Siebenundvierzigstes Kapitel


Siebenundvierzigstes Kapitel

Wie Mr. Pickwick nach Birmingham reiste und Verstärkung an einem höchst unerwarteten Bundesgenossen erhielt.

Am nächsten Morgen pünktlich um drei Viertel auf neun Uhr waren die Pferde angespannt. Mr. Pickwick und Sam Weller nahmen ihre Plätze wieder ein, der eine in der Kutsche, der andre draußen auf dem Hintersitz, und dem Postillion wurde die Weisung erteilt, zunächst vor Mr. Bob Sawyers Hause vorzufahren, um daselbst Benjamin Allen abzuholen.

Als die Kutsche vor der Tür mit der roten Lampe und der ins Auge stechenden Inschrift: „Sawyer, weiland Nockemorf“ anhielt und Mr. Pickwick seinen Kopf zum Fenster hinaussteckte, bemerkte er mit nicht geringer Verwunderung den Jungen in der grauen Livree eifrig beschäftigt, die Läden vor die Fenster zu setzen. Da dies zu so früher Stunde ein höchst ungewöhnliches und für einen Geschäftsmann keineswegs empfehlenswertes Verfahren bedeutete, verfiel Mr. Pickwick sogleich auf die Vermutung, entweder müsse irgendein guter Freund oder Patient Mr. Bob Sawyers gestorben sein oder Mr. Bob Sawyer selbst bankrott gemacht haben.

„Was ist denn geschehen?“ fragte er daher den Jungen.

„Nix, Herr“, erwiderte dieser und grinste von einem Ohr bis zum andern.

„Alles in Ordnung“, rief Bob Sawyer, der plötzlich, mit einem kleinen, magern, schmutzigen ledernen Schnappsack in der Hand und einem groben Überzieher nebst Schal über den Arm geworfen, an der Tür erschien. „Ich komme gleich, alter Freund.“

„Sie?“ rief Mr. Pickwick.

„Ja, ich! Ein Hauptspaß, was?“ sagte Bob, lachte wie toll, warf Sam seinen Reisesack auf den Wagen hinauf und wischte sich mit einem Ärmel seines zottigen Überrocks die Tränen aus den Augen.

„Mein lieber Herr“, wendete Mr. Pickwick ziemlich verlegen ein, „ich erwartete eigentlich nicht, daß Sie uns begleiten würden.“

„Das ist’s ja eben“, lachte Bob. „Das ist ja eben der Spaß. Ich lasse einfach das Geschäft für sich selbst sorgen, da es nun mal für mich nicht sorgen zu wollen scheint.“

Bei dieser Erklärung des Phänomens mit den Fensterläden deutete Bob Sawyer auf sein Ambulatorium und verfiel aufs neue in Lachkrämpfe.

„Sie werden doch nicht so wahnsinnig sein, Ihre Patienten zu verlassen, ohne sie der Pflege eines andern übergeben zu haben?“ stellte ihm Mr. Pickwick in sehr ernstem Ton vor.

„Nun, warum nicht?“ meinte Bob dagegen. „Ich spare dadurch, müssen Sie wissen. Es zahlt ja doch keiner. Zudem“, setzte er hinzu und dämpfte seine Stimme zu vertraulichem Flüstern, „wird es ihnen um kein Haar schlechter gehen; meine Arzneien sind bereits auf der Neige, und da ich gerade jetzt nicht imstande bin, neue Einkäufe zu machen, so müßte ich dem einen wie dem andern nichts wie Kalomel geben.“

In dieser Antwort lag so viel Philosophie und Logik, daß Mr. Pickwick betroffen schwieg und nur noch unentschlossen bemerkte, daß der Wagen bloß zweisitzig sei und er doch Ben Allen mitnehmen müsse.

„Seien Sie meinetwegen ohne Sorgen“, lachte Bob. „Ich habe mir alles genau überlegt; Sam und ich werden den Rücksitz miteinander teilen. Sehen Sie hier: diesen Anschlag hefte ich an die Ladentür: ,Sawyer, weiland Nockemorf. Zu erfragen gegenüber bei Mrs. Cripps.‘ – Mrs. Cripps ist die Mutter meines Burschen. – ,Es tut Mr. Sawyer sehr leid‘, sagt dann Mrs. Cripps, ,aber er wurde heute früh zu einem Konsilium mit den berühmtesten Wundärzten auf das Land geholt – konnten ohne ihn nicht fertig werden – wollten ihn um jeden Preis haben; eine schreckliche Operation.‘ Die Folge davon kann sein“, schloß Bob, „daß die Sache in eines der Lokalblätter kommt und ich ein gemachter Mann bin. Apropos, da kommt Ben. Vorwärts, Ben, hineingesprungen!“

Mit diesen Worten stieß Mr. Bob Sawyer den Postillion auf die Seite, half seinem Freund in den Wagen, warf den Schlag zu, klebte seinen Anschlag an die Haustür, verschloß sie, steckte den Schlüssel in die Tasche, schwang sich auf den äußeren Rücksitz und gab das Signal zum Abfahren, und tat das alles mit so außerordentlicher Schnelligkeit, daß, bevor noch Mr. Pickwick recht zur Besinnung gekommen war, der Wagen bereits davonrollte.

Solange sich die Fahrt auf die Straßen von Bristol beschränkte, behielt der lustige Bob seine grüne Doktorbrille auf der Nase und benahm sich überhaupt mit gebührender Ernsthaftigkeit, wobei er jedoch zum größten Gaudium Mr. Samuel Wellers verschiedene Witze zu reißen nicht unterlassen konnte; als sie jedoch auf die offne Landstraße gelangten, legte er mit seiner grünen Brille auch seine Würde ab und führte eine Menge Spaße aus, die wohl geeignet waren, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen und den Wagen wie die Reisenden selbst zu Gegenständen einer ungewöhnlichen Neugierde und Heiterkeit zu machen. Zu seinen geringsten und noch am wenigsten auffallenden Taten gehörte die lärmende Nachahmung der schrillen Töne eines Klapphorns sowie die prunkvolle Entfaltung eines karmesinroten Taschentuches, das er an seinen Spazierstock band und mit herausfordernden Gebärden gelegentlich in der Luft schwenkte.

„Ich möchte doch wissen“, unterbrach sich Mr. Pickwick mitten in einer höchst gesetzten Unterredung mit Ben Allen, die sich auf die zahlreichen guten Eigenschaften Mr. Winkles und seiner jungen Frau bezog, „ich möchte doch wissen, was die Leute an uns sehen können, daß sie uns alle so anstarren.“

„Na, das kann ich mir ganz gut denken“, erwiderte Ben Allen stolz. „Eine solche Equipage sehen sie eben nicht alle Tage.“

„Möglich“, gab Mr. Pickwick zu, „das könnte sein.“

Er hätte sich sehr wahrscheinlich sogar in die Überzeugung hineinräsoniert, daß es wirklich so sei, hätte er nicht zufällig zum Kutschenfenster hinausgesehen und bemerkt, daß die Blicke der Vorübergehenden keineswegs ehrfurchtsvolle Bewunderung verrieten und daß verschiedene telegrafische Verständigungsmethoden zwischen ihnen und den Personen auf dem Außensitz des Wagens obzuwalten schienen, was ihm sofort klarmachte, diese Demonstrationen müßten irgendeine entfernte Beziehung auf ein gewisses humorvolles Benehmen Mr. Robert Sawyers haben.

„Ich will doch hoffen“, sagte er, „daß unser leichtfertiger Freund sich da draußen nicht etwa auffallend benimmt.“

„Gott behüte“, versicherte Ben Allen. „Bob ist das ruhigste Geschöpf von der Welt, wenn er nicht gerade ein Gläschen zuviel getrunken hat.“ In diesem Augenblick traf eine länger dauernde Nachahmung des Klapphorns, gefolgt von einem lustigen Gejohle, alles offenbar aus der Kehle des „ruhigsten Geschöpfes von der Welt“, ihre Ohren. Mr. Pickwick nahm sofort den Hut ab und lehnte sich beinahe mit dem halben Leib zum Kutschenfenster hinaus, was ihn endlich instand setzte, seines spaßhaften Freundes ansichtig zu werden.

Mr. Bob Sawyer saß, wie es sich zeigte, nicht auf dem Rücksitz, sondern auf dem Kutschendach und hatte seine Beine so weit ausgespreizt, wie es sich nur immer tun ließ. Er hatte Mr. Samuel Wellers Hut schief auf dem Ohr, hielt in der einen Hand ein ungeheures Stück Butterbrot, in der andern eine stattliche strohumflochtene Flasche und sprach beiden mit innigem Behagen abwechselnd zu, wobei er sich die Eintönigkeit seiner Beschäftigung durch ein gelegentliches Geheul oder durch den Austausch einiger lustiger, kurzweiliger Worte mit den nächstbesten Vorübergehenden unterhaltender zu gestalten suchte. Die karmesinrote Flagge war mit großer Sorgfalt an die Lehne des Hintersitzes festgebunden, und Mr. Samuel Weller saß, mit Bob Sawyers Hut geschmückt, im Zentrum desselben, ein zweites Butterbrot bearbeitend, und zwar mit so behaglichem Gesicht, daß seine vollkommene Zustimmung zu der ganzen Anordnung darin geschrieben stand.

Das war genug, um auf die Galle eines Mannes von Mr. Pickwicks Schicklichkeitsgefühl zu wirken; aber es kamen noch mehr erschwerende Umstände hinzu, denn in diesem Augenblick fuhr eine sowohl innen wie außen wohlbesetzte Postkutsche an ihnen vorüber, und die Passagiere gaben ihr Erstaunen auf eine sehr unzweideutige Art zu erkennen. Ebenso unangenehm waren die Gratulationen einer irischen Bettlerfamilie, die mit der Chaise gleichen Schritt hielt, besonders des männlichen Hauptes derselben, das zu glauben schien, es werde hier ein Triumphzug politischer Art gefeiert.

„Mr. Sawyer“ rief Mr. Pickwick daher in großer Aufregung. „Mr. Sawyer! – Sir!“

„Was beliebt?“ fragte Bob mit der größten Kaltblütigkeit von dem Wagendach herunter.

„Sind Sie toll, Sir?“

„Durchaus nicht“, erwiderte Bob, „bloß lustig.“

„Lustig, Sir, nennen Sie das?“ rief Mr. Pickwick. „Nehmen Sie dieses skandalöse rote Tuch da herunter. Ich bitte – ich bestehe darauf. Sam, nimm es weg. – Sofort!“

Ehe noch Sam in Tätigkeit treten konnte, strich jedoch Mr. Bob Sawyer gutwillig die Flagge, steckte sie in die Tasche, nickte Mr. Pickwick freundlich zu, wischte den Mund der Flasche ab und setzte ihn an seinen eigenen, wodurch er Mr. Pickwick ohne allen unnötigen Wortaufwand zu verstehen gab, daß er ihm mit diesem Trunk alles nur erdenkliche Glück und Heil wünsche. Sodann pfropfte er mit großer Sorgfalt die Flasche wieder zu, sah mit holdseliger Freundschaft auf Mr. Pickwick hernieder, tat einen großen Biß in das Butterbrot und lächelte.

„Schon gut“, sagte Mr. Pickwick, dessen augenblicklicher Ärger gegen Bobs unerschütterliche Seelenruhe nicht standzuhalten vermochte, „aber ich bitte, lassen Sie jetzt diese Albernheiten sein, Sir.“

„Ja, das will ich“, erwiderte Bob und gab Mr. Weller seinen Hut zurück, „’s war weiter nicht böse gemeint, aber die Fahrt hat mich so lustig gemacht, daß ich nicht anders konnte.“

„Bedenken Sie nur, was die Leute sagen werden“, stellte ihm Mr. Pickwick vorwurfsvoll vor, „Sie müssen doch auch den Schein wahren.“

„Ja, gewiß“, gab Bob zu, „ich will es nicht wieder tun und midi ganz ruhig verhalten, mein Verehrtester.“

Zufrieden mit dieser Versicherung, zog Mr. Pickwick seinen Kopf wieder zurück und ließ das Fenster herab; kaum aber hatte er die unterbrochene Unterhaltung mit Mr. Allen wieder aufgenommen, als er einigermaßen erschreckt wurde durch das Erscheinen eines kleinen dunklen Körpers von länglicher Gestalt an der Außenseite des Fensters, der wiederholt dagegenschlug, als ob er ungeduldig Einlaß begehrte.

„Was ist denn das?“ rief er erstaunt.

„Sieht aus wie eine Flasche“, meinte Ben Allen und betrachtete den Gegenstand voll Interesse durch seine Brille. „Ich glaube, sie gehört Bob.“

Die Vermutung war vollkommen richtig; denn Mr. Bob Sawyer hatte die Flasche an das Ende seines Stockes gebunden und schlug damit an das Fenster, zum Zeichen, daß er seine Freunde drinnen kameradschaftlich an ihrem Inhalt teilnehmen zu lassen wünschte.

„Was ist da zu tun?“ fragte Mr. Pickwick mit einem Blick auf den länglichen Gegenstand. „Dies Benehmen ist noch weit abgeschmackter als das vorige.“

„Es wird wohl das beste sein“, riet Mr. Ben Allen, „wir nehmen die Flasche herein und behalten sie. Das ist die beste Strafe.“

„Ja, allerdings“, meinte Mr. Pickwick. „Soll ich?“

„Wird sich wohl nichts anderes tun lassen.“

Da der Rat sich vollkommen mit seiner eignen Ansicht deckte, ließ Mr. Pickwick das Fenster leise herab und machte die Flasche von dem Stocke los, worauf dieser wieder hinaufgezogen wurde und man Bob Sawyer fröhlich lachen hörte.

„Ein unglaublich lustiger Bursche“, sagte Mr. Pickwick mit der Flasche in der Hand zu seinem Gefährten. „Man kann ihm nicht böse sein.“

„Nein, schlechterdings nicht“, stimmte Benjamin Allen ein.

Während dieses kurzen Gesinnungsaustausches hatte Mr. Pickwick in der Zerstreutheit den Korken herausgezogen.

„Was ist drin?“ fragte Ben Allen gleichgültig.

„Ich weiß es nicht“, meinte Mr. Pickwick. „Dem Geruch nach scheint es Punsch zu sein.“

„Wahrscheinlich“, bestätigte Ben.

„Es scheint mir wenigstens so“, fuhr Mr. Pickwick, der jederzeit gern bei der Wahrheit blieb, fort. „Gewiß kann ich es zwar nicht zu behaupten wagen, ohne es versucht zu haben.“

„Nun, so tun Sie es“, riet Ben, „dann kommen wir der Sache auf den Grund.“

„Meinen Sie? Nun gut, wenn Sie es gerne wissen möchten, habe ich weiter nichts dagegen.“ – Und stets bereit, seine eigenen Gefühle den Wünschen seiner Freunde unterzuordnen, nahm Mr. Pickwick einen ziemlich langen Schluck.

„Was ist es also?“ forschte Mr. Ben Allen ungeduldig.

„Sonderbar!“ meinte Mr. Pickwick und schmatzte mit den Lippen. „Ich weiß es selbst noch nicht. Doch ja“, fügte er nach einem zweiten Schluck hinzu, „es ist wirklich Punsch.“

Mr. Ben Allen sah Mr. Pickwick an, Mr. Pickwick Ben Allen. Mr. Ben Allen lächelte, Mr. Pickwick hingegen nicht.

„Es würde ihm recht geschehen“, sagte er dann streng, „es würde ihm recht geschehen, wenn wir ihm alles bis auf den letzten Tropfen austränken.“

„Das meine ich auch“, nickte Ben Allen.

„Jaja“, versetzte Mr. Pickwick. „Nun, so lassen Sie uns auf seine Gesundheit trinken.“

Mit diesen Worten nahm der Treffliche einen höchst energischen Schluck und reichte dann Ben Allen die Flasche, der nicht säumte, sein Beispiel nachzuahmen. Das Lächeln wurde gegenseitig und der Punsch allmählich und mit vielem Vergnügen ausgetrunken.

„Bei Licht besehen“, meinte Mr. Pickwick, als er den letzten Tropfen ausschlürfte, „sind seine Possen eigentlich sehr lustig und unterhaltend.“

„Ja, kann man nicht anders sagen“, bekräftigte Mr. Ben Allen.

Und zum Beweis, daß Bob Sawyer einer der drolligsten Burschen sei, die man finden könne, begann er Mr. Pickwick mit einer langen und umständlichen Erzählung zu unterhalten, wie Bob sich einmal ein Fieber an den Hals getrunken und sich dann den ganzen Kopf kahlgeschoren habe – eine wirklich ergötzliche und anmutige Geschichte, deren Vortrag nur durch das Anhalten der Kutsche vor der „Glocke“ in Berkeley Heath unterbrochen wurde, wo die Pferde gewechselt werden sollten.

„Wir werden hier doch natürlich zu Mittag speisen?“ fragte Mr. Sawyer zum Fenster hinein.

„Zu Mittag speisen?“ rief Mr. Pickwick. „Wir haben doch erst neunzehn Meilen zurückgelegt und müssen im ganzen siebenundachtzig und eine halbe machen.“

„Eben deswegen sollten wir uns instand setzen, die Strapazen der Reise zu ertragen“, wendete Bob Sawyer ein.

„Aber es ist ja rein unmöglich, um halb zwölf Uhr zu Mittag zu essen“, stellte Mr. Pickwick vor und sah auf die Uhr.

„Nun, meinetwegen“, versetzte Bob, „so will ich es einen Lunch nennen. Heda, Kellner! Einen Lunch für drei Personen! Die Pferde können noch eine Viertelstunde im Stall bleiben. Man soll alles, was in der Küche ist, auf den Tisch stellen, auch einige Flaschen Ale und euren besten Madeira!“

Die Qualität des Lunchs rechtfertigte vollkommen die Anpreisungen des Kellners, und das Trifolium ließ es sich aufs beste schmecken. Die Flaschen Ale und Madeira waren bald geleert, und als sämtliche Passagiere ihre Sitze eingenommen und Bob die strohumflochtene Flasche mit dem stärksten Punsch, den er in so kurzer Zeit bekommen konnte, angefüllt, erschallte das Klapphorn aufs neue, und die rote Flagge wehte ohne die geringste Einrede von seiten Mr. Pickwicks.

In der „Hopfenstange“ in Tewkesbury wurde Mittag gemacht. Wiederum wurden Ale, ein paar weitere Flaschen Madeira und überdies Portwein getrunken und auch die strohumflochtene Flasche zum vierten Male gefüllt. Unter dem Einfluß dieser vereinigten Stimulantien schlummerten Mr. Pickwick und Mr. Ben Allen dreißig Meilen weit, indes Bob und Mr. Weller auf dem Rücksitz Duette sangen.

Es war schon ganz dunkel, als Mr. Pickwick sich so weit aufraffte, um aus dem Fenster sehen zu können. Die vereinzelten Hütten an der Straße, die tiefen Schatten, aber auch die trübe Atmosphäre und die mit Schmiedekohlenasche und Ziegelmehl bestreuten Wege sowie das tiefrote Glühen der Ofenfeuer in der Ferne, die dicken Rauchwolken, die sich schwerfällig aus den hohen Kaminen wälzten, alles ringsum berußend und verdunkelnd, und schließlich die schweren Wagen, die sich, mit klirrenden Eisenstangen beladen oder mit sonstigen Frachtwaren bis oben angehäuft, langsam auf der Straße hinquälten – alles verkündete ihre schnelle Annäherung an die große Fabrikstadt Birmingham.

Als die Kutsche durch die engen Tore rasselte, die mitten in das Getümmel führten, wurden die Sinne der Herren gewaltsam erweckt durch den Anblick und das Getöse ernster Tätigkeit. Die Straßen waren vollgedrängt von Arbeitern. Lärm drang aus jedem Hause hervor, Lichter glänzten von den langen Fensterflügeln der Dachstöcke her, und das Rumpeln der Räder und das Dröhnen der Maschinen erschütterte die zitternden Wände. Die Feuer, deren trübseligbleicher Schein meilenweit sichtbar gewesen, brannten lodernd in den großen Fabriken und Arbeitshäusern der Stadt. Der Postillion fuhr rasch an den hübschen, hell beleuchteten Läden vorbei, die zwischen den Vorstädten und dem alten Royal-Hotel liegen, ehe noch Mr. Pickwick angefangen hatte, über die höchst heikle Natur des Geschäftes nachzusinnen, das ihn hierhergeführt.

Das Schwierige der Lage wurde durch die freiwillige Mitfahrt Mr. Bob Sawyers keineswegs verringert; im Gegenteil fühlte Mr. Pickwick, daß seine Anwesenheit, so gut gemeint und angenehm sie auch sein mochte, eine Ehre bedeutete, auf die er ganz gern verzichtet hätte.

Er kannte Mr. Winkle senior nicht persönlich und fühlte deutlich, daß, wenn er ihn das erste Mal in Begleitung Bob Sawyers und Ben Allens, die beide etwas benebelt waren, besuchte, dies eben nicht das zweckmäßigste Mittel sein dürfte, ihn zu seinen Gunsten einzunehmen.

„Aber so oder so“, suchte er sich zu beruhigen, „ich muß es so gut machen, wie ich kann. Ich will noch heute abend zu ihm gehen, denn ich habe es heilig versprochen, und wenn die beiden darauf bestehen, mich zu begleiten, so muß ich den Besuch möglichst abkürzen und mich inzwischen mit der Hoffnung begnügen, daß sie sich schon um ihrer selbst willen anständig aufführen werden.“

Während er sich mit solchen Betrachtungen tröstete, hielt der Wagen vor dem „Old Royal“ an. Ben Allen wurde dadurch teilweise aus seinem merkwürdig tiefen Schlafe geweckt und von Mr. Weller am Kragen herausgezogen. Mr. Pickwick war selbst imstande, auszusteigen. Sie wurden in ein behagliches Zimmer gewiesen, und Mr. Pickwick fragte den Kellner sogleich nach Mr. Winkles Wohnung.

Ganz in der Nähe, hieß es. Nicht über fünfhundert Schritte. Mr. Winkle sei Kaimeister am Kanal.

„Bringen Sie auch etwas Sodawasser!“ rief Bob Sawyer dem Kellner nach, frischte damit seine Lebensgeister wieder auf und ließ sich sogar überreden, sich Gesicht und Hände zu waschen und von Sam ausbürsten zu lassen. Dann brachen alle drei Arm in Arm auf, um zu Mr. Winkle senior zu gehen, wobei Bob Sawyer unterwegs die Atmosphäre mit Tabakrauch schwängerte.

Etwa eine Viertelmeile vom Gasthause entfernt, in einer ruhigen, solid aussehenden Straße stand ein altes, aus roten Backsteinen gebautes Haus mit drei Stufen vor der Tür und einer messingnen Platte darüber, die in großen lateinischen Buchstaben das Wort „Winkle“ zeigte.

Die Stufen waren sehr weiß, die Ziegel sehr rot, das Haus sehr niedlich, und Mr. Pickwick, Benjamin Allen und Bob Sawyer standen davor, als die Glocke bereits zehn Uhr schlug.

Ein hübsches Dienstmädchen erschien auf ihr Klopfen und fuhr zurück, als sie die drei Fremdlinge erblickte.

„Ist Mr. Winkle zu Hause, mein liebes Kind?“ fragte Mr. Pickwick.

„Er hat sich soeben zu Tisch gesetzt, Sir“, erwiderte das Mädchen.

„Geben Sie ihm doch gefälligst diese Karte und sagen Sie ihm, es tue mir leid, ihn so spät noch stören zu müssen, allein es liege mir so viel daran, ihn heute nacht noch zu sehen, und ich sei soeben erst angekommen.“

Das Mädchen blickte schüchtern an Mr. Bob Sawyer hinauf, der durch allerhand wunderliche Grimassen seine Bewunderung für ihre persönlichen Reize ausdrückte, warf dann einen besorgten Blick auf die im Gange hängenden Hüte und Überröcke und rief einem andern Mädchen zu, achtzugeben, indes sie hinaufginge. Im Augenblick kehrte sie jedoch zurück, bat die Herren um Entschuldigung, daß sie sie habe auf der Straße warten lassen, und führte sie in einen mit Läufern belegten Warteraum, der halb eine Amtsstube, halb ein Toilettenzimmer zu sein schien. „Es tut mir sehr leid, daß ich Sie vor der Tür hab stehenlassen“, sagte sie nochmals und zündete eine Lampe an, „aber es gibt so viele Landstreicher, die immer was wegfischen wollen, so daß ich wirklich …“

„Sie brauchen sich nicht im geringsten zu entschuldigen, liebes Kind“, unterbrach sie Mr. Pickwick freundlich.

