Fünftes Kapitel


Fünftes Kapitel

Ein Tag im Freien. Neue Freunde. Eine Einladung aufs Land.

Viele Schriftsteller haben eine ebenso törichte wie unredliche Abneigung gegen die Angabe der Quellen, aus denen sie manch schätzbare Nachricht schöpfen. Uns liegt das fern. Unser einziges Bestreben geht dahin, unsern Pflichten als Berichterstatter gewissenhaft nachzukommen, und wie verlockend es auch sein mag, auf das Verdienst der Erfindung dieser Begebenheiten Anspruch zu machen, so verbietet uns doch die Wahrheitsliebe, mehr als das Verdienst einer zweckmäßigen Zusammenstellung und unparteiischen Erzählung in Anspruch zu nehmen. Die Pickwick-Protokolle sind unsre Quellen, und wir, sozusagen, die Wasserleitungsaktiengesellschaft. Die Arbeiten andrer haben uns mit einer ungeheuren Menge Material versehen, und wir übergeben sie der nach der Bekanntschaft mit den Pickwickiern dürstenden öffentlichkeit wahrheitsgetreu und unverfälscht.

In diesem Sinne, und uns streng an die Überlieferung haltend, gestehen wir offen, daß wir die Einzelheiten dieses und des folgenden Kapitels dem Tagebuch des Mr. Snodgraß verdanken – Einzelheiten, die wir nun, da unser Gewissen entlastet ist, der Welt ohne weiteren Kommentar vorlegen wollen.

Die ganze Bevölkerung von Rochester und den umliegenden Ortschaften erhob sich am folgenden Morgen bei Tagesgrauen in einem Zustande der höchsten Unruhe und Aufregung von ihren Betten. Eine große Truppenschau sollte stattfinden und das Falkenauge des Kommandeurs die Manöver von einem halben Dutzend Regimentern inspizieren: Festungswerke waren errichtet, die Zitadelle sollte angegriffen und genommen und eine Mine gesprengt werden.

Mr. Pickwick war, wie unsre Leser wohl bereits aus dem kurzen Auszug aus seiner Beschreibung von Chatham ersehen haben werden, ein enthusiastischer Bewunderer der Armee. Nichts konnte ihn mehr in Entzücken versetzen, nichts mit den besonderen Gefühlen eines jeden seiner Gefährten so sehr übereinstimmen als ein solcher Anblick. Bald waren sie auf den Beinen und wanderten dem Schauplatze der Handlung zu, nach dem bereits von allen Seiten her eine ungeheure Menschenmenge strömte.

Alles deutete darauf hin, daß etwas höchst Wichtiges und Bedeutungsvolles vor sich gehen sollte. Wachposten waren ausgestellt, um den Exerzierplatz für die Truppen frei zu halten, Offiziersburschen schafften auf den Batterien Platz für die Damen, Sergeanten rannten mit Pergamentbänden umher, und Oberst Bulder galoppierte in feldmarschmäßiger Adjustierung auf und nieder, ließ sein Pferd kurbettieren und steigen und schrie sich ohne besonderen Grund heiser und blau. Offiziere flogen hin und her, sprachen mit dem Oberst, erteilten ihren Sergeanten Befehle und eilten von hinnen; sogar die Gemeinen sahen hinter ihren blanken Gewehrläufen so wichtig und geheimnisvoll aus, daß man über die hohe Bedeutung der Vorgänge keinen Augenblick in Zweifel sein konnte.

Mr. Pickwick und seine drei Gefährten stellten sich in die vordersten Reihen und harrten geduldig der Dinge, die da kommen sollten. Das Gedränge wuchs von Sekunde zu Sekunde, und die Anstrengungen, die sie machen mußten, um sich auf ihren Plätzen zu behaupten, nahmen in den zwei folgenden Stunden ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Bald drängte plötzlich alles von hinten nach vorn, wodurch Mr. Pickwick einige Ellen weit vorwärts geschleudert wurde und dabei eine Hast und Elastizität entwickelte, die mit dem würdevollen Ernst, den man an ihm gewohnt war, in grellem Widerspruch stand. Bald ertönte ein gebieterisches „Zurück!“, und das Ende eines Gewehrkolbens fiel entweder auf Mr. Pickwicks Zehe nieder, um ihm den Wink verständlicher zu machen, oder stemmte sich gegen seine Brust, um dem Befehle größeren Nachdruck zu verleihen. Dann wieder machten sich Spaßvögel das Vergnügen, mit Aufgebot ihrer ganzen Kraft gegen Mr. Snodgraß anzudrängen und ihn zu ersuchen, das Drücken doch gefälligst sein zu lassen, und einmal, als Mr. Winkle als Zeuge solcher Ungebührlichkeit seine höchste Entrüstung aussprach, schlug ihm ein Schalk von hinten den Hut über die Augen und forderte ihn auf, seinen Kopf in die Tasche zu stecken. Diese und andre handgreifliche Witze, verbunden mit der unerklärlichen Abwesenheit Mr. Tupmans, der plötzlich spurlos verschwunden war, machten ihre Lage im ganzen eher unbehaglich als angenehm und beneidenswert.

Endlich durchlief das Gemurmel die Menge, das in solchen Fällen gewöhnlich die höchste Spannung verrät. Alle Augen richteten sich nach dem Ausfalltor. Sekunden atemloser Erwartung; Fahnen flatterten lustig im Wind; Waffen glänzten in der Sonne, und Kolonne um Kolonne rückte in die Ebene vor. Die Truppen machten halt und formierten sich in Reih und Glied, Kommandoworte liefen durch die Reihen; allgemeines Präsentieren und Klirren von Gewehren, und der Kommandant, gefolgt von Oberst Bulder und zahlreichen Offizieren, galoppierte die Front auf und nieder. Die Trompeten schmetterten, die Pferde bäumten sich und wedelten mit den Schweifen; die Hunde heulten, die Menge schrie, die Truppen sammelten sich, und soweit das Auge reichte, sah man auf beiden Seiten nur eine endlose Reihe von roten Röcken und weißen Hosen, starr und regungslos.

Mr. Pickwick hatte so viel Mühe, in dem wogenden Gedränge seine Stellung zu behaupten und, wie durch ein Wunder, den Hufen der Pferde zu entgehen, daß er unmöglich Zeit fand, zu beobachten, was sich vor seinen Augen abspielte, bis die Evolutionen soweit gediehen waren. Als er aber schließlich wieder fest auf den Beinen stand, kannten seine Freude und sein Entzücken keine Grenzen.

„Kann es etwas Schöneres, etwas Herrlicheres geben?“ fragte er Mr. Winkle.

„Nein“, erwiderte der Angeredete, dem schon seit einer Viertelstunde ein untersetzter Mann auf den Zehen stand.

„In der Tat, ein großartiger, ein überwältigender Anblick“, rief Mr. Snodgraß, in dessen Brust plötzlich das Feuer der Dichtkunst aufloderte. „Die tapfern Verteidiger des Vaterlandes im Strahlenglanz vor den friedlichen Bürgern zu sehen, die Gesichter glühend – nicht von kriegerischer Wildheit, nein, von gesitteter Disziplin –, die Augen flammend, nicht von dem rohen Feuer der Raublust oder der Rachgier, nein, von dem sanften Lichte der Humanität und Intelligenz.“

Mr. Pickwick ging vollkommen in den Geist dieser Lobrede ein, konnte ihr jedoch nicht buchstäblich beipflichten, denn das sanfte Licht der Intelligenz brannte doch ziemlich schwach in den Augen der Krieger – als der Ruf ertönte: „Augen grrad aus!“, und die Zuschauer einige Tausend Sehorgane vor sich hatten, die ohne allen Ausdruck gerade vor sich hin starrten.

„Wir haben uns hier trefflich postiert“, sagte Mr. Pickwick, sich nach allen Seiten umschauend. Die Menge hatte sich nämlich nach und nach verlaufen, und die Herren waren beinahe allein.

„Vortrefflich“, bestätigten Mr. Snodgraß und Mr. Winkle.

„Was geschieht jetzt?“ fragte Mr. Pickwick und setzte seine Brille auf.

„Ich – ich – glaube fast“, sagte Mr. Winkle und wurde blaß, „ich glaube fast, sie wollen schießen.“

„Unsinn“, versetzte Mr. Pickwick hastig.

„Ich – ich – glaube wirklich, es ist so“, bestätigte Mr. Snodgraß etwas unruhig.

„Unmöglich“, widersprach Mr. Pickwick. Aber kaum war das Wort seinem Munde entflohen, da legte das ganze halbe Dutzend Regimenter die Gewehre an, als hätten sie alle ein und dasselbe Ziel, nämlich die Pickwickier, und gaben die fürchterlichste Salve ab, die je die Erde erschütterte oder einen ältlichen Herrn aus der Fassung brachte.

In dieser schreckensvollen Lage, auf der einen Seite dem verderblichen Feuer blanker Gewehrläufe ausgesetzt und auf der ändern von den anrückenden Truppen bedrängt, zeigte Mr. Pickwick die ganze Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung, die von einem großen Geiste unzertrennlich sind. Er faßte Mr. Winkles Arm, drängte sich zwischen ihn und Mr. Snodgraß und bat die Herren ernstlich, zu bedenken, daß, außer der Möglichkeit, durch den Lärm des Gehörs beraubt zu werden, vom Schießen unmittelbar keine Gefahr zu gewärtigen sei.

„Aber – aber – angenommen, einer von den Soldaten würde sich zufälligerweise vergreifen und scharf laden?“ stellte ihm Mr. Winkle vor, schon bei dem bloßen Gedanken erbleichend. „Ich habe ein Zischen gehört – ssswt – hart an meinen Ohren vorbei.“

„Sollten wir uns nicht lieber flach auf den Boden werfen?“ fragte Mr. Snodgraß.

„Nein, nein, es ist schon vorüber“, antwortete Mr. Pickwick. Seine Lippen bebten, und seine Wangen erbleichten, aber kein Wort der Furcht oder Bestürzung entfloh den Lippen des unsterblichen Mannes.

Mr. Pickwick hatte recht; das Feuer wurde eingestellt, aber kaum blieb ihm Zeit, sich wegen der Richtigkeit seiner Meinung Glück zu wünschen, als Leben in die Reihen der Krieger kam. Der heisere Ruf des Kommandos lief die Front entlang, und ehe sich noch einer der Herren in Mutmaßungen über das neue Manöver ergehen konnte, rückte das ganze halbe Dutzend Regimenter mit gefälltem Bajonett im Sturmschritt auf die Stelle zu, die Mr. Pickwick und seine Freunde einnahmen.

Der Mensch ist sterblich, und es gibt einen gewissen Punkt, über den Mannesmut nicht hinaus kann. Einen Augenblick starrte Mr. Pickwick die anrückenden Truppen durch seine Brille an, drehte ihnen dann den Rücken – um den Ausdruck, er floh, erstens als ungebührlich zu vermeiden, und zweitens, weil die Figur des Gelehrten sich durchaus nicht zu dieser Art von Rückzug eignete – und trabte von dannen, immerhin jedoch so schnell, wie es die Beschaffenheit seiner Beine erlaubte. Ja, er beeilte sich so sehr, daß er das Fürchterliche seiner Lage in seinem ganzen Umfange nicht eher erfaßte, als bis es zu spät war.

Die Truppen, die Mr. Pickwick vor wenigen Sekunden durch ihren Anmarsch außer Fassung gebracht hatten, rückten vorwärts, um den Scheinangriff der Belagerer der Zitadelle zu erwidern, und die Folge davon war, daß der Meister und seine beiden Jünger sich plötzlich zwischen zwei Linien von unabsehbarer Ausdehnung eingeschlossen sahen. Die eine rückte im Sturmschritt vor, und die andere erwartete mutig den Angriff.

„Hoi!“ schrien die Offiziere der Sturmkolonnen.

„Weg da!“ riefen die Offiziere der Verteidigungslinie.

„Wohin denn?“ kreischten die bestürzten Pickwickier.

„Hoi! Hoi! Hoi!“ war die ganze Antwort.

Es war ein Augenblick grauenvoller Verwirrung; die Erde bebte unter den Tritten der stürmenden Truppen. Ein ersticktes Gelächter; das halbe Dutzend Regimenter war nur noch ein halbes Tausend Meter entfernt, und die Sohlen von Mr. Pickwicks Stiefeln schwebten in den Lüften.

Mr. Snodgraß und Mr. Winkle hatten jeder mit bewunderungswürdiger Gewandtheit einen unfreiwilligen Purzelbaum geschlagen, und das erste, was sie sahen, war ihr hochverehrter Meister, der in einiger Entfernung seinem in lustigen Sätzen dahinrollenden Hute nachlief.

Es gibt wenige Augenblicke im menschlichen Leben, in denen man mit seinem Mißgeschick so wenig auf Verständnis oder Mitleid stößt, als wenn man seinem Hut nachläuft. Es gehört keine geringe Kaltblütigkeit und ein hoher Grad von Beurteilungskraft dazu, einen fortrollenden Hut wieder einzufangen. Eile ist unangebracht: man überrennt ihn; verfällt man in das entgegengesetzte Extrem, verliert man ihn. Da heißt es, den Flüchtling genau im Auge behalten, behutsam und vorsichtig sein, die Gelegenheit scharf abpassen, ihm allmählich vorkommen, dann plötzlich die Hand ausstrecken, ihn bei der Krempe packen und fest auf das Haupt stülpen. Und dabei nur ja freundlich lächeln, als mache einem der Vorfall genausoviel Spaß wie dem lieben Zuschauer!

Eine zarte Brise wehte, und Mr. Pickwicks Hut rollte spielend dahin. Der Wind blies stärker und Mr. Pickwick desgleichen, und lustig schoß der Hut dahin, wie das Fischlein in der klaren Flut, und wäre wohl außer seines Herrn Bereich gerollt, hätte nicht in dem Augenblick, als Mr. Pickwick eben im Begriffe stand, ihn seinem Schicksale zu überlassen, eine höhere Hand eingegriffen.

Mr. Pickwick war nämlich völlig erschöpft und, wie gesagt, eben im Begriff, die Jagd aufzugeben, als der Hut mit einiger Heftigkeit an das Rad eines Wagens getrieben wurde, der neben einem halben Dutzend andrer Fuhrwerke stand, und zwar an der Stelle, auf die der Gelehrte zusteuerte. Seinen Vorteil wahrnehmend, sprang Mr. Pickwick rasch vor, versicherte sich seines Eigentums, stülpte es auf seinen Kopf und hielt inne, um Atem zu schöpfen. Noch keine halbe Minute hatte er so dagestanden, da hörte er sich laut beim Namen rufen und erkannte mit einem Male die Stimme Mr. Tupmans. Er blickte auf und sah ein Bild, das ihn mit Verwunderung und Freude erfüllte.

In einer offnen Halbchaise, deren Pferde ausgespannt waren, um mehr Platz auf dem engen Raum zu schaffen, saß ein stattlicher alter Gentleman in einem blauen Rock mit Wanken Knöpfen, Manchesterbeinkleidern und Stulpenstiefeln, zwei junge Damen mit Schleier und Federhüten, ein junger Herr, der in eine der beiden jungen Damen mit Schleier und Federhüten verliebt zu sein schien, eine Dame von schwer abzuschätzendem Alter – wahrscheinlich die Tante der Vorerwähnten – und Mr. Tupman, so behaglich und ungeniert, als ob er von jeher zur Familie gehört hätte. Hinten auf der Chaise war ein Korb von ansehnlicher Größe aufgepackt – einer von jenen Körben, die in einem kontemplativen Geiste Vorstellungen von kaltem Geflügel, Zungen und Weinflaschen erwecken –, und auf dem Bock saß in einem Zustand von Schlaftrunkenheit ein fetter rotbackiger Junge, den kein spekulativer Beobachter einen Augenblick betrachten konnte, ohne in ihm nicht mit Sicherheit eine Person zu erkennen, die dazu berufen sein mußte, den Inhalt des vorerwähnten Korbes zur geneigten Zeit zutage zu fördern.

Mr. Pickwick hatte kaum einen hastigen Blick auf diese anziehenden Gegenstände geworfen, als er abermals von seinem treuen Schüler begrüßt wurde.

„Pickwick, Pickwick“, rief Mr.Tupman, „geschwind, kommen Sie herauf.“

„Kommen Sie, mein Herr. Bitte, kommen Sie doch“, sagte auch der stattliche Gentleman. „Joe! – Der verdammte Junge, jetzt schläft er wieder – Joe, laß den Tritt hinunter.“

Der fette Junge schob sich langsam vom Bock, ließ den Tritt nieder und hielt einladend den Wagenschlag offen. In diesem Augenblicke erschienen Mr. Snodgraß und Mr. Winkle.

„Platz genug für alle, meine Herren. Zwei innen; einer außen. Joe, mach Platz auf dem Bock. Nun, Sir, kommen Sie!“ – Der stattliche Gentleman streckte seinen Arm aus und half zuerst Mr. Pickwick und dann Mr. Snodgraß in den Wagen. Mr. Winkle stieg auf den Bock, der Junge setzte sich daneben und versank sofort in Schlummer.

„Meine Herren“, sagte der stattliche Gentleman, „außerordentliches Vergnügen. Kenne Sie sehr gut, meine Herren, wenn Sie sich auch vielleicht meiner nicht mehr erinnern, Brachte letzten Winter mehrere Abende in Ihrem Klub zu – traf diesen Morgen unvermutet meinen Freund Mr. Tupman und war sehr erfreut, ihn zu sehen. Nun, Sir, und wie befinden Sie sich? Sehen vortrefflich aus – auf Ehre!“

Mr. Pickwick dankte für das Kompliment und schüttelte dem freundlichen Herrn mit den Stulpenstiefeln herzlich die Hand.

„Nun, und wie geht es Ihnen, Sir?“ fragte der stattliche Gentleman und wandte sich mit väterlicher Teilnahme an Mr. Snodgraß. „Vortrefflich? – Nun, das ist schön – das ist schön. Und wie geht es Ihnen, Mr. Winkle. Gut? Freut mich zu hören. Freut mich wirklich ungemein. Meine Töchter, meine Herren – meine Deerns, und dies ist meine Schwester, Miß Rachel Wardle. Sie ist immer noch Fräulein, so leid es ihr auch tut. Fräulein! – Sie verstehen. Ha?“ Der stattliche Gentleman stieß Mr. Pickwick vertraulich mit dem Ellenbogen in die Rippen und lachte herzlich.

„Aber Bruder!“ flötete Miß Wardle mit einem bittenden Blick.

„Freilich, freilich“, erwiderte der stattliche Gentleman. „Stimmt doch, oder nicht? Pardon, meine Herren, hier mein Freund Mr. Trundle. So, und jetzt kennen sich die Herrschaften, und da können wir’s uns ja bequem machen und sehen, was da drüben alles vorgeht; dächte ich jedenfalls!“

Der stattliche Gentleman setzte seine Brille auf, Mr. Pickwick nahm sein Fernglas, und alles stand aufrecht im Wagen und sah über die Schulter des Vordermannes den Evolutionen der Truppen zu.

Das Manöver war in vollem Gang. Man sah eine Reihe Soldaten über die Köpfe einer andern wegfeuern und davonrennen, Karrees bilden und die Offiziere in die Mitte nehmen. Dann wurde an Strickleitern auf der einen Seite der Schanze hinab- und auf der ändern wieder hinaufgeklettert, man riß Barrikaden von Schanzkörben nieder, kurz, benahm sich so tapfer wie nur irgend möglich. Ungeheure Kanonen wurden mit Instrumenten, die wie riesige Schornsteinfegerwische aussahen, geladen, und die Vorbereitungen, bis sie losgeschossen wurden, und endlich gar das Abbrennen selbst waren mit einem so entsetzlichen Lärm verbunden, daß die Lüfte vom Angstgeschrei der Damen widerhallten. Die jungen Misses Wardle waren so erschrocken, daß Mr. Trundle eine von ihnen stützen mußte, während Mr. Snodgraß der ändern seine Schulter lieh und Mr. Wardles Schwester einen solchen Nervenschock bekam, daß es Mr. Tupman für unumgänglich notwendig hielt, seinen Arm um ihre Taille zu legen, um sie aufrecht zu halten. Alles war in der größten Aufregung, nur der fette Junge nicht, der so sanft fortschlief, als wäre der Kanonendonner ein Wiegenlied.

„Joe, Joe!“ rief der stattliche Gentleman, als die Zitadelle genommen war und Belagerer und Belagerte sich zum Essen lagerten. „Verdammter Junge, schläft er schon wieder. Bitte, möchten Sie ihn nicht ein bißchen in die Waden zwicken, Sir, anders ist er nicht zu erwecken. So, besten Dank, Sir. Den Korb ausgepackt, Joe!“

Der fette Junge rutschte vom Bock herunter und begann den Korb auszuleeren, wobei er einen größeren Eifer entfaltete, als man bei seiner Trägheit von ihm hätte erwarten können.

„Jetzt müßten wir allerdings zusammenrücken“, sagte der stattliche Gentleman.

Darauf wurden zunächst viele Witze über die weiten ärmel der Damen gemacht, die jetzt wohl sehr zerdrückt werden würden, und die Damen erröteten ausgiebig über die scherzhaften Einladungen, sie möchten sich doch den Herren auf den Schoß setzen, bis endlich die ganze Gesellschaft richtig Platz in dem Wagen gefunden hatte und der stattliche Gentleman den Inhalt des Korbes aus den Händen des fetten Jungen entgegennahm, der zu diesem Zweck hinten auf die Achse gestiegen war.

„Jetzt, Joe, Messer und Gabeln!“

Die Messer und Gabeln wurden übergeben und die Damen und Herren im Wagen und Mr. Winkle außen auf dem Bock mit diesen nützlichen Werkzeugen versehen.

„Teller, Joe, Teller!“

Die Teller wurden auf gleiche Weise verteilt.

„Jetzt, Joe, das Geflügel. Verdammter Junge, schläft er schon wieder. Joe, Joe!“ – Einige Winke mit einem Stock auf den Kopf, und der fette Junge erwachte langsam aus seiner Schlaftrunkenheit. – „Geschwind, gib die Eßwaren her!“

Es lag etwas in dem Klange der letzten Worte, was den Schmalz Jüngling lebendig machte. Er sprang auf und starrte mit schwerem Auge, aus den dicken Pausbacken hervorblinzelnd, heiß und gierig auf die Speisen, die er dem Korbe entnahm.

„Nun, mach fix!“ rief Mr. Wardle, denn der fette Junge warf äußerst verliebte Blicke auf einen Kapaun, von dem er sich kaum trennen zu können schien. Mit einem tiefen Seufzer und einem glühenden Blick auf den wohlgemästeten Vogel übergab er ihn endlich mit widerstrebender Hand seinem Herrn.

„So ist’s recht – sieh genau nach. Jetzt die Zunge – die Taubenpastete. Den Kalbsbraten und den Schinken nicht vergessen – und die Hummern. Nimm den Salat aus dem Tuche, so, und die Servietten.“ Dies waren die hastigen Befehle, die Mr. Wardles Lippen entströmten, während er die genannten Gegenstände in Empfang nahm und jedem eine Menge Teller in die Hand gab oder auf die Knie setzte.

„Na, ist das nicht fein?“ fragte der heitere Mann, als das Werk der Zerstörung begonnen hatte.

„Fein!“ sagte Mr. Winkle und zerlegte sein Huhn auf dem Bock.

„Glas Wein gefällig?“

„Wenn ich bitten darf.“

„Ich will Ihnen lieber eine Flasche hinaufreichen, oder?“

„Sie sind sehr gütig.“

„Joe!“

„Ja, Sir?“ Joe schlief diesmal nicht, weil er soeben ein Kalbfleischpastetchen stibitzt hatte.

„Flasche Wein dem Herrn auf dem Bock. Wohl bekomm’s, Sir.“

„Danke.“

Mr. Winkle leerte sein Glas und stellte die Flasche neben sich.

„Darf ich mir gestatten, mein Herr?“ sagte Mr. Trundle zu Mr. Winkle.

„Prosit!“ antwortete Mr. Winkle. Die beiden Herren stießen miteinander an, und die ganze Gesellschaft beteiligte sich.

„Wie die liebe Familie mit dem fremden Herrn kokettiert!“ flüsterte Miß Wardle, die Tante, mit echtem Altjungfernneid ihrem Bruder zu.

„Wüßte nicht“, sagte aufgeräumt der alte Herr. „Finde es ganz natürlich; sozusagen – nichts Außergewöhnliches. Mr. Pickwick, etwas Wein gefällig?“

Mr. Pickwick, inzwischen tief in den Bauch einer Taubenpastete eingedrungen, nahm dankend an.

„Liebe Emilie“, verwies die Jungfer Tante mit Gouvernantenmiene, „sprich doch nicht so laut, Kind.“

„Aber Tante!“

„Die Tante und der kleine alte Herr wollen, glaube ich, allein das Recht haben zu reden“, flüsterte Miß Isabella Wardle ihrer Schwester Emilie zu. Die jungen Damen lachten herzlich, und die alte bemühte sich, liebenswürdig auszusehen, konnte es aber nicht zuwege bringen.

„Junge Mädchen sind so lebhaft“, sagte sie zu Mr. Tupman mit einer Miene des Bedauerns, als ob Lebhaftigkeit Konterbande und, ohne höhere Erlaubnis, sündhaft und verbrecherisch wäre.

„Gewiß, wohl“, entgegnete Mr. Tupman in einem Ton, der der erwarteten Antwort nicht ganz entsprach. „Es ist entzückend.“

„Hm!“ erwiderte die jungfräuliche Tante etwas verstimmt.

„Darf ich mir erlauben?“ fragte Mr. Tupman säuselnd, berührte Tante Rachels reizendes Händchen und hielt die Flasche empor. „Darf ich mir erlauben?“

„Ach, mein Herr!“

Mr.Tupmans Augen leuchteten vielsagend, und Miß Rachel drückte Besorgnis aus, man könnte schon wieder Kanonen losschießen, in welchem Falle sie natürlich abermals auf den Beistand des Herrn rechnen würde.

„Halten Sie meine Nichten für hübsch?“ flüsterte sie zärtlich.

„Ausnehmend, wenn ihre Tante nicht hier wäre“, versetzte der gewandte Pickwickier mit einem Glutblick.

„Oh, Sie Schlimmer! – Aber wirklich, wenn ihr Teint ein wenig lebhafter wäre, glauben Sie nicht, sie würden nicht übel aussehen? – Bei künstlichem Licht, meine ich.“

„Sicherlich“, erwiderte Mr. Tupman zerstreut.

„Oh, Sie Spötter – ich weiß, worauf Sie anspielen.“

„Worauf denn?“ fragte Mr. Tupman, der sich einen Augenblick gar nichts gedacht hatte.

„Sie wollten sagen, Isabella hält sich, schlecht – ihr Männer seid so scharfe Beobachter. Ja, ja, es ist so; man kann es nicht leugnen, und gewiß, wenn es etwas gibt, was ein Mädchen entstellt, so ist es eine schlechte Haltung. Wie oft habe ich ihr gesagt, wenn sie nur ein bißchen älter sein wird, wird es sie geradezu verunstalten. Ja, ja, Sie sind ein Spötter!“

Mr. Tupman hatte nichts dagegen, so wohlfeil zum Rufe eines Frauenkenners zu kommen. Er setzte eine schlaue Miene auf und lächelte geheimnisvoll.

„Welch ein sarkastisches Lächeln!“ sagte Miß Rachel im Tone der Bewunderung. „Ich versichere Ihnen, ich fürchte mich vor Ihnen.“

„Sie fürchten sich vor mir!?“

„Oh, Sie können mir nichts verbergen; ich weiß, was dieses Lächeln zu bedeuten hat. – Oh, wie gut!“

„Was denn?“ fragte Mr.Tupman, der selbst nicht den mindesten Begriff davon hatte.

„Sie meinen“, flüsterte die liebenswürdige Tante, „Sie meinen, Isabellas schlechte Haltung ist ebenso schlimm wie Emiliens Dreistigkeit. Ja, ja, sie ist sehr vorlaut! Sie können sich nicht denken, was mir das zuweilen für Sorgen macht – ich weine oft stundenlang deswegen. – Mein lieber Bruder ist so gut, so arglos, daß er es gar nicht sieht. Ach, wenn er es gewahr würde, es müßte ihm sicher das Herz brechen. Ich wollte, ich könnte mir einreden, es wäre nur eine schlechte Angewohnheit. Ach, wenn es so wäre!“ – Die zärtliche Verwandte stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte hoffnungslos den Kopf.

„Ich möchte wetten, die Tante spricht von uns“, flüsterte Miß Emilie Wardle ihrer Schwester zu. „Sie sieht so boshaft aus.“

„Glaubst du?“ fragte Isabella. „Hm! Tante, liebe Tante!“

„Was, mein Liebling?“

„Ich fürchte so, du wirst dich erkälten, Tante. Binde dir doch ein seidenes Tuch um dein liebes altes Gesicht. Du mußt dich in acht nehmen, denk an deine Jahre!“

So wohlverdient diese kleine Züchtigung auch sein mochte, soviel Rachsucht klang aus ihr. Auf welche Weise sich die Entrüstung der Tante wieder Luft gemacht haben würde, ist schwer zu erraten, aber zum Glück gab Mr.Wardle unabsichtlich der Aufmerksamkeit der Gesellschaft eine andre Richtung, indem er laut nach Joe rief.

„Verdammter Junge, schläft er schon wieder.“

„Ein höchst seltsamer Knabe das“, bemerkte Mr. Pickwick, „ist er immer so schläfrig?“

„Schläfrig?!“ sagte der alte Herr. „Er schläft den ganzen Tag. Er schläft beim Gehen ein und schnarcht, wenn er bei Tisch serviert.“

„Sehr seltsam“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Ja, in der Tat, seltsam“, versetzte der alte Herr. „Ich bin stolz auf den Jungen – ich würde mich unter keiner Bedingung von ihm trennen, wahrhaftig; es ist ein Naturspiel! He, Joe – Joe, räum die Sachen ab und mach eine neue Flasche auf – hörst du?“

Der fette Junge erwachte, öffnete die Augen, würgte das ungeheure Stück Taubenpastete hinunter, an dem er gerade gekaut hatte, als ihn der Schlaf übermannt, und kam langsam dem Befehl seines Herrn, auf die Überbleibsel des Mahles schielend, nach und räumte das Geschirr in den Korb. Eine frische Flasche erschien und wurde alsbald geleert; der Korb kam wieder auf seinen alten Platz, der fette Junge stieg auf den Bock, die Brillen und Ferngläser wurden abermals hervorgenommen, und die Manöver der Armee begannen aufs neue. Die Geschütze brüllten, die Damen kreischten, eine Mine flog zur allgemeinen Befriedigung auf, und Militär und Gesellschaft traten den Heimweg an.

„Ich hoffe“, sagte der alte Herr beim gemeinsamen Händen schütteln, als das Schauspiel zu Ende war, „ich hoffe, wir sehen uns also morgen.“

„Ganz bestimmt“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Sie haben doch meine Adresse?“

„Manor Farm, Dingley Dell“, sagte Mr. Pickwick, sein Taschenbuch zu Rate ziehend.

„Stimmt“, versetzte der alte Herr, „und ich gedenke, Sie vor einer Woche nicht fortzulassen. Sie müssen alles besichtigen, was irgend sehenswert ist. Wenn Ihnen am Landleben etwas liegt, so kommen Sie nur zu mir, dort finden Sie es in Hülle und Fülle. Joe – verdammter Junge, schläft er schon wieder – Joe, hilf Tom einspannen.“

Die Pferde wurden eingespannt, der Kutscher bestieg seinen Bock, der fette Junge rutschte an seine Seite, man verabschiedete sich allerseits, und der Wagen rollte von dannen. Als die Pickwickier sich umwandten, um einen letzten Blick auf die Scheidenden zu werfen, fielen die Strahlen der untergehenden Sonne eben auf deren Gesichter und beleuchteten die Gestalt des fetten Jungen. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken, und er schlummerte fest.

Einundvierzigstes Kapitel


Einundvierzigstes Kapitel

Zeigt, wie Mr. Samuel Weller ins Unglück kommt.

In einem hohen, schlecht erleuchteten und noch schlechter gelüfteten Zimmer in der Portugalstreet, Lincolns Inn Fields, sitzen jahraus und jahrein, wie es der Zufall mit sich bringt, ein, zwei, drei oder vier perückte Herren hinter kleinen Schreibpulten, wie sie gewöhnlich die Richter auf dem Lande besitzen, die keinen Sinn für französischen Geschmack haben. Zu ihrer Rechten sieht man eine Box für die Advokaten, zu ihrer Linken eine Abteilung für die Insolventen und vor ihnen eine geneigte Ebene von Schmutzgesichtern. Diese Herren sind die Kommissäre des Insolvenzgerichtshofes, und der Ort, an dem sie ihre Sitzungen abhalten, ist der Insolvenzgerichtshof.

Dieser Gerichtshof hat und hatte schon seit undenklichen Zeiten das Schicksal, von der ganzen Sippschaft schäbig-eleganter Bankerotteure als gemeinschaftlicher Sammelpunkt und tägliches Stelldichein angesehen zu werden. Er ist immer voll. Der Bier- und Branntweindunst steigt unaufhörlich zur Decke empor und träufelt, von der Wärme verdichtet, gleich Tau an den Wänden herab. Hier sieht man an einem Tage mehr alte Trachten, als im ganzen Houndsditch in einem Jahre feilgeboten werden, und mehr ungewaschene Gesichter und schmutzige Barte, als alle Brunnen und Barbierstuben zwischen Tyburn und Whitechapel vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne zu reinigen imstande wären.

Nicht etwa, als habe irgendeiner von diesen Besuchern auch nur ein Jota von Geschäft hier abzuwickeln. Wäre dies der Fall, so hätte die Sache durchaus nichts Wunderbares an sich. Einige schlafen den größten Teil der Sitzung hindurch; andre führen kleine tragbare Diners bei sich, die entweder in Taschentücher eingewickelt sind oder aus ihren abgenutzten Taschen hervorragen, und kauen und horchen mit gleicher Lust; aber noch keinen hat man gesehen, der auch nur das entfernteste persönliche Interesse an einem Fall gehabt hätte, der je vorgebracht wurde. Was sie immer auch zu tun unternehmen, hier sitzen sie vom ersten Augenblick an bis zum letzten. Bei starkem Regenwetter kommen sie ganz durchnäßt, und dann dunstet es im Gerichtssaal wie in einer Pilzgrube.

Wer zufälligerweise hineingerät, könnte diesen Ort für einen dem Genius des Unflats geheiligten Tempel halten. Im ganzen Hause sieht man keinen Gerichtsboten, der einen ihm auf den Leib zugeschnittenen, Rock trüge, kein Gesicht, das auch nur einen Anstrich von Lebensfrische und Gesundheit hätte, außer einem kleinen rotbackigen Gerichtsdiener mit weißen Haaren, und sogar dieser scheint wie eine wurmdurchnagte Kirsche, die in Weingeist aufbewahrt wird, das gute Aussehen, auf das er von Natur keinen Anspruch hatte, der Hand der Kunst zu verdanken. Selbst die Advokatenperücken sind schlecht gepudert, und ihre Locken schmachten nach dem Haarkräusler.

Die Anwälte, die an einem großen, nackten Tische unter den Kommissären sitzen, sind jedenfalls die größten Merkwürdigkeiten. Die berufliche Ausstattung der Wohlhabenderen dieser Herren besteht in einem blauen Aktenbeutel und einem Jungen, der gewöhnlich auf den Glauben der Hebräer eingeschworen ist. Sie haben keine bestimmten Kanzleien, denn ihre Rechtsgeschäfte werden in den Wirtshäusern und in den Gefängnishöfen abgewickelt, in die sie sich scharenweise eindrängen und wo sie sich auf die den Omnibusjungen eigne Weise nach Kunden umsehen. Ihr Äußeres ist schmutzig und mit Staub bedeckt, und wenn ihnen überhaupt Laster zugeschrieben werden können, so ist vielleicht der Hang zum Trinken und Betrügen das hervorragendste. Ihre Wohnungen haben sie meist in den Vorstädten der sogenannten Rules, die hauptsächlich im Umkreis von einer Meile um den Obelisk in St. Georg Fields herum liegen. Ihre Gesichter sind nicht einnehmend und ihre Manieren befremdlich.

Mr. Salomo Pell, einer von dieser gelehrten Körperschaft, war ein fetter Mann mit einem blassen, welken Gesicht und trug einen Oberrock, der bald grün und bald braun schimmerte, mit einem Samtkragen von denselben Chamäleonsfarben. Seine Stirn war schmal, sein Gesicht breit, der Kopf groß und die Nase auf die Seite gedrückt, als hätte ihr die Natur im Ärger über die Neigungen, die sie bei der Geburt Mr. Pells an ihm entdeckte, einen Hieb versetzt, von dem . sie sich nicht wieder erholen konnte. Da Mr. Pell jedoch kurzhalsig und engbrüstig war, so beschränkte sich seine Respiration beinahe einzig auf dieses Organ, das dadurch, was ihm an Schönheit abging, an Nützlichkeit ersetzte. „Ich bring ihn schon durch“, sagte Mr. Pell.

„Glauben Sie?“ versetzte die Person, an die diese Versicherung gerichtet war.

„Ganz bestimmt“, beteuerte Mr. Pell, „aber wenn er an irgendeinen Winkeladvokaten geraten wäre, hätte ich nix für die Folgen stehen mögen.“ „So?“ rief der andre mit offenem Munde.

„Ja, ich hätte nix dafür stehen mögen“, wiederholte Mr. Pell, warf die Lippen auf, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf mit geheimnisvoller Miene.

Der Ort, an dem dieses Gespräch geführt wurde, war das Wirtshaus, das dem Insolvenzgerichtshofe gegenübersteht, und die Person, mit der es geführt wurde, niemand anders als Mr. Weller senior, der hierhergekommen war, um einem Freunde Trost und Stärkung zu bringen, dessen Crida an diesem Tage verhandelt werden sollte und dessen Anwalt er 111 diesem Augenblick um seine Meinung befragte.

„Und wo is Schorsch?“ fragte der alte Herr.

Mr. Pell winkte mit dem Kopfe nach einem Hinterzimmer, in das sich Mr. Weller alsbald begab und zur Beglückwünschung von einem halben Dutzend Kollegen aufs wärmste und schmeichelhafteste begrüßt wurde. Der Herr in Zahlungsschwierigkeiten, der aus spekulativer, aber unkluger Leidenschaft für das Befahren weiter Stationen in seine gegenwärtige Verlegenheit geraten war, trug ein äußerst heiteres Aussehen zur Schau und bekämpfte seine Aufregung erfolgreich mit Krabben und Porter.

Die Begrüßung zwischen Mr. Weller und seinen Freunden hielt sich ganz in den Schranken der Gewerbsfreimaurerei und bestand lediglich in einem die Runde mach enden Händedruck und einem gleichzeitigen Schnalzen mit dem kleinen Finger der Linken. Es gab einmal zwei berühmte Kutscher – sie sind jetzt tot, die armen Burschen –, die Zwillinge waren, und zwischen denen eine ungeheuchelte und innige Zuneigung bestand. Sie kamen seit zwanzig Jahren jeden Tag an der Dowerstreet aneinander vorüber und wechselten nie einen anderen Gruß als diesen, und doch, als der eine starb, welkte der andre dahin und folgte ihm bald nach.

„Na, Schorsch“, sagte Mr. Weller senior, seine Rockschöße zusammennehmend und sich mit der gewohnten Würde niedersetzend. „Wie steht’s? Alles in Ordnung hinten, und innen voll?“

„Alles in Ordnung, alter Kamerad“, erwiderte der Cridatar.

„Is die graue Stute in Flege gegeben?“ forschte Mr. Weller bewegt.

Schorsch nickte bejahend.

„Na, denn is ja alles gut“, sagte Mr. Weller. „Die Kutsche auch beiseite geschafft?“

„In ’nen sichern Verwahrungsort gebracht“, versetzte Schorsch, riß einem halben Dutzend Krabben die Köpfe ab und verschlang sie ohne weitere Präliminarien.

„Famos“, bemerkte Mr. Weller. „Immer schön die Bremse anziehen, wenn’s bergab geht. Is der Frachtzettel deutlich?“

„Sie meinen das Inventar, Sir“, sagte Pell, erratend, was Mr. Weller sagen wollte, „alles so klar und bestimmt, wie es nur Tinte und Feder machen können.“

Mr. Weller nickte auf eine Weise, die seine innere Billigung aller dieser Anordnungen aussprach, und sagte dann, auf seinen Freund Schorsch deutend, zu Mr. Pell:

„Wann, nehmen Sie an, geht er vom Start?“

„Nu“, versetzte Mr. Pell, „er is der dritte auf der Liste, und ich glaube, es werd ungefähr in aner halben Stund an ihn kommen. Ich hab mein Schreiber die Weisung gegeben, er soll erüberkommen und melden, wenn ä Parteienwechsel vorkommt.“

Mr. Weller betrachtete den Anwalt bewundernd von Kopf bis zu Fuß und sagte dann mit Emphase:

„Was wollen Sie trinken?“

„Nu, wirklich“, zierte sich Mr. Pell, „Sie sind sehr – mei Ehrenwort, es ist nicht meine Gewohnheit – es ist noch so früh am Tage, daß ich wirklich – doch, Sie können mir für drei Pence Rum bringen, meine Liebe.“

Die Kellnerin war dem Befehl bereits zuvorgekommen, setzte Mr. Pell ein Glas Brandy vor und verschwand.

