, hässlicher, tief hängender Fleischklumpen. Es waren Kretins. Siech und elend schleppten sie sich weiter und glotzten mit dummen Augen die anlangenden Fremden an. Die Weiber sahen am gräßlichsten aus. Wie, waren das die Menschen in seiner neuen Heimat?