erleuchte mein Herz! Ich verstehe meine Wege nicht, tappe im Dunkeln umher, welches mir Deine Weisheit und Güte verbirgt!«
Und Gott erleuchtete ihr Herz. Ein Gedankenblitz, ein Gedankenstrahl, ihr Traum der letzten Nacht, völlig lebendig, durchzuckte sie. Sie entsann sich der Worte, die sie gesprochen hatte: der Wunsch von dem Besten für sich und Rudi.
»Weh mir! War es der Samen der Sünde in meinem Herzen? War mein Traum ein Zukunftsleben, dessen Saiten um meiner Rettung willen zerrissen werden mussten? Ich Elende?«
Jammernd saß sie in der finsteren Nacht. In ihrer tiefen Stille klangen ihr noch immer Rudis Worte in den Ohren, die letzten, die er gesagt hatte: »Mehr Glück hat mir die Erde nicht zu bieten!« Sie erklangen in der Fülle der Freude, sie wurden wiederholt im Strome des Schmerzes.
Ein paar Jahre sind seither verstrichen. Der See lächelt, die Ufer lächeln; die Weinreben setzen schwellende Trauben an. Dampfschiffe mit wehenden Wimpeln jagen vorüber, Luftboote mit ihren zwei ausgespannten Segeln fliegen wie Schmetterlinge über den Wasserspiegel. Die Eisenbahn über Chillon ist eröffnet, sie führt teif über das Rhonetal hinein. Auf jeder Sation steigen Fremde aus, sie kommen mit ihrem in Rot eingebundenen Reisebuche und lesen aus ihm heraus, was sie Merkwürdiges zu sehen haben.. Sie besuchen Chillon, sie sehen sich draußen im See die kleine Insel mit den drei Akazien an, und lesen im Buche von dem Brautpaare, das eines abends im Jahre 1856 hinüberfuhr, lesen vom Tode des Bräutigams, und wie man erst am nächsten Morgen am Ufer das verzweifelte Jammern der Braut hörte.
Aber das Reisehandbuch meldet nichts von Babettens stillen Lebenstagen bei ihrem Vater, nicht in der Mühle in der jetzt Fremde wohnen, sondern in dem schönen Häuschen in der Nähe des Bahnhofs, aus dessen Fenstern sie noch manchen Abend über die Kastanienbäume fort nach den Schneebergen hinüberschaute, wo sich Rudi einst tummelte. Sie betrachtet des Abends das Alpenglühen, die Kinder der Sonne lagern sich dort oben und wiederholen das Lied von dem Wandersmann, dem der Wirbelwind den Mantel abriß und entführte. Die Hülle und nicht den Mann nahm er.
Es ist Rosenglanz auf dem Schnee des Gebirges, es ist Rosenglanz in jedem Herzen, in dem der Gedanke lebt: »Gott lässt stets das Beste für uns geschehen!« Aber es wird uns nicht immer offenbart, wie einst Babetten in ihrem Traume.