„Nein, durchaus nicht, mein Schätzchen“, setzte Bob Sawyer hinzu, breitete scherzend die Arme aus und hüpfte von einer Seite auf die andre, um sie nicht hinauszulassen.

Die junge Dame ließ sich jedoch durch alle diese Lockungen nicht im mindesten zur Milde stimmen, drückte ein für allemal ihre Meinung dahin aus, Mr. Bob Sawyer sei ein höchst widerwärtiger, unverschämter Mensch, und als er mit seinen Aufmerksamkeiten immer zudringlicher wurde, schlug sie ihm ihre schönen Finger ins Gesicht und rannte unter vielen Ausdrücken der Abneigung und Verachtung aus dem Zimmer.

Nachdem Mr. Bob Sawyer der Gesellschaft der jungen Dame beraubt war, begann er sich die Zeit damit zu vertreiben, daß er in ein Pult hineinschaute, sämtliche Schubfächer durchsuchte, scheinbar Anstalten machte, das Schloß der eisernen Geldkiste aufzudrücken, den Kalender umdrehte, Mr. Winkle seniors Stiefel über seine eigenen anprobierte und mit den andern Hausgerätschaften auch sonst noch allerlei humoristische Experimente anstellte, die Mr. Pickwick mit unaussprechlicher Angst und wahrem Schauder erfüllten, ihn selbst aber ungemein zu ergötzen schienen.

Endlich ging die Tür auf, und herein wackelte, Mr. Pickwicks Karte in der einen Hand und einen silbernen Leuchter in der anderen haltend, ein kleiner alter Herr mit kahlem Kopf und einem Gesicht, das ein getreues Gegenstück zu dem seines Sohnes war.

„Ah, wie befinden Sie sich, Mr. Pickwick?“ begann er sofort, stellte den Leuchter weg und streckte die Hand aus. „Ich hoffe, Sie recht wohl zu sehen. Freut mich sehr. Setzen Sie sich doch, Mr. Pickwick; ich bitte, Sir. Dieser Herr ist –“

„– mein Freund, Mr. Sawyer“, fiel Mr. Pickwick ein, „auch ein Freund Ihres Sohnes.“

„Hm!“ meinte Mr. Winkle senior mit einem ziemlich grämlichen Blick auf Bob. „Sie befinden sich doch wohl, Sir?“

„Wie der Fisch im Wasser“, erwiderte Bob Sawyer.

„Der andere Herr hier“, fuhr Mr. Pickwick fort, „ist, wie Sie aus dem mir anvertrauten Briefe ersehen werden, ein sehr naher Verwandter, oder, ich sollte vielmehr sagen, ein ganz intimer Freund Ihres Sohnes. Er heißt Allen.“

„Dieser Herr da?“ fragte Mr. Winkle, mit der Karte auf Ben Allen deutend, der auf einem Stuhl eingeschlafen war, so daß man nichts von ihm sah als seinen Rücken und seinen Rockkragen.

Mr. Pickwick war im Begriff, die Frage zu beantworten und Mr. Benjamin Allens ehrenwerten Stand und andere ausgezeichnete Eigenschaften lang und breit herzuzählen, als Mr. Bob Sawyer in seinem Mutwillen seinen Freund, um ihn zum Bewußtsein seiner Lage zu bringen, dermaßen in den fleischigen Teil seines Armes kniff, daß er zusammenschrak und mit einem lauten Schrei in die Höhe fuhr. Als er bemerkte, daß ein Unbekannter anwesend war, sprang er auf, schüttelte Mr. Winkle äußerst verbindlich fünf Minuten lang beide Hände, murmelte in einigen halbverständlichen Satzfragmenten sein unendliches Vergnügen, ihn zu sehen, und die gastfreundliche Frage, ob er nicht vielleicht nach seiner weiten Reise eine Erfrischung annehmen wolle oder es vorziehe, bis zum Mittagessen zu warten, setzte sich dann wieder und starrte mit verglasten Augen umher. Dies alles brachte Mr. Pickwick natürlich in die peinlichste Verlegenheit, zumal da Mr. Winkle senior das unverkennbarste Erstaunen über das exzentrische Benehmen seiner zwei Gefährten an den Tag legte. Um der Sache ein schnelles Ende zu machen, zog er einen Brief aus der Tasche und überreichte ihn mit den Worten:

„Hier ist ein Brief von Ihrem Sohne, Sir. Sie werden daraus ersehen, daß sein ganzes Lebensglück und seine ganze fernere Existenz von Ihrer wohlwollenden und väterlichen Erwägung seines Inhalts abhängen. Haben Sie die Güte, ihn ruhig durchzulesen und nachher den Gegenstand in dem Tone und Geist mit mir zu besprechen, in dem dergleichen Dinge allein besprochen werden dürfen. Wie hochwichtig Ihre Entscheidung für Ihren Sohn ist und mit welcher Angst er derselben entgegensieht, mögen Sie daraus schließen, daß ich Ihnen in so später Stunde ohne vorhergegangene Anmeldung und“ – fügte Mr. Pickwick mit einem flüchtigen Blick auf seine zwei Begleiter hinzu – „unter so ungünstigen Umständen meine Aufwartung mache.“

Nach dieser Einleitung legte Mr. Pickwick vier enggeschriebene Seiten extrasuperfeinen flordünnen Briefpapieres in die Hände des erstaunten Mr. Winkle senior, setzte sich sofort wieder auf seinen Stuhl und beobachtete Mienen und Benehmen des Kaimeisters zwar einigermaßen ängstlich, jedoch mit der Offenheit eines Mannes, der sich bewußt ist, nichts getan zu haben, was einer Entschuldigung oder Bemäntelung bedurft hätte.

Der alte Herr drehte den Brief um und um, besah ihn von vorn, von hinten und von der Seite, stellte eine mikroskopische Untersuchung des dicken Bübchens auf dem Siegel an, warf einen durchdringenden Blick auf Mr. Pickwick, setzte sich dann an das Schreibpult, zog die Lampe näher heran, erbrach das Siegel, öffnete den Brief, hielt ihn hoch an das Licht und schickte sich an zu lesen.

Gerade in diesem Augenblick stützte Mr. Bob Sawyer, dessen Witz einige Minuten lang geruht hatte, die Hände auf seine Knie und schnitt ein Gesicht, wie man es ungefähr auf den Porträts des seligen Mr. Grimaldi als Clown sehen kann. Statt daß aber Mr. Winkle senior, wie er meinte, tief im Lesen des Briefes versunken war, blickte er über den Rand desselben hinaus. Da er nun einigermaßen mit Recht schloß, besagte Grimasse habe den Zweck, ihn zu verhöhnen, so heftete er seine Augen mit solch ausdrucksvoller Strenge auf Bob, daß die Züge des seligen Mr. Grimaldi sich allmählich wieder in einen Ausdruck der Demut und Beschämtheit auflösten.

„Haben Sie etwas gesagt, Sir?“ fragte Mr. Winkle senior nach einer unheimlichen Pause.

„Nein, Sir“, erwiderte Bob, der nichts mehr von dem Clown an sich hatte, als einzig und allein die feurige Röte seiner Wangen.

„Sie haben wirklich nichts gesagt, Sir?“

„O nein, ganz gewiß nicht, Sir“, erwiderte Bob.

„Ich meinte doch, Sir“, versetzte der alte Herr mit unwilligem Ausdruck. „Sie haben mich doch angesehen, Sir?“

„Bitte um Verzeihung, Sir; ganz und gar nicht“, erwiderte Bob mit äußerster Höflichkeit.

„Na, das freut mich, Sir“, brummte Mr. Winkle senior, und nachdem er dem gedemütigten Bob mit großer Würde noch einen Zornblick zugeworfen, hielt er den Brief wieder ans Licht und begann mit vielem Ernst zu lesen.

Mr. Pickwick beobachtete ihn mit großer Spannung, als er von der untersten Linie der ersten Seite auf die oberste der zweiten und von der untersten der zweiten auf die oberste der dritten und von der untersten der dritten auf die oberste der vierten überging; aber nicht die geringste Veränderung in seinen Mienen gab ihm einen Schlüssel, mit welchen Gefühlen er die Nachricht von seines Sohnes Verheiratung aufnahm, die, wie Mr. Pickwick wußte, gleich in den ersten sechs Zeilen stehen mußte.

Er las den Brief vielmehr bis zum letzten Wort, legte ihn mit der ganzen Sorgfalt und Pünktlichkeit eines Geschäftsmannes wieder zusammen, und als Mr. Pickwick endlich einen Gefühlsausbruch erwartete, tunkte er seine Feder in das Tintenfaß und sagte so ruhig, als ob es sich um das allergewöhnlichste geschäftliche Ereignis handelte:

„Nathaniels Adresse, Mr. Pickwick?“

„Gegenwärtig ,Georg und Geier‘.“

„,Georg und Geier‘? Wo ist das?“

„George Yard, Lombardstreet.“

„In der City?“

„Ja.“

Der alte Herr schrieb methodisch die Adresse auf den Rücken des Briefes, legte ihn dann in sein Pult, verschloß es und sagte, als er aufstand und den Schlüsselbund in seine Tasche steckte:

„Sie haben ohne Zweifel nichts mehr hinzuzufügen, was uns aufhalten könnte, Mr. Pickwick?“

„Ganz und gar nichts, mein werter Herr“, bemerkte der warmherzige Mann in unmutigem Erstaunen, „ganz und gar nichts! – Aber beliebt es Ihnen nicht vielleicht, Ihre Meinung über dieses wichtige Ereignis im Leben unseres jungen Freundes mir gegenüber auszusprechen? Wollen Sie ihm nicht vielleicht durch mich die Versicherung Ihrer fortdauernden Liebe und väterlichen Unterstützung zukommen lassen? Haben Sie ihm nichts zu sagen, was ihn und die junge Dame, die angstvoll auf Trost und Ermutigung hofft, erfreuen und aufrecht halten könnte. Überlegen Sie es doch, mein werter Herr.“

„Ich werde es mir allerdings überlegen“, antwortete der alte Herr. „Für den Augenblick aber habe ich nichts zu sagen. Ich bin Geschäftsmann, Mr. Pickwick, und lasse mich nie Hals über Kopf über eine Sache aus; aber soweit sie mir jetzt bekannt ist, will sie mir durchaus nicht gefallen. Tausend Pfund ist nicht viel, Mr. Pickwick!“

„Sie haben vollkommen recht, Sir“, fiel Ben Allen ein, der gerade wach genug war, um sich zu erinnern, daß er seine tausend Pfund ohne die geringste Schwierigkeit durchgebracht hatte. „Sie sind ein gescheiter Mann. Bob, der Herr da ist wahrhaftig nicht auf den Kopf gefallen.“ „Ich schätze mich sehr glücklich, daß Sie mir diese Gerechtigkeit widerfahren lassen, Sir“, sagte Mr. Winkle senior mit einem verächtlichen Blick auf Ben Allen, der eben weise den Kopf schüttelte. „Die Sache ist die, Mr. Pickwick: Als ich meinem Sohn die Erlaubnis gab, auf ein Jahr zu reisen und sich in der Welt umzusehen – was er unter Ihren Auspizien getan hat –, damit er nicht wie ein soeben aus der Schule gekommener Gelbschnabel ins Leben treten und sich vom nächsten besten übers Ohr hauen lassen sollte, da habe ich dies durchaus nicht mit in Berechnung gezogen. Er weiß das sehr gut, und wenn ich jetzt die Hand von ihm abziehe, hat er kein Recht, sich zu wundern. Er soll von mir hören, Mr. Pickwick. Gute Nacht, Sir. Margarethe, öffnen Sie die Tür.“

Bob Sawyer hatte die ganze Zeit über seinen Freund mit dem Ellenbogen gestoßen, damit er ein begütigendes Wort einlegen solle, und demgemäß brach jetzt Ben, ohne die geringste Einleitung, in eine Art kurzer, aber nachdrucksvoller Beredsamkeit aus.

„Sir“, sagte er und sah dabei den alten Herrn mit höchst trüben Augen an. „Sir, Sie sollten sich schämen.“

„Als der Bruder der jungen Dame sind Sie natürlich ein vortrefflicher Richter in der Sache“, unterbrach ihn Mr. Winkle senior. „Gut, schon genug. Ich bitte, kein Wort mehr, Mr. Pickwick. Gute Nacht, meine Herren.“

Mit diesen Worten nahm der Alte den Leuchter, öffnete die Tür und bewegte sich gemessen dem Gang zu.

„Sie werden diesen Schritt noch bereuen, Sir“, sagte Mr. Pickwick und biß die Zähne zusammen, um seinen Zorn niederzuhalten, denn er fühlte, wie wichtig dieser Auftritt für seinen jungen Freund sein mußte.

„Ich bin vorderhand andrer Meinung“, erwiderte Mr. Winkle senior kaltblütig. „Noch einmal, meine Herren, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“

Mr. Pickwick ging mit zornigen Schritten auf die Straße. Bob Sawyer, durch die Entschiedenheit des alten Herrn gänzlich niedergedrückt, nahm denselben Weg; Mr. Ben Allens Hut war unmittelbar darauf die Treppe hinuntergerollt, und sein Körper folgte sogleich nach. Alle drei gingen dann stumm und ohne Abendessen zu Bett, und Mr. Pickwick sagte sich vor dem Einschlafen, wenn er gewußt hätte, daß Mr. Winkle senior so durch und durch Geschäftsmann sei, würde er höchstwahrscheinlich niemals mit einem solchen Auftrag zu ihm gefahren sein.

Achtundvierzigstes Kapitel


Achtundvierzigstes Kapitel

Mr. Pickwick trifft einen alten Bekannten.

Der Morgen, der um acht Uhr über Mr. Pickwicks Haupt hereinbrach, war keineswegs danach angetan, seinen Mut zu heben oder die Niedergeschlagenheit, in die ihn sein unvorhergesehener Mißerfolg versetzt hatte, zu vermindern. Der Himmel war düster und trübe, die Luft feucht und rauh, die Straße naß und kotig. Schwerfällig hing der Rauch über den Schornsteinen, als gebräche es ihm an Mut, aufzusteigen, und der Regen fiel langsam und verdrossen herab, als hätte er keine rechte Lust, sich zu ergießen. Im Hof stand der Haushahn, ohne einen Funken seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit, verdrießlich auf einem Bein in einem Winkel, lind der Eselhengst döste gesenkten Hauptes unter dem schmalen Dach des Holzschuppens; nach seinem grüblerischen, jammervollen Gesichtsausdruck zu urteilen, erwog er Selbstmord. Auf der Straße sah man nichts als Regenschirme, und die einzigen Töne, die sich vernehmen ließen, waren das Schlapfen von Überschuhen und das Plätschern der Dachrinnen.

Das Frühstück wurde sehr wenig durch Unterhaltung gewürzt, und selbst Mr. Bob Sawyer empfand den Einfluß des Wetters und die Nachwehen des letzten Tages. Er war, wie er sich ausdrückte, zerschmettert. Ebenso ging es Mr. Ben Allen und besonders Mr. Pickwick.

In der Erwartung, das Wetter werde sich aufhellen, wurde das neueste Londoner Abendblatt mit einem Eifer und Interesse gelesen, wie sich dies nur in Fällen äußerster Verwahrlosung denken läßt; mit gleicher Beharrlichkeit wurde jeder Zoll des Bodens auf und ab geschritten, alle Augenblicke zum Fenster hinausgesehen und jedes mögliche Zerstreuungsmittel ausfindig gemacht. Endlich, zu Mittag, ohne daß das Wetter sich geändert hätte, zog Mr. Pickwick entschlossen die Klingel und bestellte einen Wagen.

Obgleich die Straßen schmutzig waren, der Sprühregen heftiger als bisher fiel und Kot und Nässe durch die offenen Fenster des Wagens hereinspritzten, so daß die drinnen Sitzenden fast ebensosehr dadurch belästigt wurden wie die beiden auf dem Rücksitz, war man doch jedenfalls in frischer Luft, und das Gefühl, unterwegs zu sein und Bewegung zu haben, was so unendlich angenehmer ist als das Eingeschlossensein in einer trüben Stube, von der aus man nur den Regen herabträufeln sehen kann, nötigte ihnen allen das Geständnis ab, daß sie durch den Tausch viel gewonnen hätten und eigentlich selbst nicht wüßten, wie sie dazu gekommen waren, solange mit dem Aufbruch zu zögern.

Als sie in Coventry anhielten, um die Relais zu wechseln, stieg der Dampf in solchen Wolken von den Pferden auf, daß der Hausknecht ganz unsichtbar wurde und man ihn wie aus dem Nebel heraus erklären hörte, er erwarte bei der nächsten Preisverteilung die erste goldene Medaille von dem Rettungsverein dafür, daß er dem Postillion den Hut abgenommen habe; denn von dem Rande desselben ströme, versicherte er, eine solche Wassermasse herab, daß er unfehlbar ertrunken wäre, wenn er ihm ihn nicht, kraft großer Geistesgegenwart, schnell vom Kopfe gerissen und das Gesicht mit einem Strohwisch abgetrocknet hätte.

„Eine erbauliche Fahrt das“, meinte Bob Sawyer, schlug sich den Rockkragen hoch und verhüllte sich den Mund mit dem Schal, um die Düfte eines soeben heruntergeschluckten Glases Branntwein zu kondensieren.

Die nächste Station war Daventry, die folgende Towcester, und es regnete immer heftiger.

„Ich konstatiere“, bemerkte Bob Sawyer zum Kutschenfenster hinein, als sie vor dem „Türkenkopf“ in Towcester anhielten, „ich konstatiere, daß man so nicht Weiterreisen kann.“

„Ja, wahrhaftig“, bestätigte Mr. Pickwick, der eben aus einem Schläfchen erwachte, „ich fürchte, Sie sind durch und durch naß.“

„Ja, das bin ich“, knurrte Bob und schüttelte sich, daß es nur so sprühte, „naß wie ein Neufundländer, den man ins Wasser geworfen hat.“

„Ich halte es auch für rein unmöglich, heute nacht weiterzureisen“, mischte sich Ben ein.

„Also gut“, gab Mr. Pickwick nach, „bleiben wir hier; aber irgendwie muß ich einen Brief nach London absenden, damit er morgen in aller Frühe bestellt wird. Wenn das nicht möglich sein sollte, müssen wir unter allen Umständen weiterfahren.“

Der Wirt lächelte vergnügt. Nichts sei leichter, als einen Brief in einen Bogen Packpapier einzuschlagen und entweder mit der Post oder mit der Nachtdiligence nach Birmingham weiterzubefördern, meinte er.

„Gut“, sagte Mr. Pickwick, „dann bleiben wir also hier.“

Licht wurde gebracht, die Glut geschürt und ein frisches Scheit hineingeworfen. In zehn Minuten deckte ein Kellner den Tisch zum Mittagessen, das Feuer flackerte lustig, und alles sah aus, als ob die Reisenden schon seit mehreren Tagen erwartet worden wären.

Mr. Pickwick setzte sich an einen Seitentisch und schrieb schnell ein paar Zeilen an Mr. Winkle, in denen er ihm kurz meldete, er sei durch das Unwetter zurückgehalten worden, werde sich aber unfehlbar am folgenden Tag in London einfinden. Dort wolle er ihm über den Erfolg seiner Reise weiterberichten.

Sam übergab den Brief der Wirtin, und nachdem er sich selbst am Küchenfeuer getrocknet hatte, wollte er zurückkehren, um seinem Herrn die Stiefel auszuziehen; da erblickte er zufällig durch eine halboffene Tür hindurch einen rothaarigen Herrn, der einen großen Pack Zeitungen auf dem Tisch vor sich liegen hatte und den Leitartikel in einer derselben mit sichtlichem Ingrimm las, wobei seine Nase und sein ganzes Gesicht sich zu einem geringschätzigen Ausdruck von Verachtung verzogen.

„Hallo!“ rief Sam. „Ich nehme an, den Kopf und das Gesicht da sollte ich wohl kennen; auch das Augenglas und den breitkrempigen Deckel! Das war doch in Eatanswill – oder ich will katholisch werden.“

Dann wurde er plötzlich von einem heftigen Husten befallen, der die Aufmerksamkeit des Herrn erregte und die gedankentiefen, durchgeistigten Züge Mr. Potts, Herausgebers der „Eatanswiller Gazette“, sehen ließ.

„Pardon, Sir“, sagte Sam, „mein Herr ist hier, Mr. Pott.“

„Pst, pst!“ rief der Publizist, zog Sam ins Zimmer und schloß die Tür, wobei sich geheimnisvolle Besorgnis in seinen Mienen abmalte. „Nennen Sie meinen Namen nicht. Hier ist alles gelb. Wenn der leicht erregbare Pöbel wüßte, daß ich hier bin, er würde mich in Stücke reißen.“

„Meinen Sie wirklich?“

„Ja, ich würde das Opfer der Volkswut werden. Übrigens, junger Mann, was macht Ihr Herr?“

„Er is auf der Reise nach London begriffen und übernachtet hier mit ’n paar Freunden.“

„Ist Mr. Winkle dabei?“ fragte Pott mit leichtem Stirnrunzeln.

„Nö“, erwiderte Sam, „Mr. Winkle bleibt jetzt zu Hause; er is verheiratet.“

„Verheiratet?“ rief Pott mit schreckenerregender Heftigkeit, schwieg dann eine Weile, lächelte düster und ’setzte in tiefem, rachsüchtigem Tone hinzu: „Das geschieht ihm recht.“

Da seine Frage, ob Mr. Pickwicks Freunde blau seien, von Sam, der so wenig von der Sache wußte wie irgend jemand, bejahend beantwortet wurde, entschloß er sich, ihn zu Mr. Pickwick zu begleiten, der ihn aufs herzlichste begrüßte und darauf bestand, daß sie alle gemeinsam zu Mittag speisen sollten.

„Und wie steht’s denn in Eatanswill?“ fragte der liebenswürdige alte Herr, als Pott einen Stuhl ans Feuer gerückt und die ganze Gesellschaft die nassen Stiefel aus- und trockene Pantoffeln angezogen hatte. „Existiert der ,Independent‘ noch?“

„Der ,Independent, Sir“, erwiderte Pott, „schleppt noch immer sein elendes, erlöschendes Dasein hin, verabscheut und verachtet selbst von den Wenigen, denen seine schmachvolle, erbärmliche Existenz bekannt ist, erstickt in demselben Schmutz, mit dem er so reichlich um sich wirft.

Taub und blind gemacht durch die faulen Dünste seines eigenen Unrats, versinkt dieses Mistblatt, sich seiner Verkommenheit nicht einmal bewußt, rasch in dem verräterischen Schlamme, der, obgleich er ihm bei den niedrigen und verderbten Klassen der Gesellschaft einen festen Standpunkt zu geben scheint, gleichwohl über sein verruchtes Haupt hinauswächst und es bald auf ewig verschlingen wird.“

Nachdem der Zeitungsheld dieses Manifest – einen Teil seines Leitartikels der letzten Woche – mit Heftigkeit von sich gegeben, schwieg er, um Atem zu schöpfen, und blickte Bob Sawyer majestätisch an.

„Sie sind ein noch junger Mann, Sir“, sagte er nach einer Weile.

Bob Sawyer nickte.

„Und Sie auch, Sir“, fuhr Pott, zu Mr. Ben Allen gewendet, fort.

Ben lächelte stumm.