„Meine Herren“, sagte Mr. Pell und sah sich rund in der Gesellschaft um, „auf gutes Gelingen für Ihren Freund! Ich will mich nicht rühmen, meine Herren, das ist nix meine Gewohnheit, aber ich muß bemerken, daß, wenn Ihr Freund nicht das Glück gehabt hätte, zu mir zu kommen – na, ich sag lieber nix. Meine Herren, auf Ihre Gesundheit!“

Mr. Pell leerte sein Glas in einem Augenblick, schnalzte mit den Lippen und sah die versammelten Kutscher, die offenbar eine Art göttlichen Wesens in ihm verehrten, nacheinander mit großer Selbstgefälligkeit an.

„Nun, laß mer sehen“, sagte er dann. „Was wollt ich sagen, meine Herren?“

„Sie sagten gerade, daß Sie gegen ein zweites vom gleichen nichts einzuwenden haben“, fiel Mr. Weller mit würdevoller Heiterkeit ein.

„Haha!“ lachte Mr. Pell. „Nicht übel, nicht übel. Versteht sein Fach, der Mann. Um diese Morgenstunde könnte es auch nicht schaden . .. Nu, ich weiß nicht, meine Liebe – Sie können es ja repetieren, wenn es Ihnen gefällig ist. – Hem hem!“

Das „Hem“ war ein feierliches und würdevolles Husten das sich Mr. Pell bei Wahrnehmung einer unziemlichen Neigung einiger seiner Zuhörer zur Fröhlichkeit erlauben zu müssen glaubte.

„Der letzte Lordkanzler, meine Herren, hielt große Stücke auf mir“, begann er dann.

„Und vertraute ihm auch bannich viel an“, fiel Mr. Weller ein.

„Hört, hört“, rief der Cridatar aus. „Und warum hätte er auch nich sollen?“

„Ja – hm!“ bemerkte ein Mann mit einem hochroten Gesicht, der bis jetzt noch nichts gesagte hatte und auch gar nicht danach aussah, als wollte er mehr sagen. „Warum hätte er auch nich sollen?“

Ein Beifallsgemurmel lief durch die Gesellschaft.

„Ich erinnere mich, meine Herren“, nahm Mr. Pell seine Rede wieder auf, „daß ich einmal bei ihm zu Mittag gegessen hab – mir waren nur unser zwei; aber es war alles so splendid, als ob mer zwanzig Personen erwartet hätt; das große Siegel lag rechts auf einem Drehtisch, und ein Mann mit einer Zopfperücke und ’n Harnisch bewachte das Zepter mit gezücktem Schwert und seidenen Strümpfen, was immer der Fall ist, meine Herren, Tag und Nacht. – ,Pell‘, sagte er, der Lordkanzler, ,keine falsche Bescheidenheit, Pell. Sie sin ä Mann von Talent; Sie bringen alles im Insolvenzgerichtshofe durch, Pell, und das Land derf stolz auf Ihnen sein.‘ Das waren seine eigenen Worte. – ,Mylord‘, erwiderte ich, ,Sie schmeicheln.‘ – ,Pell‘, sagte er, ,wenn ich schmeichle, so will ich verdammt sein.'“

„Sagte er das wirklich?“ fragte Mr. Weller.

„Ja, das sagte er“, beschwor Pell.

„Na, denn“, bemerkte Mr. Weller, „hätte das Parlament von wegen Fluchen einschreiten sollen, und wenn es ’n armer Kerl gewesen wäre, um den es sich drehte, denn wäre es sicher auch passiert.“

„Aber lieber Freund“, erklärte Mr. Pell, „es war doch im Vertrauen gesprochen.“

„In was?“

„Im Vertrauen.“

„Na gut“, versetzte Mr. Weller nach einigem Nachdenken, „wenn er sich im Vertrauen verdammt hat, denn is das natürlich ganz was anderes.“

„Natürlich war es was anderes“, sagte Mr. Pell. „Der Unterschied fällt in die Augen, wie Sie gleich sehen werden.“

„Ändert die Sache gänzlich“, bemerkte Mr. Weller. „Nu mal weiter!“

„Nein, ich fahr nicht fort“, erwiderte Mr. Pell mit gedämpftem, geheimnisvollem Ton. „Sie haben mich daran erinnert, Sir, daß die Unterredung eine geheime war; eine geheime und vertrauliche, meine Herren. Meine Herren, ich bin ä Mann vom Fach. Mag sein, daß ich in den Augen meiner Kollegen dadurch gehoben wurde, möglich auch, daß es nich der Fall war. Die meisten Leute wissen das. Ich sag kein Wort. Bemerkungen sind schon in dem Zimmer gemacht worden, die den Ruf meines vornehmen Freundes angetastet haben. Sie werden mich entschuldigen, meine Herren, ich war unvorsichtig. Ich seh ein, daß ich nicht recht daran getan hab, das Thema ohne seine Beistimmung zu berühren.“ Und Mr. Pell steckte seine Hände in die Taschen und klimperte mit grimmigem Stirnrunzeln und furchtbarer Entschlossenheit mit drei Halbpencestücken.

Plötzlich stürmten der Junge und der blaue Beutel, die unzertrennliche Gefährten waren, ins Zimmer herein und sagten – wenigstens der Junge, der blaue Beutel schwieg –, die Sache komme im Augenblick zur Verhandlung. Sofort eilte die ganze Gesellschaft auf die Straße und brach sich in dem Gerichtshof Bahn – eine Maßnahme, die in gewöhnlichen Fällen eine Zeit von fünfundzwanzig bis dreißig Minuten in Anspruch nehmen würde.

Mr. Weller, ein starker Mann, warf sich ohne weiteres ins Gedränge, mit der verzweifelten Hoffnung, um jeden Preis einen Platz zu erobern, der für ihn angemessen wäre. Der Erfolg entsprach jedoch seinen Erwartungen nicht ganz, denn sein Hut, den er abzunehmen vergessen hatte, wurde ihm von einem Unsichtbaren, dem er ziemlich stark auf die Zehen getreten hatte, über die Augen geschlagen. Offenbar bereute aber der Täter seine Heftigkeit sofort, denn er zog gleich darauf, einen unbestimmten Ausruf der Überraschung murmelnd, den alten Herrn in die Vorhalle und befreite ihn durch einen heftigen Ruck von seiner Maske.

„Samuel?“ rief Mr. Weller, dieser Art in. den Stand gesetzt, seinen Befreier zu sehen. Sam nickte.

„Du bist ja ’n recht zärtlicher Knabe, daß du deinem Vater in seinen alten Tagen den Deckel über die Ohren drischst.“

„Konnte nich wissen, wer’s war“, rechtfertigte sich der Sohn. „Du nimmst doch nich etwa an, daß ich dir am Gewicht von deine Latschen erkennen kann?“

„Das is ja nu wahr, Sammy“, gab Mr. Weller, vollständig besänftigt, zu. „Aber was treibst du hier? Dein Herr kann doch hier nichts ausrichten. Die stoßen dem Verdikt nich wieder um; machen die nich, Sammy.“

Und Mr. Weller schüttelte den Kopf mit der Feierlichkeit eines Rechtsgelehrten.

„Was is das nu wieder für dummes Zeug!“ rief Sam. „Immer nur Verdikte und Alibis und dergleichen. Wer sagt denn was von Verdiktumstoßen?“

Mr. Weller gab keine Antwort, sondern schüttelte nur den Kopf mit einer noch gelehrteren Miene.

„Kümmer dich nich um Sachen, wo du nich verstehen tust“, sagte Sam ungeduldig, „und quatsch nich. Ich war übrigens gestern abend im ,Marquis von Granby‘.“

„Haste die Markise von Granby gesehen, Sammy?“ fragte Mr. Weller mit einem Seufzer. „Jawoll.“

„Wie sah der Seelenhirte aus?“

„Sonderbar“, versetzte Sam. „Ich glaube, er richtet sich allmählich selbst zugrunde mit zuviel Ananasgrog und andern starken Medizinen.“ „Glaubste?“ fragte Mr. Weller senior mit ernstem Ton. „‚türlich.“

Mr. Weller ergriff die Hand seines Sprößlings, drückte sie und ließ sie dann wieder fallen. Es lag während dieses Verfahrens ein Ausdruck auf seinem Gesicht, nicht von Besorgnis oder Angst, sondern von aufdämmernder süßer Hoffnung. Ein Schimmer von Ergebung und sogar von Heiterkeit ging über sein Gesicht, als er langsam sagte:

„Ich bin mir die Sache nich gewiß, Sam; ich möchte nich gerade sagen, daß ich ganz positiv darin bin; ich könnte mir schließlich täuschen; aber ich nehme doch beinahe an, mein Junge, ich nehme beinahe an, daß der Vizehirt sich ’n Leberleiden angesoffen hat.“

„Sah er so schlimm aus?“ fragte Sam.

„Du, der is ganz ungewöhnlich blaß. Bloß um die Nase rum nich. Die glüht wie noch nie. Sein Appetit is aber bloß soso; bloß saufen kann er wie ’ne Eins.“

Mr. Wellers Geist schienen sich auch einige Gedanken an den von ihm so geliebten Rum aufzudrängen, denn er sah trübe und nachdenklich drein; aber bald sammelte er sich wieder, wie ein lebendiges Alphabet von Augenzwinkern verriet, dem er nur zu huldigen pflegte, wenn er besonders vergnügt war.

„Aber jetzt mal“, sagte Sam, „zu meinen Angelegenheiten. Spitz die Ohren und unterbrich mich nich, bis ich fertig bin.“

Nach dieser kurzen Einleitung erzählte Sam so gedrängt wie möglich die letzte merkwürdige Unterredung, die er mit Mr. Pickwick gehabt hatte. „Sitzt da allein, der arme Deubel“, rief Mr. Weller senior aus, „und kein Mensch kümmert sich um ihn! Das geht so nich weiter, Samuel, geht einfach nich.“

„Natürlich nich“, pflichtete Sam bei, „das wußte ich schon, bevor ich herkam.“

„Die fressen ihn da bei lebendigem Leibe auf, Sammy.“

Sam nickte zustimmend.

„Rein geht er grün, Sammy“, sagte Mr. Weller metaphorisch, „und rauskommt er so furchtbar braun, daß ihn seine besten Freunde nich mehr kennen werden, ’ne gebratene Taube is da nichts gegen, Sammy.“

Wieder nickte Sam Weller.

„Sollte aber nich sein, Samuel“, bemerkte Mr. Weller ernst.

„Darf einfach nich sein“, bekräftigte Sam. „Du bist ’n famoser Prophet; wie der rotbackige Nix, wo auf den Sixpencebüchern abkonterfeit ist.“ „Wer war denn das, Sammy?“

„Ach, egal, wer es war“, erwiderte Sam, „ein Kutscher war es nich, und das muß dir genügen.“

„3ch kannte mal ’nen Hausknecht dieses Namens“, sagte Mr. Weller nachdenklich.

„Der war es nich“, erwiderte Sam. „Der Schendlmän, wo ich meine, war Prophet.“

„Was is eigentlich ’n Prophet?“ fragte Mr. Weller mit forschendem Blick.

„Na, so ’n Mensch, wo die Zukunft voraussagt.“

„Schade, daß ich den nich gekannt habe, Sammy“, meinte Mr. Weller, „vielleicht hätte der mir ’n kleines Licht von wegen dem Leberleiden aufstecken können, wo ich ebend drüber sprach. Wo er nu aber tot is und keinem sein Geschäft hinterlassen hat, ist da ebend nichts zu machen. Rede weiter, Sammy“, seufzte Mr. Weller.

„Na“, bemerkte Sam. „Du hast doch aber die Zukunft vorausgesagt. Von wegen dem, was dem Gouverneur passieren wird, wenn er alleine bleibt. Weißt du denn kein Mittel nich, wie man für ihn sorgen könnte?“

„Nö, weiß keins, Sammy“, erwiderte Mr. Weller mit nachdenklichem Gesicht, „außer“, und der Schein eines inneren Lichtes überstrahlte sein Gesicht, als er seine Stimme zu einem Geflüster dämpfte und seinen Mund so nahe wie möglich dem Ohr seines Sprößlings näherte, „außer, er läßt sich in ’nem Kastenbett heimlich rausschaffen oder würde sich als altes Weib mit ’nem grünen Schleier verkleiden.“

Sam Weller nahm beide Vorschläge mit unerwarteter Verachtung auf und wiederholte seine Frage.

„Nö“, sagte der alte Herr, „wenn er dich nich bei sich lassen will, denn sehe ich absolut kein Mittel. Nichts zu machen, Sammy, nichts zu machen!“

„Na, denn will ich dir mal was sagen“, versetzte Sam. „Pump mir fünfundzwanzig Fund.“

„Wozu denn?“

„Is doch gleichgültig. Kannst mich doch denn vielleicht so nach fünf Minuten mahnen; vielleicht bezahle ich denn nich und werde frech gegen dir. Ich meine, du wirst doch denn nich etwa dran denken, daß du dein eigenen Sohn wegen Schulden schnappen und nach der Fleet bringen lassen wirst; oder würdest du das womöglich doch machen, du unnatürlicher Landstreicher?“

In Mr. Wellers senior Blick leuchtete ein Blitz des Einverständnisses auf. Er setzte sich auf eine steinerne Bank und lachte, bis er ganz blau war.

„Was ist das doch für ’n alter Holzgötze!“ rief Sam, unwillig über diesen Zeitverlust. „Was hockst du da und verdrehst die Visage zu ’nem Türklopfer, wo doch so viel zu tun is. Wo is das Geld?“

„Im Kutschkasten, Sammy, im Kutschkasten. Da, halt mal meinen Hut, Sammy!“ erwiderte Mr. Weller, sich sammelnd, gab seinem Körper einen Schwung auf die Seite und förderte vermöge einer geschickten Wendung seiner rechten Hand aus seinem Rock nach entsetzlicher Anstrengung schnaufend eine dicke Brieftasche in Großoktavformat zutage, die mit einem starken ledernen Riemen umwickelt war. Aus dieser nahm er ein paar Peitschenschnüre, drei oder vier Schnallen, eine Musterkarte und endlich ein Röllchen schmieriger Banknoten, von dem er die verlangte Summe ablöste und seinem Sohn einhändigte.

„Und nu, Sammy“, sagte der alte Herr, als Peitschenschnüre, Schnallen und Musterkarte wieder eingepackt und die Brieftasche wohlverwahrt war. „Nu, Sammy, kenne ich ’nen Herrn hier, wo den übrigen Teil von unserem Geschäft im Augenblick besorgen wird. – Ein Glied der Gesetzgebung, Sammy! Sein ganzer Körper is mit Gehirn vollgepackt – wie beim Frosch – bis in die Fingerspitzen! ’n Freund vom Lordkanzler, Sammy; dem brauchst du bloß kurz sagen, was du willst, und denn versorgt der dir fürs ganze Leben.“

„Und ich sage dir“, murrte Sam, „nichts davon!“

„Nichts wovon?“

„Na, nichts von solchen verfassungswidrigen Mitteln“, erwiderte Sam. „Sieh mal, der Hast-du-was-Corpus is nach dem Perpendikel-Mobilum eine von den segensreichsten Erfindungen, wo jemals gemacht worden sind. Ich habe sogar in den Zeitungen von gelesen.“

„Was soll das nu wieder?“ fragte Mr. Weller.

„Na“, erklärte Sam, „ich will doch eben die Erfindung begünstigen und mich auf die Art einbuchten lassen. Aber bloß kein Getuschel beim Lordkanzler; ich will das nich haben. Ich würde denn nämlich Manschetten haben, von wegen das Wiederrauskommen.“

Den Gefühlen seines Sohnes hierin beipflichtend, suchte Mr. Weller alsbald den Gelehrten Mr. Samuel Pell auf und teilte ihm seinen Wunsch mit, unverzüglich gegen einen gewissen Samuel Weller einen Verhaftungsbefehl wegen fünfundzwanzig Pfund und der Gerichtskosten ergehen zu lassen, wofür die Gebühren Mr. Samuel Pells im voraus entrichtet werden sollten.

Der Anwalt war sehr aufgeräumt, denn der zahlungsunfähige Rosselenker war durchgerutscht. Er lobte Sams Anhänglichkeit an seinen Herrn außerordentlich, erklärte, daß ihn das ganz an seine eignen Gefühle der Ergebenheit gegen seinen Freund, den Kanzler, erinnere, und führte dann Mr. Weller senior unverzüglich nach dem „Temple“, um ihn daselbst die Richtigkeit seiner Schuldforderung beschwören zu lassen, ein Akt, der auch unter Beihilfe des blauen Beutels, den der Junge nachtrug, vollzogen wurde.

Mittlerweile war Sam dem freigesprochnen Herrn und seinen Freunden in aller Form als Sprößling Mr. Wellers von Belle Savage vorgestellt und zur Feier des Anlasses, sich mit der übrigen Gesellschaft gütlich zu tun, eingeladen worden, was er natürlich ohne Zieren annahm.

Die Fröhlichkeit der Herren vom Rosselenkerberuf trägt gewöhnlich einen ernsten und ruhigen Charakter; aber der gegenwärtige Anlaß war ein zu festlicher, als daß sie diesmal nicht eine entsprechende Abweichung von diesem Prinzip hätten eintreten lassen.

Nach mehreren lautgebrüllten Toasten auf den Oberkommissär und Mr. Salomo Pell, der an diesem Tage so bewunderungswürdige Fähigkeiten entwickelt hatte, machte ein Herr mit einem buntscheckigen Gesicht und einer blauen Halsbinde den Vorschlag, es solle jemand einen Rundgesang anstimmen. Natürlich folgte auf diese Zumutung das Ersuchen, der Buntscheckige möge doch selbst singen, wenn es ihm so sehr darum zu tun sei; aber dies lehnte der Buntscheckige standhaft und einigermaßen beleidigt ab, worauf wie das in solchen Fällen nichts Ungewöhnliches ist, eine Art Wortwechsel folgte.

„Meine Herren!“ sagte endlich der Rosselenker. „Um die Eintracht des köstlichen Festes nich zu stören, wird vielleicht Mr. Samuel Weller die Gesellschaft erfreuen.“

„Na, meine Herren“, erwiderte Sam, „ich bin es eigentlich nich gewöhnt, ohne Musikbegleitung zu singen; aber nichts übern ruhiges Leben, wie der Mann sagte, als er die Wächterstelle auf ‚m Leuchtturm annahm.“

Nach diesen einleitenden Worten stimmte er unverzüglich folgende wilde und schöne Romanze an, die wir, in der Voraussetzung, daß sie nicht allgemein bekannt sein dürfte, hier wiedergeben. Wir bitten, eine besondere Aufmerksamkeit der genialen Einschaltung der Endsilben zu schenken, die es nicht nur dem Sänger ermöglicht, an dieser Stelle Atem zu schöpfen, sondern auch das Versmaß sehr unterstützt.

Romanze

Kühn Turpin einst auf der Hounslowhaid
Seine kühne Mähre ritt – hem,
Als er den Wagen des Erzbischofs
Ihm entgegenkommen sieht – hem.
Er sprengt sofort im Galopp herbei
Und steckt seinen Kopf hinein – hem.
Und der Bischof sagt: „Ist ein Ei ein Ei,
So muß das Turpin sein – hem.“

(Chor)

Und der Bischof sagt: „Ist ein Ei ein Ei,
So muß das Turpin sein – hem.“

2

Und Turpin sagt: „Da friß dein Wort
Mit dem bleiernen Kügelein“ – hem,
Setzt ihm ein Pistol an den Mund
Und jagt ihm den Schuß hinein – hem.
Der Kutscher hat das Schießen satt
Und sprengt im Galopp davon – hem.
Doch Dick jagt ihm eins ins Genick,
Da hält der Bursche schon – hem.

(Chor sarkastisch)
Doch Dick jagt ihm eins ins Genick,
Da hält der Bursche schon – hem.

„Das Lied is für den ganzen Stand ’ne Beleidigung“, fiel der Buntscheckige ein. „Ich bitte um den Namen des Kutschers.“

„Unbekannt“, erwiderte Sam. „Hatte keine Karte nich in der Tasche.“

„Ich protestiere gegen das Hereinziehen der Politik“, rief der Buntscheckige erregt. „Ich behaupte, daß das Lied ’ne politische Anspielung is, und was dasselbe is, einfach erstunken und erlogen is. Glaube es einfach nich, daß der Kutscher davonfuhr, sondern daß er im gerechten Kampfe erschossen wurde – oder auf der Jagd, wie ’n Fasan, und rate es niemand, mir zu widersprechen.“

Da der Buntscheckige mit großer Energie und Bestimmtheit sprach und die Ansichten der Gesellschaft über diesen Gegenstand voneinander abzuweichen schienen, so drohte wieder ein neuer Wortwechsel auszubrechen, als gerade im rechten Augenblick die Herren Weller und Pell erschienen.

„All right, Sammy“, sagte Mr. Weller.

„Die Verhaftung wird um vier Uhr stattfinden“, ergänzte Mr. Pell. „Ich hoffe, Sie werden während der Zeit nicht davonlaufen; nicht wahr? Haha!“

„Vielleicht läßt sich mein grausamer Papa bis dahin noch erweichen“, versetzte Sam mit breitem Grinsen.

„Ausgeschlossen“, sagte Mr. Weller senior.

„Bitte, bitte!“ bat Sam.

„Gibt’s nich“, erwiderte der unerbittliche Gläubiger.

„Ich will Monatsraten zu sechs Pence eingehen“, erbot sich Sam.

„Glatt abgelehnt“, entgegnete Mr. Weller.

„Hahaha! Sehr gut, sehr gut!“ lachte Mr. Salomo Pell und legte seine kleine Rechnung vor. „Wahrhaftig ein sehr lustiger Fall. Benjamin, schreib das ab.“ Und wieder lächelte Mr. Pell, als er Mr. Wellers Aufmerksamkeit auf den Betrag der Summe lenkte.

„Danke schöön, danke schöön“, sagte er, als er eine von den schmutzigen Banknoten in Empfang nahm, die Mr. Weller aus seiner Brieftasche hervorgezogen hatte. „Drei Zehner und ein Zehner macht fünf. Sehr verbunden, Mr. Weller. Ihr Sohn ist ein sehr verdienstvoller junger Mann; in der Tat, Sir, ein sehr schöner Charakterzug bei einem jungen Manne – wirklich, ein sehr schöner Zug“, fügte er hinzu, sah sich mit süßem Lächeln in der Gesellschaft um und steckte das Geld ein.

„’n Riesenjux, was?“ lachte Mr. Weller, „’n wahres Wunderkind.“

„Wundert sich nur ein bißchen wenig, Sir“, warf Mr. Pell ein.

„Hat nichts zu sagen, Sir“, versetzte Mr. Weller mit Würde. „Weiß, was die Glocke geschlagen hat, Sir.“

Als der Gerichtsdiener erschien, hatte sich Sam bereits so außerordentlich beliebt gemacht, daß sämtliche Herren den Entschluß faßten, ihn in corpore ins Gefängnis wandern zu sehen. Man brach auf; Kläger und Beklagter gingen Arm in Arm; der Gerichtsdiener schritt voran, und acht wohlgenährte Kutscher bildeten den Nachtrab. Am Sergeants Inn-Kaffeehause machte die ganze Gesellschaft nochmals halt, um Erfrischungen zu sich zu nehmen.

In der Fleetstreet trat durch den Eigensinn der acht Herren in der Nachhut, die durchaus zu viert nebeneinander gehen wollten, eine kleine Störung ein, und man fand es für notwendig, den Buntscheckigen zurückzulassen, der darauf bestand, sich mit einem Zettelträger zu boxen, und erst nach Ausfechtung dieses Kampfes nachkam. Außer diesen unbedeutenden Zufällen ereignete sich unterwegs nichts Denkwürdiges. Als die Herren das Fleettor erreichten, nahmen sie vom Kläger Abschied und brachten dem Beklagten drei donnernde Lebehochs.

Als Sam zum ungeheuren Erstaunen Rokers und zur augenscheinlichen Verwirrung des phlegmatischen Mr. Neddy eingeliefert worden war, schritt er unverzüglich auf das Zimmer seines Herrn zu und pochte an die Tür.

Mr. Pickwick rief: „Herein!“

Sam trat ein, nahm den Hut ab und lächelte.

„Was, du, Sam, mein guter Junge?“ rief Mr. Pickwick, sichtlich erfreut, seinen Getreuen wiederzusehen. „Es lag nicht in meiner Absicht, gestern durch meine Worte deine Gefühle zu verletzen, mein braver Junge. Lege ab, Sam, ich will mich jetzt näher erklären.“

„Muß das gleich sein, Sir?“ fragte Sam.

„Jawohl“, antwortete Mr. Pickwick. „Warum denn nicht?“

„Na, ich würde es ebend lieber später abmachen, Sir. Ich habe da noch ’n kleines Geschäft zu erledigen. Nichts Besonderes, aber ich muß mir erst mal um ein Bett für meine Person kümmern. Ich bin nämlich diesen Nachmittag wegen Schulden verhaftet worden.“

„Du, wegen Schulden verhaftet?“ rief Mr. Pickwick, in einen Stuhl sinkend.

„Ja. Wegen Schulden, Sir, und der Mann, wo mir setzen ließ, will mich nich mehr rauslassen, bis Sie gehen.“

„Gütiger Himmel! Was willst du damit sagen?“ rief Mr. Pickwick aus.

„Na, genau das, was ich gesagt habe, Sir. Und wenn es – vierzig Jahre dauert, denn bin ich ebend solange Gefangener, und es is mir sehr recht so. Und wenn sie in Newgate sitzen würden, denn würde es dasselbe sein. So, nu is es draußen, und damit Schluß; verflucht noch mal!“

Mit diesen Worten, die er mit großer Emphase und Heftigkeit hervorstieß, warf Sam Weller in einem außergewöhnlichen Zustand von Aufregung seinen Hut auf den Boden, verschränkte die Arme und sah seinen Herrn herausfordernd an.

Zweiundvierzigstes Kapitel


Zweiundvierzigstes Kapitel

Mr. Winkles geheimnisvolles Benehmen. Der Kanzleigefangene wird endlich erlöst.

Mr. Pickwick war von Sams Treue und Anhänglichkeit zu sehr gerührt, um über seinen raschen Schritt, nämlich Schuldhaft auf unbestimmte Zeit, Zorn oder Mißfallen zu äußern. Der einzige Punkt, worüber er beharrlich Aufschluß verlangte, war der Name des Gläubigers; aber gerade darin wollte sein Diener absolut nicht mit der Sprache heraus.

„Es hat ja doch keinen Zweck, Sir“, sagte Sam immer wieder von neuem. „Er ist ein niederträchtiger, gemeiner, geiziger, rachsüchtiger Kerl, mit einem Herz, das is nich zu erweichen, wie der brave Priester von dem alten wassersüchtigen Schenlemän sagte, der wo sein Geld lieber seiner Frau hinterließ, anstatt daß er eine Kapelle davon bauen ließ. Jedenfalls werde ich mir nich erniedrigen und meinen gewissenlosen Feind um den Gefallen bitten, daß er das Geld annimmt. Ich halte mir an Prinzipien. Sie machen es ja auch nich anders. Das erinnert mich übrigens an den Mann, wo sich aus Prinzip selber umbrachte; Sie werden ja sicher davon wissen, Sir.“ Hier unterbrach sich Mr. Weller und warf seinem Herrn einen eigentümlichen Blick aus den Augenwinkeln zu.

,Das ist durchaus nicht sicher, Sam“, sagte Mr. Pickwick, dem trotz seines Verdrusses über Sams Hartnäckigkeit allmählich ein Lächeln ankam. „Der Ruhm des fraglichen Herrn ist noch nicht bis zu meinen Ohren gedrungen.“

„Nicht doch, Sir!“ rief Mr. Weller. „Da staune ich ja über Sie, Sir; er war Schreiber in einem Regierungsbüro, Sir.“

„War er das?“ fragte Mr. Pickwick.

„Jawoll, war er“, fuhr Sam fort, „und außerdem ein sehr angenehmer Schenlemän. Er sparte sein Geld aus Prinzip, zog jeden Tag ein neues Hemd an, auch aus Prinzip, sprach niemals keinen von seinen Verwandten an, auch aus Prinzip, weil er Angst hatte, daß sie ihn anpumpen möchten; na jedenfalls, er war alles in allem wirklich ein angenehmer Mensch. Weil er also ein sehr orntlicher Schenlemän war, aß er jeden Tag in derselben Kneipe, wo es ein Essen für einen Schilling und neun Pence gab. Aber der aß immer die doppelte Menge, wie der Wirt oft mit Tränen in den Augen sagte, und im Winter schürte er mindestens für vier Pence Feuer an, und denn wollte er alle Zeitungen zuerst haben; na, und denn saß er nach dem Essen noch drei Stunden auf dem besten Platz und verzehrte nichts, sondern schlief. Und denn ging er ’n paar Straßen weiter und aß vier Brezeln zu ’ner Tasse Kaffee, und denn ging er schließlich nach Hause und legte sich ins Bett. Einen Abend wurde er sehr kränklich und schickte nach dem Doktor. ,Was haben Sie zuletzt gegessen?‘ fragte der Doktor. ,Brezeln‘, sagte der Patient. ,Daran liegt’s‘, sagte der Doktor, ,ich schicke Ihnen gleich ’ne Schachtel mit Pillen. Und essen Sie niemals nich keine Brezeln wieder.‘ – ,Soweit kommt das noch!‘ sagt der Patient und richtet sich im Bett auf, ,ich habe fünfzehn Jahre lang jeden Nachmittag vier Brezeln aus Prinzip gegessen. Sie sind gesund und für den Preis sättigen sie gut.‘ – ,Für Sie sind sie aber zu teuer und außerdem ungesund. Wenn Sie nicht mit den Brezeln aufhören, denn is in sechs Monaten Feierabend mit Ihnen. Dafür verbürge ich mich‘, sagt der Doktor. ,Und was glauben Sie, wieviel Brezeln auf einmal tödlich für mir wären? Vielleicht für ’ne halbe Krone?‘ fragt der Patient. ,Essen Sie für drei Schilling Brezeln, Sir, und Sie gehen auf der Stelle ein‘, sagt der Doktor und geht weg. Am andern Morgen steht doch der Patient auf und läßt für drei Schilling Brezeln holen, und denn röstet er sie, ißt sie auf und schießt sich ’ne Kugel in ’n Kopf.“

„Warum tat er denn das?“ fragte Mr. Pickwick erstaunt. „Ja, Sir, warum tat er das?“ wiederholte Sam. „Na, wegen dem Grundsatz, daß Brezeln gesund sind! Und denn wollte er zeigen, daß er sich durch keinen Menschen nich von abbringen ließ!“

Durch solche Schliche und Kniffe umging Mr. Weller die kitzlige Frage.

Mr. Pickwick mußte sich endlich von der Nutzlosigkeit aller seiner Vorstellungen überzeugen und erlauben, daß Sam sich für eine Woche bei einem kahlköpfigen Schuhflicker einlogierte, der in einem der oberen Gänge ein kleines schmales Zimmer bewohnte. In dieses ärmliche Kämmerchen schaffte Mr. Weller junior eine Matratze und ein Bett, die er von Mr. Roker mietete, und als er nachts darauf lag, fühlte er sich so heimisch, als ob er im Kerker aufgewachsen wäre und seit drei Menschenaltern samt Familie darin vegetiert hätte.

„Rauchen Sie immer, nachdem Sie zu Bett gegangen sin, alter Kauz?“ fragte er seinen Stubengenossen, als sie sich beide zur Ruhe gelegt hatten.

„Ja, allerdings, junger Grünschnabel“, versetzte der Schuhflicker.

„Gestatten Sie mir die Frage, warum schlagen Sie eigentlich Ihr Bett unter diesem tannenen Tisch auf?“

„Weil ich immer an ’n Himmelbett gewöhnt war, ehe ich hierher kam.“

Mr. Weller richtete sich aus seiner Lage ein wenig auf und schenkte daraufhin dem Äußern seines Gefährten eine weit längere Aufmerksamkeit, als er ihm bisher zuzuwenden Zeit oder Neigung gehabt hatte.

Es war ein schmutzig aussehender Mann – alle Schuhflicker sind es – und hatte einen starken struppigen Bart – alle Schuhflicker haben ihn –, und sein Gesicht war ein seltsames, gutmütiges Handwerkergesicht, mit einem Paar Augen, die einst sehr jovial dreingesehen haben mußten, denn sie glänzten noch jetzt. Die Zeit hatte den Mann auf sechzig und das Gefängnis auf der Himmel weiß wieviel Jahre gebracht. Er war klein, und da er durch den kuriosen Betthimmel in zwei Hälften erschien, sah er ungefähr gerade so groß aus, als er ohne Beine gewesen wäre. Er hatte eine große rote Tonpfeife im Mund stecken, aus der er kräftige Wolken blies, und starrte mit einem Ausdruck beneidenswerter Behaglichkeit in die brennende Kerze.

„Sin Sie schon lange hier?“ unterbrach Sam das Stillschweigen.

„Zwölf Jahre.“

„Ungehorsam gegen den Gerichtshof?“ Der Schuhflicker nickte.

„Na“, meinte Sam ernst, „warum beharren Sie auf Ihrem Starrsinn, Ihr kostbares Leben hier in diesem großartigen Pfandstall zu vergeuden? Warum kriechen Sie nich zu Kreuz?“

Der Schuhflicker schob lächelnd seine Pfeife in einen Mundwinkel, brachte sie dann wieder an ihren alten Platz zurück und schwieg.

„Warum tun Sie’s nich?“ fragte Sam eindringlich.

„Ach“, erwiderte der Schuhflicker, „das verstehen Sie nicht. Was glauben Sie wohl, hat mich zugrunde gerichtet?“

„Hm“, sagte Sam und schneuzte die Kerze, „vermutlich begann die Sache damit, daß Sie in Schulden kamen, nich wahr?“

„Bin nie einen Heller schuldig gewesen“, versetzte der Schuhflicker, „raten Sie noch mal.“

„Na, spekulierten vielleicht in Häusern, was hierzulande grade ausreicht, um wahnsinnig zu werden; oder haben gebaut, was ’n medizinischer Kunstausdruck für Unheilbarkeit is?“

Der Schuhflicker schüttelte den Kopf und sagte wieder: „Raten Sie noch mal.“

„Hoffentlich doch nich prozessiert?“ riet Sam argwöhnisch.

„In meinem Leben nie. Na also, die Sache ist die: Ich wurde durch eine Erbschaft ruiniert.“

„Ach Blech“, sagte Sam, „dummes Zeug. Ich wünschte mir ’n reichen Feind, wo mir auf diese Art zu ruinieren suchte. Ließe ihm ruhig gewähren.“ „Ich dachte mir’s gleich, Sie würden’s nicht glauben“, fuhr der Schuhflicker, ruhig seine Pfeife rauchend, fort. „An Ihrer Stelle ging’s mir ebenso; aber es ist trotzdem wahr.“

„Nanu!“ sagte Sam, schon durch den Blick, den ihm der Schuhflicker zuwarf, in seiner Zweifelsucht wankend gemacht.

„Es war so“, versetzte der Schuhflicker. „Ein alter Herr im Lande drunten, für den ich arbeitete, und von dem ich eine arme Verwandte heiratete – sie starb, Gott hab sie selig, und Dank sei ihm dafür gesagt –, wurde vom Schlag getroffen und ging heim.“

„Wohin?“ lallte Sam, schlaftrunken und von zahlreichen Eindrücken des Tages schläfrig gemacht.

„Was weiß ich, wohin er ging?“ erwiderte der Schuhflicker, im Hochgenuß seiner Pfeife durch die Nase sprechend. „Er ging zu den Toten.“

„Ach so, hm“, brummte Sam. „Gut.“

„Gut. Und hinterließ fünftausend Pfund, wovon er mir eintausend vermachte, weil ich seine Verwandte geheiratet hatte. Sie verstehen?“

„Ja, hm“, murmelte Sam.

„Und weil er ’ne Menge Nichten und Neffen hatte, die einander unaufhörlich das Vermögen mißgönnten, machte er mich zum Vollstrecker seines letzten Willens und gab mir das übrige in Verwahrung. – Na, und“, fuhr der Schuhflicker fort, „wie ich im Begriff war, einen gerichtlichen Bestätigungsschein ausfertigen zu lassen, legten die Nichten und Neffen, die sehr enttäuscht waren, daß sie nicht alles bekommen sollten, ein Caveat ein.“

„Ein was?“ fragte Sam.

„Eine gerichtliche Eingabe, die soviel sagen will wie: wir dulden’s nicht“, erklärte der Schuhflicker.

„Verstehe“, brummte Sam, „’ne Art Stiefbruder von dem hafis corpus. Gut.“

„Aber“, fuhr der Schuhflicker fort, „als sie fanden, daß sie untereinander selbst nicht einig werden und folglich auch keinen Protest gegen das Testament erheben konnten, zogen sie das Caveat wieder zurück, und ich zahlte sämtliche Vermächtnisse aus. Kaum hatte ich dies getan, als ein Neffe eine Schrift eingab, die Umstoßung des Testaments beantragte. Der Fall kam einige Monate darauf vor einen alten tauben Herrn in einem Hinterzimmer in der Gegend vom Paulskirchhof, und nachdem ihn vier Advokaten einen Tag lang schrecklich überlaufen hatten, um ihn noch künstlich zu betäuben, zog er die Sache acht bis vierzehn Tage lang in Überlegung und entlehnte seine Entscheidung aus sechs Bänden, die dahin ausfiel, daß der Erblasser im Kopf nicht recht in Ordnung gewesen sei und ich daher das ganze Geld wieder herausgeben und alle Kosten bezahlen müsse. Ich appellierte. Die Sache kam vor drei oder vier Schlafmützen, die die Verhandlung schon im ersten Gerichtshof mit angehört hatten, wo sie als Anwälte funktionierten. Das Urteil des alten Herrn wurde pflichtschuldigst bestätigt. Hierauf wanderte ich hierher und werde wohl zeitlebens hierbleiben. Meine Anwälte hatten sich schon lange vorher in den Besitz meiner ganzen tausend Pfund gesetzt, und was den Stand, wie sie es nennen, und die Kosten betrifft, so sitze ich hier für zehntausend, und werde hier sitzen, bis meine letzten Schuhe geflickt sind. Einige Herren haben davon gesprochen, die Sache dem Parlament vorzulegen, und ich glaube, sie würden es auch getan haben; aber sie hatten keine Zeit, zu mir zu kommen, und ich keine Erlaubnis, zu ihnen zu gehen, und der langen Episteln wurden sie müde, und so ließen sie die Sache fallen. Und das ist beim lebendigen Gott die Wahrheit, und kein Jota zuwenig oder zuviel, wie fünfzig Personen, sowohl innerhalb wie außerhalb dieser Mauern, ganz genau wissen.“

Der Schuhflicker schwieg, um zu sehen, welche Wirkung seine Erzählung hervorgerufen hatte; aber da Sam eingeschlummert war, klopfte er seine Pfeife aus, seufzte, legte sie beiseite, zog die Bettdecke über den Kopf und überließ sich gleichfalls dem Schlaf.

Am folgenden Morgen war Sam im Kämmerchen des Schuhflickers eifrig damit beschäftigt, seinem Herrn die Schuhe zu wichsen und die schwarzen Gamaschen auszubürsten, und Mr. Pickwick saß allein beim Frühstück, als jemand an seine Tür klopfte und, ehe er noch „Herein“ rufen konnte, ein Kopf sichtbar wurde, der, mit einem Kranz von Haar eingefaßt und mit einer Mütze von Baumwollsamt bedeckt, ohne große Schwierigkeit Mr. Smangle erkennen ließ.

„Sagen Sie, erwarten Sie nicht jemand?“ fragte der würdige Gentleman mit ein paar Dutzend Bücklingen. „Drei Herren – verteufelt nobel – haben unten nach Ihnen gefragt und auf dem Gang an jede Tür geklopft.“

„Meiner Treu, wie töricht wieder“, sagte Mr. Pickwick aufstehend. „Es sind Freunde von mir, die ich schon gestern erwartete.“

„Freunde von Ihnen?“ rief Smangle und ergriff Mr. Pickwicks Hand. „Sprechen Sie nicht weiter. Bei Gott, von diesem Augenblick an sind es auch Freunde von mir und Freunde von Mivins. Ein infernalisch scharmanter, nobler Bursche, der Mivins, nicht wahr?“

„Ich kenne den Herrn zu wenig“, wich Mr. Pickwick zögernd aus, „als daß ich …“

„Ich weiß“, unterbrach Mr. Smangle und klopfte Mr. Pickwick auf die Schulter. „Ich weiß. Aber Sie werden ihn besser kennenlernen. Sie werden entzückt sein über ihn. Dieser Mann, Sir“, fügte er geheimnisvoll hinzu, „hat Anlagen zum Komiker, die dem Drury-Lane-Theater Ehre machen würden.“

„Das sind alles äußerst merkwürdige Eigenschaften“, sagte Mr. Pickwick, „aber ich fürchte, meine Freunde werden, während wir hier miteinander plaudern, in großer Verlegenheit sein, wenn sie mich nicht finden.“

„Ich will ihnen den Weg zeigen“, erbot sich Smangle, zur Tür eilend. „Guten Tag. Ich möchte sie nicht stören, während sie hier sind, Sie verstehen. – Apropos, könnten Sie mir nicht bis gegen Ende der nächsten Woche eine halbe Krone vorstrecken?“

Mr. Pickwick konnte sich kaum eines Lächelns erwehren, zwang sich jedoch, ernst zu bleiben, legte das Geldstück in Mr. Smangles Handfläche, worauf dieser unter Zwinkern und Gebärden, die auf Geheimhaltung des großen Mysteriums hindeuten sollten, verschwand, um die drei Fremden aufzusuchen, mit denen er im nächsten Augenblick zurückkehrte, und nachdem er dreimal gehustet und ebensooft genickt hatte, um Mr. Pickwick zu verstehen zu geben, er werde nicht vergessen, das Darlehen pünktlich zurückzuzahlen, schüttelte er allen verbindlich die Hand und schraubte sich hinaus.