„Und Sie sind auch beide tief durchdrungen von den blauen Prinzipien, zu deren Aufrechterhaltung und Verfechtung ich mich, solange ich lebe, der Bevölkerung dieser vereinigten Königreiche gegenüber anheischig gemacht habe?“

„Natürlich“, erwiderte Bob Sawyer, „ich verstehe nur die Sache nicht recht, ich bin …“

„Doch nicht gelb, Mr. Pickwick?“ unterbrach ihn Pott und wich mit seinem Stuhl zurück. „Ihr Freund ist doch nicht gelb, Sir?“

„Nein, nein“, versicherte Bob, „ich bin in diesem Augenblick mehr schottisch – gewürfelt, sozusagen ein Gemisch von allen möglichen Farben.“

„Also ein Schwankender“, erklärte Pott feierlich, „ein Schwankender. Ich möchte Ihnen eine Reihe von acht Artikeln vorlegen, Sir, die in der ,Eatanswiller Gazette‘ erschienen sind. Ich glaube behaupten zu dürfen, daß Sie dann bald Ihre Ansichten auf eine feste und solide Basis gründen würden, Sir.“

„Und ich“, antwortete Bob, „glaube behaupten zu dürfen, daß ich sehr blau würde, noch lange, ehe ich sie ganz gelesen hätte.“

Mr. Pott blickte Bob Sawyer noch einige Sekunden lang zweifelnd an, wandte sich dann zu Mr. Pickwick und fragte:

„Sie haben doch die literarischen Artikel gelesen, die im Laufe der letzten drei Monate in der ,Eatanswiller Gazette‘ erschienen sind und eine allgemeine, ich kann wohl sagen universelle Aufmerksamkeit und Bewunderung erregt haben?“

„Ich muß gestehen“, entschuldigte sich Mr. Pickwick, durch die Frage einigermaßen verlegen, „ich muß gestehen, ich war anderweitig so in Anspruch genommen, daß ich wirklich keine Zeit hatte, sie zu lesen.“

„Sie sollten so etwas nicht unterlassen, Sir“, ermahnte Pott mit strenger Miene.

„Ja, Sie haben recht“, gestand Mr. Pickwick.

„Sie sind in der Form einer ausführlichen Kritik eines Werkes über die chinesische Metaphysik erschienen“, fuhr Pott fort.

„Was Sie sagen?! Und hoffentlich aus Ihrer Feder?“

„Aus der meines Rezensenten, Sir“, antwortete Pott mit Würde.

„Und wahrscheinlich sehr gelehrt abgefaßt?“

„Ja, ungeheuer“, antwortete Pott, unendlich weise um sich blickend. „Er ochste aber auch gehörig, um sich eines technischen, aber bezeichnenden Terminus zu bedienen; er las zu diesem Behuf auf mein Verlangen in, der ,Encyclopaedia britannica‘ nach.“

„Wirklich?“ staunte Mr. Pickwick. „Ich wußte gar nicht, daß dieses unschätzbare Werk auch Nachweise über die chinesische Metaphysik enthält.“

„Ja, Sir“, erklärte Pott, legte seine Hand auf Mr. Pickwicks Knie und blickte mit einem Lächeln geistiger Überlegenheit um sich, „er las über die Metaphysik unter dem Buchstaben M und über China unter dem Buchstaben C nach und machte so einen eigenen Artikel zurecht.“

Die Züge des Publizisten nahmen bei dieser Erinnerung an den gelehrten Erguß etwas so Überwältigendes an, daß einige Minuten verstrichen, bevor Mr. Pickwick sich kühn genug fühlte, das Gespräch fortzusetzen. Endlich, als sich das Gesicht Potts allmählich wieder zu seinem gewöhnlichen Ausdruck geistiger Überlegenheit glättete, wagte er es, die Unterhaltung durch die Frage anzuknüpfen:

„Dürfte ich wohl erfahren, welch großer Zweck Sie so weit von Hause weggeführt hat?“

„Derselbe Zweck, der mich bei all meiner Arbeitslast anstachelt und beseelt“, erwiderte Pott mit ruhigem Lächeln, „das Wohl meines Vaterlandes.“

„Ich dachte mir gleich, es sei irgendeine öffentliche Mission.“

„Ja, Sir, das ist es auch“, bejahte Pott, beugte sich zu Mr. Pickwick nieder und flüsterte ihm mit tiefer, hohler. Stimme zu:

„Die Gelben haben morgen abend in Birmingham einen Ball.“

„Was Sie nicht sagen!“ rief Mr. Pickwick.

„Ja, Sir, und ein Souper.“

„Ah.“

Pott nickte mit unheilverkündender Miene.

Obgleich sich Mr. Pickwick stellte, als wäre er durch diese Eröffnungen sehr überrascht, so war er doch mit der Lokalpolitik zuwenig vertraut, als daß er sich schlechterdings von der Wichtigkeit der schrecklichen Verschwörung einen richtigen Begriff hätte machen können, auf die hier angespielt wurde. Mr. Pott bemerkte es auch, zog die letzte Nummer der „Eatanswiller Gazette“ aus der Tasche und las zur näheren Aufklärung seines Freundes folgenden Artikel vor:

„WINKELGELBTUM

Ein Ungeziefer, ein böser, schädlicher Wurm von Kollega hat vor kurzem sein schwarzes Gift ausgespien, in dem eitlen, hoffnungslosen Versuch, den guten Namen unseres ausgezeichneten und vortrefflichen Deputierten, Mr. Slumkeys, Hochwohlgeboren, zu besudeln – desselben Slumkey, von dem wir lange, bevor er seine gegenwärtige hohe Stellung errungen, vorausgesagt, er werde werden, was er jetzt ist, ein Ehrenpfeiler seines Landes, sein stolzester Ruhm, sein kühnster Verteidiger und seine herrlichste Zierde. Unser ungezieferartig denkender Kollega, sagen wir, hat sich lustig gemacht über einen plattierten, herrlich gearbeiteten Kohlenkübel, der diesem glorreichen Mann von seinen begeisterten Wählern überreicht worden ist und zu dessen Ankauf, wie der namenlose Wicht lästert, Mr. Slumkey, Hochwohlgeboren, selbst heimlich mehr als drei Viertel der ganzen Summe zugeschossen habe. Wie!? Sieht denn dieses kriechende Geschmeiß nicht, daß selbst wenn dies wahr wäre, Mr. Slumkey, Hochwohlgeboren, uns in einem um so freundlicheren und strahlenderen Lichte erscheinen müßte? Sieht sein Stumpfsinn nicht einmal so viel ein, daß der liebenswürdige, rührende Wunsch, dem Sehnen seiner Wähler entgegenzukommen, ihn den Herzen und Seelen derjenigen seiner Mitbürger nur noch teurer machen muß, die nicht verächtlicher sind als Schweine, oder, mit anderen Worten, die nicht ebenso niederträchtig sind wie unser Kollega? Aber das sind eben die elenden, betrügerischen Kunstgriffe des Winkelgelbtums! Verrat ist sein Losungswort. Wir verkünden es kühnlich und sagen es frei heraus, jetzt, wo wir uns unter den Schutz des ganzen Landes und seiner Behörden stellen dürfen – wir verkünden es kühnlich, daß in diesem Augenblick geheime Vorbereitungen getroffen werden zu – einem Balle der Gelben, der in einer gelben Stadt mitten im Herzen und Zentrum einer gelben Bevölkerung gehalten, von einem gelben Arrangeur geleitet, von vier ultragelben Parlamentsmitgliedern besucht werden soll, und zu dem man den Zutritt nur vermöge gelber Einlaßkarten erlangen kann. Möge unser feindlicher Kollega sich winden in unmächtigem Grimm, wenn wir es niederschreiben: ,Wir werden auch dabeisein.‚“

„Sehen Sie, Sir“, sagte Pott und faltete ganz erschöpft das Blatt zusammen, „so stehen die Sachen.“

In diesem Augenblick fingen der Wirt und der Kellner an, das Mittagessen aufzutragen, was Mr. Pott nötigte, den Finger auf die Lippen zu legen, zum Zeichen, daß er sein Leben in Mr. Pickwicks Hände gelegt habe. Die Herren Bob Sawyer und Benjamin Allen, die während der Verlesung des Artikels und der darauf folgenden Erörterung unehrerbietigerweise eingeschlafen waren, wurden durch das bloße Geflüster des Zauberwortes „Mittagessen“ erweckt und entwickelten dabei einen gesegneten Appetit.

Im Verlauf des Essens und der darauffolgenden Sitzung erklärte Mr. Pott, der sich zuweilen zu häuslichen Themen herabließ, seinem Freunde Mr. Pickwick, die Luft in Eatanswill sei seiner Gemahlin nicht gut bekommen, und sie mache deswegen eine Reise in die verschiedenen fashionablen Bäder, um ihre gewohnte Gesundheit und Munterkeit wiederzuerlangen – eine höchst zarte Verschleierung der Tatsache, daß Mrs. Pott ihre oft wiederholte Scheidungsdrohung endlich ausgeführt und ihr Bruder, der Leutnant, mit ihrem Manne eine Übereinkunft abgeschlossen hatte, kraft deren sie sich nebst ihrer getreuen Leibwache von ihrem Gatten trennte und die Hälfte seines jährlichen Einkommens aus dem Verlag der „Eatanswiller Gazette“ erhielt.

Während der große Publizist bei diesen und ähnlichen Themen verweilte und die Unterhaltung von Zeit zu Zeit mit verschiedenen Auszügen aus den Resultaten seiner nächtlichen Studien belebte, fragte ein griesgrämiger Passagier aus dem Fenster einer von London angelangten Postkutsche heraus, ob er, für den Fall, daß er übernachten wolle, die nötigen Bequemlichkeiten, nämlich Bett und Bettstelle, bekommen könne. „Gewiß, Sir“, erwiderte der Wirt.

„Bestimmt?“ fragte der Fremde, der von Natur aus ungemein argwöhnisch zu sein schien.

„Sie können sich darauf verlassen, Sir“, beteuerte der Wirt.

„Nun gut, Postillion, ich bleibe hier. Schaffner, meinen Mantelsack.“

Der fremde Gentleman wünschte sodann den andern Passagieren auf eine etwas spitze Weise gute Nacht und stieg aus.

Er war von untersetzter Statur und hatte straffes schwarzes Haar, das nach Stachelschweins- oder Stiefelbürstenart zugeschnitten war und wie gesträubt emporstand. Sein Auftreten war pomphaft und drohend, sein Benehmen gebieterisch, die Augen blickten scharf und unruhig, und sein ganzes Wesen verkündete große Zuversichtlichkeit sowie das Bewußtsein unermeßlicher Überlegenheit über alle Menschen.

Man wies ihn in das Zimmer, das ursprünglich für den patriotischen Mr. Pott bestimmt gewesen war, und der Kellner konstatierte, als er kaum die Lichter angezündet hatte, in dumpfem Erstaunen das sonderbare Zusammentreffen, daß der Gentleman in seinen Hut griff, eine Zeitung hervorzog und mit demselben Ausdruck unwilliger Verachtung, die eine Stunde zuvor auf Potts majestätischen Zügen gelegen, zu lesen begann. Er bemerkte auch, daß, während Mr. Potts Verachtung durch eine Zeitung, betitelt „Eatanswiller Independent“, rege gemacht worden war, der zermalmende Hohn dieses Gentlemans durch eine Zeitung erweckt wurde, die sich die „Eatanswiller Gazette“ nannte.

„Schicken Sie den Wirt!“ befahl der Fremde.

„Sehr wohl, Sir.“

Der Wirt wurde gerufen und erschien.

„Sind Sie der Wirt?“ fragte der Gentleman.

„Zu dienen, Sir.“

„Kennen Sie mich?“

„Habe nicht das Vergnügen, Sir“, erklärte der Wirt.

„Mein Name ist Slurk!“

Der Wirt neigte den Kopf ein wenig.

„Slurk, Sir“, wiederholte der Gentleman hochmütig. „Kennen Sie mich jetzt, Mann?“

Der Wirt kratzte sich am Kopf, blickte zur Decke empor, sah dann den Fremdling an und lächelte gezwungen.

„Kennen Sie mich, Mann?“

Der Wirt strengte sich gewaltig an und erwiderte endlich: „Nein, Sir, ich kenne Sie nicht.“

„Gott im Himmel“, rief der Fremde und schlug mit der Faust auf den Tisch, „und das nennt man Popularität! – Das also – das ist der Dank für jahrelange Mühe und Arbeit zu Nutz und Frommen der Massen. Ich steige durchnäßt und müde aus; keine enthusiastische Menge drängt sich, ihren Vorkämpfer zu begrüßen; die Glocken der Kirchen sind stumm; selbst der Name erweckt kein Echo in der erstarrten Brust. Es ist genug“, setzte Mr. Slurk hinzu und ging in großer Aufregung auf und ab. „Soll die Tinte in der Feder vertrocknen und die Sache den Gang des Verderbens gehen!“

„Haben Sie Brandy mit Wasser befohlen, Sir?“ wagte der Wirt eine Andeutung.

„Rum!“ erwiderte Mr. Slurk verbittert. „Haben Sie irgendwo ein Feuer?“

„Man kann sogleich eins anzünden“, beeilte sich der Wirt zu erwidern.

„Das wird aber erst heizen, wenn es Zeit ist, ins Bett zu gehen“, unterbrach ihn Mr. Slurk. „Ist jemand in der Küche?“

„Keine Seele. – Es war hübsch warm dort. Die Leute sind alle fort und haben die Tür für die Nacht geschlossen.“

„Dann will ich“, sagte Mr. Slurk, „meinen Grog am Küchenfeuer trinken“, nahm seinen Hut und die Zeitung, folgte feierlich dem Wirt nach diesem niederen Gelasse, warf sich auf eine Bank am Herde, nahm seine höhnische Miene wieder an und begann in Ruhe zu lesen und zu trinken. In diesem Augenblick flog der Dämon der Zwietracht über den „Türkenkopf“, erblickte zufällig den behaglich am Küchenfeuer gelagerten Slurk, während Mr. Pott, vom Wein erhitzt, in einem andern Zimmer saß, schoß mit unbegreiflicher Schnelligkeit herab, fuhr Mr. Bob Sawyer in den Kopf und stiftete ihn an, folgendermaßen zu sprechen:

„Wir haben das Feuer ausgehen lassen. Nach dem Regen ist es unangenehm kalt hier.“

„Ja, das ist wahr“, gab Mr. Pickwick schauernd zu.

„Es wäre, meine ich, kein schlechter Einfall, am Küchenfeuer eine Zigarre zu rauchen“, fuhr Bob Sawyer fort, in dem der Dämon immer stärker wirkte.

„Ich denke auch, es müßte ganz behaglich sein“, meinte Mr. Pickwick. „Was sagen Sie dazu, Mr. Pott?“

Mr. Pott nickte bereitwillig, und sämtliche vier Reisende begaben sich, jeder mit seinem Glas in der Hand, nach der Küche, indes Sam Weller die Prozession anführte, um den Weg zu zeigen.

Der Fremdling las noch immer, sah plötzlich auf und fuhr zusammen. Mr. Pott desgleichen.

„Was ist denn?“ fragte Mr. Pickwick flüsternd.

„Da! Das Ungeziefer!“ erwiderte Pott.

„Was für ein Ungeziefer?“ fragte Mr. Pickwick, besorgt, er könne auf eine greise Küchenschabe oder eine wassersüchtige Spinne getreten sein. „Dort, das Ungeziefer!“ flüsterte Pott wieder, faßte Mr. Pickwick am Arm und deutete auf den Fremden. „Das Ungeziefer da – Slurk vom ,Independenten‘.“

„Wir würden vielleicht besser tun, uns zurückzuziehen“, meinte Mr. Pickwick halblaut.

„Niemals, Sir, niemals!“ erwiderte Pott giftig, setzte sich schnell auf die gegenüberliegende Bank, zog aus einem kleinen Pack Zeitungen eine heraus und begann, wie sein Feind, zu lesen.

Er las natürlich den „Independenten“, Mr. Slurk ebenso natürlich die „Gazette“, und jeder der Herren drückte unverhohlen seine Verachtung durch bitteres Gelächter und sarkastische Ausrufe aus. Bald schritten sie zu noch offeneren Meinungsäußerungen, wie „abgeschmackt“ – „erbärmlich“ – „ekelhaft“ – „Lumperei“ – „Schmutz“ – „Mist“ – „Schlamm“ – „Sumpfwasser“ und dergleichen.

Mr. Sawyer sowohl wie Ben Allen hatten diese Symptome von Eifersucht und Haß mit großem Ergötzen mit angesehen, und als die beiden Gegner zu ermatten begannen, wandte sich der boshafte Bob Sawyer mit großer Höflichkeit an Slurk und sagte:

„Dürfte ich vielleicht um das Blatt bitten, Sir, wenn Sie es gelesen haben?“

„Sie werden in dem elenden Ding da sehr wenig finden, was des Lesens lohnt“, erwiderte Slurk mit einem satanischen Stirnrunzeln gegen Pott. „Sie können dieses da inzwischen haben“, sagte Pott leichenblaß und mit vor Wut zitternder Stimme. „Haha! Die Frechheit dieser Bagage wird Ihnen viel Spaß machen.“

Die Worte „Frechheit“ und „Bagage“ waren förmlich herausgeschrien, und die Mienen der beiden Publizisten wurden immer herausfordernder.

„Die Gemeinheit dieses Lumpenhundes ist geradezu ekelhaft“, fuhr Pott, zu Bob Sawyer gewendet, fort und warf dabei Slurk einen giftigen Blick zu.

Slurk lachte nur schrill, blätterte seine Zeitung um und sagte, der Schafskopf amüsiere ihn köstlich.

„Was für ein schamloser Ignorant der Kerl ist!“ rief Pott, dessen Gesicht allmählich blaurot vor Wut wurde.

„Haben Sie von den Albernheiten dieses Menschen schon etwas gelesen, Sir?“ fragte Slurk Mr. Bob Sawyer.

„Nein“, erwiderte Bob, „ist es so schlecht?“

„Wenn es Ihnen möglich ist, sich durch ein paar Sätze voll Gemeinheit, Niedertracht, Verlogenheit, Infamie, Schurkerei und Unsinn durchzulesen“, sagte Slurk und reichte das Blatt Mr. Sawyer hinüber, „so werden Sie sich vielleicht dadurch belohnt finden, daß Ihnen der Stil dieses ungrammatikalischen Schwätzers ein Lachen abnötigt.“

„Was haben Sie da gesagt, Sir?“ fuhr Pott auf, am ganzen Leibe zitternd.

„Was geht denn das Sie an, Sir?“ erwiderte Slurk.

„Ungrammatikalischer Schwätzer haben Sie gesagt, nicht wahr, Sir?“ keuchte Pott.

„Ja, Sir, das habe ich gesagt, und blauer Idiot füge ich hinzu, Sir, wenn Sie das lieber hören. Hahaha!“

Mr. Pott erwiderte auf diese Beleidigung kein Wort, faltete nur bedächtig seine Nummer des „Independenten“ auseinander, legte sie sorgfältig flach auf den Boden, trampelte mit den Füßen darauf herum, spuckte dann feierlich darauf und warf sie ins Feuer.

„Sehen Sie, Sir“, sagte er dann, als er vom Kamin zurückkam, „ebenso würde ich auch die Viper behandeln, die dieses Gift erzeugt, wäre ich nicht zu ihrem Glück durch die Gesetze des Landes daran gehindert.“

„Bitte, genieren Sie sich gar nicht, Sir“, rief Slurk dagegen und sprang auf. „Es wird niemandem einfallen, die Gesetze wegen einer solchen Sache anzurufen. Versuchen Sie es doch, Sir!“

„Hört, hört!“ johlte Bob Sawyer.

„Prachtvoll, ausgezeichnet!“ rief Ben Allen.

„Versuchen Sie es doch, Sir“, wiederholte Slurk mit lauter Stimme.

Mr. Pott warf ihm einen verachtungsvollen Blick zu, der einen Amboß hätte zermalmen können.

„Versuchen Sie es doch, Sir!“ rief Slurk noch lauter.

„Ich will nicht, Sir“, versetzte Pott.

„So, so! Sie wollen nicht?“ höhnte Slurk. „Sie haben es gehört, meine Herren! Er will nicht. Nicht etwa, daß er sich fürchtete; ah, woher denn; er will bloß nicht. Hahaha!“

„Ich betrachte Sie, Sir“, schäumte Mr. Pott, „ich betrachte Sie als eine Viper. Ich halte Sie für einen Menschen, der sich durch sein freches, schandbares und widerliches Benehmen in der Öffentlichkeit seines Rechtes in der Gesellschaft begeben hat. In meinen Augen, Sir, sind Sie sowohl persönlich wie politisch weiter gar nichts als eine Viper.“

Der entrüstete Independent wartete das Ende dieser persönlichen Anklage nicht ab, sondern nahm seinen wohlgefüllten Mantelsack, schwang ihn, als Pott sich eben abwandte, über dem Kopf und ließ ihn dann gerade mit der Ecke, in der eine dicke Haarbürste eingepackt lag, auf das Haupt seines Gegners niedersausen, so daß dieser mit furchtbarem Getöse zu Boden stürzte.

„Meine Herren!“ rief Mr. Pickwick, als Pott wieder aufsprang und sich der Kohlenschaufel bemächtigte. „Meine Herren, bedenken Sie doch um Himmels willen – Hilfe – Sam! Aber ich bitte Sie, meine Herren, vergessen Sie sich doch nicht so weit!“

Dabei warf sich der menschenfreundliche alte Herr heldenmütig zwischen die wutentbrannten Streiter, gerade im rechten Augenblick, um auf die eine Seite seines Leibes den Mantelsack und auf die andre die Kohlenschaufel zu bekommen. Ob nun die Repräsentanten der öffentlichen Meinung von Eatanswill ganz blind vor Leidenschaft waren, oder ob sie als kluge, scharfsinnige Köpfe sogleich den Vorteil einsahen, einen Dritten, der die Streiche auffing, zwischen sich zu haben – eines ist gewiß, sie nahmen nicht die mindeste Notiz von Mr. Pickwick und handhabten Mantelsack wie Kohlenschaufel auf das furchtbarste. Mr. Pickwick hätte sein menschenfreundliches Dazwischentreten ohne Zweifel schwer büßen müssen, wäre nicht Mr. Weller auf sein Geschrei hereingestürzt, um dem Kampf sofort dadurch ein Ende zu machen, daß er einen leeren Sack ergriff und ihn dem rasenden Pott über Kopf und Schultern zog.

„Nehmen Sie dem andern Tollhäusler den Mantelsack weg“, rief er dabei Bob Sawyer zu, der entzückt zugesehen und nur eine Lanzette hervorgeholt hatte, um dem ersten, der ohnmächtig werden würde, zur Ader zu lassen. „Wollen Sie endlich aufhören, Sie Jammerlappen, oder ich drehe Ihnen den Kragen um.“

Atemlos und eingeschüchtert durch diese fürchterliche Drohung ließ sich der Independent entwaffnen, und Mr. Weller schüttelte vorsichtig Mr. Pott wieder aus dem Sack.

„So, jetzt gehen Sie beide ruhig ins Bett“, sagte er, „oder ich stecke Sie beide mitnander in den Sack und binde ihn oben zu. Von eurer Sorte werde ich noch mit ’nem ganzen Dutzend fertig. – Und Sie, Herr, haben vielleicht die Jüte, jefälligst mitzukommen.“

Mit diesen Worten nahm Sam seinen Herrn beim Arm und führte ihn fort, während die beiden feindlichen Journalisten vom Wirt und dem Kellner in ihre Schlafzimmer eskortiert wurden. Sie stießen dabei die blutdürstigsten Drohungen aus und ließen vage Andeutungen auf ein Duell am nächsten Tage fallen, waren jedoch am andern Morgen in aller Frühe, jeder in einer besonderen Kutsche, abgereist, als alles noch in tiefstem Schlaf lag.

Neunundvierzigstes Kapitel


Neunundvierzigstes Kapitel

Eine wichtige Veränderung in der Familie Weller. Mr. Stiggins fällt in Ungnade.

Mr. Pickwick hielt es für unzart, Bob Sawyer oder Ben Allen so ohne weiteres zu dem jungen Paare zu führen, und da er Arabellas Gefühle möglichst zu schonen wünschte, machte er den Vorschlag, er und Sam sollten in der Nähe des „Georg und Geier“ absteigen, während beide jungen Herren sich vorderhand irgendwo anders einquartierten. Mr. Ben Allen und Bob Sawyer begaben sich daher in ein abgelegenes Bierhaus am äußeren Ende des Borough, wo ihre Namen in früheren Tagen sehr häufig an der Spitze langer und verwickelter Rechnungen, mit weißer Kreide geschrieben, hinter der Schenkverschlagtür zu lesen gewesen waren.

„Potztausend, Mr. Weller!“ rief das hübsche Hausmädchen, als ihr Sam an der Tür begegnete.

„Jawohl, wie er leibt und lebt, mein schönes Kind“, erwiderte Sam und blieb ein wenig zurück, um seinen Herrn außer Hörweite kommen zu lassen. „Was für ’n süßes, angenehmes Geschöpf Sie sin, Mary.“

„Jaja, weiß schon, Mr. Weller; schwatzen Sie nicht solchen Unsinn“, wehrte Mary ab. „Es liegt schon seit vier Tagen ein Brief für Sie da; Sie waren kaum eine halbe Stunde fort, als er kam, und auf der Adresse steht: ,Höchst dringend‘.“

„Wo is er denn, meine Liebe?“ fragte Sam.