„Meine lieben, lieben Freunde“, sagte Mr. Pickwick, den Herren Tupman, Winkle und Snodgraß nacheinander immer wieder die Hand drückend, „ich bin entzückt, Sie zu sehen.“

Das Triumvirat war tief ergriffen. Mr. Tupman schüttelte kläglich das Haupt; Mr. Snodgraß zog fassungslos sein Taschentuch hervor, und Mr. Winkle trat ans Fenster und schluchzte laut.

„Morgen, meine Herren“, rief Sam, der in diesem Augenblick mit den Schuhen und Gamaschen eintrat, „nur weg mit die Melancholie, wie der kleine Junge sagte, als seine Schullehrerin starb. Willkommen im Kolleg, meine Herren.“

„Dieser närrische Bursche“, erklärte Mr. Pickwick freundlich, als Sam niederkniete, um ihm die Gamaschen zuzuknöpfen, „dieser närrische Bursche hat sich selbst einsperren lassen, um in meiner Nähe zu sein.“

„Was?“ riefen die drei Freunde.

„Ja, meine Herren“, sagte Sam, „ich bin – halten Sie gefälligst Ihren Fuß ruhig, Sir –, ich bin ’n Gefangener, meine Herren. Pappengeblieben, wie die Dame sagte.“

„Ein Gefangener!“ fuhr Mr. Winkle erschreckt auf.

„Hallo, Sir!“ versetzte Sam und sah auf. „Was gibt’s, Sir?“

„Und ich hatte gehofft, Sam, daß … Nichts, nichts“, stotterte Mr. Winkle verlegen. – In seinem Benehmen lag dabei etwas so Hastiges und Unentschlossenes, daß Mr. Pickwick unwillkürlich einen fragenden Blick auf seine beiden Freunde warf.

„Wir wissen nichts“, antwortete Mr. Tupman laut auf diese stumme Frage. „Er ist schon seit zwei Tagen außerordentlich aufgeregt und überhaupt wie ausgewechselt. Wir fürchteten, es könnte etwas vorgefallen sein, aber er leugnet hartnäckig.“

„Nein, nein“, beteuerte Mr. Winkle, unter Mr. Pickwicks durchdringendem Blick errötend, „es ist wirklich nichts; ich versichere Ihnen, es ist nichts, werter Freund. Ich werde wegen einer Privatangelegenheit binnen kurzem die Stadt verlassen müssen und hatte gehofft, Sie würden erlauben, daß Sam mich begleitet.“

Mr. Pickwicks Gesicht drückte noch größeres Erstaunen aus als zuvor.

„Ich glaubte“, stammelte Mr. Winkle, „Sam würde nichts dagegen haben; aber natürlich, wenn er Gefangener ist, so ist die Sache unmöglich, und ich muß eben allein reisen.“

Noch während Mr. Winkle sprach, fühlte Mr. Pickwick mit einigem Erstaunen, daß die Finger seines Dieners an den Gamaschen zitterten, als ob er überrascht oder bestürzt wäre. Sam sah auch auf Mr. Winkle, als dieser schwieg, und wenn auch der Blick, den die beiden wechselten, nur eine Sekunde dauerte, so schienen sie einander doch zu verstehen.

„Weißt du etwas von dieser Sache, Sam?“ fragte er daher mit scharfem Ton.

„Nö, nichts, Sir“, versetzte Mr. Weller, mit außerordentlicher Emsigkeit mit den Gamaschen beschäftigt.

„Bestimmt nicht, Sam?“

„Nun, Sir“, antwortete Mr. Weller, „so viel ist gewiß, daß ich bis jetzt noch nie etwas darüber gehört habe. Wenn ich auch manches errate“, fügte er mit einem Blick auf Mr. Winkle hinzu, „so bin ich nicht befugt, es zu sagen, denn ich könnte auch falsch geraten haben.“

„Und ich habe kein Recht, weiter in die Privatangelegenheiten meines Freundes zu dringen, und wenn wir auch noch so vertraut sind“, meinte Mr. Pickwick nach kurzem Stillschweigen. „Laßt mich nur noch so viel sagen, daß ich von all dem nicht das mindeste verstehe. Nun damit genug über diesen Punkt.“

Nun war aber noch so viel zu besprechen, daß der Vormittag schnell verfloß, und als Mr. Weller um drei Uhr auf dem kleinen Tisch eine Hammelkeule und eine ungeheure Fleischpastete mit verschiedenen Platten Gemüse und Flaschen Porter aufstellte, fühlte sich jeder in die Stimmung versetzt, dem Mahle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn es auch die unappetitliche Küche des Gefängnisses war, in der das Fleisch gekauft und zubereitet und die Pastete gebacken worden war.

Den Nachtisch bildeten ein paar Flaschen vorzüglichen Weines, die Mr. Pickwick aus dem Kaffeehaus Hörn in Doktors Commons hatte holen lassen. Die paar Flaschen hätte man eigentlich richtiger ein halbes Dutzend nennen können, und als der Wein getrunken und der Tee vorüber war, läutete die Gefängnisglocke zum Zeichen, daß sich die Besuche zu entfernen hätten.

War nun Mr. Winkles Benehmen am Morgen unerklärlich gewesen, so wurde es jetzt geradezu unirdisch und feierlich, als er sich, von Gefühl und Anteilnahme überwältigt, wohl ein halbes dutzendmal zum Abschied anschickte.

Er blieb zurück, bis Tupman und Snodgraß verschwunden waren, und drückte Mr. Pickwick mit einem Gesicht die Hand, auf dem feste Entschlossenheit mit der Quintessenz des Grames einen furchtbaren Bund geschlossen hatte.

„Gute Nacht, lieber, lieber Freund“, murmelte er dabei Zwischen den Zähnen.

„Gott segne Sie, mein guter Junge“, rief gerührt Mr. Pickwick.

„Nun also, was ist denn?“ erscholl Mr. Tupmans Stimme im Gang.

„Jaja, gleich, gleich“, antwortete Mr. Winkle. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Noch einmal wurde gute Nacht gesagt, und noch einmal, und nach diesem noch ein halbes dutzendmal, und immer noch hielt Mr. Winkle die Hand seines Freundes fest und sah ihm mit demselben seltsamen Ausdruck ins Gesicht.

„Ist denn wirklich nichts vorgefallen?“ fragte Mr. Pickwick, als ihm vor lauter Schütteln schon der Arm weh tat. „Nichts“, erwiderte Mr. Winkle.

„Nun denn, gute Nacht“, sagte Mr. Pickwick, bemüht, seine Hand loszumachen.

„Mein Freund, mein Wohltäter, mein verehrter Meister!“ murmelte Mr. Winkle, ihn noch am Handgelenk erwischend, „beurteilen Sie mich nicht zu hart, wenn Sie hören, daß ich, durch unüberwindliche Hindernisse dazu genötigt …“

„Wird’s bald!“ rief Mr. Tupman, sich wieder an der Tür zeigend. „Kommen Sie, oder sollen wir eingeschlossen werden?“

„Jaja, ich bin bereit“, erwiderte Mr. Winkle und riß sich mit furchtbarer Anstrengung los.

Als Mr. Pickwick den Herren mit stummem Erstaunen den Gang nachblickte, erschien Sam Weller oben an der Treppe und flüsterte einen Augenblick Mr. Winkle etwas ins Ohr.

„Gewiß, gewiß, verlassen Sie sich auf mich“, war die laute Antwort.

„Danke Ihnen, Sir; aber Sie vergessen es doch nich, Sir?“ bemerkte Sam eindringlich.

„In keinem Fall“, erwiderte Mr. Winkle.

„Na, also viel Glück, Sir“, sagte Sam und griff an seinen Hut. „Hätte mir riesig gefreut, es Ihnen gleichtun zu können, Sir, aber die Herrschaft kommt natürlich zuerst.“

„Es ist sehr brav von Ihnen, Sam, daß Sie hierbleiben“, versetzte noch Mr. Winkle, und dann ging das Kleeblatt die Treppe hinunter und verschwand.

„Höchst sonderbar“, brummte Mr. Pickwick, kehrte in sein Zimmer zurück und setzte sich nachdenklich an den Tisch. „Was kann der junge Mann nur vorhaben?“

Er hatte eine Weile nachgegrübelt, als die Summe Mr. Rokers, des Schließers, fragte, ob man eintreten dürfe. „Ich bringe Ihnen hier ein weicheres Kissen, Sir“, sagte er, „statt des einstweiligen, das Sie gestern nacht gehabt haben.“

„Danke bestens. Wollen Sie nicht ein Glas Wein trinken?“

„Sie sind sehr gütig, Sir“, erwiderte Mr. Roker. „Ihre Gesundheit, Sir.“

„Danke.“

„Ich bedaure, Ihnen Sagen zu müssen, daß es mit Ihrem Gefährten diesen Abend sehr schlecht steht, Sir“, bemerkte Roker, stellte das geleerte Glas nieder und betrachtete aufmerksam das Futter seines Hutes.

„Was? Mit dem Kanzleigefangenen?“

„Er wird nicht mehr lange Kanzleigefangener sein, Sir.“

„Das Blut gerinnt in meinen Adern“, rief Mr. Pickwick. „Was meinen Sie damit?“

„Er ist schon lange schwindsüchtig gewesen, und diesen Abend hat er außerordentlich“ Atembeschwerden bekommen. Der Arzt sagt schon seit einem halben Jahre, nur eine Luftveränderung könne ihn retten.“

„Großer Gott, so ist dieser Mann ein halbes Leben lang von der Gerechtigkeit langsam hingemordet worden?“

„Davon verstehe ich nichts, Sir“, erwiderte Roker, den Hut zwischen beiden Händen an der Krempe wägend. „Es wäre ihm vermutlich an jedem andern Orte auch so gegangen. Diesen Morgen kam er ins Krankenzimmer. Der Doktor sagte, man müsse ihm soviel wie möglich stärkende Sachen geben, und der Vorsteher schickte ihm Wein, Fleischbrühe und dergleichen aus seinem eignen Hause. Des Vorstehers Schuld ist es nicht, das wissen Sie, Sir.“

„Natürlich nicht“, erwiderte Mr. Pickwick schnell.

„Ich befürchte aber“, meinte Roker kopfschüttelnd, „es ist alles umsonst. Ich hab eben Neddy eine Wette von zwei Gläsern Schnaps gegen eins angeboten; aber er wollte nicht und hatte auch ganz recht. – Gute Nacht, Sir.“

„Halt“, rief Mr. Pickwick mit ernstem Ton. „Wo ist das Krankenzimmer?“

„Gerade über Ihrem Schlafgemach, Sir. Ich will’s Ihnen zeigen, wenn Sie mitkommen wollen.“

Mr. Pickwick nahm in Eile schweigend seinen Hut.

Der Schließer ging still voran, drückte leise eine Türklinke auf und forderte ihn auf, einzutreten. Es war ein großes, kahles, ödes Zimmer mit einer Menge eiserner Halbbettstellen, auf deren einer der Schatten eines Menschen lag – bleich und geisterhaft. Er atmete hart und schwer und ächzte vor Schmerzen, sooft sich seine Brust hob und senkte. Am Bette saß ein kleiner alter Mann in einer Schuhflickerschürze und las mit Hilfe einer Hornbrille laut in der Bibel. Es war der unglückliche Erbe.

„Öffnen Sie das Fenster“, flüsterte der Kranke.

Das Gepolter der Wagen und Karren, das Gerassel der Räder, das Geschrei der Männer und Kinder, der ganze Lärm des Lebens und Webens einer geschäftigen Menge wogte in dumpfem Gemurmel in das Zimmer. Wie fernes Summen erhob sich von Zeit zu Zeit ein schallendes Gelächter oder schlug das Bruchstück eines fröhlichen Liedes, von einem lustigen Haufen gesungen, auf einen Augenblick ans Ohr und verhallte dann im allgemeinen Lärm der Stimmen und Fußtritte – die Brandung der rastlosen See des Lebens da draußen. Es sind jederzeit melancholische Töne für einen ruhigen Zuhörer; aber wie trübselig müssen sie dem Ohre eines Menschen klingen, der an einem Sterbebette wacht.

„Es fehlt an Luft hier“, stöhnte der Kranke mit schwacher Stimme. „Der Ort verpestet sie. Sie war ringsum frisch, als ich vor Jahren hierher kam; aber sie wird schwül und drückend auf ihrem Wege durch diese Mauern. Ich kann sie nicht atmen.“

„Wir haben sie lange miteinander geatmet“, tröstete der Schuhflicker, „es wird schon wieder besser kommen.“

Es folgte eine kurze Pause, während deren die beiden Zuschauer näher an das Lager traten. Der Kranke zog die Hand seines alten Mitgefangenen an sich, drückte sie zärtlich zwischen den seinigen und hielt sie lange fest.

„Ich hoffe“, ächzte er nach einer Weile mit so schwacher Stimme, daß man scharf hinhören mußte, um die halben Laute zu vernehmen, die zitternd über die blauen Lippen des Sterbenden kamen, „ich hoffe, mein gnädiger Richter wird meiner schweren Buße auf Erden gedenken. Zwanzig Jahre, mein Freund, zwanzig Jahre in diesem scheußlichen Grab! Mein Herz brach, als mein Kind starb, und ich konnte es nicht einmal küssen in seinem kleinen Sarge! Meine Verlassenheit seitdem ist, trotz all dieses Lärmens und Tosens, wahrhaft fürchterlich gewesen. Möge mir Gott vergeben! Er hat meine Einsamkeit, meinen langsamen Tod gesehen.“

Er faltete die Hände, und noch etwas murmelnd, was man nicht verstehen konnte, fiel er in Schlaf; nur in Schlaf anfangs, denn man sah ihn lächeln.

Eine kurze Zeit flüsterten die Anwesenden miteinander; dann fuhr der Schließer, als er die Kissen ordnen wollte, schnell zurück.

„Bei Gott, er ist erlöst!“ sagte er leise.

Und er war es. Aber er hatte schon im Leben so totenähnlich ausgesehen, daß sie nicht wußten, wann er gestorben war.

Dreiundvierzigstes Kapitel


Dreiundvierzigstes Kapitel

Schildert eine rührende Zusammenkunft Mr. Samuel Weller mit seinen Verwandten. Mr. Pickwick besichtigt die kleine Welt, die er bewohnt, und faßt den Entschluß, künftighin so wenig wie möglich mit ihr zu verkehren.

Einige Tage nach seiner Festnahme ging Mr. Samuel Weller eines Morgens, nachdem er das Zimmer seines Herrn mit größter Sorgfalt aufgeräumt hatte, mit sich zu Rate, wie er die nächsten zwei Stunden am besten totschlagen könnte. Der Morgen war schön, und so kam er auf den Gedanken, daß eine Finte Porter im „Freien“ das richtigste wäre.

Er ging also in die Kantine, und nachdem er das Bier und überdies noch die vorgestrige Zeitung bekommen, begab er sich auf die Kegelbahn, setzte sich auf eine Bank und begann, sich auf eine sehr gesetzte und methodische Weise zu unterhalten.

Vor allem nahm er einen Schluck, sah dann, zu einem Fenster empor und beglückte eine junge Dame, die dort Kartoffeln schälte, mit einem platonischen Blinzeln. Dann entfaltete er die Zeitung und gab sich Mühe, die Polizeiberichte nach außen zu falten, und da dies bei dem sich in den Blättern verfangenden Winde eine anstrengende und schwierige Arbeit war, nahm er nach glücklichem Gelingen einen zweiten Schluck. Dann las er zwei Zeilen und unterbrach diese Beschäftigung, um ein paar Männern zuzusehen, die ein Tennisgame spielten, nach dessen Beendigung er beifälligerweise „Bravo“ rief und seine Augen die Runde machen ließ, um sich zu überzeugen, ob sich die Ansichten der Zuschauer mit den seinigen deckten. Dies schloß die Notwendigkeit in sich, wiederum zu dem Fenster hinaufzusehen, und da die junge Dame noch immer dort stand, so erforderte es die allgemeine Höflichkeit, ihr abermals zuzublinzeln und mit einem Schluck Bier stumm zuzutrinken. Einem Jungen, der letzteres mit weitaufgerissenen Augen mit angesehen, warf er einen furchtbaren Zornblick zu, schlug seine Beine übereinander und begann endlich, die Zeitung mit beiden Händen festhaltend, allen Ernstes zu lesen.

Kaum hatte er sich in den erforderlichen Zustand von Gedankenkonzentration versetzt, als er jemand in weiter Ferne in einem Gang seinen Namen rufen zu hören glaubte. Das war auch keine Täuschung, denn er lief alsbald von Mund zu Mund, und in wenigen Sekunden erzitterte die Luft mit lauter Wellers“.

„Hüür!“ schrie Sam mit Stentorstimme. „Was gibt’s? Wer fragt nach ihm? Is ’n Expresser gekommen, um ihm zu melden, daß sein Landhaus in Flammen steht?“

„In der Halle fragt jemand nach Ihnen“, sagte ein Mann in der Nähe.

„Geben Sie auf das Blatt und den Krug acht, alter Freund; wollen Sie?“ bat Sam. „Ich komme schon. Bei Gott, wenn sie mir vor die Schranken riefen, so könnten sie keinen größeren Lärm nich machen.“

Diese Worte mit einem sanften Schlag auf den Kopf des vorerwähnten jungen Herrn begleitend, der, die unmittelbare Nähe des Gerufenen nicht ahnend, aus Leibeskräften „Weller“ mitschrie, eilte Sam über den Hof und sprang die Treppe hinauf in die Halle. Hier war das erste, was seine Augen erblickten, sein heißgeliebter Vater, der mit dem Hute in der Hand auf der untersten Treppenstufe saß und alle Minuten aus vollem Halse „Weller“ brüllte.

„Warum grölst denn so?“ fragte Sam erregt, als der alte Herr eben wieder einen wilden Schrei ausgestoßen hatte. „Bist ja ganz rot, wie ’n irrsinniger Glasbläser! Was gibt’s denn?“

„Aha!“ rief der alte Herr, „da bist du ja. Ich bekam schon Angst, daß du womöglich ’nen Spaziergang um den Regentpark machtest, Sammy.“

„Na, hör mal!“ sagte Sam. „Man verhöhnt doch nich das Opfer des Geizes. Und dann geh mal von der Treppe da weg. Warum sitzt du überhaupt hier? Ich wohn doch nich hier.“

„Ich muß dir ’nen Spaß erzählen, Sammy“, versetzte Mr. Weller senior und erhob sich.

„Warte mal ’n Augenblick. Bist ganz weiß hinten.“

„Das is recht, Sammy, reib es weg“, versetzte Mr. Weller, als sein Sohn ihn abstaubte. „Ich möchte hier nicht den affigen Eindruck machen, daß ich was Weißes auf ‚m Leibe habe. Was, Sammy?“ Hier zeigten sich bei Mr. Weller unzweideutige Symptome eines neuerlich aufkommenden Lachkrampfes, den Sam zu verhindern suchte.

„Was hast denn nu wieder?“ fragte er, „du wirst noch mal platzen.“

„Sammy“, versetzte Mr. Weller und wischte sich über die Stirn, „ich hab Angst, dieser Tage trifft mir noch der Schlag vor lauter Lachen. Was denkst du wohl, wer mit mir hergekommen ist, Sammy?“

„Pell?“ riet Sam.

Mr. Weller schüttelte den Kopf und blies seine roten Backen vor verhaltenem Gelächter auf.

„Der Buntscheckige vielleicht?“

Mr. Weller schüttelte wieder den Kopf.

„Na also, wer denn?“

„Deine Stiefmutter“, erwiderte Mr. Weller.

Und es war ein Glück, daß er es herausbrachte, sonst wären seine Backen bei der unmäßigen Anstrengung unvermeidlich geborsten.

„Deine Stiefmutter, Sammy, und der Rotnasige, mein Junge, der Rotnasige. Hohoho!“

Und wieder bekam Mr. Weller Lachkrämpfe, während ihn Sam mit einem breiten Grinsen ansah, das sich allmählich über sein ganzes Gesicht verbreitete.

„Die sind hergekommen, um dir ins Gewissen zu reden, Samuel“, stöhnte Mr. Weller und trocknete seine Tränen. „Laß dir bloß nichts über deinen unnatürlichen Gläubiger rausholen, Sammy.“

„Was? Wissen sie nicht, wer es is?“ fragte Sam.

„Nich die Bohne.“

„Wo sind sie denn?“ fragte Sam feixend.

„Im Lauschestübchen. Denkst doch nich, der Rotnasige geht wohin, wo es nich was Gebranntes gibt; der nich, Samuel, der nich. Wir hatten diesen Morgen ’ne sehr hübsche Fahrt vom ,Marquis‘ hierher“, erklärte Mr. Weller, als er sich wieder einer artikulierten Ausdrucksweise fähig fühlte.

„Ich spannte den alten Schecken in das kleine Fuhrwerk, wo dem ersten Mann von deiner Stiefmutter gehört hatte. Und denn wurde ’n Armstuhl für den Hirten raufgepackt, und ich will verdammt sein“, fügte Mr. Weller mit einem Blick bodenloser Verachtung hinzu, „wenn sie nich noch ’ne tragbare Treppe auf die Straße schleppten, damit er leichter raufkam. Ich wünschte bloß, du hättest gesehen, wie der sich beim Aufsteigen festhielt, aus Angst, daß er runterprasseln und in tausend Fetzen auseinanderfallen könnte. Na, schließlich plumpste er rein, und wir fuhren los, und ich möchte beinahe sagen, mir kommt es so vor, Samuel, daß es ihm etwas rumpeln tat, wenn’s um die Ecken ging.“

„Nanu, denn nehme ich an, du bist an ’n paar Posten gedonnert?“ meinte Sam.

„Ich hab Angst“, versetzte Mr. Weller mit wildem Gebärdenspiel, „ich hab Angst, ich rappelte ein-, zweimal wo gegen; jedenfalls flog er nach alle Seiten aus sein Armstuhl raus.“

Ein heiseres innerliches Kollern benahm dem alten Herrn die Sprache.

„Sei unbesorgt, Sammy, sei unbesorgt“, sagte er, als er nach ungeheurer Anstrengung und verschiedentlichem konvulsivischem Stampfen auf den Boden seine Stimme wieder erlangt hatte. „Es is nur ’ne Art stilles Lachen, wo ich nich zum Ausbruch kommen lassen will, Sammy.“

„Na gut“, meinte Sam, „aber es wäre besser, du würdest es nich machen. Es sieht reichlich gefährlich aus.“

„Gefällt es dir nich, Sammy?“

„Könnte ich nich sagen“, versetzte Sam.

So weit war die Unterhaltung gediehen, als Vater und Sohn an der Tür des „Lauschestübchens“ ankamen, in das Sam alsbald hineintrat, nachdem er zuvor einen Augenblick stehengeblieben war, um über die Schulter weg einen schlauen Blick auf seinen verehrten Erzeuger zu werfen, der immer noch kicherte.

„Stiefmutter“, grüßte er dann höflich, „sehr verbunden für den gütigen Besuch. Hirte, wie befinden Sie sich?“

„Ach, Samuel!“ rief Mrs. Weller. „Das ist ja fürchterlich.“

„Ach wo, Ma’am“, versetzte Sam. „Oder doch, Hirte?“

Mr. Stiggins hob seine Hände empor und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße, oder vielmehr das Gelbe, sichtbar war, erwiderte aber nichts.

„Ist der Herr mit ’nem schmerzhaften Leiden behaftet?“ fragte Sam mit einem forschenden Blick auf seine Stiefmutter.

„Der gute Mann ist bekümmert, dich hier zu sehen, Samuel“, erklärte Mrs. Weller.

„Ah, soso!“ sagte Sam. „Ich bekam wegen sein Benehmen schon Angst, daß er womöglich vergessen hat, die letzten Gurken, wo er gegessen hat, mit Feffer zu bestreuen. Setzen Sie sich, Sir; zur Ruhe setzen kostet nichts, wie der König bemerkte, als er seine Minister wegjagte.“

„Junger Mann“, versetzte Mr. Stiggins hochtrabend, „ich fürchte, das Gefängnis hat Sie noch nicht gedemütigt.“

„Bitte um Verzeihung, Sir“, erwiderte Sam, „was waren Sie so gütig zu bemerken?“

„Ich fürchte, junger Mann, Ihr Charakter ist durch diese Züchtigung nicht demütiger geworden“, wiederholte Stiggins mit lauter Stimme.

„Sie sin sehr gütig“, erwiderte Sam. „Ich fürchte, meine Natur gehört nich zu den demütigen. Sehr verbunden für Ihre gute Meinung, Sir.“

Unanständige, gelächterartige Laute in der Gegend des Stuhles, auf dem Mr. Weller senior saß, drohten Mrs. Weller in hysterische Krämpfe zu versetzen.

„Weller!“ rief sie. „Weller, gleich kommst du aus dem Winkel raus!“

„Sehr verbunden, meine Liebe“, versetzte Mr. Weller, „aber ich fühle mir hier sehr behaglich.“

Sofort brach Mrs. Weller in Tränen aus.

„Was fehlt Ihnen, Madame?“ fragte Sam.

„Ach, Samuel!“ jammerte Mrs. Weller. „Dein Vater macht mich ganz unglücklich; will ihm denn gar nichts frommen?“

„Hörst du das?“ rief Sam. „Madam möchte wissen, ob dir gar nichts frommen tut.“

„Ich bin Mrs. Weller für ihre höfliche Frage sehr verbun’n, Sammy“, erwiderte der alte Herr. „Ich denke, ’ne Feife würde mir sehr frommen. Laß mich mal eine stopfen, Sammy!“

Abermals vergoß Mrs. Weller einen Tränenstrom, und Mr. Stiggins schluchzte.

„Holla! Dem unglücklichen Herrn wird schon wieder übel“, rief Sam und blickte umher. „Wo fühlen Se jetzt den Schmerz, Sir?“

„Auf derselben Stelle, junger Mann“, ächzte Mr. Stiggins, „auf derselben Stelle.“

„Wo mag das nur sein, Sir?“ riet Sam, anscheinend mit großer Einfalt.

„Im Herzen, junger Mann“, entgegnete Mr. Stiggins und drückte, seinen Regenschirm an die Weste.

Das war zu ergreifend für Mrs. Weller. Sie schluchzte laut und stellte die Behauptung auf, der Mann mit der roten Nase sei ein Heiliger. „Ich fürchte, Stiefmutter, der Herr mit seinen verdrehten Gesichtszügen bekommt Durst von dem traurigen Anblick, den er vor sich hat. Was meinst du, Frau Mutter?“

Die würdige Dame sah Mr. Stiggins forschend an, der seine Augen rollen ließ und sich an die Kehle griff, wobei er die Handlung des Schlingens mimte, um anzudeuten, daß er tatsächlich Durst habe.

„Ich habe Angst, Samuel, seine Gefühle haben ihn durstig gemacht“, bemerkte Mr. Weller düster.

„Was is Ihr gewöhnliches Getränk, Sir?“ fragte Sam.

„Oh, mein lieber junger Freund!“ wehrte Mr. Stiggins ab. „Getränke sind Eitölkeitön.“

„Ach, wie wahr, wie wahr!“ schluchzte Mrs. Weller mit beifälligem Kopfnicken.

„Na“, sagte Sam, „also welche ,Eitölkeitön‘ schmecken Ihnen denn am besten, Sir?“

„Ach, main liebör jungör Freund“, erwiderte Mr. Stiggins, „ich verachtö allö. Wann ös, wann ös ains gibt, das weniger schlimm ist als ain andörös, so ist ös der Gaist, den man Rum nönnt – warm, main liebör jungör Freund, mit drai Stückchön Zuckör für das Glaaas!“

„Tut mir sehr leid, Sir“, sagte Sam, „daß Ihre Lieblingseitelkeit in diesem Etablissemang nich verkauft wird; muß Ihnen leider sagen, es is nich gestattet.“

„Oh, über die Hartherzigkeit dieser verstockten Menschen!“ rief Mr. Stiggins aus. „Ach, über die fluchwürdige Grausamkeit dieser unmenschlichen Verfolger!“ – Und wieder hob der Hirt seine Augen auf und preßte den Regenschirm an seine Brust voll gerechter Empörung. Schließlich schlug Sam eine Flasche Portwein mit warmem Wasser, Gewürz und Zucker vor, weil dieses für den Magen sehr gesund sei und weniger nach Oitelkeit schmeckte als andre Mischungen, ließ das Getränk kommen und bereitete es, während der Herr mit der roten Nase und die Stiefmutter Mr. Weller senior ansahen und schluchzten.

„Na, was reckst du denn deine Hand auf so ’ne rohe Art und Weise nach dem Glas aus?“ rief Sam schnell, als die Faust Mr. Wellers, der abermals hinter dem Hirten allerlei drohende Gestikulationen vollführt hatte, mit dem Kopf Mr. Stiggins‘ zufällig in unsanfte Berührung kam. „Unabsichtlich, Sammy“, entschuldigte sich Mr. Weller kurz und hanebüchen.

„Versuchen Sie mal „ne innerliche Wundbehandlung, Sir“, riet Sam, als der rotnasige Herr sich mit kläglicher Miene den Kopf rieb. „Was halten Sie von so einer warmen Eitelkeit, Sir?“

Mr. Stiggins antwortete nicht mit Worten, aber sein Benehmen war ausdrucksvoll. Er kostete den Inhalt des Glases, das ihm Sam in die Hand gedrückt, stieß seinen Regenschirm auf den Boden, kostete wieder, rieb sich die Magengegend behaglich, trank dann das Ganze auf einen Zug aus, schmatzte mit den Lippen und hielt das Glas hin, um es wieder füllen zu lassen.

Auch Mrs. Weller wollte nicht zurückstehen, wo es galt, der Mischung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie protestierte anfangs, sie könne keinen Tropfen trinken – dann trank sie einen kleinen Tropfen – dann einen großen Tropfen – und dann eine große Menge Tropfen, und da ihr weiches Naturell durch gebranntes Wasser stark angegriffen wurde, ließ sie bei jedem Tropfen Glühwein einen Tränenstrom fließen und zerging schließlich derart, daß sie eine imposante Höhe von Elend erklomm.

Mr. Weller senior gab bei Beobachtung dieser Zeichen und Vorgänge sein Mißfallen auf mannigfaltige Weise durch heftiges Gebrumm kund. Mr. Stiggins erhob sich nach einem zweiten Krug schwerfällig und erging sich in einer erbaulichen Rede, die auf das Seelenheil der Gesellschaft, insbesondere Mr. Samuels, abzielte, den er in rührenden Ausdrücken beschwor, die Sünde zu fliehen, Heuchelei und Hochmut zu meiden und in allen Stücken sich ihn zum Muster und Vorbild zu nehmen, in welchem Fall er früher oder später zu dem köstlichen inneren Bewußtsein gelangen könne, daß er, gleich ihm, ein achtbarer und tadelloser Charakter und alle seine Bekannten und Freunde rettungslos verloren und verworfen seien; ein Bewußtsein, sagte er, das ihm die größte Seligkeit bereiten wurde.

Er beschwor ihn ferner, vor allen Dingen das Laster der Trunksucht zu fliehen, das er den unflätigen Gewohnheiten der Schweine und den giftigen und verderblichen Arzneien verglich, die, durch den Mund aufgenommen, das Gedächtnis schwächten. Bei dieser Stelle seiner Rede wurde der ehrwürdige Herr besonders unzusammenhängend und mußte, im Feuer der Beredsamkeit hin und her schwankend, sich an der Stuhllehne festhalten, um das physische Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Ganz besonders schien er seine Zuhörer vor den falschen Propheten und elenden Spöttern über die Religion warnen zu wollen, die, ohne die geistige Fähigkeit, die vornehmsten Glaubenssätze auszulegen, oder ohne das Herz, ihre Grundwahrheiten zu empfinden, gefährlichere Mitglieder der Gesellschaft seien als der gemeine Verbrecher, indem sie notwendigerweise auf die Schwächsten und am wenigsten Unterrichteten die stärkste Herrschaft ausübten, alles, was am heiligsten gehalten werden sollte, herabsetzten und verächtlich machten und ganze Klassen von tugendhaften und sittlich guten Menschen vieler vortrefflicher Sekten und Glaubensrichtungen in üblen Ruf brächten – aber da er sich eine geraume Zeit an der Stuhllehne festhielt und das eine Auge geschlossen hielt und mit dem andern ausdrucksvoll blinzelte, so läßt sich annehmen, daß er alles nur dachte, aber wohlweislich bei sich behielt.

Während der undeutlichen Predigt seufzte und weinte Mrs. Weller am Schlüsse jedes Abschnittes, während Sam mit übergeschlagenen Beinen und auf die Lehne seines Sessels gestützten Armen den Sprecher mit süßem, mildem Lächeln betrachtete und nur gelegentlich einen Blick des Einverständnisses auf den alten Herrn warf, der im Anfang entzückt war und ungefähr in der Mitte einschlief.

„Bravo! Vortrefflich!“ rief Sam, als der Mann mit der roten Nase nach Schluß der Rede seine abgetragnen Handschuhe anzog und dabei die Finger durch die durchlöcherten Enden steckte, bis die Knöchel sichtbar wurden. „Ganz vortrefflich.“

„Ich hoffe, es wird bei dir anschlagen, Samuel“, sagte Mrs. Weller feierlich.

„Ich denke ja, Stiefmutter“, nickte Sam.

„Ich wollte, es schlüge auch bei deinem Vater an“, seufzte Mrs. Weller.

„Danke dir, meine Teure“, erwiderte Mr. Weller senior. „Is dir nu leichter, meine Liebe?“

„Spötter!“ rief Mrs. Weller empört.

„Unerleuchteter Mann!“ lallte Ehrwürden Mr. Stiggins.

„Na, wenn ich kein besseres Licht nich bekommen tue als wie Ihren Mondschein“, knurrte Mr. Weller, „denn is es sehr wahrscheinlich, daß ich ständig ’ne Nachtkutsche fahren werde, bis ich mir von die Straße verabschieden tue. Aber jetzt, Mrs. Weller! Wenn der Schecke noch länger am Futtertrog steht, denn hält er es mir auf dem Heimweg nich mehr aus und schmeißt vielleicht den Armstuhl samt dem Hirten in die nächste Hecke.“

In augenscheinlicher Bestürzung ergriff Mr. Stiggins sofort Hut und Regenschirm und drang auf alsbaldige Abreise. Sam ging mit bis ans Gefängnistor und nahm dann zärtlich Abschied von seinen Gästen.

„Adio, Samuel“, sagte der alte Herr.

„Was heißt das, ,adio‘?“ fragte Sam.

„Na: Leb wohl!“

„Warum sagst das nich gleich? Na, denn leb wohl, Alter.“

„Sammy“, flüsterte Mr. Weller zum Abschied und blickte sich vorsichtig um, „meine Empfehlung an den Gouverneur, und wenn er sich auf was Besseres besinnen tut in seine Sache, denn soll er mich das wissen lassen. Ich und der Kunsttischler, wir haben ’nen Plan ausgeheckt, daß wir ihn rauskriegen, ’n Pjananino, Samuel – ’n Pjananino!“ fügte er triumphierend hinzu, schlug seinem Sohn mit der Rückseite der Hand auf den Brustkasten und trat ein paar Schritte zurück.

„Was meinst du damit?“ fragte Sam.

„’n Pjananinopforte, Samuel“, erwiderte Mr. Weller noch geheimnisvoller, „er kann es mieten; so eins, wo man gar nich drauf spielt, Sammy.“

„Er soll bloß zu meinem Freund, dem Kunsttischler, schicken und es holen lassen“, erklärte Mr. Weller. „Verstehst du jetz?“ „Nein“, antwortete Sam.

„Is gar nichts bei zu riskieren“, flüsterte Mr. Weller unbeirrt. „Er kann sich mit seinen Hut und seine Schuhe reinlegen und durch die Beine, die sind nämlich hohl, da kann er frische Luft schnappen. Wir halten ihm ’nen Schiffsplatz nach Amerika bereit. Die amerikanische Regierung gibt ihm nich wieder raus, wenn sie merkt, daß er Zaster hat, Sammy. Da soll er denn man bleiben, der Gouverneur, bis die Bardell tot is oder Dodson und Fogg am Galgen hängen, was wahrscheinlich zuerst passieren wird, Sammy. Und denn soll er zurückkommen und „n Buch über die Amerikaner schreiben. Wird ihm ’n Batzen Geld einbringen, wenn er sie bloß orntlich anstänkern tut.“

Mr. Weller flüsterte diesen kurzen Abriß eines Fluchtplanes seinem Sohne mit vielem Ungestüm ins Ohr, gab dann, als fürchte er, durch weitere Erklärungen die Wirkung seiner furchtbaren Mitteilung abzuschwächen, den freimaurerischen Kutschergruß und verschwand.

Sam hatte kaum seine gewöhnliche Ruhe wiedererlangt, die durch die geheimnisvolle Mitteilung seines verehrten Vaters gewaltig erschüttert worden war, als ihm Mr. Pickwick auf die Schulter klopfte.

„Sam!“

„Sir?“

„Ich wünsche einen Gang durch das Gefängnis zu machen, und du sollst mich dabei begleiten. Da kommt übrigens ein. Gefangener, den wir kennen, Sam“, fügte Mr. Pickwick lächelnd hinzu.

„Wer denn, Sir?“ fragte Sam. „Der Schenlemän mit dem Krauskopp oder der interessante Herr in den Strümpfen?“

„Keiner von beiden. Ein viel älterer Freund von dir, Sam.“

„Von mir, Sir?“

„Du wirst dich dieses Herrn schon noch erinnern“, sagte Mr. Pickwick. „Still jetzt! Kein Wort mehr, Sam, keine Silbe! Da ist er.“

Noch während Mr. Pickwick sprach, kam Jingle heran. Er sah weniger elend aus als das letztemal, denn er trug seine wenn auch recht abgeschabten Kleider, die er mit Mr. Pickwicks Hilfe aus der Gefangenschaft des Leihhauses erlöst hatte. Auch hatte er ein weißes Hemd an, und seine Haare waren frisch gestutzt. Gleichwohl war er sehr blaß und mager, und als er, auf einen Stock gestützt, langsam heranschlich, konnte man ihm leicht ansehen, daß er durch Krankheit und Mangel hart gelitten hatte und noch immer äußerst schwach war. Er zog den Hut, als Mr. Pickwick ihm zunickte, und schien beim Anblick Sam Wellers sehr gedemütigt und beschämt.

Dicht auf seinen Fersen erschien Hiob Trotter, in dessen Sündenregister jedenfalls Mangel an Treue und Anhänglichkeit an seinen Kameraden keinen Platz fand. Er war noch immer zerlumpt und schmutzig, sein Gesicht schien aber nicht mehr ganz so hohl zu sein wie bei seinem ersten Zusammentreffen mit Mr. Pickwick vor einigen Tagen. Als er vor dem wohlwollenden alten Herrn tief den Hut zog, murmelte er etwas von heißer Dankbarkeit und von Errettung vom Hungertode.

„Schon gut“, wehrte Mr. Pickwick ungeduldig ab. „Sie können mit Sam nachkommen. Ich wünsche Sie zu sprechen, Mr. Jingle. Können Sie gehen ohne seine Hilfe?“

„O ja, Sir – ganz zu Diensten – nicht zu schnell – Beine schlotterig – Kopf schwindelig – immer alles im Kreis herum – erdbebenartiger Zustand – ganz erdbebenartig.“

„Dann geben Sie mir Ihren Arm.“

„Nein, nein“, erwiderte Jingle hastig, „unmöglich – zuviel Güte.“

„Unsinn!“ sagte Mr. Pickwick. „Stützen Sie sich auf mich; ich will es, Sir!“

Da Mr. Pickwick sah, daß Jingle äußerst aufgeregt, verwirrt und unschlüssig war, zog er ohne Umstände den Arm des kranken Komödianten durch den seinigen und führte ihn fort, ohne ein Wort weiter zu verlieren.

Während dieser ganzen Zeit hatte Mr. Samuel Wellers Angesicht einen Ausdruck überwältigten und überschwenglichsten Erstaunens gezeigt, das sich die Einbildungskraft nur ausmalen kann. Nachdem er in tiefem Schweigen von Hiob zu Jingle und von Jingle zu Hiob geblickt, stieß er endlich leise die Worte aus: „Na, da hört sich doch ..,“ und wiederholte sie wenigstens zwanzigmal. Dann aber schien er seiner Stimme gänzlich beraubt zu sein und ließ in sprachloser Verwunderung seine Blicke aufs neue von dem einen zu dem andern wandern.

„Nun, Sam?“ fragte Mr. Pickwick über die Achsel.

„Komme schon, Sir“, erwiderte Mr. Weller, folgte seinem Herrn mechanisch und konnte noch immer kein Auge von Mr. Hiob Trotter abwenden, der schweigend an seiner Seite ging.

Hiob sah beharrlich zu Boden, und Sam, dessen Blick an Hiobs Gesicht geradezu klebte, rannte gegen alle Leute, die ihm begegneten, an, fiel über kleine Kinder, stolperte an Treppen und Geländern und schien von all dem nichts zu bemerken, bis Hiob endlich verstohlen aufblickte und fragte:

„Wie befinden Sie sich, Mr. Weller?“

„Ja, er is es!“ rief Sam, schlug sich auf das Bein und machte seinen Gefühlen mit einem langen, schrillen Pfiff Luft.

„Mit mir hat es sich sehr geändert, Sir“, sagte Hiob.

„Das seh ich“, rief Sam, mit unverhohlener Verwunderung die Lumpen seines Begleiters musternd. „Es ist aber ’n schlechter Tausch gewesen, wie der Schenlemän sagte, als er zwei verdächtige Schilling und sechs Pence in kleiner Münze für ’ne echte halbe Krone eingewechselt hatte.“ „Ja, das ist wahr“, versetzte Hiob mit Kopfschütteln. „Die Zeit des Betrügens ist jetzt vorbei, Mr. Weller. Tränen“, fügte er mit einem Anflug alter Verschmitztheit hinzu, „Tränen sind weder die einzigen Beweise von Kummer und Elend, noch die besten.“ „Wissen wir“, erwiderte Sam ausdrucksvoll.

„Man kann sie auch künstlich hervorrufen, Mr. Weller!“

„Sehr richtig bemerkt“, versetzte Sam. „Es gibt Leute, wo sie immer in Bereitschaft halten und den Stöpsel rausziehen können, wann sie wollen.“

„Jaja“, gab Hiob zu, „aber, mein lieber Mr. Weller, diese Dinge lassen sich doch nicht so leicht nachmachen, und es ist ein recht schmerzhafter Prozeß, sie künstlich hervorzurufen.“ Dabei deutete er auf seine blassen, eingesunknen Wangen, schlug seinen Rockärmel zurück und entblößte seinen Arm, der aussah, als ob man ihn ohne Mühe abbrechen könnte, so dünn und spitzig stachen die Knochen unter ihrer dünnen Fleischdecke hervor.

„Was haben Sie bloß mit sich angefangen?“ rief Sam schaudernd.

„Nichts.“

„Nichts?“

„Ich habe schon viele Wochen gar nichts getan“, sagte Hiob, „und beinahe ebensowenig gegessen und getrunken.“

Sam warf einen umfassenden Blick auf Mr. Trotters schmales Gesicht und seine ganze jammervolle Erscheinung, ergriff ihn dann beim Arm und fing an, ihn mit großer Heftigkeit mit sich fortzuziehen.

„Wohin wollen Sie, Mr. Weller?“ ächzte Hiob, vergeblich bemüht, sich dem eisernen Griff seines alten Feindes zu entwinden.

„Kommen Sie mit“, sagte Sam lakonisch, „kommen Sie mit.“

Und er würdigte Hiob keiner weiteren Erklärung, bis sie das „Lauschestübchen“ erreicht hatten, wo er einen Krug Porter kommen ließ.

„Da“, sagte er, „trinken Sie alles bis auf den letzten Tropfen, und denn kehren Sie den Krug um, damit ich sehe, ob Sie die Arznei auch eingenommen haben.“

„Aber mein bester Mr. Weller“, remonstrierte Hiob.

„Runter damit“, befahl Sam gebieterisch.

Gehorsam erhob Mr. Trotter den Krug und leerte ihn in kleinen, beinahe unmerklichen Schlucken bis auf den Grund. Einmal, aber auch nur ein einziges Mal, pausierte er, um einen langen Atemzug zu tun, ohne jedoch zu wagen, die Augen von dem Gefäß zu erheben, das er einige Augenblicke später mit ausgestrecktem Arm umgekehrt hinhielt. Nichts fiel auf den Boden als ein paar Tröpfchen Schaum, die sich langsam vom Rande losmachten und träge hinabträufelten.

„Bravo“, sagte Sam. „Na, wie fühlen Sie sich jetzt?“

„Besser, Sir, ich glaube, besser“, antwortete Hiob.

„Na, selbstredend“, sagte Sam in beweisendem Ton. „Is ja doch, als wenn Gas in einen Luftballong reingelassen wird. Ich kann es mit bloßem Auge sehen, daß Sie schon dicker werden. Was würden Sie zu ’ner zweiten Dosis sagen, ebenso kräftig wie die erste?“

„Ich möchte lieber nicht; ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir“, erwiderte Hiob, „aber ich möchte lieber nicht.“

„Na, meinetwegen“, brummte Sam. „Aber was zwischen die Zähne; was würden Sie davon halten?“

„Dank sei Ihrem guten Herrn, Sir“, antwortete Mr. Trotter, „wir haben heute um drei viertel auf drei eine gebackene Hammelkeule mit Kartoffeln gehabt.“

„Was? Hat er für Sie gesorgt?“ fragte Sam erschüttert.

„Ja, Sir, und noch mehr als das, Mr. Weller. Da mein Herr sehr krank war, hat er ein Zimmer für uns gemietet – wir bewohnten vorher ein wahres Hundeloch – und es bezahlt, Sir; auch ist er bei Nacht zu uns gekommen, damit es niemand erfahren sollte. Ja, Mr. Weller“, fügte Hiob, diesmal mit echten Tränen in den Augen, hinzu, „diesem Herrn könnte ich dienen, bis ich tot zu seinen Füßen niedersänke.“

„Das lassen Sie lieber, mein Freund“, verwies Sam, „kein Wort mehr davon.“

Hiob Trotter sah verwundert auf.

„Kein Wort mehr darüber, junger Mann, sage ich; kein anderer dient bei ihm als wie ich. Und weil wir gerade dabei sind, will ich Ihnen noch in ein Geheimnis einweihen“, fügte Sam hinzu und bezahlte das Bier. „Ich habe niemals gehört oder in Geschichtsbücher gelesen oder auf Gemälde was gesehen von irgendein Engel in eng anliegende Hosen und Gamaschen; nich mal in Komödien, soviel ich mir erinnere – allerdings mag das aus andere Gründe unterlassen worden sein; aber merken Sie es sich, Hiob Trotter, er is trotz alledem ein voll ausgebrüteter Engel, und ich möchte den Mann sehen, wo mir wagen würde zu erzählen, daß er einen besseren kennt.“

Sie fanden Mr. Pickwick auf dem Ballspielplatz, in einem sehr ernsthaften Gespräch mit Jingle begriffen. Er würdigte die buntscheckigen, hier versammelten Gruppen keines Blickes, obschon sie es wohl verdient hätten, daß man sie wenigstens aus Neugierde etwas näher ins Auge gefaßt hätte.

„Nun gut“, sagte er, als Sam und sein Begleiter näher kamen. „Wir werden sehen, wie es mit Ihrer Gesundheit wird, und wollen die Sache inzwischen genauer überlegen. Machen Sie mir einen Überschlag, sobald Sie sich stark genug fühlen; ich will dann darüber nachdenken und weiteres mit Ihnen besprechen. Jetzt gehen Sie auf Ihr Zimmer; Sie sind müde und dürfen nicht zu lange draußen bleiben.“

Ohne ein Wort zu sprechen, ohne einen Funken von seiner alten Lebhaftigkeit oder auch nur von der trübseligen Heiterkeit, die er angenommen hatte, als Mr. Pickwick zum erstenmal in seinem Elend auf ihn gestoßen, verbeugte sich Mr. Alfred Jingle tief, winkte Hiob, ihm noch nicht zu folgen, und schlich sich langsam hinweg.

„Eine kuriose Szene das, nicht wahr, Sam?“ sagte Mr. Pickwick, vergnügt um sich blickend.

„Ja, sehr kurios, Sir“, erwiderte Sam. „Die Wunder hören ja gar nich auf“, fügte er im Selbstgespräch hinzu. „Müßte mich sehr irren, wenn dieser Jingle da sich nich‘ mit dem Wasserkarrengeschäft abgibt.“

Überall schlenderten oder saßen in allen möglichen Stellungen gedankenlosen Nichtstuns eine Menge Schuldner herum, die größtenteils im Gefängnis den Tag zu erwarten hatten, wo ihr Prozeß vor dem Insolvenzgericht verhandelt werden sollte, während andere auf verschiedene Termine verwiesen waren. Einige waren schäbig gekleidet, andre herausgeputzt, die meisten schmutzig und nur wenige reinlich; alle aber hungerten, gingen müßig und schlichen ohne Zweck und Ziel herum wie die Tiere in einer Menagerie.

Schmutzige Weibsbilder mit abgetretenen Schuhen schlapften hin und wieder nach der Küche, die sich in einem Winkel des Ballplatzes befand, Kinder schrien, balgten sich herum und spielten miteinander; das Gerassel fallender Kegel, das Geschrei der Spielenden vermischten sich unaufhörlich mit diesen und hundert andern Tönen – nichts als Getöse und Getümmel ringsumher. Stille herrschte nur in dem kleinen, elenden Schuppen wenige Schritte davon, in dem starr und fahl der Leib des in der vorigen Nacht gestorbenen Kanzleigefangenen lag und das Possenspiel einer Totenschau erwartete. – Der Leib! So lautet der gerichtlich-gesetzliche Ausdruck für die ruhelos wirbelnde Masse von Sorgen und Ängsten, Gemütsbewegungen, Hoffnungen und Kümmernissen, die den lebenden Menschen ausmachen. Dem Gesetz war sein Leib verfallen, und da lag er, ins Grabtuch gehüllt, ein schauderhafter Zeuge für zärtlich-mitleidsvolle Fürsorge.

„Möchten Sie einen Pfeif-Laden sehen, Sir?“ fragte Hiob Trotter.

„Was meinen Sie damit?“ entgegnete Mr. Pickwick.

„Na, ’nen Feifladen, Sir“, warf Mr. Weller ein.

„Was ist denn das, Sam? Eine Vogelhandlung?“ erkundigte sich Mr. Pickwick.

„Himmel! Nein, Sir“, belehrte ihn Hiob und erklärte weiter, daß es bei schwerer Strafe verboten war, Branntwein in die Schuldgefängnisse einzuführen; bei der allgemeinen Beliebtheit, deren sich dieser Herzenstrost jedoch bei den inhaftierten Damen und Herren erfreute, hätte ein weitblickender Schließer den Einfall gehabt, bestimmten Gefangenen gegen entsprechende Beweise ihrer Erkenntlichkeit zu gestatten, diese beliebte Ware zu verhökern. „Dieses Geschäftsgebaren hat sich, wie Sie sehen, Sir, nach und nach in allen Schuldgefängnissen durchgesetzt“, schloß Mr. Trotter.

„Und das is ebend der große Vorteil dabei“, bemerkte Sam, „daß die Schließer jeden am Kragen packen, der wo dieses Laster frönen tut, bloß die nich, wo bar bezahlen, und denn kommt es in die Zeitung, wie wachsam sie sind. Auf die Art klatschen sie zwei Fliegen mit einer Klappe: sie scheuchen andere Leute vom Geschäft weg und verbessern ihr eigenes Ansehen.“

„Nun ja; aber werden denn diese Räumlichkeiten niemals revidiert?“ erkundigte sich Mr. Pickwick.

„Aber natürlich werden sie, Sir“, erwiderte Sam, „aber die Bullen wissen es doch vorher, und denn geben sie den Pfeifern einen Wink, na, und denn können Sie mal nachsehen; da is denn was gepfiffen drauf.“

Unterdessen hatte Hiob an eine Tür geklopft, die von einem Herrn mit ungekämmtem Haar geöffnet und nach ihrem Eintritt verriegelt worden war. Sodann grinsten Hiob und Sam einträchtig, worauf Mr. Pickwick in der Annahme, man erwarte das auch von ihm, gleichfalls ein Lächeln aufsetzte.

Der Herr mit dem strubbligen Kopf schien mit diesem zarten geschäftlichen Hinweis völlig zufrieden zu sein, denn er praktizierte eine flache Kruke unter seiner Lagerstatt hervor und füllte drei Gläser mit Gin.

„Noch einen?“ fragte der Pfeifer.

„Keinen mehr“, antwortete Trotter.

Mr. Pickwick bezahlte, die Tür wurde wieder geöffnet, und sie traten hinaus. Im gleichen Augenblick kam zufällig Mr. Roker vorbei. Der ungekämmte Herr gönnte ihm ein wohlwollendes Kopfnicken.

Mr. Pickwick durchwanderte noch sämtliche Galerien, ging alle Treppen auf und ab und machte noch einmal die Runde um den ganzen Hofraum. Die große Masse der Bevölkerung des Gefängnisses schien dem Schlage der Mivins oder Smangle, des Kaplans, des Metzgers oder des Roßkamms anzugehören. In allen Winkeln, den besten wie den schlechtesten, derselbe Schmutz, dasselbe Getümmel und Getöse, dieselben charakteristischen Merkmale. Auf dem ganzen Platz ein ruhelos-verworrenes Treiben; die Menschen drängten und wälzten sich hin und her, gleich den Schatten in einem unbehaglichen Traum.

„Jetzt habe ich genug gesehen“, seufzte Mr. Pickwick, als er sich in seinem kleinen Zimmer in einen Stuhl warf. „Der Kopf tut mir weh von all diesen Szenen, und das Herz nicht minder. Ich will hinfort auf meinem eigenen Stübchen Gefangener bleiben.“

Und standhaft beharrte er auf diesem Beschlüsse. Drei lange Monate blieb er den ganzen Tag eingeschlossen und stahl sich bloß bei Nacht, wenn der größere Teil seiner Mitgefangenen im Bett war oder auf seinen Zimmern zechte, hinaus, um frische Luft zu schöpfen. Seine Gesundheit begann infolge dieses selbstauferlegten strengen Gewahrsams sichtbar zu leiden; allein weder die vielfach wiederholten Bitten Perkers und seiner Freunde noch die weit häufigeren Warnungen und Mahnungen Mr. Samuel Wellers konnten ihn dazu bringen, auch nur ein Jota an seinem unbeugsamen Entschluß zu ändern.

Vierundvierzigstes Kapitel


Vierundvierzigstes Kapitel

Ein erschütternder, wenn auch nicht unlustiger Vorfall, herbeigeführt durch die Umsicht der Herren Dodson und Fogg.

Es war in der letzten Woche des Monats Juli, als eine Droschke, jedoch eine umnumerierte, in raschem Trab die Goswellstreet hinauffuhr. Drei Personen waren hineingepreßt – den Kutscher nicht eingerechnet, der natürlich seinen engen kleinen Außensitz auf der Seite innehatte –, zwei kleine, kampflustig aussehende Damen, und zwischen ihnen eingezwängt, auf einen äußerst kleinen Raum beschränkt, ein Gentleman von linkischem, unterwürfigem Benehmen, der jedesmal, wenn er eine Bemerkung wagte, von einer der kampflustigen Damen barsch angelassen wurde. „An dem Haus mit der grünen Tür halten Sie an, Schwager“, rief der schüchterne Gentleman.

„Ach was, du verdrehtes Geschöpf!“ keifte die eine der streitsüchtigen Damen. „Nein, an dem Haus mit der gelben Tür, Kutscher!“

„Na, wo soll ich denn nu eigentlich anhalten?“ fragte der Rosselenker. „Machen Sie es unter sich aus. Ich frage bloß, wo?“

Als die Droschke endlich in vollem Glanz vor dem Haus mit der gelben Tür vorfuhr, wobei sie, wie eine der Damen triumphierend bemerkte, „mehr Lärm machte, als wenn einer in seinem eigenen Wagen ankommt“, und der Kutscher abgestiegen war, um den Fahrgästen herauszuhelfen, schob sich der kleine Rundkopf Master Thomas Bardells zum Fenster eines Hauses mit einer roten Tür, wenige Nummern weiter, heraus.

„Eine ärgerliche Geschichte“, sagte die letzterwähnte keifende Dame mit einem vernichtenden Blick auf den linkischen Gentleman.

„Ich bin unschuldig, liebe Frau“, beteuerte der Gentleman bekniffen.

„Schweig, Schafskopf!“ herrschte ihn die Dame an. „Das Haus mit der roten Tür, Kutscher! Wenn je eine Frau sich mit einem boshaften Taugenichts angeschmiert hat, der seinen Stolz und sein Vergnügen darin sucht, sie bei jeder möglichen Gelegenheit vor Fremden zu blamieren, so bin ich’s!“

„Sie sollten sich schämen, Raddle“, ermahnte die andre Dame, die niemand anders war als Mrs. Cluppins.

„Was hab ich denn getan?“ jammerte Mr. Raddle.

„Sprich nicht mit mir, Scheusal; ich könnte sonst mein Geschlecht vergessen und dir eine runterhauen“, tobte Mrs. Raddle.

Der Wagen hielt jetzt endgültig.

„Nun, Tommy“, wandte sich Mrs. Cluppins an Master Bardell, „wie geht’s deiner lieben, armen Mutter?“

„Oh, sehr gut“, erwiderte Master Bardell, „sie is im Vorderzimmer; alles bereit. Ich bin auch bereit.“

Dabei steckte Master Bardell die Hände in die Taschen und hüpfte auf der untersten Stufe der Vortreppe auf und nieder.

„Sonst noch jemand da, Tommy“, verhörte Mrs. Cluppins und ordnete ihren Mantel.

„Mrs. Sanders“, erwiderte Tommy. „Und ich.“

„Der Mistbub!“ sagte die kleine Mrs. Cluppins. „Er denkt an nichts als an sich selbst. Komm her, lieber Tommy!“

„Na, und“, sagte Master Bardell.

„Wer sonst noch, mein Lieber?“ fuhr Mrs. Cluppins schmeichelnd zu fragen fort.

„Mrs. Rogers auch“, gestand Master Bardell, die Augen weit aufreißend, als er mit dieser Entdeckung herausrückte.

„Wie? Die Dame, die bei euch wohnt?“

Master Bardell steckte seine Hände noch tiefer in die Taschen und nickte genau fünfunddreißigmal, um anzudeuten, daß es wirklich diese Dame und keine andre sei.

„Wahrhaftig“, rief Mrs. Cluppins, „das ist ja eine feine Gesellschaft!“

„Ja, und wenn Sie wüßten, was wir in der Speisekammer haben, dann würden Sie das erst recht sagen“, versetzte Master Bardell.

„Was denn, Tommy?“ forschte Mrs. Cluppins liebkosend „Nicht wahr, mir sagst du’s doch, Tommy?“

„Nein, nein“, erwiderte Master Bardell, schüttelte den Kopf und hüpfte wieder auf der Türschwelle auf und ab. „Die Mutter hat gesagt, ich darf nicht. Ich krieg auch was davon.“ Und voll Freude über diese Aussichten machte sich das kluge Kind lebhaft wieder an seine Tretmühle. Während dieses Verhörs mit dem Kleinen hatten Mr. und Mrs. Raddle mit dem Kutscher einen Streit wegen des Fuhrlohns, und als der Sieg sich für den letzteren entschied, wankte Mrs. Raddle die Treppe hinauf.

„Aber, Marianne! Was ist denn geschehen?“ rief Mrs. Cluppins.

„Mir zittern die Knie vor Aufregung, Betty“, stöhnte Mrs. Raddle. „Raddle ist doch gar kein Mann; alles überläßt er mir.“

Das war nicht edel an dem unglücklichen Mr. Raddle gehandelt, der doch bei Beginn des Streits von seiner sanften Ehehälfte zur Seite gestoßen worden war und den peremtorischen Befehl erhalten hatte, den Mund zu halten. Gleichwohl war ihm keine Gelegenheit vergönnt, sich zu verteidigen, denn an Mrs. Raddle zeigten sich unzweideutige Symptome einer nahenden Ohnmacht, und als Mrs. Bardell, Mrs. Sanders, die neue Mieterin, und ihre Magd vom Zimmerfenster aus dies bemerkten, stürzten sie wie die Geier hinab und führten sie ins Haus, alle zugleich auf sie einsprechend und voll rührenden Mitgefühls.

„Ach, das arme Ding!“ jammerte Mrs. Rogers. „Ich kann mir nur zu gut denken, wie es ihr zumute sein mag.“

„Das arme Ding! Ja, ich kann mir’s auch denken“, stimmte Mrs. Sanders ein.

„Aber was hat’s denn gegeben?“ fragte Mrs. Bardell.

„Ja, was hat Sie so angegriffen, Ma’am?“ fragte Mrs. Rogers.

„Ach, ich bin abscheulich mißhandelt worden“, jammerte Mrs. Raddle, und sämtliche Damen warfen entrüstete Blicke auf Mr. Raddle.

„Die Sache ist die…“, wollte der unglückliche Ehegatte erklären.

„Sie würden besser daran tun, sie ganz uns zu überlassen, Raddle“, unterbrach ihn Mrs. Cluppins. „So lange Sie da sind, wird es ihr nicht besser.“

Sämtliche Damen stimmten dieser Ansicht natürlich bei. Mr. Raddle wurde aus dem Zimmer getrieben und angewiesen, sich im hintern Hofraum zu ergehen, was er auch etwa eine Viertelstunde getan hatte, als Mrs. Bardell ihm mit ernster Miene ankündigte, er könne jetzt kommen, müsse aber im Benehmen gegen seine Frau die äußerste Rücksicht beobachten. Sie wisse, daß er es nicht böse meine, aber Marianne sei eine gar zarte Natur, und wenn er sie nicht aufs sorgsamste behandle, so könne er sie verlieren, wenn er am wenigsten daran denke.

Mr. Raddle hörte dies alles mit großer Unterwürfigkeit an und kehrte, gebändigt und fromm wie ein Lamm, sogleich ins Zimmer zurück. „Nun, Mrs. Rogers“, begann Mrs. Bardell, „Sie sind, glaube ich, noch gar nicht vorgestellt worden. – Mr. Raddle, Ma’am; Mrs. Cluppins, Ma’am; Mrs. Raddle, Ma’am.“

„Mrs. Cluppins‘ Schwester“, fügte Mrs. Sanders erläuternd hinzu.

„Freut mich“, sagte Mrs. Rogers gnädig – sie war nämlich Mieterin und durfte sich daher erlauben, herablassend zu sein. „Ah, freut mich.“

Mrs. Raddle lächelte süß, Mr. Raddle verbeugte sich, und Mrs. Cluppins sagte, sie schätze sich äußerst glücklich, die Bekanntschaft einer Dame wie Mrs. Rogers zu machen, von der sie schon soviel Vorteilhaftes gehört habe – ein Kompliment, das die Dame mit Huld entgegennahm.

„Nun, Mr. Raddle“, nahm Mrs. Bardell das Wort, „Sie werden sich gewiß hochgeehrt fühlen, daß Sie und Tommy die einzigen Herren sind, die so viele Damen auf dem Weg nach dem Spanischen Garten in Hampstead begleiten dürfen. Nicht wahr, Mrs. Rogers?“

„Oh, selbstverständlich, Ma’am“, rief Mr. Raddle, sich die Hände reibend und eine leise Neigung verratend, ein bißchen lustig zu werden. „In der Tat, um die Wahrheit zu gestehen, ich sagte, als wir in der Droschke …“

Bei Wiederholung dieses Wortes, das so viele schmerzhafte Erinnerungen wecken mußte, drückte Mrs. Raddle ihr Taschentuch aufs neue an die Augen und stieß einen halbunterdrückten Schrei aus, so daß Mrs. Bardell Mr. Raddle mit finsterem Stirnrunzeln zu erkennen gab, er würde besser tun, zu schweigen, und dem Mädchen der Mrs. Rogers einen Wink erteilte, den Wein zu bringen.

Das war das Signal zur Enthüllung der in der Speisekammer verborgenen Schätze, die aus verschiedenen Platten Apfelsinen und Biskuit bestanden, nebst einer Flasche alten Portwein – zu einem Schilling und neun Pence – und einer andern von dem berühmten ostindischen Sherry zu vierzehn Pence. Nachdem Mrs. Cluppins noch einen großen Schrecken ausgestanden hatte durch einen Versuch Tommys, auszuplaudern, wie sie ihn über den Inhalt der Speisekammer hatte ausfragen wollen – ein Versuch, der zum Glück daran scheiterte, daß der liebe Junge sich bei dem alten Portwein verschluckte und beinah erstickte.

Endlich brach die Gesellschaft auf, um einen Landauer nach Hampstead zu nehmen. Ein paar Stunden später langten alle wohlbehalten im Spanischen Teegarten an, und des unglücklichen Mr. Raddles erster Fehlgriff, der seiner Gemahlin beinahe einen Rückfall zuzog, war, sieben Portionen Tee zu bestellen, wo doch, wie die Damen alle einstimmig bemerkten, nichts leichter gewesen wäre, als Tommy aus irgendeiner andern beliebigen Tasse mittrinken zu lassen, wenn der Kellner gerade weggesehen hätte.

Indessen ließ sich die Sache nun einmal nicht mehr ändern; das Teebrett kam mit sieben Ober- und sieben Untertassen und ebenso vielen Portionen Brot und Butter. Mrs. Bardell wurde einstimmig zur Präsidentin ernannt, Mrs. Rogers goß sich zu ihrer Rechten, Mrs. Raddle zu ihrer Linken hin, und der Schmaus ging mit großer Fröhlichkeit vor sich.

„Wie herrlich es doch auf dem Lande ist!“ seufzte Mrs. Rogers. „Ich möchte das ganze Jahr da leben.“

„Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein, Ma’am“, fiel Mrs. Bardell schnell ein; denn aus Rücksicht auf ihre zu vermietenden Wohnräume war es durchaus nicht ratsam, solche Ansichten zu unterstützen. „Es würde Ihnen sicher nicht gefallen, Ma’am.“

„Meiner Ansicht nach“, bekräftigte die kleine Mrs. Cluppins, „sind Sie viel zu lebhaft und umworben, um gerne auf dem Lande zu wohnen, Ma’am.“

„Ja, das mag sein, Ma’am, das mag sein“, seufzte die Bewohnerin des ersten Stocks.

„Für einsame Leute, wo niemand haben, der für sie sorgt oder für den sie selbst sorgen müssen, oder die gemütskrank sind oder so“, bemerkte Mr. Raddle, mit krampfhafter Lustigkeit um sich blickend, „für solche Leute ist das Landleben ganz gut. Das Land ist für ein verwundetes Herz, pflegt man zu sagen.“

Der Unglückliche hätte alles in der Welt zur Sprache bringen können, nur gerade das nicht. Mrs. Bardell brach prompt in Tränen aus und bat, man möge sie augenblicklich vom Tisch wegführen, worauf ihr süßer Sprößling jämmerlich zu schreien begann.

„Sollte man es glauben, Ma’am“, wandte sich Mrs. Raddle ingrimmig an die Mieterin des ersten Stockes, „sollte man es glauben, daß man einen so rohen Menschen zum Mann haben kann, der imstande ist, den ganzen Tag mit den Gefühlen des weiblichen Herzens Spott zu treiben?“

„Aber, meine liebe Frau“, stammelte Mr. Raddle. „Ich habe es doch nicht bös gemeint!“

„Nicht bös gemeint!“ wiederholte Mrs. Raddle mit unaussprechlicher Verachtung. „Geh mir aus den Augen, ich kann dich nicht mehr ansehen, du Scheusal.“

„Sie dürfen sich nicht so aufregen, Marianne!“ mahnte Mrs. Cluppins. „Sie sollten wirklich auf sich selbst mehr Rücksicht nehmen. – Gehen Sie jetzt, Raddle, Sie machen der Ärmsten immer Kummer.“

„Sie hätten besser daran getan, Sir, Ihren Tee für sich allein zu trinken“, schloß sich Mrs. Rogers an, die dampfende Kanne aufs neue handhabend.

Mrs. Sanders, ihrer Gewohnheit gemäß mit dem Butterbrot beschäftigt, drückte dieselbe Ansicht aus, und Mr. Raddle zog sich demgemäß in die Einsamkeit zurück.

Es dauerte nicht lange, da kam Mrs. Bardell wieder zu sich, stellte Tommy wieder auf den Boden, wunderte sich, daß sie habe so närrisch sein können, und schenkte sich wieder Tee ein. In diesem Augenblick vernahm man das Gerassel herannahender Räder. Die Damen blickten auf und sahen eine Droschke am Gartentor halten.

„Da kommt noch mehr Gesellschaft“, rief Mrs. Sanders neugierig.

„Es ist ein Herr“, bemerkte Mrs. Raddle.

„Aber das ist doch bestimmt Mr. Jackson, der junge Schreiber von Dodson und Fogg!“ rief Mrs. Bardell. „Himmel noch mal! Sicher hat Mr. Pickwick die Entschädigung gezahlt.“

„Oder er will Sie jetzt heiraten?“ riet Mrs. Cluppins.

„Himmel, wie langsam der Herr ist!“ rief Mrs. Rogers. „Warum tummelt er sich denn nicht?“

Gerade während sie diese Worte sprach, wandte sich Mr. Jackson, nachdem er einige Bemerkungen an einen schäbig gekleideten Mann in schwarzen Hosen gerichtet hatte, der soeben mit einem dicken Eschenstab in der Hand aus dem Wagen aufgetaucht war, um und ging, die Haare unter den Rand seines Hutes streichend, direkt auf die Damen zu.

„Was gibt’s. Is was Neues vorgefallen?“ rief ihm Mrs. Bardell voll Eifer entgegen.

„Ganz und gar nichts, Ma’am“, erwiderte Mr. Jackson. „Wie befinden Sie sich, meine Damen? Ich muß um Verzeihung bitten, wenn ich ungelegen komme; aber das Geschäft, meine Damen, das Geschäft!“

Mr. Jackson lächelte, verbeugte sich und strich sein Haar abermals hinauf. Mrs. Rogers flüsterte Mrs. Raddle zu, er sei wirklich ein scharmanter junger Mann.

„Ich war in der Goswellstreet“, fuhr Jackson fort, „und da ich von dem Dienstmädchen hörte, daß Sie hier seien, nahm ich mir sogleich eine Droschke und fuhr Ihnen nach. Meine Prinzipale bedürfen Ihrer sogleich in der Stadt, Madam.“

„Um Gottes willen!“ rief Mrs. Bardell, ganz erschrocken über diese plötzliche Mitteilung.

„Jaja“, sagte Jackson und biß sich in die Lippen, „es ist eine sehr dringende Sache, die keine Umstände duldet. Dodson hat es mir ausdrücklich eingeschärft, und Fogg ebenfalls. Ich habe die Droschke eigens deswegen genommen, um Sie nach London zurückzufahren.“

„Seltsam!“ rief Mrs. Bardell.

Die Damen erklärten es ebenfalls für sehr seltsam, sprachen aber einstimmig ihre Ansicht dahin aus, die Sache müsse von großer Wichtigkeit sein, sonst würden Dodson und Fogg nicht nach ihr geschickt haben, und wegen dieser Dringlichkeit des Geschäfts solle sie sich nur unverzüglich in die Kanzlei begeben.

Es war Mrs. Bardell keineswegs unlieb, daß ihre Rechtsfreunde so erschrecklich dringend nach ihr verlangten, denn sie glaubte dadurch sowohl überhaupt als namentlich auch in den Augen der Bewohnerin ihres ersten Stocks bedeutend an Wichtigkeit zu gewinnen, ein Gedanke, der ihrer Eitelkeit nicht wenig schmeichelte. Sie zierte sich ein bißchen, stellte sich, als ob es ihr höchst unangenehm sei und sie sich nicht entschließen könne, kam aber doch zuletzt zu dem Schluß, sie glaube, gehen zu müssen.

„Aber wollen Sie nach Ihrer Fahrt nicht eine kleine Erfrischung einnehmen, Mr. Jackson?“ drängte sie.

„Danke vielmals, habe wirklich keine Zeit zu verlieren. Auch habe ich einen Freund bei mir“, erwiderte Jackson und blickte nach dem Mann mit dem Eschenstab.

„So bitten Sie doch Ihren Freund, hierherzukommen, Sir“, schlug Mrs. Bardell vor.

„Nein – wirklich – ich danke“, lehnte Mr. Jackson verlegen ab. „Er ist an Damengesellschaft nicht gewöhnt und ein bißchen blöde. Aber wollen wir nicht lieber aufbrechen?“

Mrs. Sanders und Mrs. Cluppins beschlossen sofort, Mrs. Bardell und Tommy zu begleiten und die übrigen dem Schutz Mr. Raddles zu überlassen, und verfügten sich zu dem Wagen.

„Isaak“, sagte Jackson, als Mrs. Bardell sich anschickte, einzusteigen, und blickte dabei den Mann mit dem Eschenstab eigentümlich an, der auf dem Bock saß und eine Zigarre rauchte.

„Sir?“

Dies ist Mrs. Bardell!“

„Weiß ich schon lange“, meinte der Mann.

Mrs. Bardell stieg ein, die Damen, Mr. Jackson und Tommy gleichfalls, und fort ging’s. Mrs. Bardell konnte dabei nicht umhin, sich allerhand Gedanken darüber zu machen, wer Mr. Jacksons Freund wohl sein könne.

„Eine verdrießliche Sache das mit den Prozeßkosten“, begann Jackson, als Mrs. Cluppins und Mrs. Sanders eingenickt waren. „Die Kosten für Ihren Prozeß, meine ich.“

„Ach, das ist mir ja so peinlich, daß sie nicht drankommen können“, versetzte Mrs. Bardell. „Aber wenn ihr juristischen Herren solche Sachen auf Spekulation macht, dann müßt ihr euch eben hin und wieder auch einen Verlust gefallen lassen.“

„Sie haben aber doch, soviel ich weiß, nach dem Prozeß ein Cognovit für die Kosten ausgestellt“, sagte Jackson.

„Ja, aber bloß der Form wegen.“

„Soso“, versetzte Jackson trocken, „der Form wegen! Soso!“

Sie fuhren weiter, und Mrs. Bardell nickte ebenfalls ein. Nach einiger Zeit wurde sie durch das Anhalten der Kutsche plötzlich aufgeweckt. „Heiliger Himmel!“ rief die Dame. „Sind wir denn schon da?“

„Wir fahren nicht ganz so weit“, erwiderte Jackson. „Haben Sie nur die Güte, auszusteigen.“

Mrs. Bardell gehorchte schlaftrunken. Es war ein sonderbarer Platz; eine große Mauer, mit einem Tor in der Mitte, und innen brannte ein Gaslicht.

„Nun, meine Damen“, rief der Mann mit dem Eschenstab in die Kutsche hinein und rüttelte Mrs. Sanders aus dem Schlaf, „kommen Sie!“

Mrs. Sanders weckte ihre Freundin und stieg aus. Mrs. Bardell war, an Jacksons Arm und Tommy bei der Hand führend, bereits zum Portal gegangen. Die übrigen folgten ihnen.

Der Raum, in den sie jetzt traten, sah noch weit sonderbarer aus als der Eingang. Warum standen so viele Leute herum und starrten sie so an!? „Wo sind wir denn?“ fragte Mrs. Bardell und blieb er1 staunt stehen.

„Bloß in einem unsrer öffentlichen Büros“, erwiderte Jackson, drängte sie schnell über die Schwelle und blickte zurück, ob die übrigen Damen nachfolgten.

„Geben Sie wohl acht, Isaak!“

„Machen Sie sich man keine Sorgen“, erwiderte der Mann mit dem Eschenstab. Die Türe wurde rasch zugeschlagen, und alle stiegen eine kleine Treppe hinab.

„So, jetzt wären wir da. Es ist alles nach Wunsch gegangen, Mrs. Bardell“, sagte Jackson voll Triumph.

„Was meinen Sie damit?“ fragte Mrs. Bardell ängstlich.

„Nichts Besonderes“, erwiderte Jackson und zog sie ein bißchen beiseite. „Erschrecken Sie nicht, Mrs. Bardell. Es gibt keinen zartfühlenderen Mann als Dodson und keinen billigdenkenderen als Fogg. Als Geschäftsleute hatten sie ihre Pflicht, Sie wegen der Kosten pfänden zu lassen; aber sie wollten dabei um jeden Preis Ihre Gefühle möglichst schonen. Es muß doch tröstlich für Sie sein, daß es so glatt gegangen ist! Wir sind in der Fleet, Ma’am. Wünsche Ihnen gute Nacht, Mrs. Bardell. – Gute Nacht, Tommy.“

Da Jackson jetzt in Gesellschaft des Mannes mit dem Eschenstab davoneilte, führte ein andrer Mann, mit einem Schlüssel in der Hand, der bisher untätig zugesehen, die bestürzten Damen an eine zweite kleine Treppe, die zu einem Tor führte.

Mrs. Bardell schrie laut auf, Tommy heulte, Mrs. Cluppins schauerte zusammen, und Mrs. Sanders nahm ohne weiteres Reißaus, denn vor ihnen stand – ‚der schwer beleidigte Mr. Pickwick, eben auf seinem nächtlichen Spaziergang begriffen, und neben ihm lehnte Samuel Weller und zog, als er Mrs. Bardell erblickte, mit spöttischer Ehrerbietung den Hut, während sein Gebieter ihr unwillig den Rücken kehrte.

„Vexieren Sie die Frau nicht“, verwies der Schließer Mr. Weller, „sie is eben erseht ankommen.“

„Als Gefangene?“ fragte Sam und setzte schnell den Hut wieder auf. „Wer sind die Kläger? Warum? Sprich, alter Knabe!“

„Dodson und Fogg“, brummte der Mann. „Exekution wegen Prozeßkosten.“

„He, hallo, Hiob, Hiob!“ schrie Sam und stürzte in den Gang. „Laufen Sie so schnell Sie können zu Mr. Perker. Ich muß ihm sofort sprechen. Das kann was Feines werden. Ein Kapitalspaß! Hurra! Juchhe! Wo ist der Gouverneur?“

Aber alle diese Fragen blieben unbeantwortet; denn Hiob war gleich nach Empfang seines Auftrags wie toll davongerannt.

Mrs. Bardell aber war – diesmal im Ernst – in Ohnmacht gesunken.

Fünfunddreißigstes Kapitel


Fünfunddreißigstes Kapitel

Enthält eine authentische Version des Märchens vom Prinzen Bladud und zugleich ein höchst merkwürdiges Malheur, das Mr. Winkle widerfuhr.

Da Mr. Pickwick wenigstens zwei Monate in Bath zu bleiben gedachte, hielt er es für ratsam, für sich und seine Freunde eine Privatwohnung zu nehmen; er mietete daher, sobald sich eine günstige Gelegenheit ergab, den oberen Stock eines Hauses in Royal Crescent, zusammen mit Mr. Dowler und Gemahlin, da mehr als genügend Raum vorhanden war. Hierauf begann er mit größtem Eifer die Brunnenkur und erklärte nach jedem Becher zum größten Entzücken seiner Freunde aufs feierlichste und nachdrücklichste, er fühle sich bereits bedeutend besser, obgleich niemand vorher etwas von einer Unpäßlichkeit an ihm bemerkt hatte.

Eines Abends nun saß er, nachdem seine Freunde schlafen gegangen, mit seinen Aufzeichnungen beschäftigt, noch auf, drückte daß Fließpapier sorgfältig auf die letzte Seite, schloß das Tagebuch, wischte die Feder an seinem untern Rockfutter ab und öffnete die Schublade des Schreibpultes, um es hineinzulegen. Dabei fiel ihm ein beschriebener Bogen Papier in die Augen, der, nach dem Titel zu schließen, kein Privatdokument war und überdies Bezug auf Bath zu haben schien. Da er noch nicht müde war, beschloß er, es durchzulesen rückte seinen Stuhl näher ans Feuer.

DIE WAHRHAFTIGE GESCHICHTE VOM PRINZEN BLADUD

Vor nicht ganz zweihundert Jahren las man auf einem der öffentlichen Badeanstalten in dieser Stadt eine nunmehr verschwundene Inschrift zu Ehren ihres mächtigen Erbauers, des berühmten Prinzen Bladud.

Schon viele hundert Jahre vorher hatte sich von Generation zu Generation eine alte Sage vererbt, der erlauchte Prinz habe, weil er mit dem Aussatz behaftet gewesen, nach seiner Rückkehr von dem alten Athen, allwo er sich eine reiche Ernte von Kenntnissen gesammelt, den Hof seines königlichen Vaters gemieden und trübsinnig unter Hirten und Schweinen gelebt. Unter der Herde nun befand sich, so erzählt die Legende, ein Schwein mit einer ernsten feierlichen Miene, mit dem der Prinz außerordentlich sympathisierte – denn auch er war sehr ernster Sinnesart –, ein Schwein von nachdenklichem, zurückhaltendem Wesen, ein Tier, das allen andern weit überlegen war und ebenso schrecklich zu grunzen wie zu beißen verstand. Der junge Prinz seufzte tief, als er das Gesicht des majestätischen Schweines erblickte, denn es gemahnte ihn an seinen königlichen Vater, und seine Augen betauten sich mit Tränen.

Dieses kluge Schwein badete sich gerne in tiefem Schlamm, aber nicht nur im Sommer, wie gewöhnliche Schweine es auch heute noch lieben, um sich abzukühlen, und schon in jenen fernen Zeiten taten – ein Beweis, daß das Licht der Zivilisation schon damals, wiewohl nur schwach, emporzudämmern begonnen hatte –, sondern auch in schneidend kalten Wintertagen. Es hatte immer einen so reinen Teint und sah so gesund aus, daß der Prinz sich entschloß, die reinigenden Kräfte desselben Wassers zu erproben, dessen sich sein Freund bediente.

Unter dem schwarzen Schlamm sprudelten die heißen Quellen von Bath.