„Ich habe ihn zu mir gesteckt, damit er nicht verlorengeht“, erwiderte Mary. „Da ist er; ’s is mehr, als Sie verdient haben.“ – Dabei zog sie den Brief hinter einem wunderhübschen kleinen Musselinbusenstreif hervor und überreichte ihn Sam, der ihn mit ebensoviel Galanterie wie Innigkeit küßte, sich neben die Angebetete auf eine Fensterbank setzte, den Brief erbrach und einen Blick auf seinen Inhalt warf. „Hallo!“ rief er plötzlich. „Was is denn das?“

„Doch nichts Schlimmes?“ fragte Mary und blickte ihm über die Schulter.

„Gott, haben Sie schöne Augen!“ rief Sam.

„Kümmern Sie sich nicht um meine Augen. Lesen Sie lieber Ihren Brief“, sagte das hübsche Stubenmädchen und lächelte dabei schelmisch.

Sam aber stärkte sich mit einem Kuß und las wie folgt:

„Markih Grännbih
in Dorking
am Mittfoch.

Mein liber Semmih!

Es tuht mier sehr leit aber ich habe daß fergnügen das ich dir eine schlechte nachricht fön deiner Stiefmutter geben muss aber si hat sich erkeltit weil si dummerweise im nassen grass im rehgen geseßen hat um ein schefer zu zu hören woh ehrst in dehr sinkenden nacht auf hören konnte weil er sich mitt Brendi unt Wasser angefoichtet hatte unt sich nicht senkrecht halten konnte als biß ehr wihder ettwaß klahr geworden wahr waß mehere stunden dauerte unt der Dokter sahgte wen si gleich warmen Brendi unt Wasser drauf getrunken hette stadt fohrhehr denn hette eß ihr Nichts gemacht nu haben wihr tzwahr iere reder augenblicklig geschmiehrt unt alleß angewant um ier wihder in gank zu bringen unt dein fahter hatte di hoffnunk das si wihder aufn Damm komm würde wie gewönlich aber alß es si wider um der Egge bog da kariolte si dehn Berg runter mit eine geschwindichkeit woh mann noch nihmals gesehen hat unt trozdehm der Dokter ier gleich den hemmschu anlehgen taht half eß doch alleß nich den si betzahlte di letzte runde tzwantzich Minuten fohr seks Ur gestern ahbent unt hatt allso di grooße reise weit unter dehr gewönlichen zeit gemacht waß filleicht auch dafon gekomm is das si unterwehks nichts eingepakt hat dein fahter meint wenn du komm willst unt mihr Besuchen Semmih denn wirt ehr eß alls eine grohße froide ansen denn ich bin so gantz aleine Semmih Nohtabehne weil wihr so nie Sachen mitnander abtzumachen haben da wirt dein Prinntzpahl dihr gewiß nichts in wehk lehgen Semmih denn ich kenne ihm beßer unt sennde im meinen Rehßpeckt unt bin auf Ewich dein

Toby Veller.“

„Was für ’n unverständlicher Brief!“ murmelte Sam, versank in tiefes Nachdenken und las das Schreiben noch einmal genau durch, von Zeit zu Zeit innehaltend. Dann faltete er es langsam zusammen und sagte traurig:

„So is also das arme Geschöpf tot! Tut mir leid um sie. Sie war kein böses Weib nich; wenn sie nur die Hirten in Frieden gelassen hätten. Bin recht betrübt drüber.“

Mr. Weller sagte diese Worte in so ernstem Ton, daß das hübsche Stubenmädchen die Augen niederschlug und gleichfalls eine sehr traurige Miene annahm.

„Und doch“, fuhr Sam fort und steckte den Brief mit einem Seufzer in die Tasche, „es hat mal so sein müssen. – Läßt sich nich mehr ändern, wie die alte Dame sagte, als sie den Bedienten geheiratet hatte – was, Mary?“

Mary schüttelte den Kopf und seufzte nur.

„Ich muß meinen Herrn um Urlaub bitten“, sagte Sam nach einer Weile. „Adje, Mary.“

„Adieu!“ seufzte das hübsche Stubenmädchen und wandte den Kopf ab.

„Was, Sie geben mir nich mal zum Abschied die Hand?“ sagte Sam vorwurfsvoll.

Das hübsche Mädchen reichte ihm die Hand, die, wenn auch die Hand eines Stubenmädchens, dennoch eine sehr kleine Hand war, und stand auf, um zu gehen.

„Ich werde nich lange wegbleiben“, tröstete sie Sam.

„Ach, Sie sind immer weg“, schmollte Mary. „Kaum kommen Sie, Mr. Weller, da gehen Sie auch schon wieder.“

Sam zog die kleine Schönheit näher an sich und knüpfte ein flüsterndes Gespräch mit ihr an, das sie veranlaßte, ihr Gesichtchen abzuwenden. Als sie sich trennten, war es unumgänglich notwendig für sie geworden, auf ihr Zimmer zu gehen und ihre Haube und ihre Locken zu ordnen, bevor sie daran denken konnte, sich vor ihrer Gebieterin sehen zu lassen, und als sie zu dieser vorbereitenden Zeremonie die Treppe hinaufhuschte, beglückte sie Sam noch mit einem freundschaftlichen Lächeln über das Geländer hinab.

Es schlug gerade sieben Uhr, als Samuel Weller vom Bock einer Postkutsche in Dorking, einige hundert Schritte vom „Marquis von Granby“ entfernt, abstieg. Der Abend war kalt und trübe, die kleine Straße sah düster und traurig aus, und das mahagonifarbige Gesicht des edlen und tapfern Marquis schien einen finstereren und melancholischeren Ausdruck zu haben als sonst, wenn es wehmütig knarrend vom Winde hin und her geworfen wurde. Die Fenstervorhänge waren herabgelassen, die Läden teilweise geschlossen und von dem Haufen Müßiggänger, die gewöhnlich an der Tür versammelt herumstanden, war keine Spur zu sehen.

Da Sam niemand erblickte, den er vorher hätte ausholen können, ging er leise ins Haus, schaute sich um und erblickte in der Dämmerung seinen Vater.

Der Witwer saß in dem kleinen Zimmer hinter dem Schenkverschlag an einem kleinen runden Tisch, rauchte eine Pfeife und starrte mit unverwandtem Blick ins Feuer. Offenbar hatte das Begräbnis erst an diesem Tage stattgefunden, denn von seinem Hut, den er aufbehalten hatte, wallte ein etwa anderthalb Ellen langes Band nachlässig über die Stuhllehne herab.

Mr. Weller war offenbar in sehr tiefe Betrachtungen versunken, denn obgleich ihn Sam mehrere Male beim Namen rief, fuhr er doch mit demselben starren Gesicht zu rauchen fort und blickte erst auf, als ihm sein Sohn endlich die Hand auf die Schulter legte.

„Ich habe dir schon ’n halbdutzendmal gerufen“, sagte Sam leise und hängte seinen Hut an einen Nagel, „aber du hörtest mir nich.“ „Nein, Sam, habe dir nich gehört“, erwiderte Mr. Weller und sah aufs neue gedankenschwer ins Feuer. „War ganz in eine Träumerei versunken.“ „Worüber hast du denn nachgesonnen?“ fragte Sam und zog seinen Stuhl ans Feuer.

„Habe an sie gedacht, Sammy“, erwiderte Mr. Weller senior und nickte mit dem Kopf in Richtung des Friedhofs von Dorking. „Dachte eben daran, Sammy“, fuhr er in tiefem Ernst fort, „daß es mir im ganzen sehr leid tut, daß sie abgefahren is.“

„Gehört sich auch“, meinte Sam.

Mr. Weller nickte, richtete seine Augen abermals auf die Glut, hüllte sich in eine Wolke und versank wiederum in tiefes Nachdenken. Nach einer langen Pause lichtete er mit einer Handbewegung den Rauch und sagte: „Sie hat noch so sehr vernümftig gesprochen, Sammy. ,Weller‘, sagte sie, ,ich fürchte, ich habe nich ganz an dir gehandelt wie ich hätte sollen; du bist ’n sehr guter Mann, und ich hätte dir dein Leben angenehmer machen sollen. Jetzt, wo es zu spät is, da fange ich an einzusehen, wenn ’ne verheirate Frau fromm sein will, denn soll sie damit anfangen, ihre häuslichen Pflichten zu erfüll’n und die, wo mit ihr leben, glücklich und fröhlich zu machen. Ich habe Zeit und Geld an Leute verschwendet, wo noch weniger wert waren als wie ich; aber ich hoffe, wenn ich nicht mehr sein werde, Weller, denn wirstu an mir denken, wie ich war, bevor daß ich diese Leute kennengelernt habe und wie ich eigentlich von Natur aus gewesen bin.‘ – ‚Susanne‘, sagte ich, denn ich war sehr ergriffen, Samuel, kann es nich leugnen, mein Junge, ,Susanne‘, sagte ich, ,du bist mir ’n sehr gutes Weib gewesen, deswegen sprich nich mehr von. Kopf hoch, mein Schatz, du wirst es gewiß noch erleben, daß ich diesem Stiggins den Schädel poliere.‘ – Sie lächelte darüber, Samuel“, fuhr der alte Herr fort und erstickte einen Seufzer, „aber denn starb sie doch!“

„Na“, sagte Sam nach einer langen Pause, die damit hinging, daß der alte Herr beständig den Kopf schüttelte und in stummer Feierlichkeit rauchte, „sterben müssen wir ja alle, Gouverneur! Die Vorsehung hat es nun mal so eingerichtet.“

„Jaja“, versetzte sein Vater mit ernstem Gesicht. „Was würde auch sonst aus den Totengräbern werden, Sammy!“

Verloren in dem durch diese Betrachtungen sich eröffnenden unermeßlichen Feld von Vermutungen, legte er seine Pfeife auf den Tisch und schürte mit nachdenklichem Gesicht das Feuer; da öffnete sich leise die Tür und eine wohlbeleibte Köchin in Trauerkleidung, die bisher in der Schenkstube beschäftigt gewesen, trat ins Zimmer, nickte Sam mehrere Male freundlich zu und kündigte ihre Anwesenheit durch ein leises Husten an.

„Hallo!“ rief Mr. Weller senior, ließ das Schüreisen fallen und rückte hastig mit seinem Stuhl weg. „Was gibt’s?“

„Trinken Sie doch eine Tasse Tee“, schmeichelte das wohlbeleibte Frauenzimmer.

„Ach was“, versetzte Mr. Weller in barschem Tone. „Ich wollte, Sie wären – wo der Pfeffer wächst“, fügte er leise hinzu.

„Ach du meine Güte! Wie doch das Unglück die Leute verändert!“ sagte das Frauenzimmer mit einem verzweifelten Blick zur Decke.

„Jaja, schon gut“, murmelte Mr. Weller.

„Ich habe in meinem Leben noch keinen so übellaunischen Menschen gesehen, seit mein seliger Mann tot ist“, fing das wohlbeleibte Frauenzimmer wieder an, hüstelte abermals und blickte Mr. Weller senior liebreich an.

„Halten Sie den Schnabel, ich kann jetzt ihr Gesabbel nicht hören“, fuhr der alte Herr auf, „vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, uns alleine zu lassen, ja? – Samuel, zeig ihr den Weg und mach die Tür hinter ihr zu.“

Das wohlbeleibte Frauenzimmer verstand diesen zarten Wink, ging schnell hinaus und machte selbst die Tür hinter sich zu. Mr. Weller senior, dem große Schweißtropfen auf der Stirn standen, warf sich in seinen Stuhl zurück und sagte:

„Sammy, wenn ich hier noch ’ne Woche alleine bleiben würde, bloß ’ne Woche, mein Junge, denn würde mich das Weibsbild, noch bevor die Woche um is, mit aller Gewalt heiraten.“

„Soso, is sie denn so verliebt in dich?“ fragte Sam.

„Ach was, verliebt!“ antwortete der alte Herr, „ich kann sie mir einfach nich vom Leibe halten. Wenn ich mich in ein feuerfesten Kasten mit Patentschloß einsperren würde, die würde doch Mittel und Wege finden, an mich ranzukommen, Sammy.“

„Is doch was Feines, wenn man so umworben wird“, meinte Sam lächelnd.

„Darauf bilde ich mir aber nu gar nichts ein, Sammy“, erwiderte Mr. Weller und schürte heftig das Feuer, „es is eine schauderhafte Lage. Man vertreibt mich von Haus und Hof. Kaum daß deiner armen Stiefmutter die Luft ausgegangen war, da schickt mir auch schon so ’n altes Weib „n Topf mit Marmelade und ’ne andre ’nen Krug mit Schelee und noch ’ne andre kocht mir ’ne großmächtige Kanne voll Kamillentee und bringt sie mir auch noch eigenhändig.“ Mr. Weller schwieg einen Augenblick verdrossen, blickte sich dann um und flüsterte: „Das waren alles Witwen, Sammy, eine wie die andere; bloß die Kamillenfee nich, die war ’ne unverheiratete junge Dame von dreiundfünfzig.“

Sam antwortete nur mit einem schalkhaften Lächeln.

„Kurz und gut, Sammy, ich sage dir, ich fühle, ich bin nirgends mehr sicher wie auf ‚m Bock.“

„Und warum denkst du, daß du da sicherer bist als sonstwo?“

„Weil ein Kutscher ein prifilegiertes Individjum is“, erwiderte Mr. Weller und sah seinen Sohn fest an. „Weil ein Kutscher machen kann, was andere Leute nich können, weil ein Kutscher auf achtzig Meilen in der Runde mit allen Frauenzimmern auf freundschaftlichstem Fuß stehen kann, ohne daß es ein Menschen einfällt, daß er eine davon heiraten will. Welcher andere Mann kann das von sich sagen, Sammy?“

„Ja, es is was dran“, gab Sam zu.

„Wenn dein Gouverneur Kutscher gewesen wäre“, räsonierte Mr. Weller weiter, „bildest du dir ein, die Geschworenen würden ihn denn verurteilt haben? Warum nich? Weil es gegen ihr Gewissen gewesen wäre. Ein orntlicher Kutscher is eine Art Verbindungsglied zwischen dem ledigen und dem ehelichen Stande. Jeder richtige Mann weiß das.“

Mit diesen Worten stopfte Mr. Weller seine Pfeife aufs neue, zündete sie an, verlieh seinem Gesicht abermals einen gedankenvollen Ausdruck und fuhr gelassen fort: „Also, was ich sagen wollte, mein Junge, weil ich es nu mal nich für ratsam ansehe, daß ich hierbleiben tue und mich mit Gewalt heiraten lasse, weil ich aber auch nich aus die menschliche Gesellschaft raustreten will, bin ich zu den Entschluß gekommen, wieder meine alte Droschke zu fahren, und mein Quartier werde ich wieder in Bell-Savage aufschlagen. Das is und bleibt mein angeborenes Element, Sammy.“

„Und was soll aus dem Geschäft hier werden?“ fragte Sam.

„Das Geschäft, Samuel? Das Haus und alles, was niet- und nagelfest is, wird verscheuert, und von dem Erlös, da wollte deine Stiefmutter kurz vor ihren Tod, daß davon zweihundert Fund für dich angelegt werden in … in … wie heißen bloß die Dinger?“

„Was für Dinger?“ fragte Sam.

„Na die Dinger, wo immer so schwanken.“

„Omnibusse“, riet Sam.

„Unsinn, Omnibusse!“ brummte Mr. Weller. „Die Dinger, wo mit der Nationalschuld und den Schatzanweisungen zu tun haben.“

„Ach so, die Fonds?“

„Jawohl ja“, erwiderte Mr. Weller, „die Fonds; zweihundert Fund von dem Geld sollen für dich in Fonds angelegt werden, Samuel; in Obligatschonen zu viereinhalb Prozent.“

„Sehr gütig von der alten Dame, daß sie an mich gedacht hat“, sagte Sam. „Bin ihr sehr dankbar.“

„Der Rest wird auf meinen Namen angelegt“, fuhr Mr. Weller senior fort, „und wenn ich mal von der Heerstraße abberufen werde, denn fällt es dir auch zu. Also, mein Junge, bring nich alles auf einmal durch und nimm dir in acht, daß dir keine Witwe nich ausfindig machen tut, denn bist du nämlich verloren.“ Mr. Weller widmete sich nun wieder seiner Pfeife; sein Gesicht hatte sich etwas aufgehellt. Ganz offensichtlich hatte diese Eröffnung sein Gemüt beträchtlich erleichtert.

„Irgendwas klopft an die Tür“, sagte Sam.

„Laß ’n nur klopfen“, versetzte Mr. Weller senior mit Würde, „es sin nur Witwen.“

Das Klopfen wiederholte sich, wurde immer lauter, und da niemand „herein“ rief, wagte es der unsichtbare Gast nach einer Weile, die Tür zu öffnen und hereinzuspähen. Es war aber kein Frauenkopf, der sich da hereinstreckte, sondern die langen schwarzen Locken und das rote Gesicht Mr. Stiggins‘.

Mr. Weller fiel die Pfeife aus der Hand.

Der ehrwürdige Gentleman öffnete beinahe unmerklich nach und nach die Tür, bis die Öffnung weit genug war, um seinen langen Leib durchzulassen, und schlüpfte dann herein. Sofort wandte er sich zu Sam, hob zum Zeichen seiner unaussprechlichen Bekümmernis Hände und Augen empor, rückte den hochlehnigen Stuhl in seinen alten Winkel am Kamin, setzte sich auf die Ecke desselben und zog ein braunes Taschentuch hervor.

Alles das hatte Mr. Weller senior mit weit aufgerißnen Augen, die Hände auf die Knie gestemmt, und einem Gesicht, das das grenzenloseste Erstaunen ausdrückte, stumm mit angesehen. Sam saß ihm wortlos gegenüber und wartete mit brennender Neugier der Dinge, die da kommen sollten. Mr. Stiggins hielt sich sein braunes Taschentuch mehrere Minuten lang vor die Augen, stöhnte laut, bemeisterte aber endlich durch eine gewaltige Kraftanstrengung seine Gefühle, steckte das Tuch ein und knöpfte seinen Rock auf. Dann schürte er das Feuer, rieb sich die Hände und blickte Sam an. „Ach, mein junger Freund!“ brach er nach einer Pause mit sehr leiser Stimme das Stillschweigen. „Trauer und Betrübnis haben hier ihren Einzug gehalten.“ Sam nickte unmerklich.

„Auch für den Mann des Zorns! Es macht das Herz eines Auserwählten bluten.“

Sam hörte seinen Vater so etwas murmeln wie: er habe Lust, auch die Nase eines Auserwählten bluten zu machen. Mr. Stiggins aber achtete offenbar nicht darauf.

„Wissen Sie nicht, junger Mann“, flüsterte der Seelenhirt und rückte mit seinem Stuhl näher zu Sam, „ob sie dem Immanuel etwas vermacht hat?“

„Wer ist das?“ fragte Sam.

„Die Kapelle. Unsrer Kapelle, unsrer Herde, Mr. Samuel.“ „Sie hat dem Hirten nichts vermacht und dem Pferch auch nichts und den Tieren drin ebensowenig; nicht mal den Hunden hat sie was vermacht.“

Mr. Stiggins blickte Sam listig an, warf einen Seitenblick auf den alten Herrn, der mit geschloßnen Augen dasaß und zu schlafen schien, rückte seinen Stuhl langsam näher und flüsterte:

„Auch mir nichts, Mr. Samuel?“

Sam schüttelte den Kopf.

„Ich sollte doch denken, irgend etwas“, sagte Stiggins erblassend. „Besinnen Sie sich, Mr. Samuel, nicht einmal ein kleines Andenken?“ „Nicht mal soviel, wie Ihr oller Schirm da wert is.“ „Aber vielleicht“, fuhr Mr. Stiggins nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens zögernd fort, „vielleicht hat sie mich dem Mann des Zornes zur Fürsorge empfohlen, Mr. Samuel?“

„Nach allem, was er mir gesagt hat, könnte das wohl der Fall sein“, erwiderte Sam, „er hat soeben von Ihnen gesprochen.“

„Wirklich?“ rief Stiggins strahlend. „Ah, gewiß ist eine Wandlung mit ihm vorgegangen! Wir könnten so gut miteinander leben; nicht wahr, Mr. Samuel? Ich würde für seine Geschäfte sorgen, solange Sie fort sind, und ganz gewiß gut sorgen. Nicht? Wie?“

Sam nickte, und Mr. Weller senior gab eine sonderbare Art Gekrächz von sich.

Stiggins deutete diesen Ton als ein Zeichen der Reue und Gewissensangst, blickte ermutigt umher, rieb sich die Hände, weinte, lächelte, weinte wieder, ging dann leise auf den Fußspitzen durch das Zimmer nach dem ihm wohlbekannten Schrank in der Ecke, nahm ein Glas heraus und warf bedachtsam vier Stück Zucker hinein. Dann blickte er abermals um sich, stöhnte jämmerlich, schlich hinaus in die Speisekammer, füllte das Glas halb mit Ananasrum, kam schnell zurück, trat an den Kessel, der lustig über dem Feuer brodelte, mischte seinen Grog, rührte um, schlürfte, setzte sich, tat sofort einen langen herzhaften Schluck und hielt inne, um Atem zu schöpfen.

Mr. Weller senior, der bisher immer noch verschiedne kuriose Versuche gemacht hatte, sich schlafend zu stellen, sprach bei dem allen kein Wort. Als aber Mr. Stiggins innehielt, um Atem zu holen, stürzte er auf ihn zu, riß ihm das Glas aus der Hand, schüttete ihm den Rest ins Gesicht, packte ihn am Kragen und fing an, ihn mit Fußtritten und Faustschlägen zu traktieren.

„Sammy!“ rief er dabei seinem Sohn zu. „Drück mir den Hut fest auf den Kopf.“

Samuel gehorchte, und der alte Gentleman mit dem langen wehenden Trauerbande hämmerte mit erneuter Munterkeit auf Mr. Stiggins los und jagte ihn durch das ganze Zimmer, durch den Gang und zur Haustür hinaus auf die Straße, wobei seine Wut sich immer mehr steigerte, sooft er seinen Stulpenstiefel zu einem neuen Tritt erhob.

Es war ein schöner erheiternder Anblick, den rotnasigen Herrn unter Mr. Wellers Griffen sich winden und vor Angst zittern und beben zu sehen, als in rascher Reihenfolge Schlag auf Schlag fiel. Noch prächtiger aber war es anzuschauen, wie ihn Mr. Weller gewaltsam den Kopf in einen vollen Pferdetrog tunkte und ihn so lang unter Wasser hielt, bis er halb erstickt war.

„Da!“ sagte Mr. Weller und legte seine ganze Energie in einen höchst kunstvollen letzten Fußtritt, als Mr. Stiggins luftschnappend aus dem Trog emportauchte, „jetzt schick mir noch einen von den faulen Hirten her, daß ich den auch zu Brei schlage und nachher ersäufe. Sammy, hilf mir in die Stube und reich mir ’n Gläschen Brandy. Ich bin ganz außer Atem, mein Junge.“

Fünfzigstes Kapitel


Fünfzigstes Kapitel

Mr. Jingles und Hiob Trotters letzter Austritt. Abwicklung eines Geschäfts in Grays Inn Square und ein lautes Klopfen an Mr. Perkers Tür.

Als Arabella nach mancherlei zarten Vorbereitrungen und vielen Versicherungen von Mr. Pickwick, daß durchaus kein Grund vorhanden sei, den Mut sinken zu lassen, das unbefriedigende Resultat seines Besuchs in Birmingham erfahren hatte, brach sie in Tränen aus und klagte sich laut schluchzend an, die unglückselige Ursache einer Entfremdung zwischen Vater und Sohn geworden zu sein.

„Aber, mein liebes Kind“, tröstete sie Mr. Pickwick freundlich, „es ist doch nicht Ihre Schuld. Man konnte unmöglich voraussehen, daß der alte Herr die Verheiratung seines Sohnes so übel aufnehmen würde. Gewiß“, fügte er hinzu und schaute Arabella in das hübsche Gesichtchen, „gewiß hat er nicht die entfernteste Idee von dem Vergnügen, dessen er sich beraubt.“

„Ach, mein lieber Mr. Pickwick“, jammerte Arabella, „was sollen wir nur tun, wenn er fortfährt, uns zu grollen?“

„Warten Sie es mit Geduld ab, liebes Kind, bis er besser von der Sache denkt“, erwiderte Mr. Pickwick in vergnügtem Ton.

„Aber was soll aus Nathaniel werden, wenn sein Vater die Hand von ihm abzieht?“ schluchzte Arabella.

„Für diesen Fall, meine Liebe, will ich zu prophezeien wagen, daß er schon irgendeinen Freund finden wird, der ihm mit Vergnügen dabei behilflich sein wird, sich in der Welt fortzubringen.“

Das war zu deutlich, als daß es Arabella nicht hätte verstehen sollen. Sie schlang die Arme um Mr. Pickwicks Nacken, küßte ihn zärtlich und schluchzte noch lauter als zuvor.

„Nur Mut gefaßt!“ tröstete der alte Herr und faßte ihre Hand. „Wir wollen hier noch einige Tage verweilen und sehen, ob er schreibt oder den Brief Ihres Mannes in einem andern Licht auffaßt. Wo nicht, so habe ich schon ein Dutzend Pläne ausgesonnen, von denen jeder einzelne zu Ihrem Glück führen muß. Also, seien Sie ganz ruhig, mein Kind.“

Die jungen Leute befinden sich wirklich in einer peinlichen Lage, sagte sich Mr. Pickwick, als er sich am folgenden Morgen ankleidete. Ich will mal zu Perker gehen und ihn in der Sache um Rat fragen.

Da er noch einen andern sehnlichen Wunsch hatte, der ihn nach dem Grays Inn Square trieb, nämlich unverzüglich mit dem braven kleinen Anwalt seine Rechnung abzuschließen, nahm er in aller Geschwindigkeit sein Frühstück ein und führte seine Absicht so schleunig aus, daß es noch nicht zehn Uhr geschlagen hatte, als er Grays Inn erreichte.

Die Schreiber waren noch nicht da, und so vertrieb er sich die Zeit mit Hinaussehen aus dem Treppenfenster.

Das klare Licht eines schönen Oktobermorgens verlieh sogar den trüben alten Häusern ein wenig Glanz; einige der staubüberzogenen Fenster sahen fast fröhlich aus, als die Sonnenstrahlen auf ihnen glühten. Schreiber um Schreiber eilte durch die Eingänge, und alle blickten auf die Uhr der Halle und beschleunigten oder verlangsamten ihre Schritte, je nach der Zeit, zu der ihre Kanzleistunden begannen. Das Geräusch sich öffnender und schließender Türen hallte von allen Seiten wider, Köpfe erschienen wie durch Zauberschlag an den Fenstern; die Portiers stellten sich auf ihre Posten, die Scheuerfrauen mit ihren abgetretenen Schuhen schlurften davon, der Briefträger eilte von Haus zu Haus, und der ganze juristische Bienenschwarm war in geschäftiger Aufregung.

Nach einigen Minuten erschien Mr. Lowten, begrüßte Mr. Pickwick und schloß die Kanzlei auf.

„Das Geschäft ist in Ordnung, das wissen Sie doch“, sagte er, als er mit großer Umständlichkeit sein Pult aufgeräumt, die Federn geschnitten und seinen Arbeitsrock angezogen hatte.

„Welches Geschäft?“ fragte Mr. Pickwick. „Die Kostensache für die Bardell?“

„Nein, das wegen des Burschen, den wir auf Ihre Rechnung aus der Fleet auslösten und der nach Demerara soll.“

„Ach so, Mr. Jingle“, sagte Mr. Pickwick hastig. „Nun, wie ist es gegangen?“

„Alles in schönster Ordnung. Der Agent in Liverpool schreibt, Sie hätten ihm früher so viele Gefälligkeiten erwiesen, daß es ihm ein Vergnügen sei, ihn auf Ihre Empfehlung hin unterzubringen.“

„Bravo, das freut mich“, frohlockte Mr. Pickwick.

„Aber der andre ist ein Mordspinsel.“

„Welcher andre?“

„Na, der Bediente oder Freund Jingles, oder was er sonst ist; Sie wissen doch, der Trotter.“

„Ah so“, sagte Mr. Pickwick lächelnd. „Den hätte ich gerade für das Gegenteil gehalten.“

„Ich auch. – Schon nach dem wenigen, was ich von ihm gesehen habe“, erwiderte Lowten. „Aber was sagen Sie dazu, daß er ebenfalls nach Demerara geht? Perkers Anerbieten von achtzehn Schilling wöchentlich mit der Aussicht auf mehr, wenn er sich gut aufführe, machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn. Er sagte, er müsse unbedingt mit Jingle gehen. Sie baten beide Mr. Perker, noch einmal zu schreiben, und jetzt ist er glücklich nicht halb so gut untergebracht wie ein Verbrecher in Neusüdwales.“

„Ein närrischer Kerl“, sagte Mr. Pickwick mit strahlendem Gesicht, „wahrhaftig, ein ganz närrischer Kerl.“

„Oh, es ist noch mehr als närrisch, es ist einfach blödsinnig“, erwiderte Lowten verächtlich und schnitzelte an seiner Feder herum. „Er sagt, Jingle sei der einzige Freund, den er je gehabt habe, deswegen könne er ihn jetzt nicht verlassen, und ähnliches dummes Zeug. Freundschaft ist ja recht schön, wir zum Beispiel sind in der ,Elster‘ alle gut befreundet, aber jeder zahlt für sich selbst. Das fehlte einem noch, daß man sich eines andern wegen etwas abgehen lassen sollte. Der Mensch darf meiner Ansicht nach nur zwei Neigungen haben: die erste, zu Nummer eins, das heißt, zu sich selbst, und die zweite zu den Weibern. Das ist meine Meinung. Hahaha!“

Mr. Lowten schloß mit einem lauten, halb lustigen und halb höhnischen Gelächter, das er jedoch schnell abbrach, als er Mr. Perker kommen hörte. Mit merkwürdiger Behendigkeit schwang er sich auf seinen Stuhl und schrieb eifrig.

Die Begrüßung zwischen Mr. Pickwick und seinem Anwalt war warm und herzlich. Der Gelehrte hatte sich indes kaum in den Armstuhl geworfen, als Jingle und Hiob Trotter gemeldet wurden.

„Na“, sagte Perker, „Sie kennen diesen Herrn wohl nicht?“ als beide eintraten und bei Mr. Pickwicks Anblick verlegen auf der Schwelle stehenblieben.

„Guten Grund dazu“, versetzte Jingle und trat vor. „Mr. Pickwick – aufs tiefste Dankgefühl verpflichtet – Leben gerettet – einen Menschen aus mir gemacht – sollen es nie bereuen, Sir.“

„Es freut mich, Sie so reden zu hören“, sagte Mr. Pickwick. „Sie sehen bereits viel besser aus.“

„Alles Ihr Werk – Sir – große Veränderung, Fleet – ungesunder Ort – sehr ungesund“, versetzte Jingle und schüttelte den Kopf. Er war anständig und reinlich gekleidet, ebenso Hiob, der kerzengerade hinter ihm stand und Mr. Pickwick wie versteinert anstarrte. „Wann gehen sie nach Liverpool?“ fragte Mr. Pickwick halblaut seinen Anwalt.

„Heute abend, Sir, um sieben Uhr“, erwiderte Hiob und trat einen Schritt vor. „Mit der City-Postkutsche, Sir.“

„Haben Sie Ihre Plätze schon?“

„Ja, Sir.“

„So sind Sie also fest entschlossen, zu gehen?“

„Ja, Sir.“

„Was die nötige Ausrüstung für Jingle betrifft“, sagte Perker laut zu Mr. Pickwick, „so habe ich veranlaßt, daß ihm eine kleine Summe von seinem Vierteljahrsgehalt abgezogen wird, um diese Ausgabe zu decken, was in einem Jahre geschehen sein wird. Ich bin entschieden dagegen, mein lieber Herr, daß Sie irgend etwas für ihn tun, wofern er es nicht durch Fleiß und gute Aufführung verdient.“

„Wird gewiß geschehen“, unterbrach ihn Jingle mit großer Entschiedenheit. „Klarer Kopf jetzt – Mann von Welt – werden schon durchkommen.“

„Durch die Befriedigung seiner Gläubiger, die Auslösung seiner Garderobe, die Unterstützung, die Sie ihm im Gefängnis zukommen ließen, –und die Bezahlung der Überfahrtskosten“, fuhr Perker, ohne die mindeste Rücksicht auf Jingles Bemerkung zu nehmen, fort, „haben Sie bereits über fünfzig Pfund verloren.“

„Nicht verloren“, rief Jingle hastig. „Alles bezahlen – fleißig arbeiten – sparen – jeden Heller. Gelbes Fieber vielleicht – wäre etwas anderes – aber sonst …“

Mr. Jingle versagte die Stimme, er schlug sich heftig auf die Brust, fuhr mit der Hand über die Augen und setzte sich wieder.

„Er will damit sagen“, erläuterte Hiob und trat wieder einen Schritt vor, „daß er, wenn ihn das Fieber nicht wegrafft, das Geld zurückbezahlen wird. Bleibt er am Leben, so tut er es gewiß, Mr. Pickwick. Ich will selbst darauf sehen, daß es geschieht; aber ich weiß, daß er es tun wird, Sir“, fügte er mit großem Nachdruck hinzu. „Ich könnte darauf schwören.“

„Schon gut, schon gut“, wehrte Mr. Pickwick ab, der bereits Perker ein ganzes Dutzend zorniger Blicke zugeworfen, um ihm zu bedeuten, er möge doch die Aufzählung seiner Wohltaten unterlassen, was jedoch der kleine Anwalt geflissentlich nicht beachtet hatte. „Sie müssen sich nur hüten, keine so verzweifelten Kricketmatches mehr einzugehen, Mr. Jingle, oder Ihre Bekanntschaft mit Sir Thomas Blazo zu erneuern; dann zweifle ich nicht, daß Sie Ihre Gesundheit erhalten werden.“

Mr. Jingle lächelte über diesen Scherz, sah aber doch ein wenig verlegen aus, und so gab Mr. Pickwick dem Gespräch rasch eine andre Wendung. „Wissen Sie nicht vielleicht“, fragte er, „was aus Ihrem andern Freunde geworden ist, den ich in Rochester kennenlernte?“

„Trübsinns-Jemmy?“ fragte Jingle.

„Ja.“

Jingle schüttelte den Kopf. – „Ein geriebener Bursche – ein närrischer Kauz – ein Lügengenie – Hiobs Bruder.“

„Mr. Trotters Bruder?!“ rief Mr. Pickwick. „Ja, wahrhaftig, wenn ich Hiob so in der Nähe ansehe, entdecke ich eine gewisse Ähnlichkeit.“

„Man hat uns immer für ähnlich gehalten, Sir“, sagte Hiob mit einem verschmitzten Blick, „nur war ich von jeher ernsthafter Natur, und er niemals. Er wanderte nach Amerika aus, Sir, weil man ihm hier zu sehr auf die Finger sah, als daß er sich hätte behaglich fühlen können, und seitdem hat man nichts wieder von ihm gehört.“

„Deswegen habe ich also die ,Seite aus dem Roman des wirklichen Lebens‘ nicht bekommen, die er mir eines Morgens versprach, als er auf der Rochesterbrücke stand und offenbar mit Selbstmordgedanken umging?“ sagte Mr. Pickwick lächelnd. „Ich brauche wohl nicht zu fragen, war sein trübseliges Benehmen natürlich oder bloß erkünstelt?“

„Er konnte sich in jede Rolle hineinfinden, Sir“, sagte Hiob, „und Sie dürfen von Glück sagen, daß Sie so mit heiler Haut davongekommen sind. Bei näherem Umgang würde er noch ein weit gefährlicherer Bekannter für Sie geworden sein, als“ – er blickte auf Jingle, stockte und setzte endlich hinzu – „als – als – ich selbst sogar.“

„Sie haben ja eine recht hoffnungsvolle Familie, Mr. Trotter“, sagte Perker und versiegelte den Brief, den er soeben beendet hatte.

„Jawohl, Sir, allerdings“, versetzte Hiob. „Na“, fuhr der kleine Mann lachend fort, „Sie werden hoffentlich aus der Art schlagen. Übergeben Sie diesen Brief dem Agenten, wenn Sie nach Liverpool kommen, und nehmen Sie den Rat von mir an, meine Herren, in Westindien nicht gar zu gerissen aufzutreten. Verscherzen Sie sich diese Gelegenheit, so verdienen Sie beide gehenkt zu werden, und ich glaube auch fest, daß dies geschehen wird. Jetzt aber muß ich bitten, mich mit Mr. Pickwick allein zu lassen, denn wir haben noch vieles zu besprechen, und unsere Zeit ist kostbar.“

Bei diesen Worten sah Perker nach der Tür mit einer Miene, die deutlich den Wunsch ausdrückte, die Herren möchten den Abschied so kurz wie möglich machen.

Von Mr. Jingles Seite war er auch kurz genug. Er dankte dem kleinen Anwalt in wenigen herausgestoßenen Worten für die Güte und Bereitwilligkeit, mit der er ihm Beistand geleistet, wandte sich dann an seinen Wohltäter und stand einige Sekunden da, unentschlossen, was er sagen oder wie er sich benehmen solle. Hiob Trotter erlöste ihn aus seiner Verlegenheit, indem er ihn, mit einer demütigen, dankbaren Verbeugung gegen Mr. Pickwick, sachte am Arme nahm und hinausführte.

„Ein würdiges Paar“, sagte Perker, als sich die Tür hinter ihnen schloß.

„Ich hoffe, daß sie es werden“, erwiderte Pickwick. „Was meinen Sie? Ist Aussicht auf bleibende Besserung vorhanden?“

Perker zuckte die Achseln; als er aber Mr. Pickwicks unruhigen und mißvergnügten Blick bemerkte, sagte er:

„Aussicht ist allerdings vorhanden, und ich hoffe, es wird alles gut ausgehen. Sie sind jetzt fraglos sehr zerknirscht, aber Sie müssen doch bedenken, daß die Erinnerung an ihre kürzlich erstandenen Leiden noch ganz frisch bei ihnen ist. Was aus ihnen werden wird, wenn sie nach und nach verschwindet, ist eine Frage, die ich sowenig beantworten kann wie Sie. Selbst indes, mein lieber Herr“, fügte er hinzu und legte seine Hand auf Mr. Pickwicks Schulter, „mag es ausfallen, wie es will, Ihre Absicht bleibt immer gleich ehrenhaft. Ob jene Art von Wohlwollen, die so unendlich behutsam und vorsichtig zu Werke geht, daß sie sich nur selten in Anwendung bringen läßt – damit der Wohltäter nur ja nicht betrogen und dadurch in seiner Eigenliebe gekränkt werde –, wirkliche Menschenfreundlichkeit ist oder bloß ein verfälschter Nachdruck davon, überlasse ich klügeren Köpfen zu ermitteln. Wenn übrigens die zwei Burschen morgen schon einen nächtlichen Einbruch begingen, meine Meinung von Ihrer Handlungsweise, Pickwick, würde dieselbe bleiben.“

Mit diesen Bemerkungen, die mit weit mehr lebhaftem Mitgefühl und Ernst gesprochen waren, als es bei den Herren Juristen sonst der Fall zu sein pflegt, rückte Mr. Perker seinen Stuhl an sein Pult und ließ sich von Mr. Pickwick erzählen, wie die Sache mit Mr. Winkle senior ausgefallen war.

„Lassen Sie ihm eine Woche Zeit“, sagte er und nickte prophetisch mit dem Kopf.

„Meinen Sie, er wird mürbe werden?“ fragte Mr. Pickwick.

„Hoffentlich. Wenn nicht, so müssen wir auf die Überredungsgabe der jungen Dame bauen, etwas, was jeder andre, bloß Sie nicht, gleich im Anfang getan hätte.“

Mr. Perker nahm eine Prise und schnitt groteske Gesichter, mit denen er offenbar andeuten wollte, was die Überredungskünste junger Damen alles zuwege zu bringen imstande wären, als man in der Schreibstube reden hörte und unmittelbar darauf Lowten klopfte, mit sehr geheimnisvoller Miene eintrat und die Tür vorsichtig hinter sich zumachte.

„Was gibt’s denn?“ fragte Perker.

„Man fragt nach Ihnen, Sir.“

„Wer?“

Lowten sah Mr. Pickwick an und hustete.

„Wer fragt nach mir? Können Sie denn nicht sprechen, Mr. Lowten?“

„Hm, ja, Sir. Es sind die Herren Dodson und Fogg.“

„Richtig, ja!“ sagte der kleine Anwalt und sah hastig auf die Uhr. „Ich habe sie auf halb zwölf hierher bestellt, um Ihre Angelegenheit mit ihnen abzumachen, Mr. Pickwick. Ich gab ihnen eine Anweisung, gegen die sie mir Ihr Entlassungsdekret aus dem Gefängnis schickten. Die Leute kommen sehr ungelegen, mein lieber Herr, was wollen Sie tun? Gehen Sie vielleicht einen Augenblick in das andre Zimmer, nicht?“

Das andre Zimmer war indes dasselbe, in dem sich die Herren Dodson und Fogg befanden, und Mr. Pickwick erklärte daher entschlossen, er werde bleiben, wo er sei, zumal die Herren Dodson und Fogg allen Grund hätten, sich vor ihm zu schämen, und er nicht die geringste Ursache, vor ihnen die Flucht zu ergreifen.

„Ganz gut, mein lieber Herr, ganz gut“, erwiderte Perker, „soviel muß ich Ihnen jedoch sagen: Wenn Sie glauben, daß Dodson oder Fogg auch nur die geringste Verlegenheit an den Tag legen wird, so sind Sie der sanguinischste Mensch, der mir je vorgekommen ist. Führen Sie die Leute herein, Lowten.“

Mr. Lowten verschwand mit einem Grinsen und öffnete sogleich der Firma Dodson und Fogg die Tür.

„Sie kennen Mr. Pickwick bereits, dächte ich“, begann Perker zu Dodson und wies mit der Feder nach der Richtung, wo der Gelehrte saß. „Ah, Mr. Pickwick, wie befinden Sie sich?“ sagte sofort Dodson mit lauter Stimme.

„Oh, Mr. Pickwick! Wie geht’s“, rief Fogg. „Doch wohl, wie ich hoffe, Sir? Will’s meinen, daß ich den Herrn kenne“, wendete er sich zu Perker, nahm einen Stuhl und lächelte.

Mr. Pickwick nickte zur Erwiderung auf diese Begrüßung nur unmerklich mit dem Kopf, und als er Fogg einen Pack Akten aus der Rocktasche ziehen sah, stand er auf und trat ans Fenster.

„Mr. Pickwick braucht sich nicht zu entfernen, Mr. Perker“, sagte Fogg, löste den roten Bindfaden, der das Paket zusammenhielt, und lächelte noch süßer als zuvor. „Mr. Pickwick kennt unsre Verhandlungen ziemlich genau, und ich dächte, wir haben hier keine Geheimnisse voreinander. Hihihi!“

„Hahaha!“ lachte Dodson.

„Mr. Pickwick wird sich gewiß sehr freuen“, fuhr Fogg aufgeräumt fort und ordnete die Papiere, „zu hören, daß unsere Kosten auf hundertunddreiunddreißig Pfund, sechs Schilling und vier Pence festgesetzt wurden, Mr. Perker. – Bitte, wollen Sie sich überzeugen.“

Während Fogg und Perker die Köpfe zusammensteckten und ihre Akten verglichen, wandte sich Dodson in verbindlichem Tone zu Mr. Pickwick:

„Sie scheinen mir nicht mehr ganz so kräftig auszusehen wie damals, als ich zum letztenmal das Vergnügen hatte, Sie zu sehen, Mr. Pickwick.“

„Kann schon sein, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick, der die ganze Zeit über die beiden Associés zornig angefunkelt hatte, ohne daß dies den mindesten Eindruck auf sie gemacht hätte. „Es ist auch kein Wunder, Sir, denn ich bin in der letzten Zeit der Spielball von ein paar Schurken gewesen, Sir.“

Perker hustete heftig und fragte Mr. Pickwick, ob er nicht vielleicht die Zeitung lesen wolle – eine Zumutung, die dieser auf das entschiedenste zurückwies.

„Jaja“, sagte Dodson, „das will ich gern glauben, es ist eine sehr gemischte Gesellschaft in der Fleet. Wo haben Sie dort gewohnt, Mr. Pickwick?“

„Mein Zimmer“, erwiderte der schwer gekränkte Gelehrte, „befand sich im Restaurationsgang.“

„So, so“, sagte Dodson. „Meines Wissens ist dies ein sehr angenehmer Teil des Gebäudes.“

„Ja, sehr“, entgegnete Mr. Pickwick trocken.

Die Unterhaltung war ganz danach angetan, einen Mann von erregbarem Temperament aufs äußerste zu reizen, aber Mr. Pickwick bezwang heldenhaft seinen Ingrimm. Als aber Perker einen Scheck ausfüllte und Fogg ihn mit einem triumphierenden Lächeln, das sich sogar dem strengen Gesichte Dodson mitteilte, einsteckte, da fühlte er, wie ihm das Blut vor Zorn in die Wangen stieg.

„Wir sind fertig, Mr. Dodson“, sagte Fogg und zog seine Handschuhe an. „Wir können gehen.“

„Gut“, sagte Dodson und stand auf, „ich bin bereit.“

„Ich schätze mich ungemein glücklich“, bemerkte Fogg, durch die Anweisung sichtlich in die beste Laune versetzt, „Mr. Pickwicks werte Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich hoffe, Sie werden von uns nicht mehr ganz so übel denken, Mr. Pickwick, wie damals, als ich das erstemal das Vergnügen hatte.“

„Das hoffe ich ebenfalls“, fügte Dodson edelmütig hinzu. „Mr. Pickwick kennt uns jetzt ohne Zweifel besser. Was auch Ihre Meinung von Leuten unseres Standes sein mag, Sir, ich kann Ihnen versichern, daß ich wegen der Ausdrücke, deren Sie sich gegen uns in unserer Kanzlei bedienen zu müssen glaubten, keinen Groll gegen Sie hege.“

„Auch ich nicht, seien Sie versichert. – Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, mein Herr“, fiel Fogg ein, nahm seinen Regenschirm unter den Arm und streckte die Hand zur Versöhnung dem ergrimmten Gelehrten hin, der sofort beide Hände unter seine Rockschöße steckte und den Advokaten mit Verachtung von oben bis unten maß.

„Lowten!“ rief Perker. „Begleiten Sie die Herren hinaus.“

„Warten Sie noch einen Augenblick, Perker“, sagte Mr. Pickwick, „ich will sprechen.“

„Mein lieber Herr, bitte, lassen Sie die Sache doch schon auf sich beruhen“, bat der kleine Anwalt, der während der ganzen Szene wie auf Nadeln gesessen hatte. „Bitte, Mr. Pickwick …“

„Ich lasse mir nicht den Mund verbieten, Sir“, fuhr Mr. Pickwick heftig auf. „Mr. Dodson, Sie haben soeben einige Bemerkungen an mich gerichtet!“

Dodson drehte sich um, neigte verbindlich das Haupt und lächelte freundlich.

„Bemerkungen!“ wiederholte Mr. Pickwick atemlos. „Und Ihr Associe hat mir die Hand hingereicht, und Sie haben beide einen verzeihenden, infamen Ton gegen mich angeschlagen, der denn doch jedes Maß von Unverschämtheit übersteigt!“

„Was sagen Sie da, Sir?“ riefen Dodson und Fogg wie aus einem Munde.

„Sie wissen ganz gut, daß ich das Opfer Ihrer Ränke und Kniffe geworden bin!“ fuhr Mr. Pickwick erregt fort. „Wissen Sie, daß Sie mich ins Gefängnis gebracht und ausgeplündert haben? Wissen Sie, daß Sie die Anwälte für die Klägerin im Prozeß Bardell kontra Pickwick waren?“ „Ja, Sir, das wissen wir“, erwiderte Dodson gelassen.

„Gewiß, gewiß, Sir“, fügte Fogg hinzu und schlug – vielleicht zufällig – auf seine Tasche.