Der Prinz badete sich und wurde geheilt. Unverzüglich eilte er an den Hof seines Vaters, bezeugte ihm seine Ehrfurcht, kehrte aber schnell wieder zurück und gründete diese Stadt mit ihren berühmten Bädern.

Dann suchte er das naturkundige Schwein in alter treuer Freundschaft auf – aber ach, das Wasser war sein Tod geworden. Es hatte unvorsichtigerweise bei zu heißer Temperatur ein Bad genommen, wie in späterer Zeit nach ihm, wie die Geschichte erzählt, Plinius, der ebenfalls ein Opfer seines Durstes nach Erkenntnis wurde. Soweit die Sage.

Mr. Pickwick gähnte laut, faltete das kleine Manuskript sorgfältig wieder zusammen, legte es an seinen alten Platz in die Schublade des Schreibtisches, zündete sodann mit einem Gesicht, auf dem die äußerste Müdigkeit zu lesen war, sein Nachtlicht an und begab sich die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer.

Vor Mr. Dowlers Tür blieb er wie gewöhnlich stehen und klopfte an, um ihm gute Nacht zu wünschen.

„Ah“, rief Mr. Dowler, „Sie gehen ins Bett? Ich wollte, ich läge schon drin. Eine widerwärtige Nacht. Was? Sehr windig, nicht?“

„Ja“, versetzte Mr. Pickwick, „also, gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Mr. Pickwick ging in sein Schlafzimmer und Mr. Dowler blieb, einem übereilten Versprechen, bis zur Rückkehr seiner Gemahlin wach bleiben zu wollen, noch auf.

Es gibt nicht leicht etwas Unangenehmeres, als nachts auf jemand zu warten, besonders wenn dieser Jemand in Gesellschaft ist. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, wie schnell den Leuten dort die Zeit vergeht, die sich für einen selbst träge dahinschleppt, und je mehr man daran denkt, desto mehr schwindet die Hoffnung auf die baldige Ankunft des Erwarteten. Auch ticken die Uhren so laut, wenn man so allein dasitzt, und man meint, lauter Spinnen kröchen einem den Leib entlang. Zuerst juckt es einen am rechten Knie und dann stellt sich derselbe Reiz am linken ein. Ändert man seine Stellung, so kriecht es einem in die Arme, und wenn man seine Beine in allen möglichen Richtungen die Kreuz und die Quere herumgeworfen hat, so juckt es einen plötzlich an der Nase, daß man sie am liebsten wegreiben möchte. Auch die Augen fangen an zu brennen, und der Docht eines Lichtes wird anderthalb Zoll lang, ehe man ihn putzt. Solche und andre kleine Nervenstimmungen machen das lange Aufbleiben, wenn alle übrigen schon zu Bett gegangen sind, keinesfalls zu einem lustigen Zeitvertreib.

So dachte auch Mr. Dowler, als er vor dem Kamin saß, und ärgerte sich im Innersten seines Herzens über all die gefühllosen Leute auf dem Ball, die ihn so lange des Schlafes beraubten. Seine Laune wurde nicht verbessert durch den Gedanken, daß er am Abend Kopfweh vorgeschützt hatte, um zu Hause bleiben zu können. Endlich, nachdem er zu wiederholten Malen eingenickt und mit der Stirn an das Kamingitter gestoßen, aber immer wieder rechtzeitig zurückgefahren war, um sich das Gesicht nicht zu verbrennen, beschloß er, sich auf das Bett im Hinterzimmer zu legen und daselbst seinen Gedanken nachzuhängen – beileibe nicht etwa, um zu schlafen.

Ich habe einen harten Schlaf, sagte sich Mr. Dowler, als er sich in die Kissen warf. Ich muß wach bleiben und werde von hier das Klopfen wohl hören können. Natürlich ja, höre ich doch den Nachtwächter unten auf und ab schreiten. – Jetzt schon leiser. – Eben geht er um die Ecke. Ah! Als Mr. Dowler so weit in seinen Beobachtungen gekommen, war auch er bereits um die Ecke, das heißt in festem Schlaf.

Schlag drei Uhr wurde eine Sänfte, mit Mrs. Dowler darin, vor das Haus gebracht. Die Träger waren ein kurzer fetter Knirps und ein baumlanger Bursche, die auf dem Wege viel Mühe hatten, ihre Körper und vollends gar die Sänfte lotrecht zu halten, denn auf der Höhe und in der Nähe von Crescent wütete und stürmte der Wind so abscheulich, als wollte er das Straßenpflaster aufreißen. Sie waren daher herzlich froh, ihre Last endlich an Ort und Stelle niedersetzen zu können, und fingen an, mit dem Klopfer die Tür zu bearbeiten.

„Das Gesinde liegt in Morphiums Armen, scheint’s“, sagte der kurze Sänftenträger und wärmte sich während des Wartens die Hände an der Flamme des begleitenden Fackeljungen.

Aber niemand kam. Alles war still und finster wie zuvor.

„Mein Gott“, sagte Mrs. Dowler, „Sie müssen eben noch einmal klopfen.“

„Ist vielleicht eine Glocke da?“ fragte der Kurze.

„Natürlich is eine da“, fiel der Fackelträger ein, „ich habe doch in einem fort daran geläutet.“

„Bloß der Handgriff ist da“, erklärte Mrs. Dowler, „der Draht ist zerbrochen.“

„Ich wollte, Ihrer Dienerschaft wären die Köpfe zerbrochen“, knurrte der Lange.

„Ich muß Sie bemühen, gefälligst noch einmal zu klopfen“, wiederholte Mrs. Dowler mit der größten Höflichkeit.

Der Kurze klopfte noch mehrere Male, aber ohne den geringsten Erfolg. Dem Langen riß endlich die Geduld, er löste ihn ab und klopfte in einem fort mit gewaltigen Doppelschlägen an die Türe wie ein wahnsinniger Briefträger.

Endlich begann Mr. Winkle zu träumen, er sei in einem Klub; die Mitglieder hätten Streit miteinander bekommen, und der Präsident sei genötigt, gewaltig auf den Tisch zu hämmern, um die Ordnung wiederherzustellen; sodann schwebte ihm dunkel ein Auktionszimmer vor, in dem es an Kauflustigen fehlte und der Auktionator alles selbst erstehen mußte, und endlich fing er an zu denken, es könne in den Grenzen der Möglichkeit liegen, daß jemand an die Haustür klopfe. Um jedoch ganz sicher zu gehen, blieb er noch etwa zehn Minuten ruhig im Bett und horchte. Erst als er zwei- oder dreiunddreißig Schläge gezählt hatte, gab er sich zufrieden und bildete sich nicht wenig auf seine Wachsamkeit ein.

„Rap rap-rap rap-rap rap-ra, ra, ra, ra, ra, rap“, erschallte der Klopfer an der Haustür.

Höchlich verwundert, was das wohl zu bedeuten haben könne, sprang Mr. Winkle aus den Federn, zog schleunigst Strümpfe und Pantoffeln an, wickelte sich in seinen Schlafrock, zündete an dem Nachtlicht, das auf dem Kamin brannte, eine kleine Kerze an und eilte die Treppe hinab. „Endlich kommt jemand, Ma’am“, meldete der kurze Sänftenträger.

„Ich wollte, ich wäre mit der Hetzpeitsche hinter ihm her“, murrte der Lange.

„Wer ist draußen?“ rief Mr. Winkle und mühte sich ab, den Riegel zurückzuschieben.

„Frag nich lang, du Schafskopf“, erwiderte ärgerlich der Lange, der nicht anders glaubte, als der Fragende sei ein Bedienter, „aufgemacht!“

„Vorwärts! Schnell! Du Faultier!“ fügte der Kurze aufmunternd hinzu.

Mr. Winkle, noch halb im Schlaf, gehorchte mechanisch, öffnete die Tür ein wenig und blickte hinaus. Das erste, was er sah, war der rote Glanz der Fackel. Bei diesem unerwarteten Anblick erschrak er, und in der Meinung, das Haus stehe in Flammen, stieß er schnell die Tür weit auf, hielt das Licht über seinen Kopf empor und starrte geradeaus vor sich hin, ohne sich darüber klarwerden zu können, ob das, was er erblickte, eine Sänfte sei oder eine Feuerspritze. In diesem Augenblick kam ein heftiger Windstoß, das Licht erlosch, Mr. Winkle fühlte sich unwiderstehlich auf die Stufen vor der Haustür hingetrieben, und die Tür selbst schlug mit lautem Krachen hinter ihm zu.

„Da haben Sie’s, junger Mann“, sagte der Kurze.

Als Mr. Winkle durch das Fenster der Sänfte hindurch das Gesicht einer Dame erblickte, wandte er sich eiligst um, klopfte aus Leibeskräften an das Tor und schrie den Trägern wie wahnsinnig zu, sie sollten mit der Sänfte ihres Weges gehen.

„Fort! Fort!“ rief er ängstlich. „Da kommt jemand des Weges! Laßt mich in die Sänfte hinein. Versteckt mich, helft mir!“ – Dabei schauerte er vor Kälte, und jedesmal, wenn er die Hand nach dem Klopfer erhob, faßte der Wind auf eine höchst unzarte Weise seinen Schlafrock. – „Da kommen ja Leute. Es sind Damen darunter; bedeckt mich doch mit irgend etwas; stellt euch vor mich hin!“

Allein die Sänftenträger waren zu sehr durch Lachen in Anspruch genommen, als daß sie den geringsten Beistand hätten leisten können, und die Damen kamen mit jedem Augenblick näher und immer näher.

Mr. Winkle tat einen letzten verzweifelten Schlag an die Tür – die Damen waren nur noch um einige Häuser weit entfernt –, warf das ausgelöschte Licht, das er die ganze Zeit hindurch über seinen Kopf emporgehalten hatte, weg und stürzte auf die Sänfte los, in der Mrs. Dowler saß.

Jetzt endlich hatte Mrs. Craddock, die Portiersfrau, das Klopfen und Lärmen gehört, rasch die Nachtmütze mit einer andern Kopfbedeckung vertauscht und schob gerade in dem Augenblick das Schiebfenster des Hausmeisterzimmers zurück, als Mr. Winkle auf die Sänfte losstürzte. Kaum hatte sie gesehen, was sich da abspielte, als sie ein gewaltiges Jammergeschrei erhob und Mr. Dowler mit der Bemerkung wecken rannte, er solle unverzüglich aufstehen, denn seine Frau laufe mit einem fremden Herrn davon.

Mit der Elastizität eines Gummiballes sprang Mr. Dowler aus dem Bett, stürzte in das vordere Zimmer und kam in demselben Moment an ein Fenster, als Mr. Pickwick gerade ein andres aufriß, und das erste, was sich den erstaunten Blicken der beiden darbot, war, wie Mr. Winkle in die Sänfte hineinstürmen wollte.

„Nachtwächter!“ schrie Dowler wütend, „fangt ihn! – Packt ihn! – Haltet ihn fest, bis ich komme. Ich werde ihm die Kehle durchschneiden – ein Messer her! – ja, von einem Ohr bis zum andern, Mrs. Craddock.“ – Und trotz des Jammergeschreis der Hausfrau, in das Mr. Pickwick einstimmte, ergriff der entrüstete Ehemann ein Dessertmesser und stürzte auf die Straße hinunter.

Doch Mr. Winkle wartete nicht so lange. Kaum hörte er die schreckliche Drohung des rasenden Dowler, als er, so schnell er konnte, wieder aus der Sänfte sprang, seine Pantoffeln weit von sich schleuderte und Fersengeld gab, hitzig verfolgt von Mr. Dowler und dem Nachtwächter, in tollem Lauf um den Crescentplatz herum. Er hatte sich einen Vorsprung gesichert, und als er zum zweitenmal vor das Haus kam und das Tor offen fand, stürzte er hinein, warf „s Dowler vor der Nase zu, eilte in sein Schlafzimmer, verschloß die Tür, pflanzte als Verrammlung einen Toilettentisch nebst einigen Kommoden davor auf und packte einige notwendige Sachen zusammen, in der Absicht, mit Tagesanbruch zu entfliehen. Mr. Dowler kam vor seine Tür, erklärte durch das Schlüsselloch hinein seinen festen Entschluß, ihm am folgenden jag die Kehle durchzuschneiden, und erst nach einem gewaltigen Wirrwarr und Lärm im Gesellschaftszimmer, aus dem man vor allem Mr. Pickwicks Stimme, bemüht Frieden zu stiften, heraushörte, zerstreuten sich die erregten Hausgenossen in ihre verschiedenen Schlafgemächer, und alles wurde wieder ruhig.

Wo, um alles in der Welt, hatte nun Mr. Weller die ganze Zeit über gesteckt? Man hatte ihm am Morgen dieses verhängnisvollen Tages einen Brief ausgehändigt. Sam hatte sich sehr darüber gewundert und zunächst den Brief hin und her gedreht, um das Siegel und die Aufschrift zu entziffern; dann kam er langsam zu der Ansicht, daß es vielleicht zweckmäßig wäre, ihn zu öffnen.

„Auf goldrandiges Papier geschrieben“, murmelte er, als er ihn öffnete, „und in braunem Lack mit ‚m Ende vom Türschlüssel gesiegelt. Na, wollen mal sehen.“ Und mit völlig ernstem Gesicht las er dann:

„Mr. John Smauker, der Gentleman, der das Vergnügen hatte, Mr. Weller im Hause ihres gemeinsamen Bekannten, Mr. Bantam, neulich zu sehen, beehrt sich, Mr. Weller für heute abend zu einer Soareh im engeren Kreise, bestehend aus gedämpfter Hammelkeule nebst üblichen Gängen, ergebenst einzuladen. Es wird pünktlich um halb zehn Uhr serviert. Wenn Mr. Weller um neun Uhr bei Mr. John Smauker eintreffen könnte, so würde Mr. John Smauker sich ein Vergnügen daraus machen, Mr. Weller einzuführen.

John Smauker.“

„Na“, meinte Sam, „is ja ’n starkes Stück is das. Ich hab noch nie gehört, daß ’ne gedämpfte Hammelkeule Soareh heißt; möchte mal wissen, wie die ’ne gebratene nennen.“ Er zerbrach sich aber nicht lange den Kopf darüber, sondern verschaffte sich bei Mr. Pickwick Urlaub für den Abend. Kurz vor der bestimmten Zeit bewaffnete er sich mit dem Hausschlüssel und schlenderte recht gemütlich zur Queensquare, wo er schon aus einiger Entfernung Mr. John Smauker erblickte, der sein gepudertes Haupt gegen einen Laternenpfahl lehnte und eine Zigarre aus einer Bernsteinspitze rauchte.

„Wie befinden Sie sich, Mr. Weller?“ sagte Mr. John Smauker, wobei er mit der einen Hand graziös den Hut lüftete, während er mit der anderen eine vornehm-herablassende Bewegung vollführte. „Wie befinden Sie sich, Sir?“

„Schon sehr auf dem Wege der Besserung“, antwortete Sam, „aber wie geht’s Ihnen, Kamerad?“

„Bloß soso“, sagte Mr. John Smauker.

„Aha, Sie haben zu hart gearbeitet“, bemerkte Sam. „Das kam mir doch gleich so vor. Soll man nich machen, wissen Sie. Sie dürfen sich einfach nich so reinwühlen.“

„Daran liegt es nicht mal so, Mr. Weller“, antwortete Mr. John Smauker, „als am schlechten Wein; ich fürchte, ich bin ausschweifend gewesen.“ „Mhm“, sagte Sam, „das is ja allerdings kein Spaß.“

„Ach, dauernd diese Versuchungen; Sie wissen es ja auch. Mr. Weller“, seufzte Mr. John Smauker.

„Na, und ob!“ antwortete Sam.

„Immer so mitten im Strudel der Gesellschaft“, fuhr Mr. John Smauker fort, „hach ja. Aber so geht’s einem nun mal. Wenn einen das Schicksal in die große Welt entführt, dann kommen die Versuchungen, von denen die meisten Leute nie was zu spüren bekommen. Aber ich glaube, es ist Zeit, daß wir gehen.“

„Glaub ich auch“, meinte Sam, „sonst wird die Saoreh noch zu weich, oder sie brennt an.“

Unterwegs fragte Mr. John Smauker: „Haben Sie schon Brunnen getrunken, Mr. Weller?“

„Einmal“, antworte Sam.

„Und was halten Sie davon, Sir?“

„Also mir war es gründlich zuwider“, entgegnete Sam.

„Hm hm“, sagte Mr. John Smauker, „Ihnen mißfiel sicher der mineradische Kalligeschmack.“

„Davon verstehe ich nichts“, brummte Sam, „mir kam er bloß sengerig vor, wie ’n heißes Plätteisen.“

Unterdessen waren sie vor einem kleinen Gemüseladen angekommen und traten ein. In einem schmalen Zimmer waren alle erforderlichen Vorbereitungen zum Essen getroffen, und am Kaminfeuer wärmten sich mehrere Gäste, während einer von ihnen mit dem Rücken gegen das Fenster gelehnt stand. Dieser breitschultrige Gentleman in hochrotem Rock mit langen Schößen, hellroten Beinkleidern und Dreispitz, offenbar der bedeutendste unter den Anwesenden, begrüßte sogleich Mr. John Smauker, das heißt, sie verhakten ihre kleinen Finger ineinander und Mr. John Smauker lispelte, er sei entzückt, sein Gegenüber so wohl zu sehen.

„Freilich sagt man allgemein, ich sähe ziemlich blühend aus“, antwortete der Gentleman mit dem Dreispitz, „das ist aber geradezu ein Wunder. Ich habe nämlich in den letzten vierzehn Tagen nichts weiter zu tun gehabt, als zwei Stunden am Tag hinter unserer Alten herzusteigen. Dabei konnte ich nichts weiter tun, als Betrachtungen darüber anstellen, wie sie eigentlich ihr uraltes, scheußliches, lavendelfarbiges Kleid hinten zuhakt. Na, wenn das nicht genügt, um einen auf Lebenszeit in Verzweiflung zu stürzen, dann verzichte ich auf mein Gehalt.“

Alle Anwesenden lachten herzhaft, und ein Gentleman in gelber, mit Borte besetzter Weste flüsterte seinem Nachbarn, der grünen Cord trug, ins Ohr, Mr. Tuckle sei diesen Abend wieder so recht auf der Höhe. Sodann wurde Mr. Weller von Mr. John Smauker vorgestellt, und man setzte sich zum Essen.

Der Krämer erschien mit der Hammelkeule, zog waschlederne Handschuhe an, um die Teller sachgemäß aufzulegen und stellte sich hinter Mr. Tuckles Stuhl.

„Harris“, sagte Mr. Tuckle gebieterisch.

„Sir“, sagte der Krämer.

„Haben Sie die Handschuhe angezogen?“

„Jawohl, Sir.“

„So nehmen Sie die Glocke herunter!“

Der Krämer tat es, reichte dann Mr. Tuckle das Tranchiermesser und zog sich dabei eine scharfe Rüge zu, weil er versehentlich gähnte.

Mr. Tuckle tranchierte eben die Hammelkeule, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein Gentleman in lichtblauem Habit mit Bleiknöpfen erschien.

„Gegen die Gesetze“, rief Mr. Tuckle, „zu spät, zu spät!“

„O nein; ich konnte es nicht ändern“, sagte der Gentleman in Blau. „Ich appelliere an die Gemeinschaft. Eine galante Affäre. Stelldichein im Theater.“

„Ja, dann allerdings“, meinte ein Gentleman in orangefarbenem Plüsch.

„Genau das!“ fuhr der Lichtblaue fort. „Ich hatte mich verpflichtet, unsere jüngste Tochter pünktlich abzuholen. Sie ist ein hübsches Mädchen. So was läßt man nicht warten. Ich möchte der Gemeinschaft nicht zu nahe treten, aber: eine Schürze, Sir, eine Schürze geht immer vor.“

„Ich habe in letzter Zeit schon Lunte gerochen“, erwiderte Mr. Tuckle, während der neue Gast neben Sam Platz nahm, „ein- oder zweimal fiel mir auf, daß sie sich sehr fest auf Ihre Schulter stützte, wenn sie aus dem Wagen stieg.“

„Wahrlich, Tuckle, wahrlich, kein Wort mehr davon! So was gehört sich nicht. Ich habe vielleicht zu ein, zwei Freunden gesagt, daß sie ein geradezu himmlisches Geschöpf ist und daß sie einige Heiratsanträge ohne ersichtlichen Grund abgelehnt hat, aber… nein, nein und nochmals nein, unter keinen Umständen, Tuckle! Dazu noch vor Fremden! Das ist unpassend; Sie dürfen es einfach nicht! Delikatesse, mein teurer Freund, Delikatesse!“ Und der Lichtblaue schüttelte unwillig den Kopf und runzelte die Stirn, als könnte er noch viel darüber erzählen, was er um der Ehre willen verschwiege.

Da er nicht übel aussah und eine kecke, muntere Art hatte, kam Sam mit ihm in ein Gespräch, das in der gemeinsamen Feststellung gipfelte, Männer von Welt dürften sich nicht wegwerfen; früher oder später wäre die Wirkung einer guten Uniform auf Frauen unwiderstehlich. Inzwischen hatte der Krämer Gläser gebracht und die Gentlemen aufgefordert, ihre alkoholischen Wünsche zu äußern, worauf Sam eine große Bowle Punsch bestellte und sich damit die Hochachtung der Gesellschaft erwarb. Später wurden Reden gehalten und besondere Vorkommnisse erörtert. So wurde unter anderem bekannt, daß Mr. Whiffers, der Gentleman in orangefarbenem Plüsch, sein Engagement gelöst hatte. Mr. Whiffers gab eine ausführliche Erklärung hierfür, in welcher er die Vermutung äußerte, er selbst habe durch seine eigene Geduld und Nachgiebigkeit jene beleidigende Zumutung heraufbeschworen, die ihn zur Beendigung seiner Tätigkeit gezwungen habe. Er entsann sich deutlich, seinerzeit eingewilligt zu haben, daß man ihm gesalzene Butter zum Essen anbot, und ein anderes Mal, als jemand im Hause erkrankt wäre, hätte er sich soweit vergessen, daß er einen Kohleneimer in den ersten Stock hinaufgetragen hätte. Er hoffte nun, durch sein offenes Geständnis nicht die Achtung seiner Freunde verloren, oder sie mindestens durch die Entschlossenheit wiedergewonnen zu haben, mit der er die letzte ruchlose Beleidigung seiner Gefühle – die Zumutung, kalten Braten zu essen – gerächt habe.

Mr. Whifferes erntete stürmische Bewunderung, und man trank mit großem Enthusiasmus auf die Gesundheit des edlen Märtyrers. Der Märtyrer dankte und schlug Mr. Wellers Gesundheit vor. Mr. Weller dankte in wohlgesetzten Worten und schloß mit dem Wunsche, das Opfer der Tyrannei im Schwefelkleid möge nie wieder mit kalter Soareh geärgert werden; worauf er sich mit gewinnendem Lächeln setzte und gleichfalls stürmischen Beifall erntete. Dann brach die Gesellschaft auf.

„Sie wollen doch nicht etwa schon gehen, alter Junge“, wandte sich Sam an seinen Freund, Mr. John Smauker.

„Ich muß tatsächlich“, sagte Mr. Smauker, „ich hab’s Bantam versprochen.“

„Das ist was anderes“, gab Sam zu, „aber hier Freund Feuerbrand, Sie auch? Sollen wir dreiviertel von der Bowle im Stich lassen? Is doch Unfug! Los, setzen Sie sich wieder.“

Mr. Tuckle vermochte nicht zu widerstehen. Er legte den dreieckigen Hut und seinen Stab zur Seite und erklärte sich bereit, aus guter Kameradschaft noch ein einziges Gläschen zu trinken.

Da der Lichtblaue den gleichen Heimweg hatte wie Mr. Tuckle, ließ er sich gleichfalls bewegen, noch zu bleiben. Als die Bowle halb ausgetrunken war, bestellte Sam Austern, und die Wirkung des Punsches und der Austern war so erheiternd, daß Mr. Tuckle mit Dreimaster und Stab zwischen den Austernschalen auf dem Tisch den Froschhornpipe tanzte, wozu der Lichtblaue ingeniös auf einem Kamm blies. Der Punsch war vollkommen, und die Nacht auch fast völlig am Ende, da brachen die Herren auf, um einander nach Hause zu geleiten. Sobald Mr. Tuckle an die frische Luft kam, ergriff ihn ein unwiderstehliches Verlangen, sich auf das Straßenpflaster niederzulegen; Sam hielt es für eine Sünde, zu widersprechen, und ließ ihm daher seinen Willen. Da jedoch der Dreimaster Schaden genommen hätte, wenn er ihn gleichfalls hätte liegenlassen, drückte er ihn mit Bedacht dem Lichtblauen aufs Haupt, gab ihm Tuckles mächtigen Stab in die Hand, lehnte ihn aufrecht an seine Haustür, läutete und ging ruhig nach Hause.

Am kommenden Morgen war Mr. Pickwick früher als gewöhnlich aufgestanden, ging in Straßentoilette die Treppen hinab und läutete.

„Sam“, sagte er, als Mr. Weller erschien, „verschließe die Tür.“

„Wir haben“, begann er dann, „heute nacht einen unglückseligen Vorfall gehabt, infolgedessen Mr. Winkle Gewalttätigkeiten von Mr. Dowler befürchten muß.“

„Habe es schon von der Alten unten gehört“, erwiderte Sam.

„Und“, erzählte Mr. Pickwick mit höchst verdrießlicher Miene weiter, „ich muß leider hinzufügen, daß Mr. Winkle sich aus Furcht vor diesen Gewalttätigkeiten aus dem Staub gemacht hat.“

„Aus dem Staub jemacht?“

„Er hat diesen Morgen sehr früh, ohne die geringste Beratung mit mir, das Haus verlassen“, erklärte Mr. Pickwick. „Und er ist auf und davon, ohne daß ich weiß, wohin?“

„Hätte dableiben und die Sache ausfressen sollen, Sir“, versetzte Sam verächtlich. „Ich wollte mit diesem Dowler schon fertig werden, Sir.“ „Gut, Sam“, sagte Mr. Pickwick, „auch ich habe so meine Zweifel an der großen Tapferkeit und Entschlossenheit des Herrn, aber dem sei, wie es wolle, Mr. Winkle ist nun einmal nicht mehr da. Er muß aufgesucht und zu mir zurückgebracht werden, Sam.“

„Wenn er aber nich mehr kommen will, Sir?“

„Dann muß man ihn dazu zwingen, Sam“, sagte Mr. Pickwick.

„Und wer soll dies tun, Sir?“ fragte Sam lächelnd.

„Du!“

„Sehr wohl, Sir“, sagte Mr. Weller, verließ das Zimmer, und gleich darauf hörte man ihn die Haustür schließen.

Zwei Stunden später kehrte er so gelassen zurück, als hätte man ihn mit dem allergewöhnlichsten Auftrag abgesandt, und brachte die Nachricht, ein Individuum, dessen Beschreibung in jeder Beziehung auf Mr. Winkle passe, sei diesen Morgen mit der Postkutsche vom Royal-Hotel nach Bristol gefahren.

„Sam“, sagte Mr. Pickwick und ergriff Mr. Wellers Hand, „du bist ein Kapitalkerl, den man in Gold fassen sollte. Du mußt ihm nachreisen, Sam.“

„Sehr wohl, Sir“, erwiderte Mr. Weller.

„Und sowie du ihn ausfindig gemacht hast, schreibst du es mir auf der Stelle, Sam. Und wenn er einen Versuch macht, zu entfliehen, so schlägst du ihn zu Boden oder sperrst ihn ein. Du hast meine unumschränkte Vollmacht, Sam.“

„Ich werde alles getreu befolgen“, beteuerte Sam.

„Sage ihm, ich sei im höchsten Grad aufgebracht, erzürnt und empört über das äußerst auffallende Benehmen, das er sich habe zuschulden kommen lassen.“

„Sehr wohl, Sir.“

„Sage ihm ferner, wenn er nicht mit dir in dieses Haus Zurückkehren wolle, so werde er mit mir zurückkehren müssen, denn ich werde ihn selbst holen kommen.“

„Ich werde es ausrichten, Sir“, versprach Sam.

„Meinst du wirklich, daß du ihn finden wirst, Sam?“

„Oh, ich will ’n schon finden, mag er sein, wo er will“, erwiderte Sam mit großer Zuversicht.

„Sehr gut, also reise je eher, je lieber ab“, sagte Mr. Picknick, gab seinem getreuen Diener eine Summe Geldes und befahl ihm, sogleich nach Bristol zu fahren.

Sam packte einige notwendige Sachen in einen Mantelsack und war bereit, aufzubrechen. Am Ende des Ganges blieb er stehen, kehrte noch einmal um und steckte den Kopf durch die Tür.

„Was gibt’s, Sam?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ich habe doch meine Instruktschon recht verstanden Sir? Habe ich das mit dem Umhauen buchstäblich zu verstehen?“

„Allerdings“, erwiderte Mr. Pickwick, „ganz buchstäblich. Tue, was du für nötig hältst. Du hast ausgedehnteste Vollmacht.“

Sam blinzelte verständnisinnig, zog seinen Kopf aus der Tür und begab sich fröhlichen Herzens auf seine Wanderschaft.

Sechsunddreißigstes Kapitel


Sechsunddreißigstes Kapitel

Wie Mr. Winkle aus dem Regen in die Traufe kommt.

Nachdem der vom Schicksal so schwer geprüfte Mr. Winkle die unglückliche Ursache des geschilderten ungewöhnlichen Lärms und der Störung sämtlicher Bewohner von Royal-Crescent gewesen und eine Nacht voll Bangigkeit und Angst zugebracht hatte, verließ er das Dach, unter dem seine Freunde noch schlummerten, und entfloh, ohne zu wissen wohin. Die selbstlosen Erwägungen, die ihn zu diesem Schritte veranlaßten, können gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Wenn – sagte sich Mr. Winkle –, wenn dieser Dowler sich untersteht – und ich zweifle keineswegs, daß er es tun wird –, seine Androhungen persönlicher Gewalttätigkeiten gegen mich in Ausführung zu bringen, so werde ich nicht umhin können, ihn zu fordern. Er hat eine Frau; diese Frau liebt ihn über alles und kann ohne ihn nicht leben. Gütiger Gott! Wenn ich ihn in der Blindheit meines Zornes tötete, welche Vorwürfe müßte ich mir zeitlebens machen!

Dieser peinliche Gedanke wirkte so mächtig auf das Gefühlsleben des menschenfreundlichen jungen Mannes, daß seine Knie schlotterten und sich auf seinem Gesichte beunruhigende Kennzeichen tiefer innerer Bewegung malten. Er packte seinen Mantelsack, schlich sich leise die Treppen hinab, verschloß die verwünschte Haustür so geräuschlos wie möglich und machte sich auf und davon. Er lenkte seine Schritte zum Royal-Hotel, traf dort eine Kutsche, die im Begriff war, nach Bristol zu fahren, und da ihm Bristol für seine Zwecke ein ebenso guter Ort dünkte, wie jeder andre, kletterte er auf den Bock und erreichte den Ort seiner Bestimmung so schnell, wie man ihn mit zwei Pferden, die täglich zwei oder mehrere Male den ganzen Weg hin und Iher machen mußten, billigerweise erreichen konnte.

Er stieg im Gasthof „Zum Busch“ ab, und, entschlossen, jedem brieflichen Verkehr mit Mr. Pickwick so lange auszuweichen, bis Mr. Dowlers Zorn nach menschlicher Berechnung einigermaßen verflogen sein werde, ging er aus, um sich die Stadt zu besehen, an der ihm weiter nichts auffiel, als daß sie noch ein wenig schmutziger war als jeder andre Ort, den er bisher in Augenschein genommen. Nachdem er die Docks und Schiffswerften sowie auch die Kathedrale besichtigt, erfragte er den Weg nach Clifton und schlug sofort die Richtung ein, die man ihm bezeichnet hatte.

Wie indessen das Pflaster von Bristol nicht das breiteste und reinlichste auf Erden ist, so sind auch die Straßen dieser Stadt nicht eben die geradesten oder unverwickeltsten, und da Mr. Winkle durch ihre mannigfaltigen Windungen sehr verwirrt wurde, so sah er sich nach einem anständigen Laden um, in dem er sich Rat holen und Erkundigungen einziehen könnte.

Seine Augen fielen auf ein frischgetünchtes Haus, das offenbar erst vor kurzem in ein Mittelding zwischen einem Laden und einem Privathaus verwandelt worden war und, wie eine über, das fächerförmige Fenster der Haustür vorhängende rote Lampe sowie eine Inschrift: „Chirurgisches Ambulatorium“ in goldenen Buchstaben besagte, der Wohnsitz eines Heilkünstlers war. Da Mr. Winkle dies für einen geeigneten Ort hielt, um seine Wißbegier zu stillen, trat er in den kleinen Laden, und, da niemand anwesend war, klopfte er mit einer halben Krone auf den Tisch, um die Aufmerksamkeit der Leute anzulocken, die sich, wie er mutmaßte, im Hinterzimmer befinden mußten, das er für das Allerheiligste der Anstalt hielt, da das Wort „Chirurgisches Ambulatorium“ hier aufs neue und zwar zur Abwechslung diesmal mit weißen Lettern an die Tür gemalt war. Auf sein leises Klopfen hörte ein bis jetzt deutlich vernehmbares Geräusch, wie wenn mit Rapieren gefochten würde, plötz. lieh auf, lind beim zweiten schlüpfte ein gelehrt aussehender junger Mann mit einer grünen Brille auf der Nase und einem gewaltigen Buch in der Hand in den Laden, stellte sich hinter den Tisch und fragte nach dem Begehren seines Gastes.

„Entschuldigen Sie, wenn ich störe, Sir“, stotterte Mr Winkle, „aber würden Sie nicht vielleicht die Güte haben, mir zu sagen, wo …“ „Hahaha!“ lachte der gelehrte junge Herr, warf das große Buch in die Luft und fing es mit erstaunlicher Gewandtheit in demselben Augenblick wieder auf, wo es sämtliche Flaschen auf dem Tisch zu Atomen zu zertrümmern drohte. „Das nenne ich einmal sonderbar.“ Das war es auch wirklich, denn Mr. Winkle war über das auffallende Benehmen des Äskulapjüngers so über die Maßen erstaunt, daß er unwillkürlich gegen die Tür zurückwich und äußerst unruhig über diesen kuriosen Empfang dreinsah.

„Wie, kennen Sie mich nicht mehr?“ fragte der Medikus.

Mr. Winkle murmelte, er habe nicht das Vergnügen.

„Nun gut“, fuhr der Doktor fort, „dann habe ich noch Hoffnung. Wenn mir das Glück nur ein bißchen wohl will, so kann ich die Hälfte der alten Weiber von Bristol zu Patienten bekommen. Fort mit dir, du verschimmelte alte Bestie!“

Mit dieser Verwünschung, die dem großen Buche galt, schleuderte der Chirurg das Werk mit bewundernswürdiger Fertigkeit nach dem entfernten Ende des Ladens, nahm seine grüne Brille ab und ließ das leibhaftige Grinsen Robert Sawyers, Esquire, früher im Guys-Hospital, mit einer Privatwohnung in Landstreet, erkennen.

„Sie haben mich also wirklich nicht gleich erkannt? fragte Mr. Bob Sawyer, mit freundschaftlicher Wärme Mr Winkle die Hand schüttelnd. „Auf Ehre nicht“, versicherte Mr. Winkle, den Händedruds erwidernd.

„Haben Sie denn meinen Namen nicht gelesen?“ fuhr Mr. Bob Sawyer fort und lenkte die Aufmerksamkeit seines Besuches auf die äußere Tür, wo ebenfalls weiß angemalt die Worte standen: „Sawyer, früher Nockemorf.“

„Ich habe es nicht bemerkt“, erwiderte Mr. Winkle.

„Bei Gott, wenn ich gewußt hätte, daß Sie es sind, wäre ich sogleich herausgestürzt und hätte Sie in die Arme geschlossen, aber so wahr ich lebe, ich meinte, es sei der Steuereinnehmer.“

„Wirklich?“

„Ja. Und ich wollte eben sagen, ich sei nicht zu Haus, werde übrigens ausrichten, was er mir mitzuteilen habe, denn er kennt mich so wenig wie der Beleuchtungs- und Pflastersteuereinnehmer. Dem Steuerviertier für die Kirche scheint es indes schon zu schwanen, wer ich bin, und der Wasseronkel kennt mich auch, denn ihm habe ich gleich nach meiner Ankunft einen Zahn ausgezogen. Doch kommen Sie jetzt, treten Sie näher.“ So schwatzend, drängte Mr. Bob Sawyer seinen Freund Winkle in das Hinterzimmer, allwo niemand geringerer als Mr. Benjamin Allen saß und zum Zeitvertreib mit einem glühenden Schüreisen kleine runde Löcher in das Kamingesims bohrte.

„Wahrhaftig“, rief Mr. Winkle, „das ist ein Vergnügen, auf das ich nicht gefaßt war. Sie haben ja ein recht hübsches Heim hier.“

„Na, so ziemlich“, gab Bob Sawyer zu. „Ich habe bald nach unsrer denkwürdigen Abendgesellschaft das Examen gemacht; meine Freunde schössen mir das Nötige zur Einrichtung vor, und dann habe ich mir einen schwarzen Anzug nebst Brille zugelegt, um so feierlich wie möglich auszusehen, und habe mich hier niedergelassen.“

„Sie haben ohne Zweifel eine recht hübsche Einnahme?“ fragte Mr. Winkle mit Kennerblick.

„Macht sich“, meinte Bob Sawyer, „so hübsch, daß Sie nach wenigen Jahren den ganzen Profit in ein Weinglas ^gen und mit einem Stachelbeerblatt bedecken können.“

„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?“ sagte Mr. Winkle. „Schon die Vorräte …“

„Lauter Firlefanz, Freundchen. In der einen Hälfte der Schublade ist gar nichts, und die andern können nicht einmal herausgezogen werden.“ – Und zum Beweis zerrte Mr. Sawyer zu verschiedenen Malen vergeblich an den kleinen vergoldeten Knöpfchen der falschen Schubladen. »Im ganzen Laden ist kaum etwas Reelles als die Blutegel, und auch die haben schon einmal Dienste geleistet.“

„Das hätte ich nicht gedacht“, rief Mr. Winkle überrascht.

„Will ich auch hoffen“, erwiderte Bob Sawyer, „denn was nützte mir sonst all der Glanz. Doch was wollen Sie jetzt genießen? Halten Sie mit. Ben, lieber Kamerad, geh an den Schenktisch und hole uns den Patentmagenwärmer.“

Mr. Benjamin Allen gab seine Bereitwilligkeit durch ein Lächeln zu erkennen und zog aus dem Schrank neben sich eine schwarze, halbgefüllte Brandyflasche hervor.

„Sie trinken natürlich pur?“

„Danke Ihnen“, wehrte Mr. Winkle ab, „es ist noch ziemlich früh, und ich nehme lieber Wasser dazu, wenn Sie nichts dagegen haben.“

„Nicht das geringste, wenn Sie es mit Ihrem Gewissen vereinen können“, erwiderte Bob Sawyer, mit großem Behagen ein Glas hinabstürzend. „Ben, das Töpfchen!“

Mr. Benjamin Allen zog aus demselben Versteck einen kleinen messingenen Topf hervor, auf den Bob Sawyer stolz zu sein behauptete, da er so apothekermäßig aussähe. Nachdem das Wasser in diesem kunstgerechten Topfe vermittels mehrerer Schaufeln voll Kohlen, die Mr. Bob Sawyer einem „Sodawasser“ überschriebenen Wandschrank entnommen hatte, zum Sieden gebracht war, mischte Mr. Winkle seinen Brandy, und die Unterhaltung fing bereits an, allgemein zu werden, als sie durch einen jungen Burschen unterbrochen wurde, der in einer schlichten grauen Livree mit goldbetreßtem Hut und einem kleinen Deckelkorb unter dem Arm :n den Laden trat und vom Herrn des Hauses mit den Worten bewillkommnet wurde: „Kommst du endlich, Tom, du Schlingel?“

Der Junge trat sogleich vor.

„Gewiß bist du wieder mit allen Gassenjungen von Bristol herumgestrolcht, du Spitzbube.“

„Nein, Sir, ganz gewiß nicht“, beteuerte der Knabe.

„Möcht es dir auch nicht geraten haben“, brummte Mr. Bob Sawyer mit drohender Gebärde. „Wer wird einen Wundarzt rufen lassen, wenn man sieht, daß sein Laufbursche auf der Gasse spielt wie kleine Jungen? Hast du die Arzneien alle abgegeben?“

Ja, Sir.“

„Die Pulver für das Kind in dem großen Hause, wo die neue Familie wohnt, und die Pillen, die der hypochondrische alte Herr mit seinem Podagra täglich viermal einnehmen soll?“

Ja, Sir.«

„Na, dann mach die Tür zu und besorge den Laden.“

„Nun“, sagte Mr. Winkle, als der Knabe sich entfernt hatte, „die Sachen scheinen doch nicht so schlimm zu stehen, wie Sie mich glauben machen wollten. Sie haben doch immerhin Medizinen auszuschicken.“

Mr. Bob Sawyer spähte in den Laden, ob kein Unberufener ihn hören könne, beugte sich dann zu Mr. Winkle und sagte leise:

„Er bringt sie alle in die falschen Häuser.“

Mr. Winkle blickte äußerst verwundert drein, und Bob Sawyer und sein Freund lachten.

„Sehen Sie“, erklärte Bob, „er geht in ein Haus, läutet an, gibt dem Bedienten ein Paket ohne Aufschrift und entfernt sich. Der Herr des Hauses öffnet es und liest die Aufschrift: ,Ein Trank, beim Schlafengehen einzunehmen – Pillen, wie das letzte Mal – Wasser, wie gewöhnlich – das Pulver. Nach den Vorschriften Dr. Sawyers, früher Nockemorf, sorgfältig bereitet usw.‘ Er zeigt es seiner Frau, sie liest die Aufschrift ebenfalls; dann geht das Paket wieder an die Dienerschaft zurück, und diese liest es auch. Am andern Tag kommt der Bursche wieder und sagt, es tue ihm sehr leid – er habe sich vergriffen – das große Geschäft – so viele Pakete zum Austragen – Komplimente von Dr. Sawyer, früher Nockemorf. Der Name wird bekannt, und sehen Sie: so, Freundchen, muß es ein Mediziner anpacken. Ich versichere Ihnen, alter Freund, das wirkt weit besser als alle Ankündigungen der Welt: Wir haben eine Vierunzenflasche, die schon halb Bristol durchwandert hat und noch in manchen Häusern Besuche abstatten muß.“

„Jetzt geht mir ein Licht auf“, rief Mr. Winkle. „Das ist ja ein ganz vortrefflicher Plan!“

„Oh, Ben und ich haben schon ein Dutzend ähnliche ausgeheckt“, meinte Bob Sawyer sehr vergnügt. „Der Lampenanzünder bekommt achtzehn Pence wöchentlich dafür, daß er jedesmal, wenn er vorbeigeht, zehn Minuten lang die Nachtglocke läutet, und mein Junge stürzt immer gerade wenn dae Leute nichts zu tun haben als herumzugucken in die Kirche und ruft mich heraus, mit einem Gesicht, auf dem sich Schauder und Entsetzen malen. ,Ach Gott‘, sagt dann alles, ,es muß jemand plötzlich krank geworden sein, man hat nach Sawyer, früher Nockemorf, geschickt. Welche Praxis der junge Mensch schon hat!'“

Nach dieser Enthüllung einiger Geheimnisse der Arzneiwissenschaft warfen sich Mr. Bob Sawyer und sein Freund Ben Allen in ihre Stühle zurück und lachten aus vollem Halse.

Wie bereits früher einmal angedeutet, pflegte Mr. Benjamin Allen nach dem Genuß von Brandy gewöhnlich sentimental zu werden, und da er bereits seit fast drei Wochen bei Mr. Bob Sawyer zu Gaste war, war er diesmal solchen Anfällen ganz besonders unterworfen.

„Mein teurer Freund!“ schluchzte er daher, die momentane Abwesenheit Mr. Bob Sawyers benutzend, der in den Laden gegangen war, um einige von den obenerwähnten gebrauchten Blutegeln abzugeben, „mein teurer Freund, ich bin sehr unglücklich!“

Mr. Winkle sprach sein herzliches Bedauern aus und begehrte zu wissen, ob er nichts tun könne, um den Kummer des leidenden Studenten zu mildern.

„Ach nein, mein teurer Freund, nichts“, erwiderte Ben. „Sie erinnern sich Arabellas, Winkle – meiner Schwester Arabella? Ein kleines Mädchen, Winkle, mit schwarzen Augen – damals, als wir bei Wardle waren? Ich weiß nicht, ob Sie zufällig bemerkt haben – ein hübsches kleines Mädchen, Winkle. Vielleicht erinnern Sie sich an ihre Züge»wenn Sie mich ansehen?“

Mr. Winkle bedurfte keineswegs einer solchen Gedächtnisnachhilfe, und zu seinem Glück, denn die Züge Benjamins hätten ohne Zweifel seine Erinnerung nicht sehr aufgefrischt. Er antwortete daher mit aller Fassung, die er aufzubringen vermochte, er erinnere sich der jungen Dame noch sehr gut und wünsche von Herzen, daß sie sich wohl befinde.

„Unser Freund Bob ist ein herrlicher Kerl, Winkle“, war die einzige Antwort Mr. Ben Allens.

„Ohne Zweifel“, gab Mr. Winkle zu, dem diese nahe Zusammenstellung der beiden Namen keineswegs behagte.

„Ich hatte sie füreinander bestimmt; sie waren füreinander geschaffen – füreinander in die Welt gesandt –, füreinander geboren, Winkle“, jammerte Mr. Ben Allen und stellte mit großem Nachdruck sein Glas nieder. „Es waltet ein besonderes Geschick in dieser Sache, mein lieber Herr; sie sind nur um fünf Jahre voneinander verschieden, und beider Geburtstage fallen in den August.“

Mr. Winkle war zu begierig, zu hören, was folgen würde, als daß er ein großes Erstaunen über diesen außerordentlichen und wirklich wunderbaren Umstand ausgedrückt hätte. Mr. Ben Allen erzählte ihm daher nach ein paar Tränenergüssen weiter, trotz aller seiner Achtung, Wertschätzung und Verehrung für seinen Freund, betätige Arabella unbegreiflicher- und pflichtvergessenerweise die entschiedenste Abneigung gegen ihn.

„Ich glaube“, schloß Mr. Ben Allen, „ich glaube, es steckt eine frühere Neigung dahinter.“

„Haben Sie vielleicht diesbezüglich eine Vermutung?“ fragte Mr. Winkle zaghaft.

Ben Allen ergriff das Schüreisen, schwang es kriegerisch über seinem Haupte, führte einen furchtbaren Schlag gegen eine in seiner Einbildung vorhandene Hirnschale und sagte in höchst bedeutsamem Tone, es sei sein einziger Wunsch, Näheres erraten zu können.

„Ich würde ,ihm‘ dann sagen,was ich von ihm denke“, rief Mr. Ben Allen und schwang aufs neue noch drohender als zuvor das Schüreisen.

Dies alles mußte natürlich äußerst beschwichtigend auf die Gefühle des Mr. Winkle wirken, der ein paar Minuten lang stillschwieg, endlich aber sich ein Herz faßte zu fragen ob Miß Allen in Kern sei.

„Nein, nein“, sagte Mr. Ben Allen mit einem schlauen Blick und legte das Schüreisen weg. „Wardles Haus schien mir eben nicht der geeignetste Platz für ein widerspenstiges Mädchen. Da nun unsre Eltern tot sind und ich Arabellas natürlicher Beschützer und Vormund bin, so habe ich sie in der hiesigen Gegend auf ein paar Monate zu einer alten Tante gebracht, die in einem zwar etwas abgelegenen, aber dennoch recht netten Orte wohnt. Dies wird sie schon kurieren, mein Freund; wo nicht, gehe ich ein Weilchen mit ihr ins Ausland und versuche, ob das nicht hilft.“ „Ah, die Tante ist also in Bristol?“ stotterte Mr. Winkle.

„Nein, nein; nicht in Bristol“, erwiderte Mr. Ben Allen, mit dem Daumen über die rechte Schulter deutend, „da unten. Aber still jetzt; Bob kommt; kein Wort mehr, teuerster Freund, kein Wort.“

So kurz diese Unterhaltung gewesen, so versetzte sie doch Mr. Winkle in die peinlichste Aufregung und Angst. Eine mutmaßliche frühere Neigung nagte an ihrem Herzen?! War er vielleicht der Gegenstand derselben? Konnte die schöne Arabella um seinetwillen den lustigen Bob Sawyer über die Achsel angesehen haben, oder hatte er einen glücklichen Nebenbuhler? Er beschloß, sie um jeden Preis zu besuchen; aber hier stellte sich ihm ein unüberwindliches Hindernis entgegen, denn er konnte schlechterdings nicht erraten, ob Ben Allens erklärende Worte „da unten“ eine Entfernung von drei, dreißig oder dreihundert Meilen zu bedeuten hatten. Indes blieb ihm für den Augenblick keine Zeit, seinen Liebesgedanken nachzuhängen, denn Bob Sawyers Rückkehr ging unmittelbar einer noch warmen Fleischpastete voran, und der Hausherr bestand darauf, er müsse sie verzehren helfen. Eine Reinmachefrau, die als Mr. Bob Sawyers Haushälterin füngierte, deckte den Tisch; ein drittes Paar Messer und Gabeln wurde von der Mutter des Jungen in der grauen Livree entlehnt – denn Mr. Sawyers häusliche Einrichtungen ließen noch mancherlei zu wünschen übrig –, man setzte sich zu Tisch, und das Bier wurde, wie Mr. Sawyer bemerkte, in vaterländischem Zinn kredenzt.

Nach dem Essen ließ Mr. Bob Sawyer den großen Mörser aus dem Laden holen und begann einen dampfenden Rumpunsch darin zu brauen, wozu er die Materialien in kundiger Apothekerweise mit dem Stößel umrührte und amalgamierte. Als Junggeselle besaß er nur ein einziges Glas, das ehrenhalber für Mr. Winkle, als den Gast, bestimmt wurde. Ben Allen erhielt einen unten mit einem Kork zugestopften Trichter, und Bob Sawyer selbst begnügte sich mit einem jener weitrandigen, von einer Menge kabbalistischer Zeichen bedeckten Kristallgefäße, in denen die Apotheker den Rezepten gemäß ihre Flüssigkeiten abzumessen pflegen. Nachdem diese Präliminarien erledigt waren, wurde der Punsch gekostet und für vortrefflich erklärt. Sofort einigte man sich, Bob Sawyer und Ben Allen sollten die Erlaubnis haben, zwei Gläser zu trinken, bis Mr. Winkle mit einem fertig würde, und sodann begann in Herrlichkeit und Freuden das Gelage.

Gesungen wurde nicht, weil Mr. Bob Sawyer es mit der Würde seiner Stellung für unverträglich hielt; um sich jedoch für diese Entbehrung zu entschädigen, schwatzte und lachte man so laut, daß man sie am Ende der Straße hätte hören können und wahrscheinlich auch hörte. Diese Unterhaltung erheiterte auch dem Laufbuben wesentlich seine Stunden und trug zu seiner ferneren Ausbildung bei, denn statt den Abend seiner gewöhnlichen Beschäftigung zu widmen, nämlich seinen Namen auf den Ladentisch zu schreiben und dann wieder auszulöschen, schaute er heute durch die Glastür, wo er genug zu hören und zu sehen bekam.

Mr. Bob Sawyers Lustigkeit reifte schnell zum Furiosen heran; Ben Allen verfiel in seine gewohnte Sentimentalität, und der Punschmörser war beinahe ganz geleert, als der Bursche hereinstürzte und meldete, es sei soeben ein Dienstmädchen dagewesen und habe ausgerichtet, Mr. Sawyer, früher Nockemorf, möchte sogleich zu einem Patienten kommen, der ein paar Straßen entfernt wohne. Das gab das Signal zur Beendigung des Schmauses. Mr. Bob Sawyer kapierte die Botschaft, nachdem man sie ihm etliche zwanzigmal wiederholt hatte, endlich, band sich ein nasses Tuch um den Kopf, um sich wieder nüchtern zu machen, was ihm auch einigermaßen gelang, setzte seine grüne Brille auf und folgte dem Ruf der Pflicht. Trotz aller Bitten, bis zu seiner Rückkehr zu bleiben, nahm Mr. Winkle, da er es rein unmöglich fand, mit Mr. Ben Allen eine vernünftige Unterhaltung über das Thema, das ihm so sehr am Herzen lag, oder wenigstens etwas Ähnliches anzuknüpfen, Abschied und kehrte in den „Busch“ zurück.

Die Gemütserregung und die zahllosen Betrachtungen, welche die Erinnerung an Arabella in ihm hervorgerufen, hatten es verhindert, daß seine Portion aus dem Punschmörser die Wirkung hervorbrachte, die unter andern Umständen unausbleiblich gewesen wäre. Nachdem er daher noch in der Hotelbar ein Glas Sodawasser mit Whisky getrunken, begab er sich, durch die Vorfälle des Abends mehr entmutigt als animiert, in das Gastzimmer.

Vor dem Kamin saß ein langer Herr in einem großen Überrock und wendete ihm den Rücken zu; sonst befand sich niemand im Zimmer. Es war ein für diese Jahreszeit etwas kühler Abend, und der Herr schob seinen Stuhl auf die Seite, um dem neuen Gast auch etwas von der Ofenwärme zukommen zu lassen.

Wer vermöchte aber Mr. Winkles Gefühle zu schildern, als er auf einmal das Gesicht und die Gestalt des rachsüchtigen, blutdürstigen Dowler erblickte!

Sein erster Gedanke war, so heftig wie möglich an der nächsten Klingelschnur zu ziehen, aber diese hing unglückseligerweise unmittelbar hinter Mr. Dowlers Kopf. Er hatte schon einen Schritt nach ihr getan, hielt aber plötzlich inne, und im selben Augenblick retirierte Mr. Dowler schleunig an die Wand.

„Ach, Mr. Winkle, beruhigen Sie sich! Schlagen Sie mich nicht! Ich könnte es nicht ertragen. Einen Schlag! Nein, nie!“ rief Mr. Dowler und sah dabei weit sanftmütiger aus, als man von einem so wilden Manne erwartet hätte.

„Einen Schlag, Sir?“ stammelte Mr. Winkle.

„Einen Schlag, Sir“, erwiderte Dowler. „Beruhigen Sie sich. Setzen Sie sich. Hören Sie mich an.“

„Sir“, stotterte Mr. Winkle, von Kopf bis zu Fuß zitternd, „bevor ich mich darauf einlassen kann, ohne die Anwesenheit eines Kellners neben Ihnen Platz zu nehmen, muß ich mich vorher wenigst einigermaßen mit Ihnen auseinandergesetzt haben. Sie haben gestern abend eine schreckliche Drohung gegen mich fallen lassen, Sir – ja, eine schreckliche Drohung, Sir!“ – Mr. Winkle wurde leichenblaß und stockte.

„Allerdings“, gab Mr. Dowler mit einem beinahe ebenso weißen Gesicht zu, „ich leugne es nicht. Die Umstände waren verdächtig, haben sich inzwischen aber aufgeklärt. Allen Respekt vor Ihrer Tapferkeit. Ich kenne Ihre vornehme Gesinnung. Sie sind im Bewußtsein Ihrer Unschuld mit Recht erzürnt. Hier meine Hand.“

„Wirklich, Sir?“ versetzte Mr. Winkle, unschlüssig, ob er seine Hand hinreichen solle oder nicht, denn er fürchtete, es könne eine Falle sein, „wirklich, Sir…“

„Ich weiß, was Sie sagen wollen“, unterbrach ihn Dowler. „Sie fühlen sich beleidigt. Sehr natürlich. Es ginge mir auch so. Ich war im Unrecht. Ich bitte um Verzeihung. Seien wir wieder gut. Vergeben Sie mir.“

Mit diesen Worten ergriff Dowler gewaltsam Mr. Winkles Hand, schüttelte sie mit äußerster Heftigkeit, schwur, Mr. Winkle sei ein Mann von außerordentlichem Mut, und er habe von ihm eine höhere Meinung als je.

„Aber jetzt“, sagte er, „setzen Sie sich. Erzählen Sie mir alles. Wieso haben Sie mich hier gefunden? Wann sind Sie mir nachgereist? Seien Sie offen! Sprechen Sie.“

„Es ist ganz zufällig“, erwiderte Mr. Winkle, in hohem Grade verblüfft über die sonderbare, unerwartete Art dieses Zusammentreffens, „reiner Zufall.“

„Freut mich“, sagte Dowler. „Ich wachte diesen Morgen auf und hatte meine Drohungen ganz vergessen. Lachte über die Geschichte. Ich hatte auch gar keine bösen Absichten gehabt. Sagte es auch sogleich.“

„Wem haben Sie es gesagt?“ fragte Mr. Winkle.

„Meiner Frau. – ,Du hast ein Gelübde getan‘, sagte sie. – ,Ja.‘ – ,Es war recht unüberlegt‘, meinte sie. – ,Weiß ich wohl‘, sagte ich. ,Ich will es zurücknehmen. Wo ist er?'“

„Wer?“ fragte Mr. Winkle.

„Nun, Sie. Ich ging die Treppe hinunter, aber Sie waren nicht zu finden. Pickwick sah recht ärgerlich aus. Schüttelte den Kopf. Hoffte, es werden keine Gewalttätigkeiten vorkommen. Ich sah alles ein. Sie fühlten sich natürlich beleidigt und waren ausgegangen, vielleicht um einen Sekundanten zu holen. Vielleicht auch um Pistolen. ,Couragierter Gentleman‘, sagte ich. ,Ich bewundere ihn.'“

Mr. Winkle hustete, und da er anfing einzusehen, wieviel es geschlagen hatte, nahm er eine höchst strenge Miene an.

„Ich habe ein Billett an Sie zurückgelassen“, fuhr Dowler fort. „Ich sagte, es tue mir aufrichtig leid. War auch so. Ein dringendes Geschäft rief mich hierher. Sie waren nicht zufrieden. Sind mir nachgereist. Wollten eine nähere Erklärung. Haben ganz recht. Aber jetzt ist alles vorbei. Mein Geschäft ist abgemacht. Morgen reise ich zurück. Fahren Sie mit mir.“

Je deutlicher sich Dowler in seiner abgerissenen Redeweise erklärte, desto würdevoller wurden Mr. Winkles Mienen. Mr. Dowler hatte augenscheinlich ebensoviel Abneigung gegen das Duell wie er selbst. Kurz und gut, dieser aufbrausende, schreckliche Mann war einer der exemplarischsten Hasenfüße, die lebten. Er hatte Mr. Winkles Abwesenheit durch die Brille seiner eigenen Furchtsamkeit betrachtet, denselben Schritt getan wie jener und sich wohlweislich zurückgezogen, bis jede Aufregung geschwunden sein werde.

Als der wirkliche Sachverhalt so in Mr. Winkles Kopf dämmerte, blickte er höchst grimmig drein und sagte, er habe vollständige Satisfaktion, und zwar in einem Tone, aus dem Mr. Dowler notwendigerweise schließen mußte, wäre dies nicht der Fall, so hätte es unausweichlich zu einer höchst schauderhaften Katastrophe kommen müssen. Mr. Dowler schien von der Großmut und Herablassung Mr. Winkles tief ergriffen zu sein, und die beiden kriegerischen Parteien verabschiedeten sich für die Nacht mit mannigfachen Versicherungen ewiger Freundschaft.

Ungefähr um halb ein Uhr, als Mr. Winkle etliche zwanzig Minuten im vollen, üppigen Genuß des ersten Schlafs geschwelgt hatte, wurde er plötzlich durch ein lautes Klopfen an seine Kammertür geweckt, das sich mit vermehrter Heftigkeit erneuerte und ihn veranlaßte, sich im Bett aufzurichten und zu fragen, wer da sei und was es denn gebe.

„Erlauben Sie, Sir, es ist ein junger Mann da, der sagt, er muß Sie sofort sprechen“, antwortete die Stimme des Stubenmädchens. „Ein junger Mann?“ rief Mr. Winkle.

„Ja, Sie werden es sogleich zu wissen bekommen, Sir“, ertönte eine andere Stimme durch das Schlüsselloch, „und wenn dieser interessante junge Mensch nich unverzüglich reingelassen wird, denn könnte es leicht passieren, daß er mit seine Beine früher als wie mit ‚m Kopf reingetreten kommt.“

Der junge Mann stieß nach diesem zarten Wink mit dem Fuß an eines der unteren Türbretter, wie um seiner Bemerkung mehr Kraft und Nachdruck zu geben.

„Sind Sie’s, Sam?“ fragte Mr. Winkle, aus dem Bett springend.

„Is ja doch nich möglich, irgendein Gentleman auf ’ne Art und Weise zu identifizieren, wo ein gewissen Grad von geistige Befriedigung mit sich bringen tut, wenn man ihm nich sehen tut, Sir“, erwiderte die Stimme dogmatisch.

Mr. Winkle zweifelte nicht länger, wer der junge Mann sei, und öffnete die Tür. Aber kaum hatte er es getan, als Mr. Samuel Weller mit großer Hast eintrat, sorgfältig von innen abschloß, mit großem Bedacht den Schlüssel in die Westentasche steckte und, nachdem er Mr. Winkle von Kopf bis zu Fuß gemustert, anhob: „Sie sin ja ’n recht humoristischer junger Mann, Sir.“

„Was soll dies unglaubliche Benehmen, Sam?“ rief Mr. Winkle entrüstet. „Verlassen Sie das Zimmer, Sir! Sofort! Was glauben Sie denn eigentlich, Sir?“

„Was ich glaube?“ erwiderte Sam. „Nur nich so üppig, wie die junge Dame sagte, als sie mit dem Pastetenbäcker in Streit geriet, weil er ’ne Schweinspastete an sie verkaufte, wo innen nichts wie Fett war. Was ich glaube? Gut, ich glaube, daß das ’n ganz netter Spaß is.“

„Öffnen Sie die Tür und verlassen Sie sogleich dies Zimmer“, befahl Mr. Winkle.

„Ich werde dieses Zimmer hier haargenau in demselben Augenblick verlassen, wenn Sie es verlassen“, antwortete Sam in sehr eindringlichem Ton und setzte sich dabei gravitätisch nieder. „Falls ich es für nötig halten sollte, Ihnen huckepack wegzutragen, werde ich mir das nach Möglichkeit bis zuletzt aufsparen; aber gestatten Sie mir, die Hoffnung zu äußern, daß Sie mir nich zu solche Extremitäten treiben werden; währenddem, daß ich das sagen tue, fällt mir der feine Mann ein, wo die widerspenstige Auster mit der Nadel nich rauspulen konnte und denn sagte, daß er langsam Angst bekam, daß er ihr kaputtschlagen würde müssen.“ Am Ende dieser für ihn ungewöhnlich langen Ansprache stemmte Mr. Weller seine Hände auf die Knie und sah Mr. Winkle mit einem Ausdruck ins Gesicht, in dem deutlich zu lesen war, daß er nicht die entfernteste Absicht habe, sich mit Ausflüchten abspeisen zu lassen.

„Sie sind ja ’n recht liebenswürdiger junger Mann, Sir“, fuhr Mr. Weller im Ton des moralischen Vorwurfs fort, „daß Sie unseren lieben Herrn in alle möglichen Sachen verwickeln, wo es doch sein Grundsatz ist, überall den graden Weg zu gehen. Sie sind noch viel schlimmer als wie Dodson, Sir, und was Fogg betrifft, den sehe ich geradezu als ’n geborenen Engel an gegen Sie.“

Nachdem Mr. Weller diese seine letzte Ansicht mit einem nachdrücklichen Schlag auf beide Knie begleitet hatte, verschränkte er mit entrüsteter Miene seine Arme und warf sich in seinen Stuhl zurück, als erwartete er die Verteidigung des Angeklagten.

„Mein guter Junge“, sagte Mr. Winkle, die Hand ausstreckend und mit den Zähnen klappernd, denn er war während der ganzen Lektion Mr. Wellers in einem leichten Nachtgewand dagestanden, „mein guter Junge, ich achte Ihre Anhänglichkeit an meinen vortrefflichen Freund hoch, und es tut mir in der Tat sehr leid, ihm Ursache zum Kummer gegeben zu haben. Da, Sam, da!“

„Gut“, sagte Sam mürrisch, obgleich er die hingebotene Hand ehrerbietig schüttelte, „es darf Ihnen wohl leid tun, und mir freut es ungemein, daß Sie mich hier getroffen haben; denn wenn ich ihm dazu helfen kann, denn soll ihm keine sterbliche Seele ’n Kummer machen.“

„Da haben Sie ganz recht, Sam“, erwiderte Mr. Winkle. ,Aber jetzt gehen Sie zu Bett, und morgen früh wollen wir weiter über die Sache sprechen.“

„Tut mir riesig leid“, erklärte Sam, „aber ich kann nich zu Bett gehen.“

„Nicht zu Bett gehen?“

„Nein“, sagte Sam, den Kopf schüttelnd, „kann nich sein.“

„Sie werden doch nicht in der Nacht zurückreisen wollen, Sani?“ drängte Mr. Winkle sehr überrascht.

„Nö, außer wenn Sie’s absolut wünschen“, versetzte Sam; „aber ich darf dies Zimmer hier nich verlassen. Der Herr hat mir ganz eindeutige Befehle gegeben.“

„Unsinn, Sam“, sagte Mr. Winkle. „Ich muß zwei oder drei Tage hierbleiben, und was noch mehr ist, Sam, Sie müssen auch hierbleiben, um mir zu einer Zusammenkunft mit einer jungen Dame zu verhelfen – nämlich mit Miß Allen. Sie erinnern sich ihrer gewiß noch; ich muß und will sie sehen, bevor ich Bristol verlasse.“

Statt aller Antwort auf diesen Vorschlag schüttelte Sam mit großer Festigkeit das Haupt und erwiderte ausdrucksvoll:

„Geht absolut nich.“

Nach manchen Argumentationen und Vorstellungen Mr. Winkles jedoch und nach einer umständlichen Auseinandersetzung über das Zusammentreffen mit Dowler begann Sam zu schwanken, und zuletzt kam ein Vertrag zustande, dessen Hauptbedingungen folgende waren:

Daß sich Sam entfernen und Mr. Winkle im ungestörten Besitz seines Zimmers belassen solle, jedoch mit der Erlaubnis, die Tür von außen zu schließen und den Schlüssel mitzunehmen; dagegen habe er, im Fall ein Feuer ausbreche oder sonst eine Gefahr eintrete, die Tür sogleich zu öffnen. Ferner solle am nächsten Morgen in aller Frühe Mr. Dowler ein Brief an Mr. Pickwick mitgegeben werden, in dem Sam und Mr. Winkle um Erlaubnis bäten, zu dem bereits bezeichneten Zwecke in Bristol zu bleiben, und um eine Antwort mit der nächsten Postkutsche ersuchten. Falle diese günstig aus, so sollten sie bleiben – wo nicht, unmittelbar Empfang des Schreibens nach Bath zurückreisen. Endlich solle Mr. Winkle sich mit Wort verpflichten, in der Zwischenzeit nicht durch das Fenster, den Kamin, oder sonst auf hinterlistige Art zu entweichen.

Nachdem diese Abmachungen festgesetzt waren, schloß Sam die Tür und ging.

Er war beinahe die Treppe unten, als er stehenblieb und den Schlüssel aus der Tasche zog.

„Ich habe ganz vergessen, ihn umzuhauen“, brummte er und drehte sich unschlüssig halb um. „Der Herr hat es doch ausdrücklich gesagt. Oh, ich Rindvieh. Aber macht nichts“ setzte er, sich plötzlich besinnend, hinzu, „läßt sich ja morgen leicht nachholen.“

Durch diesen Gedankengang augenscheinlich sehr getröstet, steckte er dann den Schlüssel wieder in die Tasche, ging ohne weitere Gewissensbisse die paar Stufen vollends hinunter und begrub sich kurz darauf, gleich den übrigen Bewohnern des Hauses, in seine Kissen.

Neunundzwanzigstes Kapitel


Neunundzwanzigstes Kapitel

Wie die Pickwickier die Bekanntschaft zweier feiner junger Herren machten, und wie sie sich auf dem Eise belustigten.

„Nun, Sam“, fragte Mr. Pickwick, als Mr. Weller am Weihnachtsmorgen mit warmem Wasser im Schlafzimmer erschien, „friert es immer noch?“

„Das Wasser im Waschbecken hat ’ne Eismaske aufgesetzt, Sir“, antwortete Sam. „’n prächtiges Wetter, wenn man gut eingewickelt is, wie der Eisbär zu sich selbst sagte, als er Schlittschuh laufen ging.“

„Ich werde in einer Viertelstunde unten sein, Sam“, sagte Mr. Pickwick und knüpfte seine Nachtmütze auf.

„Sehr wohl, Sir“, erwiderte Sam, „es sin ’n paar Beinsäger angekommen.“

„Ein paar was?“ rief Mr. Pickwick und richtete sich im Bette auf.

„’n paar Beinsäger.“

„Was ist denn das, ein Beinsäger?“ fragte Mr. Pickwick, im Zweifel, ob es ein Tier oder etwas zu essen wäre.

„Sie wissen nich, was ’n Beinsäger is, Sir?“ rief Mr. Weller verwundert. „Doch natürlich ’n Feldscher.“

„Oh, ein Chirurg also?“ sagte Mr. Pickwick lächelnd.

„Ganz richtig, Sir. Die unten sind noch keine regelrecht ausgebrüteten Beinsäger, sondern bloß Lehrlinge.“

„Mit andern Worten, es sind Studenten der Medizin, vermutlich?“

Sam Weller nickte bejahend.

„Das freut mich“, sagte Mr. Pickwick und warf seine Nachtmütze mit einem kräftigen Schwung auf die Bettdecke. „Mediziner sind famose, treffliche junge Leute mit durch Beobachtung und Nachdenken gereiftem Urteil und einem durch Lektüre und Studium verfeinerten Geschmack.“

„Sie rauchen Zigarren beim Küchenfeuer“, sagte Sam.

„Aha“, bemerkte Mr. Pickwick und rieb sich die Hände. „Überschuß an jugendlichem Feuer.“

„Und einer davon“, fuhr Sam fort, ohne die Bemerkung Mr. Pickwicks zu beachten, „einer davon hat die Beine auf den Tisch gepackt und trinkt Branntwein unverdünnt; währenddem hat der andre – der Brillenaugust – ’n Fäßchen Austern zwischen den Knien und knackt die Schalen auf wie die Nüsse, und denn lutscht er sie aus, und denn schmeißt er die Schalen nach dem jungen fetten Siebenschläfer, wo in der Kaminecke schläft.“ „Exzentrizitäten des Genies, Sam“, sagte Mr. Pickwick. „Aber du kannst jetzt gehen.“

Sam entfernte sich, und Mr. Pickwick ging nach Verlauf einer Viertelstunde zum Frühstück hinunter.

„Da ist er endlich“, rief ihm der alte Wardle entgegen. „Pickwick, erlaube, daß ich dir Miß Allens Bruder, Mr. Benjamin Allen – Ben, wie wir ihn nennen –, vorstelle. Dieser Herr ist sein spezieller Freund, Mr. Bob Sawyer.“

Mr. Pickwick verbeugte sich, und Bob Sawyer desgleichen, und dann machten sich die beiden jungen Herren mit großem Eifer über das Frühstück her, wobei Mr. Pickwick Gelegenheit hatte, sie genauer zu betrachten.

Mr. Benjamin Allen war ein kräftiger, derbgliedriger, untersetzter junger Mann mit schwarzem kurzgeschnittnem Haar und einem blassen, etwas langen Gesicht. Er trug eine Brille und ein weißes Halstuch. Unter seinem einreihigen schwarzen Oberrock, der bis ans Kinn zugeknöpft war, erschien die übliche Zahl pfeffer- und salzfarbiger Beine, mit ein Paar mangelhaft geputzten Stiefeln an den unteren Enden. Obwohl die Ärmel seines Rockes kurz waren, so zeigte sich doch keine Spur von Manschetten, wie auch sein Gesicht, wenn auch lang genug, um eine Verkürzung durch Vatermörder recht gut zu vertragen, einer solchen Zierde entbehrte. Überhaupt schien das ganze Äußere des Jünglings vom Meltau heimgesucht zu sein, während es zugleich intensiv nach den Wohlgerüchen Kubas duftete.

Mr. Bob Sawyer, in einen groben blauen Rock, ein Mittelding zwischen Gehrock und Überzieher, gekleidet, besaß die nachlässige, windbeutelhafte Art, die gewissen jungen Herren, die bei Tage auf der Straße rauchen, bei Nacht toben und lärmen, die Kellner bei ihren Taufnamen rufen und sich durch ähnliche ungezwungne Handlungen auszeichnen, eigen ist. Er trug ein Paar gestreifte Beinkleider, eine zottige geschloßne Weste mit zwei Reihen Knöpfen und beim Ausgehen einen dicken Stock mit einem großen Knopf. Handschuhe vermied er geflissentlich, und im großen und ganzen sah er wie ein liederlicher Robinson Crusoe aus.

Das waren die zwei Gentlemen, denen Mr. Pickwick vorgestellt wurde, als er am Christtag seinen Sitz am Frühstückstisch ein nahm.

„Ein herrlicher Morgen, meine Herren“, begann er liebenswürdig die Unterhaltung.

Mr. Bob Sawyer nickte beifällig und bat Benjamin Allen tun den Senf.

„Kommen Sie von weither, meine Herren?“

„Vom ,Blauen Löwen‘ zu Muggleton“, antwortete Mr. Allen kurz.

„Sie hätten gestern abend bei uns sein sollen“, sagte Mr. Pickwick.

„Ja, hätten sollen“, erwiderte Bob Sawyer. „Aber der Brandy war zu gut, als daß man so schnell hätte abkommen können. Nicht wahr, Ben?“

„Gewiß“, bestätigte Mr. Benjamin Allen. „Auch die Zigarren waren nicht übel und der Schweinebraten ebenfalls nicht. Was, Bob?“

„Allerdings“, entgegnete Bob. Und die Busenfreunde erneuerten ihren Angriff auf das Frühstück mit größerem Eifer als zuvor. Die Erinnerung an die gestrige Abendmahlzeit schien ihre Eßlust aufs neue gereizt zu haben.

„Säbel noch eins herunter, Bob“, ermunterte Mr. Allen seinen Gefährten.

„Machen wir“, erwiderte Bob Sawyer verständnisvoll.

„Geht nichts übers Sezieren. Das macht Appetit“, sagte er dabei und ließ seine Blicke über die Gesellschaft schweifen.

Mr. Pickwick überlief ein leichter Schauder.

„Apropos, Bob“, sagte Mr. Allen, „bist du bald zu Ende mit deinem Fuß?“

„Fast“, erwiderte Sawyer und bediente sich mit einem halben Huhn. „Er ist sehr muskulös für einen Kinderfuß.“

„So?“ versetzte Mr. Allen nachlässig.

„Hm, ja“, entgegnete Bob Sawyer, mit vollem Munde kauend.

„Ich habe auf einen Arm subskribiert“, sagte Mr. Allen. „Wir legen für eine ganze Leiche zusammen. Die Liste ist bald voll, nur haben wir noch niemand bekommen können, der einen Kopf braucht. Kannst du nicht einen brauchen?“

„Nein“, erwiderte Bob Sawyer, „meine Mittel erlauben mir das nicht.“

„Lächerlich!“ meinte Allen.

„Nein, nein. Wirklich nicht“, entgegnete Bob Sawyer. „Ein Gehirn ließe ich mir noch gefallen, aber für einen ganzen Kopf langt’s nicht.“

„St, st, meine Herren, bitte“, warnte Mr. Pickwick, „ich höre die Damen.“ Und schon traten die Damen, galant geleitet von den Herren Snodgraß, Winkle und Tupman, heimgekehrt von einem Morgenspaziergang, ins Zimmer.

„Um Gottes willen, du, Ben?“ rief Arabella in einem Ton, der mehr Erstaunen als Vergnügen beim Anblick ihres Bruders ausdrückte.

„Bin gekommen, dich morgen nach Hause zu bringen“, erwiderte Benjamin.

Mr. Winkle erblaßte und wandte sich ab.

„Aber siehst du denn Bob Sawyer nicht, Arabella?“ fügte Ben vorwurfsvoll hinzu.

Arabella reichte Bob Sawyer anmutig die Hand, und Ingrimm erfüllte Mr. Winkles Herz, als Bob Sawyer dieselbe augenscheinlich mit großem Eifer ergriff und tüchtig drückte.

„Lieber Ben“, sagte Arabella errötend, „bist du – bist du Mr. Winkle schon vorgestellt worden?“

„Bis jetzt nicht. Wird mir aber ein Vergnügen sein, Arabella“, erwiderte Mr. Ben Allen mit Zurückhaltung und verbeugte sich kühl gegen Mr. Winkle, während dieser und Mr. Bob Sawyer mißtrauische Blicke miteinander wechselten.

Die Ankunft der zwei neuen Gäste und die daraus resultierende gezwungene Stimmung zwischen Mr. Winkle und der jungen Dame mit den Pelzstiefeln würden wahrscheinlich eine sehr unangenehme Unterbrechung in der allgemeinen Heiterkeit hervorgebracht haben, hätten nicht der fröhliche Sinn Mr. Pickwicks und der gute Humor Mr. Wardles befreiend gewirkt. Mr. Winkle setzte sich allmählich in Gunst bei Benjamin Allen und knüpfte sogar eine Unterhaltung mit Bob Sawyer an, der, durch Brandy, Frühstück und Gespräch belebt, nach und nach sehr aufgeräumt wurde und mit großem Behagen eine Geschichte von einer Kopfgeschwulstoperation erzählte, die er an Hand eines Austernmessers und eines Laibes Brot zur Erbauung der versammelten Gesellschaft genau demonstrierte. Dann begab sich alles in die Kirche, wo Mr. Benjamin Allen fest einschlief, während Mr. Bob Sawyer seine Gedanken von weltlichen Dingen dadurch ablenkte, daß er seinen Namen mit vier Zoll langen Buchstaben in den Kirchenstuhl einschnitt.

„Nun“, sagte Mr. Wardle nach einem sehr ausgiebigen Lunch mit den entsprechenden Mengen Doppelbier und Kirschgeist. „Was meinen Sie zu einer Stunde auf dem Eis? Wir haben noch massenhaft Zeit.“

„Kapital!“ sagte Mr. Allen.

„Fein!“ rief Mr. Bob Sawyer.

„Sie laufen doch Schlittschuh, Winkle?“ fragte Mr. Wardle.

„Ja. Hm, ja. Natürlich“, erwiderte Mr. Winkle. „Ich – ich – bin nur ein wenig aus der Übung.“

„Ach ja, bitte, laufen Sie Schlittschuh, Mr. Winkle“, rief Arabella. „Ich sehe es so gern.“

„Es ist so graziös“, fiel eine andre junge Dame ein, und eine dritte meinte, es wäre elegant, und eine vierte drückte ihre Ansicht dahin aus, daß es „schwanengleich“ wäre.

„Ich würde es mit Vergnügen tun“, sagte Mr. Winkle, und wurde rot, „aber ich habe keine Schlittschuhe.“

Dieser Einwurf war alsbald beseitigt, Trundle besaß ein Paar, und der feiste Junge erklärte, unten sei noch ein halbes Dutzend, worüber Mr. Winkle, wenn auch mit sehr betretenem Gesicht, große Freude bezeigte.

So führte denn der alte Mr. Wardle die Gesellschaft zu der Eisbahn, und der feiste Junge und Mr. Weller schaufelten und kehrten den Schnee weg, der über Nacht gefallen war. Bob Sawyer schnallte sogleich seine Schlittschuhe mit einer Gewandtheit an, die Mr. Winkle wahrhaft wunderbar vorkam, beschrieb abwechselnd mit dem linken und rechten Bein einen Achter und führte unermüdlich noch viele andre erstaunliche Künste auf dem Eise aus, alles zum unsäglichen Vergnügen Mr. Pickwicks, Mr. Tupmans und der jungen Damen, deren Entzücken seinen Höhepunkt erreichte, als der alte Mr. Wardle und Benjamin Allen, assistiert durch Bob Sawyer, allerlei mystische Evolutionen, die sie einen Eistanz nannten, zum besten gaben.

Unterdessen hatte Mr. Winkle, blau vor Kälte an Gesicht und Händen, ein Loch in seine Schuhsohlen gebohrt, seine Schlittschuhe verkehrt angezogen und die Riemen in einen gordischen Knoten geschürzt, unterstützt von Mr. Snodgraß, der noch weniger Kenntnis vom Eissport hatte als ein Hindu. Endlich waren mit Hilfe Mr. Wellers die unheilvollen Eisen befestigt, und Mr. Winkle stellte sich auf die Füße.

„Also los, Sir!“ ermutigte Sam. „Los! Und zeigen Sie, was Sie können.“

„Halt, Sam, halt“, rief Mr. Winkle und erhaschte heftig zitternd Sams Arm, wie ein Ertrinkender. „Es ist furchtbar glatt hier.“

„Kunststück! Auf ‚m Eis!“ erwiderte Mr. Weller. „Hö, hö, Sir!“

Der letzte Ausruf Mr. Wellers bezog sich auf eine Demonstration Mr. Winkles, die ganz so aussah, als wolle er nach Art eines Parterreakrobaten die Beine in die Luft werfen und einen Salto nach rückwärts vollführen.

„Das – das – sind ja entsetzliche Schlittschuhe. Nicht wahr, Sam?“ stammelte Mr. Winkle und griff in der Luft herum.

„Also, was ist denn, Winkle, kommen Sie doch; die Damen warten schon“, rief Mr. Pickwick, ahnungslos, wie die Sache stand.

„Jaja“, erwiderte Mr. Winkle mit krampfhaftem Lächeln. „Ich komme schon.“

„Er kommt schon“, sagte Sam und trachtete sich loszumachen. „Also, Sir, los jetzt!“

„Nur noch einen Augenblick, Sam“, keuchte Mr. Winkle, sich fest an Mr. Weller klammernd. „Es fällt mir gerade ein, ich habe ein paar Röcke zu Hause, die ich nicht brauche, Sam. Ich schenke sie Ihnen, Sam.“

„Danke schönstens, Sir“, erwiderte Mr. Weller.

„Sie brauchen nicht an den Hut zu greifen, Sam“, sagte hastig Mr. Winkle. „Halten Sie mich lieber fest. Ich wollte Ihnen heute morgen fünf Schilling zu Weihnachten schenken, Sam. Ich werde sie Ihnen nachmittags geben, Sam.“

„Sie sin sehr gütig, Sir“, erwiderte Mr. Weller.