„Ich sehe, daß Sie sich mit Vergnügen daran erinnern“, sagte Mr. Pickwick und versuchte zum erstenmal in seinem Leben zu hohnlächeln, was ihm jedoch gänzlich mißlang. „So sehr ich mir schon längst gewünscht habe, Ihnen mit dürren Worten sagen zu können, was ich von Ihnen denke, so würde ich dennoch mit Rücksicht auf die Anwesenheit meines Freundes Perker sogar diese Gelegenheit haben vorübergehen lassen, hätten Sie nicht diesen unverantwortlichen Ton gegen mich angeschlagen und sich diese schamlose Vertraulichkeit erlaubt; ich sage schamlose Vertraulichkeit, Sir!“

Mr. Pickwick wandte sich dabei mit so wütender Gebärde gegen Fogg, daß dieser eiligst an die Tür retirierte.

„Nehmen Sie sich in acht, Sir!“ rief Dodson, verschanzte sich, obgleich er der größte von allen Anwesenden war, dennoch wohlweislich hinter Fogg und sprach mit käsebleichem Gesicht über dessen Kopf hinweg. „Lassen Sie sich nicht verleiten, Mr. Fogg, zurückzuschlagen!“

„Nein, nein, ich werde mich hüten“, hauchte Fogg und wich ängstlich zurück, zum offenbaren Vorteil seines Associés, der dadurch, immerwährend gedeckt, immer mehr instand gesetzt wurde, die Ausgangstür zu gewinnen.

„Sie sind“, nahm Mr. Pickwick seine Strafpredigt wieder auf, „Sie sind ein vortreffliches Paar von niederträchtigen, spitzbübischen, rechtsverdreherischen Gaunern!“

„Nun, sind Sie nicht endlich fertig?“ fiel Perker ein.

„Ja“, versetzte Mr. Pickwick, „ich bin fertig. Es ist alles in den Worten Inbegriffen: es sind ein paar niederträchtige, spitzbübische, rechtsverdreherische Gauner.“

„Jetzt“, sagte Perker in versöhnlichem Ton, „jetzt, meine werten Herren, hat er alles gesagt, was er zu sagen hatte; ich bitte, gehen Sie endlich. – Lowten, ist die Tür offen?“

Mr. Lowten konnte ein Lachen kaum unterdrücken und nickte bloß.

„Also – guten Morgen! – Guten Morgen! – Bitte, meine verehrten Herren! – Mr. Lowten, die Tür!“ rief der kleine Mann, die Herren Dodson und Fogg hastig aus dem Zimmer treibend. „Dahin, meine verehrten Herren! – Bitte, halten Sie sich nicht länger auf! – Aber zum Donnerwetter, Mr. Lowten! – Die Tür! Die Tür! – Warum öffnen Sie nicht?“

„Wenn es Gesetze in England gibt, Sir“, rief Dodson und setzte seinen Hut auf, „so sollen Sie mir dafür büßen.“

„Sie sind ein paar niederträchtige –“

„Das werden Sie uns teuer bezahlen, Sir“, sagte Fogg und drohte Mr. Pickwick mit der Faust.

„– diebische, rechtsverdreherische Gauner“, wiederholte der Gelehrte, ohne sich im geringsten einschüchtern zu lassen.

„Gauner!“ rief er den beiden Advokaten noch über das Treppengeländer nach, riß sich von Lowten und Perker los, sprang ans Fenster und schrie noch einmal hinaus: „Gauner!“

Als er den Kopf wieder zurückzog, umschwebte ein mildes Lächeln seine Züge; ruhig setzte er sich nieder und erklärte, er habe sich jetzt von einer großen Last befreit und fühle sich wieder vollkommen behaglich und vergnügt.

Perker sprach kein Wort, bis er seine Dose geleert und Lowten fortgeschickt hatte, um sie wieder füllen zu lassen; dann aber brach er in ein lautes Gelächter aus, das volle fünf Minuten dauerte, und sagte, als er wieder zu Atem kam, er sollte eigentlich sehr unwillig sein, aber für den Augenblick könne er der Sache keine ernste Seite abgewinnen; er werde übrigens schon noch einmal wirklich böse werden.

„Jetzt will ich auch mit Ihnen abrechnen“, sagte Mr. Pickwick.

„Etwa auch auf diese Weise?“ fragte Perker lachend. „Aber was ist denn nur heute los?“

Ein wütendes Klopfen ertönte nämlich an der Entreetür. Es war kein gewöhnliches doppeltes Klopfen, sondern eine fortlaufende ununterbrochene Kette von lauten Schlägen, die gar nicht aufhören wollten.

„Jaja, ich komme ja schon“, rief Mr. Lowten, der sich eben in einer dunkeln Nebenkammer die Hände gewaschen hatte. „Der schlägt ja rein die Tür ein“, lief hinaus, öffnete und erblickte …

Sechstes Kapitel


Sechstes Kapitel

Ein kurzes Kapitel, in dem unter anderem berichtet wird, wie Mr. Pickwick sich verleiten ließ, zu kutschieren, und Mr. Winkle, zu reiten, und wie sie beide damit zurechtkamen.

Hell und heiter war der Himmel, balsamisch war die Luft, und alles ringsum lieblich anzuschauen, als Mr. Pickwick, in den Anblick der herrlichen Natur versunken, an dem Geländer der Brücke von Rochester lehnte und auf das Frühstück wartete. Die Landschaft bot in der Tat einen so reizenden Anblick, daß sie wohl auch auf ein weniger beschauliches Gemüt einen tiefen Eindruck gemacht haben würde.

Dem Beschauer zur Linken lag eine verfallene Mauer, an manchen Stellen zusammengestürzt und an ändern in schweren Massen über das schmale Ufer vorhängend. Die ausgezackten und scharfumrissenen Uferfelsen bedeckten dichte Büschel von Seegras, die in jedem Lufthauch erzitterten, und der grüne Efeu rankte sich melancholisch um das düstere, verfallene Gemäuer. – Im Hintergrund erhob sich das alte Schloß mit seinen dachlosen Türmen, die massiven Mauern zerbröckelt, ebenso stolz von früherer Macht erzählend wie damals, als es vor siebenhundert Jahren von Waffenklang oder festlichen Gelagen widerhallte. Auf beiden Seiten dehnten sich die Ufer der Medway, mit Saatfeldern und Wiesen bedeckt, hier und dort von einer Windmühle oder einer fernen Kirche unterbrochen; soweit das Auge reichte, eine volle und bunte Landschaft, deren Reiz die wechselnden Schatten noch erhöhten, die darüber hineilten, wie die leichten Wolken in dem Licht der Morgensonne fortzogen. – Der geräuschlos dahingleitende Fluß spiegelte das klare Himmelsblau, und die Ruder der Fischer tauchten mit hellem, plätscherndem Ton in das „Wasser, wie die plumpen, aber pittoresken Boote langsam stromabwärts trieben.

Ein tiefer Seufzer und ein leichter Schlag auf die Schulter weckten Mr. Pickwick aus seinen angenehmen Träumen, in die ihn diese Szenerie eingewiegt hatte, und als er sich umwandte, stand der trübsinnige Jemmy vor ihm.

„Sie betrachten die Gegend, Sir?“

„Jawohl“, versetzte Mr. Pickwick.

„Und freuen sich, daß Sie so früh aufgestanden sind?“

Mr. Pickwick nickte stumm.

„Ach, man sollte immer früh aufstehen, um die Sonne in ihrem vollen Glänze zu genießen, denn sie strahlt selten so hell tagsüber. Der Morgen des Tages und der Morgen des Lebens gleichen sich nur zu sehr.“

„Sehr richtig, Sir“, sagte Mr. Pickwick.

„Wie oft pflegt man zu sagen“, fuhr der Trübsinnige fort, „der Tag fängt zu schön an, um so zu bleiben, und wie gut läßt sich das auf unser tägliches Leben anwenden! O Gott, was würde ich darum geben, wenn ich die Tage meiner Kindheit zurückrufen oder sie für immer vergessen könnte!“

„Sie haben viel Trauriges erlebt?“ fragte Mr. Pickwick teilnehmend.

„Allerdings“, versetzte der Trübsinnige hastig, „mehr als jemand, der mich jetzt kennt, für möglich halten sollte.“ Er schwieg einen Augenblick und setzte dann hinzu: „Hat Sie wohl je an einem solchen Morgen schon der Gedanke beschlichen, daß im Ertrinken Friede und Seligkeit liegen könnte?“

„Gott steh mir bei, nein“, erwiderte Mr. Pickwick, einen Schritt von der Balustrade zurücktretend, weil ihn der Gedanke an die Möglichkeit erschreckte, der Trübsinnige könnte ihn hinunterschleudern, um ihn den Versuch machen zu lassen.

„Ich bin schon oft mit dem Gedanken umgegangen“, fuhr der Trübsinnige fort, ohne auf Mr. Pickwicks Bewegung zu achten. „Die stille kühle Flut scheint mir eine Einladung zur Ruhe und zum Frieden zu murmeln. – Ein Sprung – ein Plätschern – ein kurzer Kampf – ein Wasserwirbel, der allmählich abnimmt und immer kleinere Wellen wirft – die Gewässer schließen sich, und alles Erdenleid ist vorüber.“

Die eingesunkenen Augen des Trübsinnigen leuchteten auf, während er so sprach; doch seine momentane Erregung wich sogleich wieder seiner gewohnten Ruhe, und er fuhr gelassen fort:

„Genug davon! Ich möchte wegen etwas ändern mit Ihnen sprechen. Sie baten mich vorgestern abend, Ihnen vorzulesen, und hörten aufmerksam zu …“

„Allerdings“, versetzte Mr. Pickwick, „und ich meinte wirklich …“

„Ich habe nicht gefragt, um Ihr Urteil zu hören, und ich bedarf dessen nicht“, unterbrach ihn der Trübsinnige. „Sie reisen zum Vergnügen und zur Belehrung. Was meinen Sie, wenn ich Ihnen ein interessantes Manuskript mitteilte? – Doch merken Sie wohl, interessant, nicht etwa wegen seines schauerlichen und unwahrscheinlichen Inhalts, sondern als ein Blatt aus der Romantik des wirklichen Lebens. Würden Sie es wohl dem Klub mitteilen, den Sie so häufig erwähnten?“

„Sicherlich“, erwiderte Mr. Pickwick, „wenn Sie es wünschen. Es würde sodann den Klubakten einverleibt werden.“

„Also gut“, sagte der Trübsinnige und fragte nach Mr. Pickwicks Adresse.

Mr. Pickwick nannte seine und seiner Freunde wahrscheinliche Reiseroute, der Trübsinnige notierte sie sorgfältig in einem schmutzigen Taschenbuch, lehnte Mr. Pickwicks Einladung zum Frühstück ab, begleitete ihn bis zum Gasthof und ging dann langsam seines Weges.

Mr. Pickwick wurde bereits von seinen drei Reisegefährten beim Frühstück erwartet, das ihrer, trefflich serviert, im Speisesaal harrte. Sie nahmen Platz, und gekochter Schinken, Eier, Tee und Kaffee begannen mit einer Schnelligkeit zu verschwinden, die sowohl von der Vorzüglichkeit der Speisen wie von dem guten Appetit der Reisenden Zeugnis ablegte.

„Aber jetzt müssen wir an Manor Farm denken“, sagte Mr. Pickwick. „Wie wollen wir die Reise dorthin machen?“

„Es wäre vielleicht das beste, wenn wir den Kellner darüber fragten“, meinte Mr. Tupman, und so wurde denn der Kellner gerufen.

„Dingley Dell – fünfzehn Meilen, meine Herren – Feldwege –. Postpferde, meine Herren?“

„In einer Postchaise würden nur zwei von uns Platz haben“, gab Mr. Pickwick zu bedenken.

„Allerdings, Sir – bitte um Entschuldigung, Sir – sehr hübscher vierrädriger Wagen hier, Sir – Sitze innen für zwei Herren – einer zum Kutschieren – oh, ich bitte um Vergebung, Sir – das würde ja auch nur für drei genügen.“

„Was ist da zu tun?“ fragte Mr. Snodgraß.

„Vielleicht beliebt es einem von den Herren, zu reiten?“ versetzte der Kellner mit einem Blick auf Mr. Winkle. „Sehr gute Reitpferde, Sir. Wenn einer von Mr. Wardles Leuten nach Rochester kommt, kann er die Pferde und den Wagen zurückbringen, Sir.“

„Das läßt sich hören“, meinte Mr. Pickwick. „Winkle, wollen Sie reiten?“

In den verborgensten Tiefen von Mr. Winkles Herzen stiegen große Bedenken auf, aber da er sich um keinen Preis etwas vergeben wollte, erwiderte er sogleich mit der größten Zuversicht:

„Mit Vergnügen. Ich ziehe diese Art zu reisen sogar jeder ändern vor.“

Mr. Winkle hatte sein Schicksal herausgefordert, und jetzt gab es natürlich kein Zurück mehr.

„Also lassen Sie alles für elf Uhr vorbereiten“, befahl Mr. Pickwick.

„Sehr wohl, Sir“, versetzte der Kellner und entfernte sich.

Nach dem Frühstück verfügten sich die Reisenden auf ihre Zimmer, um die Kleider zu wechseln und ihre Effekten einzupacken. Mr. Pickwick hatte seine Vorbereitungen beendigt und betrachtete eben vom Fenster des Gastzimmers aus die Vorübergehenden auf der Straße, da trat der Kellner ein und meldete, der Wagen stünde bereit; wie zur Bestätigung dieser Meldung wurde im gleichen Augenblick der Wagen vor dem Hotel sichtbar.

Es war ein seltsamer, kleiner grüner Kastenwagen auf vier Rädern mit einem Sitz für zwei Personen, so eng und niedrig wie eine Schublade, und einem hohen Bock, der freilich nur einen Sitzplatz aufwies. Er wurde von einem Braunen gezogen, dessen Knochenbau zwar riesenhaft, aber sonst durchaus ebenmäßig war. Daneben stand ein Stallknecht mit einem anderen Riesengaul – offenbar einem nahen Verwandten des ersten –, den man für Mr. Winkle gesattelt hatte.

„Lieber Gott“, rief Mr. Pickwick aus, als er mit seinen Freunden vor die Tür trat, „lieber Gott, wer soll denn kutschieren? Daran habe ich ja gar nicht gedacht.“

„Natürlich Sie“, sagte Mr. Tupman.

„Ich?“

„Bloß keine Angst nicht, Sir“, warf der Stallknecht ein. „Garantiert lammfromm; mit dem würde ja ein Kind fertig werden.“

„Er ist also nicht scheu?“ fragte Mr. Pickwick.

„Scheu, Sir? – Der scheut nicht, und wenn er an einem ganzen Wagen voll Affen mit verbrannten Schwänzen vorbei müßte.“

Diese Versicherung zerstreute die letzten Bedenken; Mr. Tupman und Mr. Snodgraß stiegen ein, und Mr. Pickwick erklomm den Bock.

„Nun, Glanz-Willem“, sagte der Stallknecht zu seinem Adjunkten, „gib dem Herrn die Zügel.“

Der Glanz-Willem, wahrscheinlich wegen seines angepappten Haares und seines fettschimmernden Gesichtes so genannt, legte die Zügel in Mr. Pickwicks linke Hand, und der Stallknecht drückte ihm die Peitsche in die rechte.

„Brrr!“ rief Mr. Pickwick, als der gigantische Vierfüßler eine entschiedene Neigung an den Tag legte, den Wagen nach rückwärts in die Fenster des Gastzimmers zu drängen.

„Brrr!“ wiederholten Mr. Snodgraß und Mr. Tupman aus dem Wagen.

„’s is bloß Stallfeuer, Sir“, sagte der Oberstallknecht ermutigend. „Halt ihn fest, Willem!“

Der Adjunkt tat der Lebhaftigkeit des Tieres Einhalt, und der Stallknecht trat zu Mr. Winkle, um ihm beim Aufsteigen behilflich zu sein.

„Auf der ändern Seite, Sir, wenn’s gefällig ist“, sagte er.

„Mir scheint, gar, der Herr steigt rechts auf“, murmelte grinsend ein Postknecht zur unendlichen Erheiterung des Kellners.

So belehrt, kletterte Mr. Winkle in den Sattel, ungefähr mit der Leichtigkeit, mit der er seitlich an einem Linienschiff aufgeentert wäre.

„Alles in Ordnung?“ fragte Mr. Pickwick mit einem dunkeln Vorgefühl, daß die Verwirrung jetzt erst recht losgehen würde.

„Alles in Ordnung!“ antwortete Mr. Winkle mit beklommener Stimme.

„Also fertig!“ sagte der Stallknecht. „Nur die Zügel nicht loslassen, Sir.“

Und fort rollte der Wagen, und fort sprengte Mr. Winkle, zum größten Gaudium des ganzen dienenden Gasthofpersonals.

„Warum geht er denn immer seitwärts?“ rief Mr. Snodgraß im Wagen Mr. Winkle im Sattel zu.

„Es ist mir unerklärlich“, erwiderte Mr. Winkle, dessen Pferd in der seltsamsten Weise, den Kopf nach der einen und den Schweif nach der ändern Seite der Straße gekehrt, einhertraversierte.

Mr. Pickwick hatte keine Zeit, dies oder sonst irgend etwas zu beachten, da seine gesamten körperlichen und geistigen Fähigkeiten auf die Zügelung seines eignen Pferdes konzentriert waren, das die sonderbarsten Eigenschaften entfaltete, die zwar für jeden Zuschauer äußerst interessant, für die Insassen des Wagens aber nicht im gleichen Maße unterhaltend waren. Abgesehen davon, daß es auf eine höchst lästige und für Mr. Pickwick sehr peinliche Weise den Kopf beständig in die Höhe warf und sich so stark in die Zügel legte, daß der Gelehrte sie kaum festzuhalten vermochte, zeigte es auch eine sonderbare Neigung, bald plötzlich einen Seitensprung zu machen, bald ebenso plötzlich wieder stillzustehen und dann wieder etliche Minuten hindurch so rasch davonzurasen, daß an ein Halten nicht zu denken war.

„Was will es denn eigentlich nur?“ sagte Mr. Snodgraß, als das Pferd dieses Manöver zum zwanzigsten Male wiederholte.

„Das weiß der Himmel!“ versetzte Mr. Tupman. „Es hat ganz den Anschein, als ob es scheute. Meinen sie nicht auch?“

Mr. Snodgraß ‚hatte eine Antwort auf der Zunge, als er durch den Ausruf Mr. Pickwicks: „O Gott, ich habe die Peitsche verloren!“ unterbrochen wurde.

„Heda!“ rief Mr. Snodgraß, als Mr. Winkle auf seinem hohen Roß herantrabte, den Hut über die Ohren gezogen und von der heftigen Bewegung ganz zusammengeschüttelt. „Ach, lieber Winkle, bitte, heben Sie doch die Peitsche auf!“

Mr. Winkle ruderte mit den Zügeln, bis er ganz blau im Gesicht war, und als es ihm endlich gelang, das Schlachtroß zum Stehen zu bringen, stieg er ab, reichte Mr. Pickwick die Peitsche und schickte sich an, wieder aufzusteigen.

Ob nun das Riesentier bei seinem Übermaß an Temperament ein Verlangen fühlte, sich mit Mr. Winkle einen kleinen unschuldigen Scherz zu erlauben, oder ob es ihm plötzlich einfiel, daß es die Reise zu seinem Vergnügen ebensogut ohne Reiter vollenden könnte – sind Fragen, die wir natürlich nicht mit Bestimmtheit zu beantworten imstande sind. So viel ist jedenfalls gewiß, daß, welche Beweggründe auch in seiner Seele wirkten, Mr. Winkle kaum den Fuß in den Steigbügel gesetzt hatte, als es durch eine rasche Bewegung die Zügel über den Kopf schnellte und um ihre volle Länge zurückwich.

„Ruhig, ruhig, mein gutes Tier“, rief Mr. Winkle besänftigend, „komm, gutes altes Pferd!“

Allein „das gute Tier“ war taub gegen Schmeichelei. Je mehr sich Mr. Winkle bemühte, sich ihm zu nähern, desto mehr wich es zurück, allen. Kosenamen, zum Trotz. Wohl zehn Minuten drehten sich Mr. Winkle und das Pferd im Kreise herum und waren nach dieser Zeit noch ebenso weit voneinander entfernt wie bei Beginn – eine höchst peinliche Sache in Anbetracht des Umstandes, daß auf der einsamen Landstraße auf Beistand nicht zu rechnen war.

„Was soll ich nur tun?“ rief Mr. Winkle, nachdem er seine Experimente noch eine geraume Zeit vergeblich fortgesetzt hatte. „Ich kann dem Luder nicht beikommen.“

„Sie werden wohl am besten tun, es zu führen, bis wir zu einem Schlagbaum kommen“, riet ihm Mr. Pickwick.

„Aber wenn es nicht geht!“ rief Mr. Winkle zurück. „Kommen Sie doch und halten Sie es.“

Mr. Pickwick, immer die Güte und Gefälligkeit selbst, warf seinem Gaul die Zügel über den Rücken, stieg vom Bocke und eilte, Mr. Snodgraß und Mr. Tupman im Wagen zurücklassend, seinem unglücklichen Gefährten zu Hilfe.

Kaum sah jedoch das Reitpferd Mr. Pickwick mit der Peitsche in der Hand herankommen, als es seine vorher kreisende Bewegung in eine so entschieden retrograde verwandelte, daß es Mr. Winkle, der immer noch das Ende der Zügel festhielt, fast im Trabe mit sich fortriß. – Mr. Pickwick wollte ihm zu Hilfe eilen, doch je schneller er vorwärts lief, desto schneller ging das Pferd rückwärts. Es scharrte dabei mit den Hufen, wühlte den Staub auf, und endlich mußte Mr. Winkle, dem die Arme fast ausgerissen wurden, die Zügel fahrenlassen. Das Pferd stutzte, schüttelte den Kopf, machte kehrt, trabte ruhig nach Rochester zurück und überließ es Mr. Winkle und Mr. Pickwick, sich gegenseitig in stummer Bestürzung anzustarren. Ein rasselndes Geräusch in einer kleinen Entfernung erregte jetzt ihre Aufmerksamkeit. Sie blickten auf.

„Gott steh mir bei!“ rief Mr. Pickwick, außer sich vor Entsetzen. „Jetzt, geht auch das andre durch.“

Es war nur zu wahr. Das sich selbst überlassene Tier, durch den Lärm erschreckt, jagte mit dem Wagen davon. Mr. Tupman sprang in die Hecke, Mr. Snodgraß folgte seinem Beispiel, und das Pferd schmetterte den Wagen an ein Brückengeländer, daß die Räder von den Achsen fielen und der Kutschkasten von dem Bock getrennt wurde. Dann blieb es stehen und betrachtete mit Seelenruhe die Verheerung, die es angerichtet hatte.

Die erste Sorge Mr. Pickwicks und Mr. Winkles war natürlich, ihren unglücklichen Freunden beizuspringen, wobei sie sich zu ihrer großen Beruhigung davon überzeugten, daß es nur ein paar Risse an den Kleidern und Hautabschürfungen gesetzt hatte. Dann war das Pferd aus seinem Geschirr zu entwirren. – Nach Beendigung dieses komplizierten Geschäftes gingen sie langsam weiter, das Roß am Zaum mit sich führend, und überließen den Wagen seinem Schicksal.

Nach Verlauf einer Stunde erreichten sie ein kleines Wirtshaus, vor dem zwei Ulmen, eine Krippe und ein Pfahl mit einem Schilde standen, dahinter ein kleiner zusammengestürzter Heuschober und daneben ein Küchengarten. Baufällige Scheunen und Nebenbauten zierten die Aussicht. Im Garten arbeitete ein rothaariger Mann.

„He, Sie da! Hallo!“ rief Mr. Pickwick.

Der Rotkopf richtete sich auf, hielt die Hand über die Augen und starrte Mr. Pickwick und seine Gefährten eine geraume Weile gleichgültig an.

„Hallo!“ wiederholte Mr. Pickwick.

„Hallo!“ war die Antwort des Rotkopfs.

„Wie weit ist es bis nach Dingley Dell?“

„So um sieben Meilen rum.“

„Ist der Weg gut?“

„Nein.“

Nach dieser kurzen Antwort fing der rotköpfige Mann gleichgültig wieder an zu arbeiten.

„Wir möchten gern dieses Pferd hier einstellen; das geht doch hoffentlich – wie?“ fragte Mr. Pickwick.

„Das Pferd einstellen möchten Sie, ja?“ wiederholte der Rotkopf, wobei er sich auf seinen Spaten lehnte.