„Halten Sie mich noch ein wenig, Sam. Wollen Sie? So, so ist’s recht. Ich werde bald v/wieder hineinkommen, Sam. Nur nicht zu schnell, Sam, nicht zu schnell.“ Und Mr. Winkle segelte, den Oberkörper vorgebeugt, unter Beihilfe Mr. Wellers, auf nichts weniger als schwanengleiche Weise dahin, als Mr. Pickwick in seiner Unschuld von drüben herüberrief:

„Sam!“

„Sir?“ rief Mr. Weller zurück.

„Komm mal her. Ich brauche dich.“

„Lassen Sie los, Sir!“ sagte Sam. „Hören Sie nicht, mein Herr ruft mir? Lassen Sie los, Sir.“

Mit einer gewaltsamen Anstrengung befreite sich Mr. Weller von dem Griff des tödlich erschrockenen Mr. Winkle und gab ihm dabei einen kräftigen Schwung. Mit einer Genauigkeit, wie es weder Gewandtheit noch große Übung besser hätten bewirken können, sauste der unglückliche Gentleman mitten in den Eistanz hinein, gerade als Mr. Bob Sawyer einen Bogen von unvergleichlicher Schönheit beschrieb. Mit lautem Krach taten beide einen schweren Fall. Im Augenblick war Mr. Pickwick zur Stelle. Bob Sawyer stand bereits wieder auf den Beinen, aber Mr. Winkle war viel zu klug, ihm so etwas auf Schlittschuhen nachzumachen. Er blieb vielmehr auf dem Eise sitzen und machte krampfhafte Versuche zu lächeln, doch die Angst malte sich nur zu deutlich in seinen Zügen.

„Haben Sie sich verletzt?“ fragte Mr. Benjamin Allen voll Eifer.

„Nicht besonders“, sagte Mr. Winkle und rieb sich den Rücken.

„Wenn Sie wollen, lasse ich Sie zur Ader“, erbot sich Mr. Benjamin Allen freudig.

Nein, nein, ich danke Ihnen“, lehnte Mr. Winkle hastig ab.

„Ohne Spaß, Sie täten besser daran.“

„Nein, nein, ich danke“, erwiderte Mr. Winkle. „Wirklich nicht.“

„Was meinen Sie, Mr. Pickwick?“ mischte sich Bob Sawyer ein.

Mr. Pickwick war aufgebracht und unwillig. Er winkte Mr. Weller und sagte mit fester Stimme:

„Nimm ihm seine Schlittschuhe ab.“

„Aber ich habe doch eben erst angefangen“, wandte Mr. Winkle ein.

„Nimm ihm seine Schlittschuhe ab!“ wiederholte Mr. Pickwick streng.

Dagegen gab es keinen Widerspruch, und Mr. Winkle ließ sich stillschweigend die Eisen abschnallen.

„Hilf ihm auf“, befahl Mr. Pickwick. Dann entfernte er sich einige Schritte von den Umstehenden, winkte seinem Jünger, heftete einen durchbohrenden Blick auf ihn und sprach in leisem, aber vernehmlichem Tone die inhaltsschweren Worte:

„Sie sind ein Aufschneider, Sir!“

„Was bin ich?“ fuhr Mr. Winkle auf.

„Ein Aufschneider, Sir! Ich will deutlicher sprechen, wenn Sie es wünschen. Ein Schwindler, Sir!“

Mit diesen Worten drehte sich Mr. Pickwick auf dem Absatz um und ging zu seinen Freunden zurück.

Mittlerweile hatten Mr. Weller und der feiste Junge mit vereinten Kräften eine Schlitterbahn zurechtgemacht und glitten meisterhaft und mit Glanz dahin. Sam Weller insbesondere produzierte die kunstvolle Art des Schlitterns, die unter der Bezeichnung „an des Schuhflickers Tür anklopfen“ bekannt ist und darin besteht, daß man den einen Fuß aufhebt und mit ihm gelegentlich einen Doppelschlag auf das Eis gibt, wie ein Briefträger. Es war eine gute, lange Bahn, und die Bewegung hatte für Mr. Pickwick, der vom Stillstehen tüchtig durchfroren war, etwas Verlockendes.

„Allem Anschein nach eine treffliche Art, um sich warm zu machen, nicht wahr?“ sagte er zu Mr. Wardle, der infolge seiner unablässigen Anstrengungen, komplizierte Figuren m das Eis zu ritzen, schon ganz außer Atem war.

„Ja, das ist es“, erwiderte Wardle. „Schlitterst du?“

„Ich pflegte wohl in Gossen zu schlittern, als ich noch ein Knabe war“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Na, dann versuch’s doch mal“, riet Wardle.

„Ach ja, ja, bitte, Mr. Pickwick“, riefen sämtliche jungen Damen.

„Ich würde mich sehr glücklich schätzen, zu Ihrer Erheiterung etwas beizutragen“, erwiderte Mr. Pickwick, „aber wirklich, ich habe es seit dreißig Jahren nicht mehr probiert.“

„Lächerlich! Unsinn!“ sagte Wardle und legte seine Schlittschuhe mit jenem Ungestüm ab, das alle seine Handlungen charakterisierte. „Komm nur! Ich mache auch mit.“ Und der muntere alte Knabe sauste die Bahn hinunter, mit einer Geschwindigkeit, daß er fast Mr. Weller über den Haufen rannte und der Ruhm des feisten Jungen zu nichts verblaßte.

Mr. Pickwick besann sich eine Weile, zog seine Handschuhe aus, warf sie in seinen Hut, nahm zwei oder drei kurze Anläufe, hielt ebensooft wieder an und glitt endlich unter dem Beifallsgeschrei aller Zuschauer langsam und gravitätisch dahin, die Füße ungefähr anderthalb Ellen auseinandergespreizt.

„Halten Sie den Topf im Kochen, Sir. Nur so weiter“, rief Sam, und Wardle nahm einen zweiten Anlauf, und dann Mr. Pickwick, und dann Sam und Mr. Winkle und Bob Sawyer, der feiste Junge und Mr. Snodgraß, einer hinter dem andern, alle mit einem Eifer, als ob ihr künftiges Lebensglück davon abhinge.

Unendlich fesselnd war der Anblick, wie Mr. Pickwick seiner Aufgabe nachkam, die Seelenangst, mit der er auf seinen Hintermann blickte und ihn immer näher kommen sah, wie er sich langsam auf der Bahn umdrehte, mit dem Gesicht gegen den Punkt, von dem er ausgegangen, wenn seine Anfangsgeschwindigkeit nachließ, das heitere Lächeln zu betrachten, das sich über sein Antlitz verbreitete, wenn er am Ende der Bahn war, und die Geschwindigkeit, mit der er wieder einlenkte und seinem Vorgänger nachrannte, mit den schwarzen Gamaschen fröhlich durch den Schnee stampfend, die Augen blitzend vor Frohsinn und Heiterkeit hinter seinen Brillengläsern. Und wenn er niedergeworfen wurde, was sich im Durchschnitt jedes dritte Mal zutrug, so war es das entzückendste, was man sich denken konnte, ihm zuzusehen, wie er mit glühendem Antlitz Hut, Handschuhe und Sackruch aufhob und seine Stelle in der Reihe mit einem Feuereifer wieder einnahm, den nichts zu hemmen vermochte. Das Schlittern war in vollem Gange, der Jubel wurde immer lauter, da ertönte plötzlich ein heftiges Krachen. Alles rannte dem Ufer zu, die Damen schrien, und Mr. Tupman rief um Hilfe. Eine grolle Eismasse war eingebrochen, das Wasser wogte darüber her, und Mr. Pickwicks Hut, Handschuhe und Taschentuch schwammen auf der Oberfläche. Das war alles, was man von dem Gelehrten sehen konnte.

Schrecken und Angst malten sich auf jedem Gesicht, die Herren wurden blaß und die Damen ohnmächtig. Mr. Snodgraß und Mr. Winkle hielten einander an der Hand und starrten entsetzten Blickes nach der Stelle, wo der Meister verschwunden war, während Mr. Tupman, um schleunigst Hilfe zu scharfen und zugleich allen, die sich im Hörbereich befanden, die möglichst deutliche Vorstellung von dem Unfall zu geben, querfeldein rannte und aus Leibeskräften „Feurio!“ schrie.

Fast im selben Augenblick, als der alte Mr. Wardle und Sam Weller sich dem Eisloch vorsichtig näherten und Mr. Benjamin Allen eiligst mit Mr. Bob Sawyer sich über die Zweckmäßigkeit beriet, die ganze Gesellschaft zur Ader zu lassen, um sich ein wenig in ihrer Praxis zu üben – im selben Augenblick tauchte ein Kopf bis zu den Schultern aus dem Wasser auf und zeigte das Antlitz und die Brille Mr. Pickwicks.

„Halten Sie sich einen Augenblick, nur einen einzigen Augenblick!“ kreischte Mr. Snodgraß.

„Ja, tun Sie es! Ich beschwöre Sie, um meinetwillen!“ schrie fassungslos Mr. Winkle.

Die Beschwörung war eigentlich unnötig; denn selbst für den Fall, daß es Mr. Pickwick abgelehnt hätte, sich um eines andern willen über Wasser zu halten, würde er es doch wahrscheinlich um seiner selbst willen getan haben.

„Hast du Grund, alter Freund?“ fragte Wardle.

„Ja, gewiß“, keuchte Mr. Pickwick, sich das Wasser von £0pf und Gesicht schüttelnd und nach Luft schnappend. „Ich bin auf den Rücken gefallen. Ich konnte nicht gleich festen Fuß fassen.“

Der Schlamm auf Mr. Pickwicks Rock – soweit dieser noch sichtbar war – bezeugte die Richtigkeit seiner Aussage; überdies minderten sich die Besorgnisse der Zuschauer, als der feiste Junge sich plötzlich erinnerte, daß die Wassertiefe nirgends über fünf Fuß betrug. Nun wurden allenthalben Anstrengungen gemacht, den Gelehrten herauszuziehen. Unter vielem Planschen und Krachen und Strampeln gelang es auch, Mr. Pickwick aus seiner unbehaglichen Lage zu befreien, so daß er plötzlich wieder auf festem Boden stand.

„Ach, er wird sich den Tod holen in der Kälte“, jammerte Emilie.

„Der liebe alte Herr!“ sagte Arabella. „Darf ich Sie in meinen Schal wickeln, Mr. Pickwick?“

„Ja, das ist das beste, was du tun kannst“, sagte Wardle, „und wenn du eingewickelt bist, dann lauf nach Hause, so schnell deine Beine dich tragen, und hopse gleich ins Bett.“

Im Nu war ein Dutzend Schale zur Hand, worunter die drei oder vier dicksten ausgesucht und um Mr. Pickwick geschlungen wurden, der sich dann unter Führung von Mr. Weller in Bewegung setzte. Er bot nun einen einzigartigen Anblick: ein älterer, triefender Herr ohne Hut, die Arme seitlich an den Körper gebunden, der ohne ersichtlichen Grund mit einer Geschwindigkeit von sechs englischen Meilen pro Stunde durch die Gegend hetzte.

Natürlich dachte Mr. Pickwick in einem so ernsten Fall nicht an den äußeren Schein. Fortgezogen von Sam Weller, eilte er, was er nur konnte, bis er Manor Farm erreicht hatte, wo Mr. Tupman bereits fünf Minuten zuvor angekommen war und die alte Mrs. Wardle bis zum Herzklopfen erschreckt hatte, indem er ihre fixe Idee, es brenne im Kamin – ein Unglück, das sich ihrem Geiste stets in glühenden Farben darstellte, so oft jemand in ihrer Nähe die geringste Unruhe zeigte –, durch sein Benehmen wieder geweckt hatte.

Als Mr. Pickwick wohlverwahrt im Bett lag, fachte Weller ein helloderndes Feuer an und trug das Mittagessen auf. Der alte Wardle wollte nichts von Aufstehen hören braute eine Bowle Punsch und arrangierte zur Feier der glücklichen Rettung ein großes Trinkgelage, bei dem Mr. Pickwick im Bett den Vorsitz führte. Als er am nächsten Morgen erwachte, war kein Symptom von Erkältung an ihm zu bemerken, ein Beweis, wie Mr. Bob Sawyer ganz richtig bemerkte, daß in solchen Fällen nichts über den Punsch geht, wenn nicht der Patient in den gewöhnlichen Fehler verfällt, zuwenig davon zu trinken.

Die fröhliche Gesellschaft trennte sich am nächsten Morgen. Mr. Pickwick und seine Freunde nahmen ihre Sitze oben auf der Muggletonkutsche wieder ein, und Arabella Allen reiste unter dem Schutz ihres Bruders Benjamin und seines intimen Busenfreundes, Mr. Bob Sawyers, nach ihrem Bestimmungsort ab. Wo dieser sein mochte, war Mr. Winkle wohlbekannt. Wir haben uns vergeblich bemüht, ihn zu eruieren.

Ehe sie schieden, nahmen Mr. Bob Sawyer und Mr. Benjamin Allen mit geheimnisvollen Mienen Mr. Pickwick beiseite. Mr. Bob Sawyer legte seinen Zeigefinger zwischen zwei Rippen Mr. Pickwicks, um den Mediziner herauszukehren, und fragte burschikos:

„Alter Knabe, wo hausen Sie eigentlich?“

Mr. Pickwick erwiderte, daß er gegenwärtig sein Quartier im „Georg und Geier“ aufgeschlagen habe.

„Da könnten Sie mich mal besuchen kommen“, meinte Bob Sawyer.

„Nichts würde mir ein größeres Vergnügen machen.“

„Meine Wohnung ist“, sagte Mr. Bob Sawyer und zog eine Visitenkarte hervor, „Landstreet, Borough, nahe bei Guys und deshalb bequem für mich. Wenn Sie an der St.-Georgen-Kirche vorbei sind, führt der Weg ein klein wenig rechter Hand von Highstreet ab.“

„Ich werde es schon finden“, meinte Mr. Pickwick, und dann schüttelten sie sich die Hände und verabschiedeten sich.

Mr. Winkle und Mr. Snodgraß hatten sich währenddessen angelegentlichst mit Arabella Allen beziehungsweise mit Emilie Wardle im Flüsterton unterhalten. Um so schweigsamer waren sie später auf der Reise. Zu Mr. Pickwick oder Mr. Tupman sprachen sie volle achtundzwanzig Meilen auch nicht ein Wort, seufzten sehr oft, verschmähten Ale und Brandy und sahen düster darein. Der Grund dazu entzieht sich vollständig unsrer Beurteilung.

Dreißigstes Kapitel


Dreißigstes Kapitel

Handelt lediglich von Gerichtspraxis und verschiedenen bedeutenden Rechtsgelehrten.

Verstreut in den vielen Trakten und Winkeln des „Tempels“ liegen gewisse düstere und schmutzige Zimmer, in denen selbst während der Gerichtsferien den ganzen Vormittag über und während der Sitzungsperiode auch noch den ganzen Nachmittag lang bis in den halben Abend hinein ein fast ununterbrochenes Kommen und Gehen von Menschen herrscht, die Aktenbündel unter den Arm geklemmt oder aus den Taschen heraushängen haben: es sind die Advokatenschreiber.

Es gibt bekanntlich verschiedene Klassen von Advokatenschreibern. Da ist vor allem der Volontär, der bezahlt hat und ein Rechtsanwalt in spe ist. Er hat Jahresrechnung beim Schneider, verkehrt in Gesellschaften, kennt eine Familie in Gowerstreet und eine andre in Tavistocksquare, besucht in den Ferien seinen Vater, der eine Unzahl Pferde hält – kurz, er ist der Aristokrat unter den Schreibern. Dann kommt im Rang der salarierte Schreiber, der den größten Teil seines Wochengehaltes von dreißig Schilling auf sein Vergnügen und seine Garderobe verwendet, wenigstens dreimal wöchentlich zu halbem Preis ins Adelphitheater geht, darauf in den Mostkellern eine Orgie feiert und eine Art schäbige Karikatur der vorletzten Mode ist. Dann gibt es noch den Kopisten, den Mann in mittleren Jahren, mit einer großen Familie, immer abgeschabt gekleidet und öfters betrunken, und endlich die kleinen Praktikanten in ihren ersten Überröcken, die auf die Schuljugend mit Verachtung herabsehen und, wenn sie abends die Schreibstube verlassen und in die Kneipe rennen, denken: Es geht doch nichts über das „Leben“.

Diese abgelegenen Winkel sind die Werkstätten des Gesetzes, wo Vorladungen ausgefertigt, Gutachten unterzeichnet, Klagen eingeleitet und eine Menge andrer sinnreicher Maschinerien in Bewegung gesetzt werden, die zur Marter der getreuen Untertanen Seiner Majestät und zu Nutz und Frommen der Juristen erfunden sind. Die meisten dieser Stuben sind niedrige, dumpfe Gemächer, in denen zahllose Pergamentrollen, modrig schon seit einem Jahrhundert, ihren angenehmen Geruch tagsüber mit dem Aroma der Trockenfäule und abends mit den verschiedenen Ausdünstungen nasser, dampfender Mäntel, triefender Regenschirme und schlechtester Talglichter vermischen.

Eines Abends, ungefähr zehn bis vierzehn Tage nach der Rückkehr Mr. Pickwicks und seiner Freunde, erschien gegen halb acht Uhr in einer dieser Gerichtsstuben in großer Eile ein junger Mensch in einem braunen Überrock mit messingenen Knöpfen, das lange Haar unter dem Rand des abgetragenen Hutes sorgfältig gescheitelt und die beschmutzte grobe Hose so straff über die Blücherstiefel gezogen, daß die Knie jeden Augenblick aus ihrer Verhüllung hervorzubrechen drohten, und zog aus seiner Rocktasche einen langen, schmalen Pergamentstreifen, auf den der diensthabende Schreiber einen unleserlichen schwarzen Stempel drückte. Dann legte er vier Papierschnitzel von ähnlichen Dimensionen vor, deren jeder eine gedruckte Abschrift des Pergamentstreifens enthielt – mit einem freien Raum darunter für einen Namen –, ließ die freien Räume ausfüllen, steckte die fünf Dokumente wieder in die Tasche und enteilte.

Der Mann mit dem braunen Rock und den geheimnisvollen Dokumenten war Mr. Jackson von Dodson und Fogg, Freemans Court, Cornhill. Statt aber in die Schreibstube zurückzukehren, aus der er gekommen war, lenkte er seine Schritte gerade auf Sun Court zu und ging in den „Georg und Geier , wo er nach Mr. Pickwick verlangte.

„Wie ist Ihr Name, Sir?“ fragte der Kellner.

„Jackson.“

Der Kellner eilte die Treppe hinauf, um Mr. Jackson zu melden, aber dieser überhob ihn der Mühe, folgte ihm auf dem Fuße nach und trat ins Zimmer, ehe jener noch eine Silbe hervorzubringen vermochte. Mr. Pickwick hatte seine drei Freunde zu Tisch geladen, und die Herren saßen vor dem Kamin gerade beim Wein.

„Wie geht’s, Sir?“ fragte Mr. Jackson und nickte Mr. Pickwick zu.

Der leutselige Gelehrte verbeugte sich und sah etwas verblüfft drein, denn Mr. Jacksons Züge waren seinem Gedächtnis nicht mehr gegenwärtig. „Ich komme von Dodson und Fogg“, bemerkte Mr. Jackson erklärend.

Mr. Pickwick erhob sich empört.

„Ich verweise Sie an meinen Anwalt, Sir, Mr. Perker in Grays Inn“, sagte er. „Kellner, begleiten Sie den Herrn wieder hinaus.“

„Bitte um Entschuldigung, Mr. Pickwick“, fiel Jackson ein, legte ungeniert seinen Hut ab und zog den Pergamentstreifen aus der Tasche, „es handelt sich um persönliche Einhändigung. Sie verstehen, Mr. Pickwick, in solchen Fällen geht nichts über Vorsicht – wie?“

Dabei warf Mr. Jackson einen Blick auf das Pergament, stützte sich mit den Händen auf den Tisch, sah sich mit gewinnendem und beredtem Lächeln ringsum und fuhr ungeniert fort:

„Also zur Sache. Welcher von den Herren nennt sich Snodgraß?“

Bei dieser Frage machte Mr. Snodgraß eine so unzweideutige und lebhafte Bewegung, daß es keiner weiteren Erklärung bedurfte.

„Habe mir’s gleich gedacht“, sagte Mr. Jackson noch freundlicher als zuvor. „Ich habe hier eine Kleinigkeit, womit ich Sie belästigen muß, Sir.“

„Mich?“ rief Mr. Snodgraß.

„Es ist nur eine Zeugenvorladung in Sachen Bardell kontra Pickwick“, erwiderte Jackson, suchte unter den Papierstreifen einen heraus und zog einen Schilling aus der Westentasche. „Der Termin ist auf den vierzehnten Februar anberaumt; wir haben eine Vorverhandlung beantragt. Da ist Ihre Vorladung, Mr. Snodgraß.“

Mit diesen Worten drückte Jackson Mr. Snodgraß das Papier und den Schilling in die Hand und wiederholte das Manöver mit Lebendigkeit bei Mr. Tupman und Mr. Winkle.

„Sie werden mich vielleicht für aufdringlich halten“, fuhr er fort, „aber ich muß noch nach jemand fragen. Ich habe hier noch den Namen Samuel Weller stehen, Mr. Pickwick.“

„Schicken Sie nach meinem Diener, Kellner“, befahl Mr. Pickwick. Der Kellner entfernte sich äußerst erstaunt, und Mr. Pickwick bot Mr. Jackson einen Stuhl an.

Nach einer längern Pause peinlichen Stillschweigens sagte der Gelehrte mit steigendem Unwillen:

„Ich vermute, Sir, Ihre Prinzipale haben die Absicht, durch das Zeugnis meiner eigenen Freunde Beweismaterial für meine angebliche Schuld gegen mich zu sammeln?“

Mr. Jackson legte seinen Zeigefinger an die Nase, um dadurch anzudeuten, daß er nicht aus der Schule schwatzen dürfe.

„Wozu werden denn meine Freunde vorgeladen, wenn nicht aus diesem Grunde?“

„Eine verfängliche Frage, Mr. Pickwick“, erwiderte Jackson kopfschüttelnd. „Kann wirklich nicht dienen. Nützt alles nichts. Aus mir werden Sie nichts herausbringen. Nein, nein, Mr. Pickwick“, setzte er hinzu. „Perkers Leute müssen den Zweck dieser Vorladungen schon selbst erraten. Wenn’s ihnen nicht gelingt, so müssen sie eben warten, bis die Sache verhandelt wird.“

Mr. Pickwick warf einen Blick höchsten Widerwillens auf seinen unwillkommenen Gast und würde wahrscheinlich Fluch und Verdammnis auf die Häupter der Herren Dodson und Fogg herabgerufen haben, hätte ihn nicht in diesem Augenblick Sams Eintritt unterbrochen. „Samuel Weller?“ fragte Mr. Jackson.

„Das is eins von den wahrhaftigsten Worten, wo Sie seit vielen Jahren gesagt haben“, versetzte Sam gelassen.

„Hier ist eine sub poena für Sie, Mr. Weller“, sagte Jackson.

„Was heißt das in unserer Muttersprache?“ fragte Sam.

„Hier ist das Original“, fuhr Jackson fort, ohne sich auf verlangte Erklärung einzulassen.

„Welches?“

„Dieses hier“, erwiderte Jackson und hielt das Pergament hin.

„So, so, das ist also das Original“, sagte Sam. „Na, das freut mich aber. Da fällt mir richtiggehend ’n Stein vom Herzen.“

„Und hier ist der Schilling“, fuhr Jackson fort. „Von Dodson und Fogg.“

„Ach, das is ja ungemein hübsch von Dodson und Fogg, wo die mir doch so wenig kennen, daß sie mir ’n Präsent schicken“, sagte Sam. „Ich empfinde es als ein großes Kompliment, Sir, und es macht denen sehr viel Ehre, daß sie Verdienste belohnen, wo sie welche finden. Es schlägt einem direkt aufs Gemüt.“

Bei diesen Worten rieb sich Mr. Weller theatralisch mit dem Rockärmel das rechte Augenlid.

Mr. Jackson schien durch Sams Benehmen ein wenig aus der Fassung gebracht, aber da er sich seiner Vorladungen entledigt hatte und nichts weiter zu sagen wußte, machte er eine Bewegung, als wenn er den einzigen Handschuh, den er des guten Eindrucks wegen immer in der Hand trug, anziehen wollte, und kehrte in seine Kanzlei zurück, um Rapport zu erstatten.

Mr. Pickwick schlief in dieser Nacht wenig; man hatte seinem Gedächtnis einen reichlich unangenehmen Denkzettel wegen der Bardellschen Klage verabfolgt.

Er frühstückte am folgenden Morgen beizeiten und machte sich in Sams Begleitung nach dem Grays-Inn-Viertel auf den Weg.

„Sam!“ sagte er, als sie das Ende von Cheapside erreicht hatten, sah einige Sekunden lang seinem Diener mit einem leeren Blick ins Gesicht und stieß einen schweren Seufzer aus.

„Was is Ihnen, Herr?“ fragte Sam.

„Also am Vierzehnten nächsten Monats soll die Sache zur Verhandlung kommen.“

„Ein merkwürdiges Zusammentreffen das, Sir“, versetzte Sam.

„Wieso, merkwürdig, Sam?“

„’s is gerade Valentinstag, Sir“, erwiderte Sam scherzend „’n sehr geeigneter Tag zu ’ner Gerichtsverhandlung wegen Bruchs eines Eheversprechens.“

Mr. Wellers Anspielung rief nicht das geringste Lächeln auf seines Herrn Gesicht hervor. Mr. Pickwick wandte sich um und nahm schweigend seinen Weg wieder auf.

Sie waren eine Strecke weit gegangen – Mr. Pickwick in tiefes Nachdenken versunken voraus –, als Sam, entschlossen, seinen Herrn aufzuheitern, seine Schritte beschleunigte, bis er hart hinter ihm stand, und auf ein Haus deutend, an dem sie vorüberkamen, sagte:

„Ein sehr hübscher Fleischladen das, Sir.“

„Ja, es scheint“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Berühmte Wurstfabrik.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich“, wiederholte Sam mit wichtiger Miene; „das will ich meinen. Gott segne Ihre unschuldigen Augenbrauen; das is doch dasselbe Haus, wo vor ’n paar Jahren ’n achtbarer Handelsmann auf geheimnisvolle Weise verschwand.“

„Er wurde doch nicht ermordet, Sam?“ fragte Mr. Pickwick, sich hastig umsehend.

„Nö nich gerade ermordet, Sir“, erwiderte Mr. Weller, „ich wollte, ’s wäre so, denn es ging ihm noch viel schlimmer. Der Laden gehörte ihm und er war der Erfinder von „ne Patentwurstdampfmaschine, wo „n Flasterstein so leicht zu Mettwurst zerreiben kann wie „n kleines Kind. War natürlich mächtig stolz auf diese Maschine und stand immer im Keller und sah ihr zu, wenn sie so richtig in Schwung war, bis er vor Freude ganz melancholisch wurde. Er hätte ’n sehr glücklicher Mann sein können, mit seiner Maschine und den zwei netten Kindern, die er hatte, wenn seine Frau nich gewesen wäre. Das war ’ne böse Sieben. Immer war sie hinter ihm her und lag ihm in den Ohren, bis er es schließlich nich mehr aushaken konnte. ,Ich will dir mal was sagen, mein Schatz‘, sagte er, ,ich will verdammt sein, wenn ich nich nach Amerika abhaue, und damit Punktum.‘ – ,Du bist ’n Taugenichts‘, sagte sie, ,und ich wünsche den Amerikanern Glück zu dem Fang.‘ Und denn keifte sie noch ’ne halbe Stunde lang und lief in das Ladenstübchen und fing an zu schreien, daß er noch ihr Tod sein würde, und denn bekam sie ’n Anfall und schlug mit Händen und Füßen um sich; drei ganze Stunden lang. Na, und am andern Morgen wurde der Mann vermißt. Er hatte nichts aus der Kasse genommen, nich mal seinen großen Überrock angezogen; es war also klar, daß er nich nach Amerika gegangen war. Kam am andern Tag nich, kam in der andern Woche nich; die Frau ließ veröffentlichen, daß ihm alles vergeben sein sollte, wenn er zurückkommen würde – Kunststück, wo er gar nichts gemacht hatte. – Alle Kanäle wurden abgefischt, und wenn sie in den nächsten zwei Monaten irgendwo ’ne Leiche fanden, denn wurde die in den Wurstladen gebracht, als ob es ganz selbstverständlich war. Aber – er wurde auch so nich gefunden, und da hieß es denn, er wäre abgehauen, und sie machte denn mit dem Geschäft weiter. Einen Samstag gegen Abend kam ’n kleiner dürrer alter Herr ganz aufgeregt in den Laden und sagte: ,Gehört Ihnen dieser Laden?‘ – ,Allerdings gehört er mir‘, sagte sie. – ,Na gut, Ma’am‘, schreit er, ,denn muß ich Sie sagen, daß ich mitsamt meine Familie für nichts und gar nichts beinahe erstickt wäre. Wenn Sie schon nich das beste Fleisch für ihre Wurstmachern nehmen, denn nehme ich doch an, daß Sie aber wenigstens die Hosenknöpfe weglassen könnten.‘ – ,Hosenknöpfe, Sir?‘ sagte sie. Ja, Hosenknöpfe, Madam!‘ sagte der kleine alte Herr, wickelt ’n Papier aus und zeigt ihr zwanzig bis dreißig halbe Knöpfe. ,Das sind die Knöpfe von meinem Mann‘, sagt die Witwe und wird beinahe ohnmächtig. ,Was?‘ schreit der kleine alte Herr und wird ganz blaß. Jetzt ist mir alles klar‘, sagte die Witwe, ,er hat sich selbst in einem Anfall von Wahnsinn Hals über Kopf in Wurst verwandeln lassen!‘ – Und so war es denn auch“, schloß Mr. Weller und blickte Mr. Pickwick ruhevoll in das schreckensbleiche Antlitz, „oder is er vielleicht zufällig zu nahe an die Maschine gekommen – aber wie es nu auch war, der kleine alte Herr, wo von Kindheit an so gerne Wurst gegessen hatte, raste aus dem Laden raus und ließ nie wieder was von sich hören.“

Herr und Diener waren während der rührenden Erzählung dieses ergreifenden Begebnisses aus dem Privatleben in der Wohnung Mr. Perkers angekommen. Mr. Lowten unterhielt sich gerade zwischen Tür und Angel mit einem schlecht gekleideten, erbärmlich aussehenden Klienten in Stiefeln, aus denen die Zehen hervorguckten, und Handschuhen ohne Fingerspitzen. Das eingefallene und abgehärmte Gesicht des Mannes trug die Spuren der Entbehrung und des Leidens, ja, beinahe der Verzweiflung; er war sich seiner Armut offenbar sehr bewußt, denn er trat bei Mr. Pickwicks Kommen in den Schatten der Treppe zurück.

„Das ist sehr, sehr mißlich“, hörte ihn Mr. Pickwick seufzen.

„Ja, sehr“, erwiderte Lowten, seinen Namen an den Türpfosten kritzelnd und mit der Fahne der Feder wieder auswischend. „Soll ich ihm etwas ausrichten?“

„Wann glauben Sie wohl, daß er zurückkommen wird?“ fragte der Fremde.

„Ganz unbestimmt“, erwiderte Lowten, Mr. Pickwick zuzwinkernd, als der Fremde gerade zur Seite sah.

„Glauben Sie nicht, daß es gut wäre, wenn ich ihn hier erwarten würde?“ fragte der Fremde mit einem sehnsüchtigen Blick in die Schreibstube. „O nein, gewiß nicht“, erwiderte Mr. Lowten und stellte sich mehr in die Mitte der Tür. „In dieser Woche kommt er nicht mehr zurück, und ob in der nächsten, ist fraglich; wenn Perker einmal verreist ist, so beeilt er sich mit seiner Rückkehr nie besonders.“

„Er ist verreist?“ fragte Mr. Pickwick. „Ach Gott, wie ärgerlich!“

„Bleiben Sie nur, Mr. Pickwick“, sagte Lowten, „ich habe einen Brief an Sie.“

Der Fremde schien unschlüssig und blickte abermals zu Boden. Der Schreiber warf Mr. Pickwick einen schlauen Blick zu.

„Treten Sie doch ein, Mr. Pickwick“, drängte er. „Also, soll ich etwas ausrichten, Mr. Watty, oder wollen Sie wieder vorsprechen?“

Bitten Sie Mr. Perker, er möge so liebenswürdig sein zu hinterlassen, was in meiner Sache geschehen sei“, sagte der Mann „Aber ich bitte Sie um Gottes willen, vergessen Sie es nicht“ Mr. Lowten!“

Nein, nein, werde es nicht vergessen , erwiderte der Schreiber. „Treten Sie ein, Mr. Pickwick. – Guten Morgen, Mr. Watty. – Ein schöner Tag zum Spazierengehen, nicht wahr?“

Als er sah, daß der Fremde immer noch zögerte, winkte er Sam Weller und seinem Herrn, einzutreten, und schlug dem Klienten die Tür vor der Nase zu.

„Einen solchen lästigen Bankerottierer hat es, glaube ich, seit Erschaffung der Welt nicht gegeben“, rief er dann und warf seine Feder mit der Miene eines schwer gekränkten Mannes auf den Tisch. „Seine Sachen liegen noch nicht volle vier Jahre bei Gericht, und ich will verdammt sein, wenn er uns nicht jede Woche zweimal mit Mahnungen quält. Bitte, hier herein, Mr. Pickwick! Perker ist selbstverständlich zu Hause und wird Sie gleich empfangen. Aasig kalt“, setzte er verdrießlich hinzu. „Unter der Tür stehen und sich von solchen lumpigen Vagabunden um seine Zeit bringen lassen zu müssen!“

Nachdem er noch schnell und in großer Aufregung mit einem winzigen Schüreisen ein Riesenfeuer angefacht, ging er in das Arbeitszimmer seines Prinzipals und meldete Mr. Pickwick an.

„Ach, mein lieber Herr“, rief der kleine Mr. Perker und sprang von seinem Stuhl auf. „Was gibt es denn Neues in unsrer Angelegenheit? Wieder etwas von unsern Freunden in Freemans Court? Sie haben diese Zeit über nicht geschlafen, kann es mir denken. Oh, es sind rührige Leute – sehr rührig, ich versichere Ihnen!“ Und der kleine Mann nahm mit wichtiger Miene eine Prise Tabak, um dadurch der Rührigkeit der Herren Dodson und Fogg seine Huldigung darzubringen.

„Große Spitzbuben sind es“, sagte Mr. Pickwick.

„Nun, nun“, begütigte der kleine Mann, „wie man’s nimmt. Wir wollen nicht über Worte streiten, denn natürlich kann man von Ihnen nicht erwarten, daß Sie die Sache mit den Augen des Fachmanns ansehen. Aber wir haben auch alles getan, was zu tun war. Ich habe den Prokurator Snubbin gewonnen.“

„Ist der so gut?“ fragte Mr. Pickwick.

„Gut?! Beim Himmel, mein lieber Herr, Snubbin ist einer der renommiertesten Sachwalter! Hat dreimal mehr zu tun als irgendein Advokat; ist bei allen Gerichtssachen beteiligt. Unter uns gesagt, bei uns Leuten vom Fach heißt es immer, der Prokurator Snubbin führe den Gerichtshof an der Nase herum.“

„Dodson und Fogg haben meine drei Freunde als Zeugen vorgeladen“, erzählte Mr. Pickwick.

„Das war nicht anders zu erwarten“, meinte Perker. „“Wichtige Zeugen! Haben Sie in einer delikaten Situation gesehen.“

„Aber sie fiel doch absichtlich in Ohnmacht“, warf Mr. Pickwick ein, „sie fiel mir absichtlich in die Arme.“

„Sehr wahrscheinlich, mein lieber Herr“, versetzte Perker, „sehr wahrscheinlich und sehr natürlich. Nichts natürlicher, mein lieber Herr; aber wie das beweisen?“

„Sie haben auch meinen Diener vorgeladen“, ließ Mr. Pickwick das Thema fallen, durch Perkers Frage ein wenig aus der Fassung gebracht.

„Mr. Sam?“

Mr. Pickwick bejahte.

„War auch zu erwarten, mein lieber Herr, auch zu erwarten. Sie mußten das tun; ich hätte Ihnen das schon vor einem Monat sagen können. Das kommt davon, mein lieber Herr, wenn Sie selbst noch Schritte tun, nachdem Sie Ihre Sache bereits Ihrem Anwalt übergeben haben. Dann müssen Sie eben die Folgen tragen.“

Und Mr. Perker richtete sich im Bewußtsein seiner Würde auf und schnippte einige verirrte Schnupftabakskörner von seiner Hemdkrause.

„Und was wollen sie denn mit ihm beweisen?“ fragte Mr. Pickwick nach einer Pause von ein paar Minuten.

„Daß Sie ihn zu der Klägerin geschickt haben, um ihr einen Vergleich anzubieten, vermute ich“, erwiderte Perker.

„Es hat aber nicht viel auf sich, denn ich glaube, aus ihm werden sie wenig herausbringen.“

„Dieser Ansicht bin ich auch“, bemerkte Mr. Pickwick, trotz seiner Verstimmung bei dem Gedanken an ein Auftreten Sams vor Gericht lächelnd. „Was sollen wir aber anfangen?“

„Es steht uns nur ein Weg offen, mein lieber Herr“, erwiderte Perker, „nämlich die Zeugen mit Querfragen zu verwirren, Snubbins Beredsamkeit zu vertrauen, dem Richter Sand in die Augen zu streuen und auf die Geschworenen zu bauen.“

„Und gesetzt, der Spruch fiele gegen mich aus?“

Mr. Perker lächelte, nahm gemächlich wieder eine Prise, schürte das Feuer, zuckte die Achseln und beobachtete ein bedeutungsvolles Stillschweigen.

„Sie glauben, daß ich in diesem Falle die Entschädigung zahlen müßte?“ fragte Mr. Pickwick, der alle diese stummen telegrafischen Antworten mit steigender Erregung beobachtet hatte.

Perker gab dem Brennstoff noch einen höchst unnötigen Stoß und sagte:

„Ich fürchte, ja.“

„Dann gestatte ich mir, Ihnen meinen unabänderlichen Entschluß kundzutun, daß ich durchaus keine Entschädigung zu zahlen gedenke“, sagte Mr. Pickwick mit großem Nachdruck. „Durchaus keine, Perker! Nicht ein Pfund, nicht ein Penny von meinem Geld soll den Weg in Dodson und Foggs Taschen finden. Das ist mein wohlüberlegter und unwiderruflicher Entschluß.“ – Und zur Bestätigung der Unwiderruflichkeit seiner Absicht schlug Mr. Pickwick heftig auf den Tisch.

„Ganz recht, mein lieber Herr, ganz recht“, sagte Mr. Perker, „Sie müssen das natürlich am besten wissen.“

„Natürlich“, erwiderte Mr. Pickwick hastig. „Wo wohnt Prokurator Snubbin?“

„In Lincolns Inn, Old Square.“ „Ich möchte ihn sogleich sprechen.“

„Prokurator Snubbin sprechen, mein lieber Herr!?“ fiel Perker im Tone des höchsten Erstaunens ein. „Aber mein lieber Herr, das ist doch unmöglich. Prokurator Snubbin sprechen! Wo denken Sie hin! So was ist noch nie vorgekommen, ohne daß die Konsultationsgebühr vorher entrichtet und die Audienz anberaumt wurde. Es geht durchaus nicht, mein lieber Herr, geht durchaus nicht.“

Aber Mr. Pickwick hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß es nicht nur gehen könne, sondern daß es sogar gehen müsse; und die Folge davon war, daß er zehn Minuten, nachdem er die Versicherung erhalten, es könne keinesfalls sein, von seinem Sachwalter in das Vorzimmer des großen Prokurators Snubbin geführt wurde.

Es war dies ein ziemlich geräumiges Gemach, das durch Abwesenheit von Bodenteppichen glänzte. Vor dem Feuer stand ein großer Schreibtisch, dessen wollener Überzug längst seine Ansprüche auf sein ursprüngliches Grün aufgegeben hatte und mit Ausnahme der Stellen, deren natürliche Farbe durch Tintenflecken verwischt war, vom Staub und Alter allmählich grau geworden war. Hinter einer Menge kleiner Aktenbündel, die mit rotem Zwirn zusammengebunden waren, saß ein ältlicher Schreiber, dessen stattliches Äußere und schwere goldene Uhrkette den imponierenden Beweis von der ausgedehnten und einträglichen Praxis des Herrn Prokurator Snubbin ablegte.

„Ist der Prokurator auf seinem Zimmer, Mr. Mallard?“ fragte Perker und hielt mit ausgesuchtester Höflichkeit dem Schreiber seine Dose hin. „Ja“, war die Antwort, „hat aber vollauf zu tun. Sehen. Sie hier, alle diese Sachen warten noch auf ein Gutachten, trotzdem die Gebühren bereits bezahlt sind.“

„Das nenne ich mir eine Praxis“, rief Perker.