„Ja, natürlich“, erwiderte Mr. Pickwick, der sich unterdessen, das Tier am Zaum, der Gartentür genähert hatte.

„Frau!“ brüllte der Rotkopf, aus dem Garten tretend und das Pferd scharf ins Auge fassend. „Frau!“

Ein großes knochiges Frauenzimmer in einer groben blauen Kittelschürze, deren Taille nur ein paar Zoll unter den Achseln saß, trat aus dem Haus.

„Könnten wir wohl dieses Pferd hier einstellen, gute Frau?“ fragte Mr. Tupman und näherte sich ihr mit verführerischem Lächeln. Die Frau betrachtete unfreundlich die ganze Gruppe, und der Rotkopf flüsterte ihr etwas ins Ohr.

„Nein“, antwortete sie nach einiger Überlegung, „da hab ich Angst vor.“

„Angst?“ rief Mr. Pickwick aus. „Wovor hat die Frau Angst?“

„Letztes Mal haben wir ärger davon gehabt“, sagte die Frau und ging wieder in das Haus zurück. „Ich will damit nichts zu kriegen haben.“

„So etwas ist mir doch in meinem Leben noch nicht vorgekommen!“ sagte Mr. Pickwick höchst verwundert.

„Ich – ich glaube wirklich“, flüsterte Mr. Winkle seinen Freunden zu, „die Leute denken am Ende gar, wir sind auf unehrliche Weise zu dem Pferd gekommen.“

„Wie?“ rief Mr. Pickwick höchlichst entrüstet aus.

Mr. Winkle wiederholte bescheiden seine Vermutung.

„Heda, Sie, Bursche“, sagte Mr. Pickwick zornig, „glauben Sie vielleicht, wir hätten das Pferd gestohlen?“

„Na, was denn sonst“, erwiderte der Rotkopf mit einem Grinsen von einem Ohr bis zum ändern. Dann begab er sich gleichfalls ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.

„Es ist wie ein Traum, wie ein abscheulicher Traum!“ stöhnte Mr. Pickwick. „Sich den ganzen Tag mit dem widerwärtigen Gaul abschleppen zu müssen und ihn nicht einmal loswerden zu können!“

Deprimiert setzten die Pickwickier ihre Wanderung fort, das gewaltige Schlachtroß haßerfüllt immer am Halfter hinter sich herziehend.

Es war bereits spät am Nachmittag, als die vier Freunde mit ihrem vierfüßigen Gefährten in den nach Manor Farm führenden Seitenweg einbogen; aber das Vergnügen, endlich in der Nähe ihres Bestimmungsortes zu sein, das sie sonst

wohl empfunden hätten, wurde ihnen durch den Gedanken an ihren lächerlichen Aufzug arg verleidet. Zerfetzte Kleider, zerkratzte Gesichter, bestaubte Schuhe, erschöpftes Aussehen, und dazu noch das verdammte Pferd. O wie Mr. Pickwick das Tier zu allen Teufeln wünschte! Schon lange hatte er das edle Roß von Zeit zu Zeit mit Blicken des Hasses und der Rachsucht angesehen und mehr als einmal im Geiste überschlagen, wieviel es ihm kosten könnte, wenn er ihm den Hals abschnitte, und mit zehnfach stärkerer Gewalt kam jetzt die Versuchung über ihn, es entweder umzubringen oder in die weite Welt laufen zu lassen. Das plötzliche Erscheinen zweier Gestalten in einer Biegung des Weges weckte ihn aus seinem unheilschwangeren Brüten. Es waren Mr. Wardle und sein treuer Gefährte, der fette Junge.

„Ach Gott, wo haben Sie so lange gesteckt?“ rief der gastfreundliche alte Herr. „Den ganzen Tag haben wir auf Sie gewartet. Und wie strapaziert Sie aussehen! – Was? Schrammen im Gesicht? Doch nicht verletzt, will ich hoffen? Nein? Freue mich sehr, das zu hören. Umgeworfen? – Machen Sie sich nichts draus! – Kommt oft in unsrer Gegend vor. – Joe! – Schläft er schon wieder! – Joe, nimm dem Herrn das Pferd ab und bring es in den Stall!“

Der fette Junge zottelte langsam mit dem Gaul hinterher, und Mr. Wardle bedauerte in schlichten Worten seine Gäste wegen ihrer Abenteuer – das heißt wegen dessen, was sie ihm darüber erzählten. Sodann führte er sie in die Küche.

„Hier wollen wir Sie zunächst mal ein wenig in Ordnung bringen“, sagte der alte Herr, „und Sie dann zu der Gesellschaft in das Wohnzimmer führen. Emma, den Kirschgeist! Jane, Nähnadel und Zwirn! Marie, Waschwasser und Handtücher! Flink, Mädels, rasch, rasch!“

Drei oder vier handfeste Mägde eilten sogleich, um die verschiedenen Requisiten herbeizuschaffen, während zwei männliche Dienstboten mit dicken Köpfen und kreisrunden Gesichtern von ihren Sitzen in der Kaminecke – wo sie, obgleich es Mai war, verfroren am Feuer hockten, wie zu Weihnachten – aufstanden und in dunkeln Winkeln verschwanden, aus denen sie bald nachher mit einem halben Dutzend Bürsten und Schuhwichse wieder auftauchten.

„Tummelt euch!“ sagte der alte Herr nochmals.

Es bedurfte jedoch dieser Mahnung nicht, denn die eine Magd schenkte bereits Kirschgeist ein, eine andre brachte Handtücher, und einer der Diener packte Mr. Pickwick am Bein, auf die Gefahr hin, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, und fing an, ihm dermaßen die Stiefel zu bürsten, daß dem Gelehrten die Hühneraugen glühten, während der andre Mr. Winkle mit einer mächtigen Kleiderbürste bearbeitete und bei dieser Operation den zischenden Ton von sich gab, den Stallknechte gewöhnlich hören lassen, wenn sie ein Pferd abreiben.

Nachdem Mr. Snodgraß seine Waschungen beendet hatte, stellte er sich mit dem Rücken an das Feuer und überschaute, behaglich seinen Kirschgeist schlürfend, die Küche. Er beschreibt sie als einen großen, mit Backsteinen gepflasterten und mit einem breiten Kamin versehenen Raum, die Decke verziert, mit Girlanden von Schinken, Speckseiten und Zwiebelzöpfen, die Wände mit Hetzpeitschen, Riemen, Bügeln, einem Sattel und einer alten verrosteten Donnerbüchse mit der Anschrift: „Geladen!“ In der einen Ecke tickte eine ehrwürdige alte Wanduhr, und eine silberne von gleichem Alter hing an einem der vielen Haken über dem Anrichttische.

„Fertig?“ fragte der alte Herr, als seine Gäste gewaschen, geflickt, gebürstet und mit Branntwein erquickt waren.,

„Stehen zu Diensten“, versetzte Mr. Pickwick.

„Dann bitte ich Sie, mit mir zu kommen“, fuhr Mr. Wardle fort und führte seine Gäste durch mehrere dunkle Gänge in das Wohnzimmer, gefolgt von Mr. Tupman, der einige Augenblicke gezögert hatte, um von Emma einen Kuß zu erhaschen, wofür er gebührend durch heftiges Zurückstoßen und Kratzen gezüchtigt worden war.

„Willkommen“, rief der gastfreundliche alte Herr, die Tür öffnend und eintretend, um die Herren anzumelden. „Willkommen, Gentlemen, in Manor Farm!“

Einundfünfzigstes Kapitel


Einundfünfzigstes Kapitel

Enthält einige nähere Umstände betreffs des eben erwähnten Klopfens und unter anderem auch interessante, bedeutsame Aufschlüsse in bezug auf Mr. Snodgraß und eine junge Dame.

Die Erscheinung, die sich den Blicken des erstaunten Schreibers darbot, war ein junger, auffallend dicker, livrierter Bursche, der kerzengerade und mit geschlossenen Augen dastand, als ob er im Stehen schliefe. Mr. Lowten hatte noch nie einen so fetten Burschen im Leben gesehen, und dies, verbunden mit der beispiellosen Ruhe und Gelassenheit seiner Erscheinung, entsprach so wenig dem Bilde, das er sich von der Person gemacht, die so stürmisch angeklopft, daß er in die größte Verwunderung geriet.

„Was gibt’s denn?“ fragte er verblüfft.

Der seltsame Bursche erwiderte darauf kein Wort, sondern nickte bloß, und Mr. Lowten hatte den Eindruck, als ob er leise schnarche. „Warum, zum Teufel, haben Sie denn auf eine solche Weise geklopft?“

„Auf was für eine Weise?“ fragte der Bursche mit schläfriger Stimme.

„Gerade wie vierzig Mietkutscher“, erwiderte der Schreiber ärgerlich.

„Weil mein Herr gesagt hat, ich solle in einem fort klopfen, bis die Tür geöffnet würde, damit ich nicht einschliefe.“

„Gut, und was sollen Sie denn hier?“ verhörte der Schreiber.

„Er ist unten“, lallte der Bursche.

„Wer?“

„Mein Herr. Er will wissen, ob Sie zu Hause sind.“

Lowten ging ans Fenster und sah hinaus. Als er einen wohlbeleibten alten Herrn in einem offenen Wagen unten erbückte, der sehr unruhig heraufschaute, winkte er ihm, und ein paar Minuten darauf erschien der Gentleman in Gestalt des alten Mr. Wardle in der Kanzlei, grüßte flüchtig und ging direkt in Mr. Perkers Zimmer.

„Ah, Pickwick“, rief der alte Herr. „Deine Hand, lieber Freund. Denk dir, erst gestern habe ich gehört, daß du dich ins Gefängnis sperren ließest. Warum haben Sie es zugegeben, Perker?“

„Ich bin unschuldig, mein lieber Herr“, erwiderte Perker mit einem Lächeln und nahm eine Prise. „Sie wissen ja, wie eigensinnig er ist.“

„Jaja, das weiß ich“, versetzte der alte Herr. „Aber dessenungeachtet freut es mich herzlich, ihn wiederzusehen. Ich werde ihn auch sobald nicht wieder aus den Augen lassen.“

Mit diesen Worten schüttelte Wardle Mr. Pickwick aber mals die Hand und warf sich in einen Lehnstuhl. Sein lustiges rotes Gesicht glänzte wie gewöhnlich vor Freude und Gesundheit.

„Na, was sagst du zu der kleinen schwarzäugigen Hexe?“ platzte er urplötzlich heraus. „Ich hatte selbst große Lust, sie gelegentlich zu heiraten. – Na, ’s ist anders gekommen. Bin auch so zufrieden. Freue mich herzlich darüber.“

„Wie hast du es denn erfahren?“ fragte Mr. Pickwick.

„Natürlich durch meine Mädchen. Arabella schrieb vorgestern, sie habe heimlich und ohne Einwilligung ihres Schwiegervaters geheiratet, und du seiest fortgereist, um seine Einwilligung zu etwas einzuholen, was er nun einmal nicht mehr ändern könne. Ich hielt das für eine sehr passende Gelegenheit, ein paar ernste Worte an meine Mädchen zu richten, und sagte ihnen, was es für eine schreckliche Sache sei, wenn Kinder ohne Erlaubnis ihrer Eltern heiraten, und so weiter. Aber es machte nicht den geringsten Eindruck auf sie. Sie fanden es nur schrecklich, daß die Hochzeit ohne Brautjungfern vor sich gegangen sei.“

Der alte Herr hielt inne und lachte herzlich.

„Das ist aber noch lange nicht alles, kaum die Hälfte von den Liebeshändeln und Komplotten, die gegenwärtig vor sich gehen“, fuhr er fort. „Wir sind in den letzten sechs Monaten auf Minen gewandelt, und jetzt sind sie endlich in die Luft geflogen.“

„Was meinst du damit?“ rief Mr. Pickwick erbleichend. „Hoffentlich doch keine zweite heimliche Heirat?“

„Nein, nein“, erwiderte der alte Wardle, „so schlimm steht’s nicht.“

„Aber was ist’s denn? So sprich doch! Bin ich vielleicht auch darein verwickelt?“

„Soll ich die Frage beantworten, Perker?“ fragte Wardle.

„Wenn Sie sich nicht dadurch kompromittieren, mein lieber Herr.“

„Na, also gut. – Ja, allerdings.“

„Wieso?“ fragte Mr. Pickwick ängstlich. „Inwiefern?“

„Weißt du“, erwiderte Wardle, „du bist ein so hitzköpfiges junges Blut, daß ich mich beinah fürchte, es dir zu sagen; doch wenn Perker sich zwischen uns setzt, um Unheil zu verhüten, so will ich es wagen. – Also die Sache ist die. Meine Tochter Bella – du weißt doch – die den jungen Trundle geheiratet hat?“

„Jaja, das wissen wir alles“, sagte Mr. Pickwick ungeduldig.

„Mache mir nur nicht gleich im Anfang angst, hörst du? Also meine Tochter Bella setzte sich, nachdem Emilie, die mir Arabellas Brief vorgelesen, mit Kopfschmerzen zu Bett gegangen war, vorgestern abend an meine Seite und ring an, von dieser Heiratsgeschichte zu sprechen. ,Nun, lieber Papa‘, sagte sie, ,was hältst du von der Sache?‘ – ,Ei, liebes Kind‘, antwortete ich, ,ich denke, es kann noch ganz gut werden; ich hoffe das Beste.‘ Ich antwortete so, weil ich gerade vor dem Feuer saß, etwas gedankenvoll meinen Grog trank und wußte, daß sie weitersprechen würde, wenn ich nur dann und wann, ein Wort dazwischenwürfe. Meine Mädchen sind beide die getreuen Abbilder ihrer seligen Mutter, und jetzt, wo ich alt werde, sitze ich gerne bei ihnen, und ihre Stimmen und ihre Blicke führen mich in die glücklichste Periode meines Lebens zurück und machen midi für den Augenblick wieder so jung, wie ich damals war, wenn auch nicht wieder so leichtfüßig. ,Es ist eine Neigungsheirat‘, sagte Bella nach einer Pause. Ja, liebes Kind‘, erwiderte ich, ,allein solche Ehen sind nicht immer die glücklichsten.'“

„Das bestreite ich“, fiel Mr. Pickwick mit Wärme ein.

„Na ja“, antwortete Wardle, „bestreite, was du willst, aber laß mich doch nur ausreden.“

„Pardon.“

„Na gut“, fuhr Wardle fort. „,Es tut mir leid, daß du gegen Neigungsheiraten bist, Papa‘, sagte Bella und verfärbte sich ein wenig. ,Ich hatte unrecht, ich hätte das nicht sagen sollen, liebes Kind‘, antwortete ich und tätschelte sie so freundlich auf die Wange, wie es ein altes Rauhbein wie ich nur tun kann, ,deine Mutter hat ja auch aus Neigung geheiratet, und du ebenfalls.‘ – ,Das meinte ich eigentlich nicht, Papa‘, drückte Bella herum. ,Ich – ich – ich wollte eigentlich mit dir über Emilie sprechen.'“

Mr. Pickwick erschrak.

„Na, was ist denn?“ fragte Wardle und hielt in seiner Erzählung inne.

„Nichts, nichts“, erwiderte Mr. Pickwick, „bitte, fahre nur fort.“

„Ich habe nie eine Geschichte gehörig von Anfang an erzählen können“, sagte Wardle. „Früher oder später muß es doch heraus, und wenn es auf einmal kommt, erspart man viel Zeit. Also kurz und gut: Bella faßte sich endlich ein Herz und gestand mir, Emilie sei höchst unglücklich; sie und dein junger Freund Snodgraß hätten seit Weihnachten in fortwährendem Briefwechsel miteinander gestanden, und sie habe pflichtgetreu beschlossen, in lobenswerter Nachahmung des Beispiels ihrer alten Schulfreundin, davonzulaufen. Inzwischen habe sie jedoch Gewissensbisse empfunden, da ich von jeher gut zu ihr gewesen sei, und so wäre denn beschlossen worden, mir die Ehre zu erweisen, mich zu fragen, ob ich nichts dagegen einzuwenden habe, daß sie einander auf die gewöhnliche alltägliche Art heiraten. So stehen die Sachen, und wenn es dir möglich ist, lieber Pickwick, deine Augen wieder auf die normale Größe zu reduzieren und mir dann einen guten Rat zu erteilen, so werde ich mich dir sehr verpflichtet fühlen.“

Der etwas wunderliche Schluß des guten alten Herrn war ziemlich berechtigt, denn Mr. Pickwicks Gesicht hatte einen seltenen Grad von Verwunderung und Erstaunen angenommen.

„Snodgraß? – Seit Weihnachten?“ waren die ersten Worte, die über seine Lippen kamen.

„Allerdings. Seit Weihnachten. Und wir müssen sehr schlechte Brillen aufgehabt haben, daß wir nicht schon früher etwas gemerkt haben.“ „Es ist mir rein unbegreiflich“, meinte Mr. Pickwick nachdenklich, „rein unbegreiflich.“

„Die Sache ist nicht so unbegreiflich“, erwiderte der alte Herr. „Wärest du jünger, wüßtest du sie wahrscheinlich längst, und außerdem“, fügte Mr. Wardle nach einem kurzen Zögern hinzu, „muß ich gestehen, daß ich seit den letzten vier oder fünf Monaten Emilie einigermaßen gedrängt habe, die Bewerbungen eines jungen Mannes unserer Nachbarschaft anzunehmen, selbstverständlich nur, wenn sie ihn glaubte lieben zu können, denn ich würde meine Tochter nie zu einer Ehe gezwungen haben. Ich zweifle nicht, daß sie nach Mädchenart, um ihren eigenen Wert zu erhöhen und das Liebesfeuer des Mr. Snodgraß noch mehr anzuschüren, ihm die Sachen in den glühendsten Farben vorgestellt hat, und daß sie auf diesem Wege zu dem Entschluß gelangt sind, sie seien schrecklich verfolgte unglückliche Menschenkinder, denen gar nichts mehr übrigbliebe, als heimlich zu heiraten oder sich mit Kohlengas umzubringen. – Jetzt fragt es sich also bloß, was ist zu tun?“

„Was hast du denn getan?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ich?“

„Ja, ich meine, was du getan hast, als deine verheiratete Tochter dir diese Mitteilung machte.“

„Na, natürlich einen dummen Streich.“

„Das glaube ich“, fiel Perker ein, der dieses Zwiegespräch mit wiederholtem Zupfen an .seiner Uhrkette, grimmigem Reiben seiner Nase und andern Symptomen von Ungeduld begleitet hatte. – „Das ist ganz natürlich; aber erklären Sie sich näher.“

„Ich geriet so in Zorn, daß meine Mutter vor lauter Angst einen Krampfanfall bekam.“

„Das war sehr gescheit“, bemerkte Perker. „Und was weiter, mein lieber Herr?“

„Ich tobte den ganzen folgenden Tag und machte gewaltigen Lärm im Haus. Schließlich wurde es mir aber zu dumm, mich und andre zu ärgern, und ich nahm daher in Muggleton einen Wagen, spannte meine eigenen Pferde davor und fuhr unter dem Vorwand, Emilie sollte Arabella besuchen, nach London.“

„Emilie ist also auch hier?“ fragte Mr. Pickwick.

„Freilich“, erwiderte Wardle, „und zwar in ,Osbornes Hotel‘ in Adelphi, wenn nicht dein unternehmender Freund diesen Morgen mit ihr davongelaufen ist, während wir hier schwatzen.“

„Sie sind also wieder versöhnt?“ fragte Perker.

„Nicht die Spur. Sie hat die ganze Zeit über Gesichter geschnitten und geweint, ausgenommen gestern abend zwischen dem Tee und dem Abendessen, wo sie sehr ostentativ einen Brief schrieb, was ich aber natürlich nicht bemerkte.“

„Sie wünschen also wohl meinen Rat in dieser Sache zu hören?“ fragte Perker und nahm schnell hintereinander mehrere Prisen von seinem Lieblingsstimulans.

„Na ja – was meinst du?“ sagte Mr. Wardle und blickte Mr. Pickwick fragend an.

„Nun gut“, sagte Perker, stand auf und schob seinen Stuhl zurück, „mein Rat ist der, daß Sie beide jetzt miteinander fortgehen oder –fahren oder sich auf irgendeine Art fortmachen und die Sache zusammen überlegen, denn ich bin Ihrer ein bißchen müde. Haben Sie, bis wir uns das nächste Mal wiedersehen, einen Entschluß gefaßt, so will ich sagen, was zu tun ist.“

„Wahrhaftig, ein köstlicher Rat!“ versetzte Wardle, der nicht recht wußte, ob er lächeln oder beleidigt sein sollte.

„Ach was, mein lieber Herr“, erwiderte Perker, „ich kenne Sie beide besser, als Sie sich selbst. Sie haben Ihren Entschluß ja doch innerlich schon gefaßt.“

Dabei stieß der kleine Anwalt seine Schnupftabaksdose zuerst Mr. Pickwick auf die Brust und dann Mr. Wardle gegen die Weste, und dann lachten alle drei und schüttelten sich ohne besonderen Grund unaufhörlich die Hände.

„Sie speisen doch mit mir zu Mittag?“ fragte Wardle Mr. Perker, als sie zusammen hinausgingen.

„Kann’s nicht versprechen, mein lieber Herr, kann’s nicht versprechen“, erwiderte Perker. „Indes werde ich mich jedenfalls abends für ein paar Minuten einstellen.“

„Also gut, ich erwarte Sie um fünf Uhr“, sagte Wardle. „Hallo, Joe!“

Nachdem Joe glücklich aufgerüttelt war, fuhren die beiden Freunde in den „Georg und Geier“. Arabella war, als sie von Emiliens Ankunft in London erfahren, schnurstracks nach Adelphi gefahren, und da Mr. Wardle Geschäfte in der City hatte, schickte er den Wagen mit dem fetten Burschen in sein Hotel und ließ sagen, daß er und Mr. Pickwick um fünf Uhr mitsammen zum Mittagessen kommen würden.

Sei es nun, daß die Stöße des Wagens auf dem holprigen Pflaster die Geisteskräfte des fetten Jungen verwirrt oder eine solche Menge neuer Ideen in ihm erweckt hatten, daß er die gewöhnlichen Umgangsformen darüber vergaß, oder daß sie sein Einschlafen beim Ersteigen der Treppen nicht zu verhindern vermocht hatten, soviel ist gewiß, daß er, ohne vorher anzuklopfen, direkt ins Besuchszimmer trat und daselbst einen Gentleman erblickte, der seinen Arm um den Leib der Tochter seines Gebieters geschlungen hielt und sehr verliebt neben ihr auf einem Sofa saß, indes Arabella und ihr hübsches Dienstmädchen sich stellten, als ob sie interessiert zum Fenster hinaussähen. Beim Anblick dieses Phänomens stieß der fette Bursche einen Ruf der Verwunderung aus, die Damen schrien laut auf und der Herr fluchte. – Alles zu gleicher Zeit. „Du Tölpel, was willst du hier?“ rief der Herr, der natürlich Mr. Snodgraß war.

Der fette Junge war vor Schrecken völlig sprachlos und starrte nur Emilie an.

„Was willst du denn von mir, du dummer Kerl?“ fragte Emilie und wendete das Gesicht ab.

„Der Herr und Mr. Pickwick kommen um fünf Uhr zum Essen“, stotterte der fette Bursche.

„Mach, daß du hinauskommst“, rief Mr. Snodgraß mit wildem Blick.

„Nein, nein!“ fiel Emilie hastig ein. „Rate mir doch, liebe Bella.“

Emilie, Mr. Snodgraß, Arabella und Mary steckten sodann die Köpfe zusammen und flüsterten mehrere Minuten lang eifrig miteinander.

„Joe“, sagte Arabella endlich und wendete sich mit ihrem bezauberndsten Lächeln an den fetten Jungen, „wie geht es dir, Joe?“

„Joe“, lobte Emilie, „du bist wirklich ein ganz vortrefflicher Junge.“

„Ach, du bist’s, Joe“, rief Mr. Snodgraß, „ich habe dich vorhin gar nicht erkannt. Da hast du fünf Schilling, Joe.“

„Und von mir auch fünf“, sagte Arabella, „du weißt, weil wir alte Bekannte sind.“ Und wieder verschwendete sie ein berückendes Lächeln an den beleibten Eindringling.