„Ja, und das beste dabei ist“, schmunzelte der Schreiber, „daß niemand des Prokurators Handschrift lesen kann als ich, und die Leute also, nachdem die Gutachten schon ausgestellt sind, warten müssen, bis ich sie abgeschrieben habe – hahaha!“

„Was außer dem Prokurator noch einem gewissen Jemand zugute kommt, der aus den Klienten noch etwas mehr herauszieht, nicht wahr?“ sagte Perker. „Hahaha!“

Wiederum lachte der Schreiber des Prokurators, aber diesmal nicht laut, sondern ganz still und innerlich, was Mr. Pickwick gar nicht gefiel. Wenn jemand innerlich blutet, so ist es gefährlich für ihn selbst; aber wenn er innerlich lacht, so bedeutet es für andere Leute nichts Gutes.

„Haben Sie mir die Gebühren noch nicht herausgeschrieben, die ich Ihnen schulde?“ fragte Mr. Perker.

„Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen“, erwiderte der Schreiber.

„Es wäre mir lieb, wenn Sie’s täten. Stellen Sie mir die Rechnung zu, und ich werde Ihnen einen Scheck schicken. Sie haben natürlich zuviel mit dem laufenden Inkasso zu tun, als daß Sie an Ihre Außenstände denken könnten – nicht wahr? Hahaha!“

Dieser Witz schien den Schreiber ordentlich zu kitzeln, denn er lachte wieder geräuschlos und innerlich.

„Aber Mr. Mallard, lieber Freund“, sagte Perker, wurde plötzlich wieder ernst und zog den großen Gehilfen des großen Anwaltes am Rockzipfel in eine Ecke, „Sie müssen den Prokurator dazu bewegen, mich und meinen Klienten vorzulassen.“

„Aber ich bitte Sie!“ ereiferte sich der Schreiber; „ich bitte Sie! – Den Prokurator sprechen! Gehen Sie, das ist doch zu absurd.“ Ungeachtet der Absurdität des Vorschlages hörte er jedoch Mr. Perker noch weiter freundlich zu und nach einem kurzen im Flüsterton geführten Gespräch ging er leise einen schmalen dunklen Gang hinab und verschwand in dem Allerheiligsten, aus dem er bald nachher auf den Zehen wieder hervorkam und Mr. Perker und Mr. Pickwick eröffnete, der Prokurator sei dazu überredet worden, sie gegen alle hergebrachte Ordnung und Norm sogleich vorzulassen.

Der Herr Prokurator Snubbin war ein Mann in den Fünfzigern mit einem eingefallenen, erdfahlen Gesicht. Sein Auge hatte den glanzlosen, erloschenen Blick, den man so oft bei Leuten sieht, die sich eine Reihe von Jahren hindurch einem langwierigen und mühevollen Studium gewidmet haben und machte auch ohne die Lorgnette, die an einem breiten schwarzen Bande herabhing, den Eindruck der Kurzsichtigkeit. Sein Haar war dünn und spärlich, was teils dem Mangel an Zeit für seine Toilette, teils einer neben ihm hängenden Juristenperücke, die er fünfundzwanzig Jahre lang getragen, zuzuschreiben war. Die Puderspuren auf seinem Rockkragen und das unsaubere und verschobene weiße Halstuch deuteten darauf hin, daß er seit seiner Rückkehr vom Gerichtssaal noch keine Zeit gefunden hatte, eine Änderung in seinem Anzug vorzunehmen, wobei die sonstige Nachlässigkeit in seinem Äußeren die Vermutung begründet erscheinen ließ, seine Person würde wenig dabei gewonnen haben, wenn es auch der Fall gewesen wäre. Bücher über Gerichtswesen, Stöße von Akten und offene Briefe waren ohne alle Rücksicht auf Ordnung oder Symmetrie auf dem Tisch zerstreut; das Meublement des Zimmers war alt und schadhaft, die Türen des Bücherschrankes rosteten in ihren Angeln, bei jedem Schritt flog der Staub in kleinen Wolken von dem Laufteppich empor, die Vorhänge waren vom Alter verblichen, und alles im Zimmer wies unzweideutig darauf hin, daß der Herr Prokurator Snubbin viel zuviel mit seinen Berufsgeschäften zu tun hatte, als daß er seiner Person große Aufmerksamkeit hätte schenken können.

Er schrieb gerade, als seine Klienten eintraten, verbeugte sich kurz, als Mr. Pickwick durch seinen Sachwalter vorgestellt wurde, ersuchte dann die Herren, Platz zu nehmen, steckte seine Feder sorgfältig in das Tintenzeug, streichelte sein linkes Bein und erwartete, daß man ihm die Sache vortrage.

„Mr. Pickwick ist der Beklagte in Sachen Bardell kontra Pickwick, Prokurator Snubbin“, begann Perker.

„Bin ich dabei engagiert?“ fragte der Prokurator.

„Gewiß, Sir.“

Der Prokurator nickte mit dem Kopf und wartete, was weiter folgen werde.

„Mr. Pickwick wünschte mit Ihnen zu sprechen, Prokurator Snubbin“, fuhr Perker fort, „um Ihnen zu versichern, daß er ausdrücklich in Abrede stellt, der gegnerischen Partei den geringsten Anlaß zur Klageführung gegeben zu haben, und daß er gar nicht vor Gericht aufträte, wenn er es nicht mit reinem Gewissen und mit der festen Überzeugung tun könne, auch nicht das mindeste verschuldet zu haben. Ich erlaube, Ihrer Ansicht richtig Ausdruck verliehen zu haben, nicht wahr, mein lieber Herr?“ wendete sich der kleine Mann an Mr. Pickwick.

„Ganz richtig.“

Der Herr Prokurator Snubbin nahm seine Lorgnette, betrachtete Mr. Pickwick einige Sekunden lang mit großer Aufmerksamkeit, wandte sich dann an Mr. Perker und fragte mit leichtem Lächeln:

„Hat Mr. Pickwick eine sichere Sache?“

Der Anwalt zuckte die Achseln.

„Stellen Sie Zeugen?“

„Nein.“

Das Lächeln auf dem Gesicht des Prokurators nahm einen bestimmteren Ausdruck an; er wiegte sein Bein stärker, lehnte sich in seinem Armstuhl zurück und hustete zweideutig.

So unmerklich diese Andeutungen die Gedanken des Prokurators über den Fall verrieten, sie entgingen der Aufmerksamkeit Mr. Pickwicks keineswegs. Er setzte daher die Brille fester auf die Nase und sagte, ohne auf Mr. Perkers Winke und Stirnrunzeln Rücksicht zu nehmen, mit großem Nachdruck:

„Mein Wunsch, Sie lediglich aus einem Grunde wie diesem um Audienz zu bitten, Sir, erscheint Ihnen, wo Sie notwendigerweise so viel mit solchen Dingen zu tun haben müssen, ohne Zweifel wohl höchst sonderbar?“

Der Prokurator machte den Versuch, mit ernster Miene ins Feuer zu sehen, konnte jedoch ein Lächeln nicht unterdrücken.

„Herren von Ihrem Fach, Sir“, fuhr Mr. Pickwick fort, „sehen immer nur die schlechteste Seite der menschlichen Natur – alle ihre Streitsucht, alle ihre Böswilligkeit und Gehässigkeit entschleiert sich vor Ihnen. Sie wissen aus Erfahrung, wieviel es bei den Geschworenengerichten auf den Effekt ankommt – ich will damit weder Ihnen, noch diesen Institutionen zu nahe treten – und sind daher geneigt, bei andern die Absicht vorauszusetzen, die Mittel, die Sie aus den reinsten, ehrenvollsten Gründen und in dem löblichen Bestreben, Ihren Klienten soviel wie möglich zu nützen, stets in Anwendung zu bringen und durch den Gebrauch nach ihrem vollen Werte zu schätzen gelernt haben – Sie sind geneigt, sage ich, bei andern die Neigung vorauszusetzen, diese Mittel zu Betrug und selbstsüchtigen Zwecken zu mißbrauchen. Ich glaube in der Tat, daß dieser Umstand die niedrige, aber sehr verbreitete Ansicht hervorgerufen hat, nach der Ihr Stand als argwöhnisch, mißtrauisch und allzu vorsichtig gilt. Ich bin mir zwar bewußt, Sir, daß mir unter den gegebenen Verhältnissen eine solche Erörterung Ihnen gegenüber nur schaden kann, aber ich bin dennoch hierhergekommen in dem Wunsche, Ihnen verständlich zu machen, was schon mein Freund Mr. Perker gesagt hat, daß ich nämlich an der Treulosigkeit, die mir zur Last gelegt wird, gänzlich unschuldig bin; und wenn ich auch von dem unschätzbaren Wert Ihres Beistandes überzeugt bin, Sir, so wollen Sie mir doch gestatten, noch hinzuzufügen, daß, im Fall Sie mir nicht unbedingt Glauben schenken sollten, ich jede Unterstützung seitens Ihrer Talente lieber missen möchte.“

Lange bevor Mr. Pickwick diese Rede, die im Verhältnis zu seiner ganzen Denkungsweise sehr prosaisch war, geschlossen hatte, war der Prokurator in tiefes Nachdenken versunken. Erst nach einigen Minuten, während deren er mit seiner Feder gespielt hatte, schien er sich der Anwesenheit seiner Klienten wieder zu erinnern. Er blickte auf und fragte ein wenig unvermittelt:

„Wer ist mein Assistent in dieser Sache?“

„Mr. Phunky, Sir“, erwiderte der Anwalt.

„Phunky – Phunky“, wiederholte der Prokurator, „hm, diesen Namen habe ich noch nie gehört. Er muß ein sehr junger Mann sein?“

„Allerdings, er ist ein sehr junger Mann“, versetzte der Anwalt. „Er ist erst – ja, ganz richtig, er ist erst seit acht Jahren zu den Schranken zugelassen.“

„Hm, habe ich mir gedacht“, sagte der Prokurator mit dem mitleidigen Tone, in dem man gewöhnlich von kleinen hilflosen Kindern spricht. „Mr. Mallard, schicken Sie nach Herrn – Herrn –“

„Phunky – Holborn Court, Grays Inn“, half Perker aus. Mr. Phunky. Und lassen Sie ihm sagen, es würde mich freuen, wenn er .sich auf einen Augenblick hierherbemühen wollte.“

Mr. Mallard entfernte sich, um seinen Auftrag auszurichten, und Prokurator Snubbin versank wieder in tiefes Nachdenken, bis Mr. Phunky erschien.

Obgleich als Sachwalter noch in den Kinderschuhen, war Mr. Phunky doch ein völlig ausgewachsener Mann. Er benahm sich außerordentlich schüchtern und sprach immer mit zitterndem Tone, was jedoch nicht von einem Gebrechen, sondern vielmehr von einer gewissen Befangenheit und dem Bewußtsein herrührte, daß er durch den Mangel an Gold oder Gönnern, Konnexionen oder Unverschämtheit „niedergehalten“ wurde. Er sah mit Ehrfurcht an dem Prokurator empor und machte dem Anwalt eine tiefe Verbeugung.

„Ich habe bisher noch nicht das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen. Mr. Phunky“, begann Prokurator Snubbin mit vornehmer Herablassung. Mr. Phunky verbeugte sich. Er hatte das Vergnügen gehabt, den Prokurator zu sehen und ihn auch mit dem ganzen Neid des armen Mannes schon achtundeinviertel Jahr lang beneidet.

„Wie ich höre, sollen Sie in dieser Sache mein Assistent sein?“

Wäre Mr. Phunky ein reicher Mann gewesen, so hätte er augenblicklich nach seinem Schreiber geschickt, um seinem Gedächtnis nachhelfen zu lassen. Wäre er ein kluger Mann gewesen, so hätte er den Zeigefinger an die Stirn gelegt und sich zu erinnern versucht, ob er bei der großen Menge seiner Geschäfte auch dieses übernommen habe; so aber war er weder reich noch klug – wenigstens nicht in diesem Sinne –, errötete demnach und verbeugte sich zustimmend.

„Haben Sie die Akten gelesen, Mr. Phunky?“ fragte der Prokurator.

Hier hätte Mr. Phunky selbstverständlich die Bemerkung hinwerfen sollen, er habe die Sache augenblicklich nicht im Kopf, aber da er die Akten, die ihm inzwischen vorgelegt worden waren, gelesen und seit den zwei Monaten, während deren er zu des Herrn Prokurator Snubbins Assistenten erhoben worden war, Tag und Nacht an nichts anderes mehr gedacht hatte, errötete er noch tiefer und machte abermals eine tiefe Verbeugung.

„Dies ist Mr. Pickwick“, stellte der Prokurator vor und deutete mit seiner Feder auf den Beklagten.

Mr. Phunky machte Mr. Pickwick mit der Ehrerbietung, die ein erster Klient stets erweckt, eine Verbeugung und verneigte sich dann wieder gegen den Prokurator.

„Sie gehen vielleicht mit Mr. Pickwick“, sagte dieser, „und – und – hören, was er Ihnen mitzuteilen hat. „Wir werden natürlich eine Konferenz darüber halten.“

Mit dieser Andeutung, daß er jetzt lange genug aufgehalten worden sei, hielt der Herr Prokurator Snubbin, der nach und nach immer gedankenvoller geworden war, für einen Augenblick seine Lorgnette ans Auge, machte nach allen Seiten eine leichte Verbeugung und vertiefte sich wieder in die vor ihm liegenden Akten eines endlosen Prozesses, bei dem es sich um die Sperrung eines unbegangenen Fußpfades handelte. Draußen auf dem Square gingen die Herren Phunky, Pickwick und Perker noch auf und ab und hielten eine lange Besprechung mit dem Ergebnis, daß es sehr schwer zu bestimmen sei, wie der Spruch ausfallen werde, und daß es ein sehr großes Glück bedeute, der Gegenpartei in bezug auf die Akquisition Mr. Snubbins zuvorgekommen zu sein, und was dergleichen Trostgründe mehr waren.

Hierauf weckte Mr. Pickwick Mr. Weller aus süßem Schlummer, der eine Stunde gedauert hatte, verabschiedete sich von Mr. Lowten und kehrte nach der City zurück.

Viertes Kapitel


Viertes Kapitel

Die Erzählung des wandernden Schauspielers.

„Es ist nichts Außerordentliches, Ja, nicht einmal etwas Ungewöhnliches an dem, was ich jetzt erzählen will“, begann der Trübsinnige. „Entbehrungen und Krankheit sind in manchen Lebenslagen etwas zu Alltägliches, um mehr Aufmerksamkeit zu verdienen, als den gewöhnlichsten Wechselfällen des menschlichen Lebens zuteil wird. Ich habe die folgenden kurzen Notizen gesammelt, weil ich den Mann, von dem ich rede, vor einigen Jahren sehr gut kannte. Ich war Augenzeuge, wie er immer tiefer und tiefer sank, bis er zuletzt jenen Abgrund von Elend erreichte, aus dem er sich nicht wieder erhob.

Der Mann, von dem ich erzähle, war ein kleiner Pantomimenschauspieler und, wie so viele seines Berufes, ein Gewohnheitstrinker. In seinen besseren Tagen, als er noch nicht durch Ausschweifungen herabgekommen und durch Krankheit geschwächt war, bezog er ein gutes Einkommen, das er bei einem geordneten Lebenswandel noch mehrere Jahre lang hätte beziehen können – wenn auch nicht viele –, denn solche Leute sterben entweder frühzeitig oder verlieren durch übermäßige Anstrengung die körperlichen Fähigkeiten bald, von denen allein ihr Erwerb abhängt. Seine Leidenschaft beherrschte ihn in einem Grade, daß er in kurzer Zeit fü die Rollen, in denen er etwas leisten konnte, unfähig wurde. Die Schenke übte einen Zauber auf ihn aus, dem er nicht widerstehen konnte. Vernachlässigte Krankheit. und hoffnungslose Armut mußten so sicher sein Los werden wie der Tod, wenn er bei seinem Laster beharrte Dennoch ließ er nicht davon, und die Folgen sind leicht zu erraten. Er konnte kein Engagement mehr finden und wurde brotlos.

Jeder, der nur einigermaßen mit dem Theaterleben bekannt ist, weiß, welche Menge armer Schlucker sich gewöhnlich im Troß einer größeren Bühne befindet – keine ordnungsgemäß angestellten Schauspieler, sondern Ballettvolk, Statisten, Hanswüste und so weiter, die fü eine bestimmte Pantomime oder Lokalposse, die gerade im Schwange ist, angenommen und dann wieder entlassen werden, bis wieder irgendein Zugstück gegeben wird, bei dem man ihrer Dienste aufs neue bedarf. Zu solchem Leben mußte der Mann seine Zuflucht nehmen. Er besorgte in kleinen Theatern das Stühlehinaustragen und erwarb sich dadurch einige Schillinge wöchentlich, die er seiner alten Leidenschaft opferte. Aber auch diese Erwerbsquelle versiegte bald. Seine Ausschweifungen verschlangen zuviel von seinen Einnahmen, um auch nur fü die geringsten Bedüfnisse etwas übrigzulassen, und er war nahe daran, zu verhungern. Er borgte bisweilen einem alten Bekannten eine Kleinigkeit ab oder trat auf irgendeinem Winkeltheater letzter Sorte auf; aber was er auch verdiente, wanderte denselben Weg.

So hatte er sich länger als ein Jahr herumgetrieben und durchgeschlagen, ohne daß man wußte, wie, als ich ihn auf einem der Theater an der Surreyseite des Flusses, wo ich gerade ein kurzes Engagement hatte, plötzlich wieder zu Gesicht bekam. Ich hatte ihn fü einige Zeit aus den Augen verloren, denn ich durchreiste das Land, während er sich in den Winkeln Londons herumtrieb. Er klopfte mir eines Abends auf die Schulter, als ich eben im Begriff war, das Theater zu verlassen, und über die Bühne ging. Nie werde ich den abschreckenden Anblick vergessen, der sich meinen Augen darbot, als ich mich umwandte. Er spielte eine kleine Rolle in einer Pantomime und stand in der ganzen Abgeschmacktheit eines Hanswurstanzuges vor mir. Die Gespenster im Totentanz, die grauenhaftesten Gestalten, die jemals der Pinsel des geschicktesten Malers auf die Leinwand zaubern könnte, waren nicht halb so entsetzlich anzusehen. Sein aufgedunsener Leib und seine hageren Beine, deren Mißgestalt durch die Narrenkleidung erst recht hervorgehoben wurde, die gläsernen Augen, die gegen das dick aufgetragene Weiß, womit sein Gesicht beschmiert war, füchterlich abstachen, der grotesk aufgeputzte, paralytisch zitternde Kopf und die langen, mit Kreide bemalten, fleischlosen Hände – alles gab ihm ein gräßliches, unnatüliches Aussehen, von dem man sich keine Vorstellung machen kann und an das ich mich bis auf diesen Tag nur mit Schaudern erinnere. Seine Stimme war hohl und bebte, als er mich beiseite nahm, mir in abgerißnen Worten ein langes und breites von Krankheit und Entbehrungen vorschwatzte und dann, wie gewöhnlich, mit der flehentlichen Bitte schloß, ihm eine Kleinigkeit vorzustrecken. Ich drückte ihm ein paar Schillinge in die Hand, und als ich mich umdrehte, hörte ich das schallende Gelächter, das sein Auftreten auf den Brettern hervorrief.

Wenige Tage später drückte mir abends ein Junge einen schmutzigen Papierfetzen in die Hand; darauf waren mit Bleistift einige Worte gekritzelt, aus denen hervorging, daß der Mann schwerkrank war und mich bat, ihn nach der Vorstellung in seiner Behausung aufzusuchen, die irgendwo in der Nähe des Theaters lag; mir fällt im Augenblick nicht der Straßenname ein. Jedenfalls versprach ich, sobald wie möglich zu kommen, und sobald der Vorhang unten war, trat ich meinen traurigen Weg an.

Es war spät, denn ich hatte im letzten Akt gespielt, und da es eine Benefiz gewesen, dauerte die Vorstellung ungewöhnlich lange. Es war eine finstere, traurige Nacht; ein naßkalter Wind trieb den Regen heftig gegen Fenster und Haustüen. Das Wasser hatte sich in den schmalen, wenig besuchten Gäßchen zu Pfützen angesammelt, und da das Ungestüm des Windes die wenigen Lampen, die hin und wieder angebracht waren, ausgelöscht hatte, war der Weg nicht nur sehr mühsam, sondern auch höchst unsicher. Doch hatte ich glücklicherweise die richtige Gasse gewählt und fand endlich nicht ohne Schwierigkeit das bezeichnete Haus – ein Kohlenmagazin, mit einem Stockwerk darüber, in dessen Hinterzimmer der Mann lag, dem mein Besuch galt.

Ein abgezehrt aussehendes Weib, die Frau des Unglücklichen, empfing mich auf der Treppe, führte mich mit den Worten, ihr Mann sei eben in eine Art Schlummer gefallen, leise in die Stube und stellte mir einen Stuhl vor das Bett. Der Kranke hatte das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und da er meinen Eintritt nicht gewahr wurde, so blieb mir Muße, das Zimmer zu betrachten, in dem ich mich befand.

Er lag in einem alten Bettgestell, das den Tag über zusammengeklappt werden konnte. Die zerlumpten Überreste eines buntscheckigen Vorhanges umschlossen den oberen Teil des Bettes, um den Wind abzuhalten, der das unbehagliche Gemach frei durchstrich, indem er durch die zahlreichen Spalten der Tü eindrang und die Lappen fortwährend hin und her bewegte. In einem rostigen, freistehenden Becken glomm ein mattes Kohlenfeuer, und davor stand ein alter, dreieckiger, schmieriger Tisch mit Arzneifläschchen, einem zerbrochenen Glas und einigen andern Gegenständen. In einem Bett auf dem Boden schlief ein kleines Kind, und neben ihm saß die Frau auf einem Stuhl. Auf zwei Simsbrettern an der Wand standen einige Schüsseln, Teller und Tassen, und darunter hingen ein Paar Bühnenschuhe und zwei Rapiere. Außer einigen Bündeln alter Lumpen, die unordentlich in den Winkeln lagen, war nichts im Zimmer zu erblicken.

Ich hatte Zeit gehabt, dies alles mit den Blicken zu überfliegen und die schweren Atemzüge und fieberischen Zuckungen des Kranken zu beobachten, ehe dieser meine Gegenwart gewahr wurde. Bei den unaufhörlichen Versuchen, seinen Kopf in eine bessere Lage zu bringen, streckte er seine Hand aus dem Bett und bekam die meinige zu fassen. Er schrak empor und starrte mir ins Gesicht.

,Mr. Hutley, John‘, sagte sein Weib, ,Mr. Hutley, nach dem du diesen Abend geschickt hast – du weißt.‘

,Ah!‘ rief der Kranke und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. ,Hutley – Hutley – wart einmal.‘ Er schien seine Gedanken sammeln zu wollen, dann faßte er mich heftig beim Handgelenk und sagte: ,Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht, alter Freund. Sie will mich ermorden, ich weiß, sie will mich umbringen.‘

,Liegt er schon lange so da?‘, fragte ich sein weinendes Weib.

,Seit gestern abend‘, antwortete sie. ,John, John, kennst du mich denn nicht?‘

,Laß sie nicht zu mir‘, sagte der Mann mit einem Schauder, als sie sich über ihn beugte. Jag sie fort! Ich kann ihre Nähe nicht vertragen.‘ Er starrte sie wild und mit einem Blicke voll Todesangst an und flüsterte mir dann ins Ohr: ,Ich hab sie geschlagen, Jem, ja, ich hab sie geschlagen, gestern, und so manches Mal. Ich hab sie dem Hungertode preisgegeben, und das Kind auch, und jetzt, wo ich schwach und hilflos bin, will sie mich dafü ermorden; ich weiß es. Hättest du ihr Jammergeschrei gehört wie ich, du wüßtest es auch. Halte sie fern.‘ Er ließ meine Hand los und sank erschöpft auf das Kissen zurück.

Ich verstand nur zu gut, was das alles zu bedeuten hatte, Hätte ich einen Augenblick im Zweifel sein können, so wüde mich ein Blick auf. das blasse Gesicht und die abgezehrte Gestalt des Weibes hinlänglich von der Sachlage unterrichtet haben. ,Ziehen Sie sich lieber zurück‘, sagte ich zu der ärmsten. ,Sie können doch nichts fü ihn tun. Vielleicht wird er ruhiger werden, wenn er Sie nicht mehr sieht.‘ Sie ging ihrem Manne aus den Augen. Er öffnete nach wenigen Sekunden seine Lider und sah sich ängstlich um.

,Ist sie fort?‘

,Ja, ja‘, antwortete ich. ,Sie wird dir nichts zuleide tun.‘

,Ich will dir was sagen, Jem‘, flüsterte er voll Furcht, ,sie trachtet mir nach dem Leben. Etwas in ihren Augen bringt eine so füchterliche Angst in mir hervor, daß es mich wahnsinnig macht. Die ganze Nacht über habe ich ihre großen stieren Augen und ihr bleiches Gesicht dicht über mir gesehen. Wohin ich mich wandte, da waren sie, und so oft ich aus dem Schlafe auffuhr, stand sie neben meinem Bette und starrte mich an.‘ Er zog mich näher zu sich und flüsterte aufgeregt und bebend vor Todesangst: ,Jem, sie muß ein böser Geist sein, ein Teufel! Hu! Ich weiß es, sie ist’s. Wäre sie ein Weib, so müßte sie schon lange tot sein. Ein Weib kann nicht tragen, was sie getragen hat.‘

Ich schauderte bei dem Gedanken an die lange Reihe von Grausamkeiten und Mißhandlungen, die dem allem vorhergegangen sein mußten, um bei einem Menschen wie er einen solchen Eindruck zu hinterlassen. Ich wußte nichts zu erwidern, denn wer konnte dem Verworfenen, den ich vor mir hatte, Hoffnung oder Trost geben?

Ich saß über zwei Stunden bei ihm, während er, vor Schmerzen und Ungeduld ächzend, ruhelos seine Arme hin und her warf und sich immer wieder von einer Seite auf die andre wälzte. Endlich verfiel er in die Art bewußtlosen Halbschlummers, in dem der Geist unruhig von Vorstellung zu Vorstellung, von Ort zu Ort wandert, ohne die leitende Hand der Vernunft und ohne die Fähigkeit, sich von einem unbeschreiblichen Gefühle vorhandenen Leidens loszumachen. Da ich aus seinen Delirien entnahm, daß dies bei ihm der Fall und alle Wahrscheinlichkeit vorhanden war, das Fieber werde sich vorderhand nicht mehr steigern, so entfernte ich mich und versprach dem bedauernswerten Weibe, am nächsten Abend meinen Besuch zu wiederholen und nötigenfalls die Nacht über bei dem Kranken zu wachen.

Ich hielt mein Versprechen. Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten eine furchtbare Veränderung in dem Trunkenbold hervorgebracht. Seine Augen, obgleich tief eingefallen und schwer, leuchteten in einem schrecklichen Glanze. Die Lippen waren wie Pergament und an manchen Stellen aufgesprungen; die trockne, harte Haut fühlte sich glühend heiß an, und in seinem Gesicht lag ein beinahe unirdischer Ausdruck wilder Angst, der die Verheerungen der Krankheit noch stärker hervorhob. Das Fieber hatte seinen höchsten Grad erreicht.

Ich setzte mich wie am verflossenen Abend an sein Bett, und hier vernahm ich stundenlang Töne, die das gefühlloseste Herz tief hätten ergreifen müssen – die furchtbaren Phantasien eines Sterbenden. Wie ich vom Arzte vernommen, war keine Hoffnung mehr vorhanden. Ich saß an einem Sterbebette. Ich sah die abgezehrten Glieder, die er noch kurz zuvor zur Belustigung eines rohen Haufens verdreht, sich unter den Martern der Fieberglut krümmen – ich hörte das schrille Gelächter des Harlekins, gemischt mit dem leisen Röcheln des Sterbenden.

Es ist ergreifend, den Geist zu den gewöhnlichen Beschäftigungen der Tage der Gesundheit zurückwandern zu sehen, während der Körper schwach und hilflos daliegt; aber wenn diese Beschäftigungen der Art sind, daß sie Zuständen, die eine ernste und feierliche Stimmung in uns hervorrufen»geradezu entgegenlaufen, so geht dieser Eindruck noch unendlich tiefer.

Die Bühne und die Schenke waren die Hauptschauplätze, auf denen sich die Phantasie des irren Elenden erging. Es war gegen Abend, bildete er sich ein. Er mußte auftreten. Es war spät, und er durfte keinen Augenblick mehr säumen, Warum hielten sie ihn zurück und ließen ihn nicht gehen? – Seine Einnahme stand auf dem Spiel. – Er mußte gehen. Nein! Sie wollten ihn nicht fortlassen. Er barg sein Gesicht in seine glühenden Hände und beklagte seine Schwäche und die Grausamkeit seiner Widersacher. Eine kurze Pause. Dann keuchte er einige elende Reimereien hervor, die letzten, die er auswendig gelernt hatte. Er richtete sich im Bett auf, streckte seine abgezehrten Hände in die Höhe und wand sich in seltsamen Krümmungen hin und her: er spielte. – Er war auf der Bühne. Ein minutenlanges Stillschweigen, und er murmelte den Schlußreim eines Trinkliedes. Endlich war er wieder zu Hause: wie heiß war es im Zimmer! Er war krank gewesen, sehr krank, aber jetzt fühlte er sich wieder wohl und glücklich. – Einschenken! Einschenken! Wer schlägt ihm da das Glas vom Munde weg? Derselbe Feind, der ihn vorhin verfolgte. – Er fiel auf sein Kissen zurück und jammerte laut. Eine kurze Pause der Vergessenheit, und er wanderte durch ein nimmer endendes Labyrinth niederer, gewölbter Zimmer – so nieder bisweilen, daß er auf allen vieren fortkriechen mußte; es war eng und dunkel, und mit jeder Wendung des Weges stieß ihm ein neues Hindernis auf. Er sah Insekten, häßliches Gewüm, mit Augen, die ihn anstierten und den ganzen Raum anfüllten – füchterlich schimmernd durch die dichte Finsternis. Wände und Decke wimmelten von Ungeziefer, das Gewölbe dehnte sich ins ungeheure – füchterliche Gestalten schwebten auf und nieder, und unter ihnen bekannte Gesichter, gräßlich verzerrt. Sie brannten ihn mit glühenden Eisen und umschnüten seinen Kopf mit Stricken, bis das Blut herausspritzte.

Nach einem solchen Anfall, währenddessen ich ihn mit großer Mühe im Bett festhielt, sank er in eine Art von Schlummer. Von langem Wachen und von der Anstrengung überwältigt, waren mir fü einige Minuten die Augen zugefallen, als ich durch einen heftigen Schlag auf meine Schulter erwachte. Er hatte sich aufgerichtet und saß im Bett. – Eine füchterliche Veränderung war auf seinem Gesicht vorgegangen, aber das Bewußtsein war zurückgekehrt, denn er kannte mich augenscheinlich. Das Kind, das durch sein Irrereden lange Zeit eingeschüchtert gewesen, stand von seinem Bettchen auf und lief weinend zu seinem Vater. Die Mutter nahm es eilends auf den Arm, damit er ihm in der Raserei kein Leid zufüge, aber durch die Veränderung seiner Züge erschreckt, blieb sie regungslos stehen. Er krallte sich krampfhaft in meine Schulter ein und machte einen verzweifelten Versuch zu sprechen, während er sich mit der andern Hand vor die Brust schlug. Es war vergeblich. Er streckte die Hände gegen die Seinen aus und machte einen zweiten gewaltsamen Versuch zu sprechen. Noch ein Röcheln in der Kehle, ein Blitzen im Auge, ein kurzes ersticktes Stöhnen – und tot sank der Unglückliche auf das Kissen zurück. Vorbei.“

Herr Pickwick hatte sein Glas niedergesetzt, das er während des letzten Abschnittes der Erzählung in der Hand gehalten, und war eben im Begriffe, zu sprechen – hatte bereits, wie Mr. Snodgraß‘ Notizbuch besagt, den Mund geöffnet –, als der Kellner eintrat und „Einige Herren“ anmeldete.

Vermutlich stand Mr. Pickwick gerade im Begriff, einige Bemerkungen, die, wenn auch nicht das Themsegebiet, so doch die übrige Welt erleuchtet haben wüden, zum besten zu geben, als er auf diese Art unterbrochen wurde. Er starrte dem Kellner ins Gesicht und ließ dann seine Blicke fragend die Runde in der Gesellschaft machen, als wünschte er nähere Aufklärung, was das zu bedeuten habe.

„Oh!“ sagte Mr. Winkle aufstehend. „Einige Freunde von mir. Führen Sie die Herren herein. Sehr angenehme Leute“, fügte er hinzu, nachdem sich der Kellner entfernt hatte. „Offiziere, vom siebenundneunzigsten Regiment, deren Bekanntschaft ich diesen Morgen auf eine etwas seltsame Weise gemacht habe. Sie werden Ihnen sehr gefallen.“

Mr. Pickwicks Gleichmut war sofort wiederhergestellt. Der Kellner kehrte zurück und führte drei Herren ins Zimmer.

„Leutnant Tappleton“, stellte Mr. Winkle vor. „Leutnant Tappleton, Mr. Pickwick – Dr. Payne, Mr. Pickwick – Mr. Snodgraß, den Sie bereits kennen, mein Freund Mr. Tupman, Dr. Payne – Dr. Slammer, Mr. Pickwick – Mr. Tupman, Dr. Slam …“

Mr. Winkle hielt plötzlich inne, denn in den Mienen Mr. Tupmans und des Doktors malte sich eine seltsame Bewegung.

„Ich habe diesen Herrn schon einmal getroffen“, sagte der Doktor mit starker Betonung.

„Wirklich?“ versetzte Mr. Winkle.

„Und – und diesen Menschen auch, wenn ich mich nicht irre“, sagte der Doktor, einen prüfenden Blick auf den grüngekleideten Fremden werfend. „Ich glaube, ich ließ an ihn gestern abend eine dringende Einladung ergehen, die er jedoch ablehnen zu müssen vermeinte.“

Bei diesen Worten warf der Doktor einen verächtlichen Blick auf den Fremden und flüsterte seinem Freund Leutnant Tappleton etwas ins Ohr.

„Wahrhaftig?“ fragte dieser, nachdem er das Geflüster endlich verstanden.

„Wahrhaftig“, versicherte Dr. Slammer.

„Sie müssen ihm auf der Stelle einen Fußtritt geben“, murmelte der Eigentümer des Feldstuhles mit großer Wichtigkeit.

„Seien Sie ruhig, Payne“, vermittelte der Leutnant. „Erlauben Sie mir gütigst die Frage, mein Herr“, sagte er, sich an Mr. Pickwick wendend, der ob dieses höchst unhöflichen Zwischenspiels äußerst indigniert dreinsah, „wollen Sie mir gütigst die Frage erlauben, mein Herr, ob dieser Mensch zu Ihrer Gesellschaft gehört?“

„Nein, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick. „Er ist unser Gast.“

„Er ist ein Mitglied Ihres Klubs, oder irre ich mich?“

„Nein, gewiß nicht“, antwortete Mr. Pickwick.

„Und trägt er nie Ihre Klubknöpfe?“ fragte der Leutnant weiter.

„Nein – nie!“ entgegnete erstaunt Mr. Pickwick.

Leutnant Tappleton wandte sich zu Dr. Slammer mit einem kaum merklichen Achselzucken, als käme ihm die Erinnerungsfähigkeit seines Freundes bedenklich vor. Der Doktor sah zornig, aber verwirrt aus, und Mr. Payne starrte wild in das staunende Gesicht des ahnungslosen Pickwick.

„Mein Herr“, begann der Doktor, sich plötzlich an Mr. Tupman wendend, in einem Tone, der diesen Gentleman ebensosehr erschreckte, als hätte ihn plötzlich eine Natter in die Ferse gestochen. „Sie waren gestern abend auf dem Ball?“

Mr. Tupman hauchte ein schwaches Ja, fortwährend auf Mr. Pickwick blickend.

„Dieser Mensch war Ihr Begleiter?“ fragte der Doktor weiter, auf den Fremden deutend, der keine Miene verzog.

Mr. Tupman gab es zu.

„Nun, mein Herr“, sagte der Doktor zu dem Fremden, „Ich frage Sie noch einmal in Gegenwart aller Anwesenden, ob Sie mir Ihre Karte geben und als Mann von Ehre behandelt sein oder mich in die Notwendigkeit versetzen wollen, Sie auf der Stelle persönlich zu züchtigen?“

„Halten Sie ein, mein Herr“, rief Mr. Pickwick. „Ich kann wirklich nicht dulden, daß die Sache weitergetrieben wird, ehe ich nicht weiß, um was es sich handelt. Tupman, erzählen Sie den Vorfall!“

So feierlich aufgefordert, berichtete Mr. Tupman die Sache mit fliegenden Worten. Das Entlehnen des Frackes berührte er nur leicht. Großen Nachdruck legte er darauf, daß es „nach dem Diner“ stattgefunden hätte, ließ flüchtig ein gelindes Reuegefühl über sein eigenes Betragen durchblicken und überließ es dem Fremden, sich zu rechtfertigen, so gut er könne.

Dieser war eben im Begriff, es zu tun, als ihn Leutnant Tappleton, der ihn bis dahin mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte, mit großer Geringschätzung fragte:

»Habe ich Sie nicht schon auf dem Theater gesehen, Sir?“

„Vermutlich“, erwiderte der Fremde unbefangen.

„Er ist ein wandernder Schauspieler“, sagte der Leutnant verächtlich und wandte sich an Dr. Slammer. „Er tritt in dem Stück auf, das morgen das Offizierskasino des zweiundfünfzigsten Regiments in Rochester aufführen läßt. Sie können in der Sache nicht weitergehen, Slammer, unmöglich!“

„Nein, unmöglich!“ bestätigte Payne pathetisch.

„Bedaure, Sie in diese unangenehme Lage versetzt zu haben“, fuhr Leutnant Tappleton fort, sich an Mr. Pickwick wendend. „Erlauben Sie mir übrigens, Ihnen zu bemerken, daß der sicherste Weg, in Zukunft dergleichen Auftritte zu vermeiden, größere Vorsicht in der Wahl Ihrer Gesellschaft sein wird. Guten Abend, mein Herr!“ – Und rasch verließ er das Zimmer.

„Und mir erlauben Sie, Ihnen zu bemerken, mein Herr“, fügte der rauflustige Dr. Payne hinzu, „daß ich, wenn ich Tappleton oder Slammer gewesen wäre, Ihnen und den sämtlichen Mitgliedern dieser Gesellschaft die Nase eingedroschen hätte. Ja, das hätte ich. Allen miteinander. Mein Name ist Payne, mein Herr, Dr. Payne vom Dreiundvierzigsten. Guten Abend, mein Herr.“

Die vier letzten Worte sprach er laut und mit großem Nachdruck und schritt sodann majestätisch aus dem Zimmer. Ihm folgte Dr. Slammer, schweigend und mit einem Blick voll Verachtung auf die ganze Gesellschaft.

Zorn und höchste Entrüstung über die Brüskierung hätten Mr. Pickwicks edle Brust beinahe bis zum Zerspringen seiner Weste geschwellt. Wie angewurzelt, ins Leere starrend, stand er da, und erst das Knarren der Tüe brachte ihn wieder zu sich selbst. Mit wutentbrannten Blicken und funkelnden Augen wollte er dem Beleidiger nachstüzen. Seine Hand hatte die Tüklinke gefaßt, und im nächsten Augenblick wüde sie den Dr. Payne, von Dreiundvierzig, an der Kehle gepackt haben, hätte ihn nicht. Mr. Snodgraß am Rockschoße ergriffen und zurückgezogen.

„Haltet ihn“, rief Mr. Snodgraß. „Winkle, Tupman! – Er darf sein kostbares Leben nicht in einer solchen Angelegenheit aufs Spiel setzen.“

„Lassen Sie mich“, rief Mr. Pickwick.

„Haltet ihn fest“, schrie Mr. Snodgraß wieder. Und den vereinten Kräften der sämtlichen Anwesenden gelang es schließlich, Mr. Pickwick in einen Lehnstuhl zu drängen.

„Allein lassen“, riet der grüngekleidete Fremde. „Brandy und Wasser – feuriger alter Herr – einen Schluck – einmal kosten – ah! – Kapitalstoff!“

Nachdem der Fremde den Inhalt eines vollen, von dem Trübsinnigen gemischten Glases gekostet, führte er es an Mr. Pickwicks Lippen, der es im nächsten Augenblick bis auf die Neige leerte.

Es trat eine kurze Pause ein. Das Getränk hatte indessen seine Wirkung getan, und das freundliche Gesicht Mr. Pickwicks nahm schnell den gewohnten Ausdruck wieder an.

„Diese Menschen verdienen nicht, daß Sie Notiz von ihnen nehmen, Sir“, sagte der Trübsinn-Jemmy.

„Sie haben recht, Sir“, versetzte Mr. Pickwick. „Sie verdienen es nicht. Ich schäme mich, daß ich mich so habe hinreißen lassen. Ziehen Sie Ihren Stuhl näher heran, Sir.“

Der Trübsinnige tat es; der Kreis versammelte sich um den Tisch, und die frühere Eintracht war wiederhergestellt. In Mr. Winkles Brust schien noch eine Spur heimlichen Unmutes zurückgeblieben zu sein – in bezug auf die temporäre Entwendung seines Frackes –, aber es ist kaum denkbar, daß ein so geringfügiger Umstand auch nur ein vorübergehendes Gefühl des Mißbehagens in der Seele eines Pickwickiers sollte hervorgerufen haben. Abgesehen davon war übrigens die Heiterkeit wieder völlig hergestellt, und der Abend endete auf dieselbe trauliche Weise, wie er begonnen hatte.