Da die Fassungskraft des fetten Jungen etwas langsam war, machte er bei den unerwarteten Gunstbezeigungen ein höchst verdutztes Gesicht und stierte auf eine wirklich beunruhigende Weise um sich. Endlich begann sein dickes Gesicht Symptome eines Grinsens von verhältnismäßig breiten Dimensionen zu zeigen; er versenkte in jede seiner beiden Seitentaschen eine halbe Krone und brach in ein fettes Glucksen aus. „Ich sehe schon, er versteht uns!“ sagte Arabella.

„Er muß sogleich etwas zu essen bekommen“, bemerkte Emilie besorgt.

„Ich will mit Ihnen zu Mittag essen, Sir, wenn Sie nichts dagegen haben“, sagte Mary.

„Jaja, kommen Sie“, grinste der fette Bursche vergnügt. „Es ist ganz famose Fleischpastete da.“ Mit diesen Worten ging er mit ihr animiert die Treppe hinunter.

Die Fleischpastete, von der Joe so gefühlvoll gesprochen, stand auf dem Tisch, samt einem Stück Roastbeef, einer Schüssel Kartoffeln und einem Krug Porter. – Beide setzten sich.

„Wollen Sie auch etwas?“ fragte der fette Junge und versenkte Messer und Gabel bis ans Heft in die Pastete.

„Ein bißchen, wenn ich bitten darf“, erwiderte Mary.

Joe legte Mary eine kleine, sich selbst aber eine sehr große Portion vor und war eben im Begriff, mit dem Essen zu beginnen, als er auf einmal Messer und Gabel niederlegte, sich in seinem Stuhl vorwärtsbeugte und sehr langsam sagte:

„Herrschaft, wie hübsch Sie sind!“

„Aber Mr. Joseph“, zierte sich Mary und stellte sich, als ob sie errötete. „Aber gehen Sie.“

Der fette Junge, der allmählich seine frühere Stellung wieder eingenommen hatte, antwortete nur mit einem tiefen Seufzer, blieb einige Augenblicke in Gedanken versunken und tat dann einen langen Zug aus dem Porterkruge. Dann seufzte er wieder und machte sich mit großem Eifer über die Pastete her.

„Was für eine feine nette junge Dame doch Miß Emilie ist!“ begann Mary nach langem Schweigen.

Der fette Junge war indessen mit der Pastete fertig geworden. Er heftete seine Augen auf Mary und erwiderte:

„Ich kenne noch eine nettere.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich“, erwiderte der fette Junge mit ungewohnter Lebhaftigkeit.

„Wie heißt sie denn?“

„Wie heißen Sie?“

„Mary.“

„So heißt sie auch“, sagte der fette Junge. „Sie sind es selbst.“

Dabei grinste er, um seinem Kompliment mehr Nachdruck zu geben, und verdrehte seine Augen auf eine höchst wunderliche Art, was wahrscheinlich ein Liebäugeln bedeuten sollte.

„Aber gehen Sie, Sie Schlimmer“, sagte Mary. „Es ist Ihnen ja doch nicht Ernst.“

„So? Meinen Sie?“ erwiderte der fette Bursche. „Ich sage Ihnen …“

„Nun?“

„Kommen Sie gewöhnlich hierher?“

„Nein“, antwortete Mary und schüttelte den Kopf. „Ich gehe noch heute abend wieder fort. – Aber warum?“

„Oh!“ rief Joe gefühlvoll. „Was für eine angenehme Gesellschaft hätten wir beim Essen aneinander gehabt, wenn Sie dageblieben wären!“

„Vielleicht komme ich hie und da, um nach Ihnen zu sehen“, sagte Mary und legte mit erkünstelter Sprödigkeit ihre Serviette zusammen. „Aber Sie müssen mir einen Gefallen tun.“

Der fette Junge blickte von der Pastetenschüssel auf das Roastbeef, offenbar in dem Glauben, eine Gefälligkeit müsse unbedingt etwas mit Essen zu tun haben, zog dann eine seiner beiden halben Kronen heraus und schaute sie mit großem Behagen an.

„Verstehen Sie, was ich meine?“ fragte Mary mit einem koketten Blick.

Abermals betrachtete Joe seine halbe Krone und sagte mit schwacher Stimme:

„Nein.“

„Die Damen bitten Sie, Mr. Wardle nichts von dem jungen Herrn zu sagen, der oben war, und ich bitte Sie auch darum.“

„Ist das alles?“ fragte der fette Junge und schob erleichtert das Geldstück wieder ein. „Ich will gewiß nichts sagen.“

„Wissen Sie“, fuhr Mary fort, „Mr. Snodgraß ist sehr verliebt in Miß Emilie, und Miß Emilie in ihn, und wenn Sie etwas davon ausplauderten, würde der alte Herr sie viele Meilen weit in eine Gegend fortschaffen, wo sie einander niemals wieder zu Gesicht bekämen.“

„Nein, nein, ich sag gewiß nichts“, beteuerte der fette Junge.

„So ist’s recht“, lobte Mary. „Jetzt muß ich aber nach oben gehen und meine Herrschaft zum Diner ankleiden helfen.“

„Ach, bleiben Sie doch noch ein bissel!“ drängte der fette Junge.

„Ich muß“, erwiderte Mary. „Adje. Auf Wiedersehen!“ Mit Elefantengrazie streckte der fette Junge seine Arme aus, um ihr einen Kuß zu rauben; da es aber keiner großen Gewandtheit bedurfte, ihm auszuweichen, so war seine schöne Herzensbezwingerin verschwunden, ehe er sie wieder sinken ließ, worauf er voll Gleichmut noch ein Pfund Roastbeef mit sentimentalem Gesicht verzehrte und dann fest einschlief.

Die jungen Leute oben hatten sich noch so viel zu sagen, und es waren so viele Flucht- und heimliche Trauungspläne zu besprechen, falls der alte Wardle bei seiner Grausamkeit verharren sollte, daß Mr. Snodgraß erst eine halbe Stunde vor dem Mittagessen zum letzten Male Abschied nahm. Die Damen eilten in Emiliens Schlafzimmer, um Toilette zu machen, und der verliebte Pickwickier nahm seinen Hut und entfernte sich. Kaum war er zur Tür hinaus, als er die laute Stimme Mr. Wardles vernahm und ihn vom Geländer herab in Begleitung einiger andrer Herren die Treppe heraufkommen sah.

Da Mr. Snodgraß im Hause unbekannt war, eilte er in seiner Verwirrung in das eben verlassene Zimmer zurück, ging von da in ein zweites (Mr. Wardles Schlafgemach) und schloß behutsam die Tür gerade in dem Augenblick, als die Herren, die er hatte kommen sehen, ins Wohnzimmer traten. Es waren die Herren Wardle, Pickwick, Nathaniel Winkle und Benjamin Allen.

Ein Glück, daß ich Geistesgegenwart genug besaß, ihnen auszuweichen, sagte sich Mr. Snodgraß freudig lächelnd und schlich sich auf den Zehen zu der zweiten Tür neben dem Bett. Diese da führt ebenfalls auf den Gang hinaus und ich kann mich jetzt in aller Ruhe aus dem Staube machen. Diesem ruhigen Sich-aus-dem-Staube-Machen stellte sich aber nur ein einziges Hindernis in den Weg, nämlich, daß die Tür verschlossen und der Schlüssel abgezogen war.

„Geben Sie uns heute von Ihren besten Weinen“, hörte man nebenan den alten Wardle rufen. „Und lassen Sie die Damen wissen, daß wir hier sind, Kellner.“

„Sehr wohl, Sir.“

Sehnlichst wünschte sich Mr. Snodgraß, die Damen hätten eine Ahnung, daß auch er hier sei. Er wagte es ein einziges Mal, durch das Schlüsselloch flüsternd, „Kellner!“ zu rufen; aber nur ein einziges Mal, denn es –drängte sich ihm die Befürchtung auf, ein falscher Kellner könne ihm zu Hilfe kommen und es ihm dann so ähnlich gehen, wie einem Gentleman, der erst vor kurzem in einem benachbarten Hotel in ähnlicher Lage angetroffen worden war und über dessen Mißgeschick die heutigen Morgenblätter unter der Rubrik „Polizeiangelegenheiten“ ausführlich berichtet hatten. Er ließ sich daher, am ganzen Leibe zitternd, lieber auf einem Mantelsack nieder.

„Wir wollen nicht erst auf Perker warten“, sagte Wardle nebenan und sah auf die Uhr. „Er ist immer pünktlich. Wenn er kommen will, so kommt er rechtzeitig, und wenn nicht, so hilft auch das Warten nichts. – Hallo, Arabella!“

„Ah, meine Schwester!“ rief Mr. Benjamin Allen und schloß die junge Mrs. Winkle theatralisch in seine Arme.

„Aber, lieber Ben, wie du wieder nach Tabak riechst!“ sagte Arabella. „Du erdrückst mich ja.“

„Wirklich?“ sagte Mr. Benjamin Allen. „Rieche ich so nach Tabak, Bella? Na ja, es könnte ja sein.“

Natürlich konnte es sein, denn er hatte soeben noch mit zwölf jungen Chirurgiebeflissenen in einem kleinen Hinterstübchen eine lustige kleine Rauchsitzung abgehalten.

„Ich bin entzückt, dich zu sehen. Grüß dich Gott, Bella.“

„Da!“ sagte Arabella und beugte sich vor, um ihren Bruder zu küssen. „Aber halt mich nur nicht so fest, lieber Ben, du bringst ja meine Kleider ganz in Unordnung.“

„Na, und mir hat man gar nichts zu sagen?“ rief Wardle mit offenen Armen.

„Oh, sehr viel“, flüsterte Arabella, als sie die Liebkosungen und herzlichen Glückwünsche des alten Herrn über sich ergehen ließ. „Sie sind ein hartherziges, gefühlloses, grausames Ungeheuer!“

„Und Sie eine kleine Rebellin“, erwiderte Wardle in demselben Ton, „ich fürchte sehr, ich werde mich genötigt sehen, Ihnen das Haus zu verbieten. Leute wie Sie, die allen zum Trotz heiraten, sollte man nicht auf die Gesellschaft loslassen. Aber kommen Sie“, fügte der alte Herr lauter hinzu, „es wird serviert, Sie müssen neben mir sitzen. – Joe! Was zum Teufel, der Bursche ist wach?!“

Zur großen Verwunderung der Anwesenden war der fette Junge tatsächlich in einem Zustand merkwürdigen Wachseins; seine Augen standen weit offen und sahen aus, als ob sie es vorläufig sogar bleiben sollten. In seinem ganzen Wesen lag eine rein unerklärliche Munterkeit; sooft seine Blicke denen Emiliens oder Arabellas begegneten, schmunzelte und grinste er, und einmal hätte Mr. Wardle sogar darauf schwören mögen, er habe ihn zwinkern sehen.

Die Veränderung in Joes Benehmen kam natürlich daher, daß er sich seiner Wichtigkeit und der Ehre, von den jungen Damen ins Vertrauen gezogen worden zu sein, mit Stolz bewußt war, und sein fortwährendes Schmunzeln, Grinsen und Blinzeln war daher bloß eine herablassende Versicherung, daß sie auf seine Treue bauen könnten. Da indes diese Zeichen mehr geeignet waren, Verdacht zu erwecken als zu beschwichtigen, und überdies Verlegenheiten herbeiführen konnten, so erwiderte sie Arabella gelegentlich mit einem Stirnrunzeln oder Kopfschütteln, was der fette Junge als Winke betrachtete, er solle auf seiner Hut sein, weshalb er nun begann, mit verdoppeltem Eifer durch Schmunzeln, Grinsen und Blinzeln anzudeuten, daß er sie vollkommen verstehe.

„Joe“, sagte Mr. Wardle nach einer erfolglosen Durchsuchung aller seiner Taschen, „sieh mal nach, liegt meine Dose nicht auf dem Sofa?“ „Nein, Sir“, erwiderte der fette Junge.

„Ah! Ich erinnere mich, ich habe sie heute früh auf dem Waschtisch liegenlassen“, sagte Wardle. „Geh ins Zimmer nebenan und hole sie.“

Der fette Junge ging und kam etwa nach einer Minute mit der Dose und totenbleichem Gesicht zurück.

„Zum Donnerwetter, was hat denn der Bursche!“ rief Wardle.

„N–nichts“, stammelte Joe, am ganzen Leibe zitternd.

„Hast du vielleicht einen Geist gesehen?“ fragte der alte Herr.

„Oder einen genossen?“ fügte Ben Allen hinzu.

„Jaja, Sie werden recht haben“, rief Wardle über den Tisch hinüber. „Natürlich. Er ist betrunken.“

Ben Allen erwiderte, er glaube das bestimmt, und da er als Fachmann schon viele solche Krankheitsfälle gesehen haben mußte, bestärkte dies Mr. Wardle natürlich in seiner Meinung, die sich ihm schon seit einer halben Stunde aufgedrängt hatte.

Der unglückliche Jüngling war aber durchaus nicht betrunken, sondern hatte nur ein Dutzend Worte mit Mr. Snodgraß gewechselt, der ihn beschworen, durch irgend jemand seine Erlösung zu bewerkstelligen, und ihn dann mit der Dose hinausgestoßen hatte, damit seine lange Abwesenheit nicht auffalle. Er besann sich ein wenig mit verstörter Miene und verließ dann das Zimmer, um Mary aufzusuchen.

Zum Unglück aber war Mary, nachdem sie ihrer Gebieterin beim Ankleiden geholfen, fortgegangen, und Joe kam daher, womöglich noch verstörter als vorher, zurück.

Wardle und Ben Allen wechselten einen Blick.

„Joe!“

„Hier, Sir.“

„Warum bist du soeben hinausgegangen?“

Der fette Junge stierte hoffnungslos alle am Tische Sitzenden der Reihe nach an und stammelte endlich, er wisse es selbst nicht. „So, so“, sagte Wardle, „du weißt es selbst nicht? Reiche mal Mr. Pickwick den Käse.“

Mr. Pickwick strahlte gerade in rosenfarbigster Laune, er war das ganze Essen über sehr vergnügt gewesen und unterhielt sich soeben sehr lebhaft mit Emilie und Mr. Winkle. Im Eifer des Gesprächs hatte er das Haupt lauschend vorgebeugt, agierte ein wenig mit seiner linken Hand, um seinen Bemerkungen gehörigen Nachdruck zu verleihen, und glühte geradezu vor stiller Wonne. Er nahm ein Stückchen Käse vom Teller und war eben im Begriff, seine Rede wieder fortzusetzen, als der fette Junge ihn heftig anstieß, mit dem Daumen über die Schulter deutete und das schauderhafteste Gesicht schnitt, das man je außerhalb einer Pantomime gesehen.

„Mein Gott!“ sagte Mr. Pickwick erschrocken. „Was? – Wie?“

Er hielt inne, denn der fette Junge hatte sich wieder emporgerichtet und schlief entweder wirklich oder stellte sich wenigstens so.

„Was gibt’s denn?“ fragte Wardle.

„Ihr Bedienter ist wirklich ein ganz sonderbarer Kauz“, erwiderte Mr. Pickwick mit einem unruhigen Blick auf den Burschen. „Man soll so etwas zwar nicht sagen, aber auf mein Wort, ich fürchte, er hat zuweilen einen kleinen Sparren.“

„Oh, Mr. Pickwick, bitte, sagen Sie das nicht“, riefen Emilie und Arabella wie aus einem Munde.

„Ich kann es natürlich nicht mit Gewißheit behaupten“, entschuldigte sich Mr. Pickwick inmitten der allgemeinen Stille, „aber sein Benehmen in diesem Augenblick war wirklich sehr beunruhigend. – Au!“ schrie er plötzlich laut auf und sprang vom Sessel empor. „Ich bitte um Verzeihung, meine Damen, aber er hat mich gerade wieder mit einem spitzigen Instrument ins Bein gestochen. Er ist wahrhaftig nicht recht bei Trost.“

„Nein, betrunken ist er“, brüllte der alte Wardle ingrimmig. „Winkle, klingeln Sie, rufen Sie die Kellner; er ist betrunken.“

„Nein, ich bin es gewiß nicht“, jammerte der fette Junge und fiel auf die Knie, als sein Herr ihn am Kragen packte. „Ich bin gewiß nicht betrunken.“

„Dann bist du toll, und das ist noch schlimmer. Rufen Sie die Kellner.“

„Nein, ich bin nicht toll, ich bin ganz vernünftig“, beteuerte Joe und fing an zu heulen.

„Was, zum Teufel, stichst du denn dann Mr. Pickwick scharfe Instrumente ins Bein?“ fragte Wardle zornig.

„Er wollte mich nicht ansehen und ich hätt ihm gern was gesagt“, schluchzte der Bursche.

„Was hättest du ihm gern gesagt?“ fragten ein halbes Dutzend Stimmen zugleich.

Der fette Junge stöhnte, blickte nach der Tür des Schlafzimmers, stöhnte wieder und wischte sich mit den Fingerknöcheln die Tränen aus den Augen.

„Was wolltest du sagen?“ fragte Wardle unerbittlich und schüttelte ihn.

„Halt!“ mischte sich Mr. Pickwick ein. „Erlaube mal. Was wolltest du mir mitteilen, armer Bursche?“

„Ich wollte Ihnen was ins Ohr flüstern“, erwiderte der fette Junge.

„Du wolltest ihm wahrscheinlich das Ohr abbeißen“, sagte Wardle. „Gehe nicht zu nahe an ihn heran, Pickwick, er ist toll; klingeln Sie, Winkle, der Kellner soll ihn fortführen.“

Eben faßte Mr. Winkle die Klingelschnur, da wurde er durch einen allgemeinen Ausruf des Erstaunens daran gehindert, denn plötzlich trat mit einem vor Beschämung glühenden Gesicht der gefangene Liebhaber aus dem Schlafzimmer und verbeugte sich vor der ganzen Gesellschaft.

„Hallo!“ rief Wardle, ließ den Kragen des fetten Jungen los und taumelte zurück. „Was ist das?“

„Ich befand mich seit Ihrer Rückkehr im Zimmer daneben versteckt, Sir“, erklärte Mr. Snodgraß.

„Aber, Emilie! Kind!“ sagte Wardle in vorwurfsvollem Ton. „Du weißt, ich verabscheue Hinterlist und Betrug, und dies hier ist im höchsten Grade unzart und einfach unentschuldbar. Das habe ich wirklich nicht um dich verdient, Emilie.“

„Liebster, guter Papa!“ schluchzte Emilie. „Arabella weiß es – jedermann hier weiß es – Joe weiß es, daß ich dabei die Hand nicht im Spiele gehabt habe. August, erkläre um Himmels willen, wie das zuging.“

Mr. Snodgraß, der nur auf die Gelegenheit, Gehör zu finden, gewartet hatte, erzählte sogleich mit größter Geläufigkeit, wie er in diese peinliche Lage geraten sei – wie die Besorgnis, häusliche Zwistigkeiten zu veranlassen, ihn allein bewogen habe, Mr. Wardle bei seiner Ankunft auszuweichen, und wie er durch eine andre Tür entwischen zu können geglaubt, diese aber verschlossen gefunden habe und dadurch genötigt gewesen sei, gegen seinen Willen zu bleiben. Seine Lage sei peinlich gewesen, indes bedaure er sie jetzt keineswegs, da sie ihm jetzt Gelegenheit gebe, hier, vor Freunden, das Bekenntnis abzulegen, daß er Mr. Wardles Tochter aus tiefstem Herzen und aufrichtig liebe und stolz darauf sei, sagen zu können, daß seine Empfindungen erwidert werden, und daß er, wenn auch Tausende von Meilen zwischen ihnen lägen oder ganze Ozeane, er doch keinen Augenblick die seligen Tage vergessen könnte, wo er zum .erstenmal – und so weiter, und so weiter. Nach dieser Erklärung verbeugte sich Mr. Snodgraß abermals, schaute in seinen Hut und schritt zur Tür.

„Halt!“ rief Wardle. „Bei allem, was …“

„Entzündbar ist“, fiel Mr. Pickwick aufatmend ein, denn er hatte gefürchtet, es werde etwas Schlimmeres kommen. „Nun gut – bei allem, was entzündbar ist“, wiederholte Wardle. „Warum haben Sie mir nicht das alles schon früher gesagt?“

„Oder sich mir anvertraut?“ fügte Mr. Pickwick hinzu.

„Du lieber Gott“, sagte Arabella, die Verteidigung übernehmend, „was nützt all das Gefrage, wo man doch weiß, daß Sie Ihr habgieriges altes Herz an einen reicheren Schwiegersohn gehängt haben und überdies so wild und bärbeißig sind, daß jedermann vor Ihnen Angst hat, nur ich nicht. Geben Sie ihm die Hand, und lassen Sie ihm um Gottes Barmherzigkeit willen etwas zu essen kommen. Er sieht ja halb verhungert aus, und dann bestellen Sie schon endlich einmal Ihre Weine, denn Sie werden ja doch nicht eher erträglich, als bis Sie zum mindesten zwei Flaschen getrunken haben.“

Der würdige alte Herr zupfte Arabella am Ohr, küßte sie auch ohne weitere Umstände, küßte auch seine Tochter mit vieler Zärtlichkeit und schüttelte dann Mr. Snodgraß herzlich die Hand.

„In einem Punkt hat sie jedenfalls recht“, sagte er vergnügt. „Pickwick, läute, daß der Wein gebracht wird.“

Der Wein kam, und in demselben Augenblick trat Perker ein. Mr. Snodgraß bekam an einem Nebentisch noch schnell etwas zu essen, und als er damit fertig war, rückte er ohne die mindeste Einwendung des alten Herrn seinen Stuhl dicht neben Emilie.

Der Abend wurde großartig. Der kleine Mr. Perker ging prachtvoll aus sich heraus, erzählte viele komische Geschichten und sang ein ernstes Lied, wobei er noch humoristischer wirkte als bei seinen Anekdoten. Arabellas Charme blühte voll auf, Mr. Wardle wurde sehr jovial, Mr. Pickwick vermittelte nach allen Seiten, Mr. Ben Allen war der Lauteste von allen und Mr. Winkle wurde ungewöhnlich gesprächig. Nur die Liebenden blieben stumm: Alle waren glücklich.

Dreiundvierzigstes Kapitel


Dreiundvierzigstes Kapitel

Schildert eine rührende Zusammenkunft Mr. Samuel Weller mit seinen Verwandten. Mr. Pickwick besichtigt die kleine Welt, die er bewohnt, und faßt den Entschluß, künftighin so wenig wie möglich mit ihr zu verkehren.

Einige Tage nach seiner Festnahme ging Mr. Samuel Weller eines Morgens, nachdem er das Zimmer seines Herrn mit größter Sorgfalt aufgeräumt hatte, mit sich zu Rate, wie er die nächsten zwei Stunden am besten totschlagen könnte. Der Morgen war schön, und so kam er auf den Gedanken, daß eine Finte Porter im „Freien“ das richtigste wäre.

Er ging also in die Kantine, und nachdem er das Bier und überdies noch die vorgestrige Zeitung bekommen, begab er sich auf die Kegelbahn, setzte sich auf eine Bank und begann, sich auf eine sehr gesetzte und methodische Weise zu unterhalten.

Vor allem nahm er einen Schluck, sah dann, zu einem Fenster empor und beglückte eine junge Dame, die dort Kartoffeln schälte, mit einem platonischen Blinzeln. Dann entfaltete er die Zeitung und gab sich Mühe, die Polizeiberichte nach außen zu falten, und da dies bei dem sich in den Blättern verfangenden Winde eine anstrengende und schwierige Arbeit war, nahm er nach glücklichem Gelingen einen zweiten Schluck. Dann las er zwei Zeilen und unterbrach diese Beschäftigung, um ein paar Männern zuzusehen, die ein Tennisgame spielten, nach dessen Beendigung er beifälligerweise „Bravo“ rief und seine Augen die Runde machen ließ, um sich zu überzeugen, ob sich die Ansichten der Zuschauer mit den seinigen deckten. Dies schloß die Notwendigkeit in sich, wiederum zu dem Fenster hinaufzusehen, und da die junge Dame noch immer dort stand, so erforderte es die allgemeine Höflichkeit, ihr abermals zuzublinzeln und mit einem Schluck Bier stumm zuzutrinken. Einem Jungen, der letzteres mit weitaufgerissenen Augen mit angesehen, warf er einen furchtbaren Zornblick zu, schlug seine Beine übereinander und begann endlich, die Zeitung mit beiden Händen festhaltend, allen Ernstes zu lesen.

Kaum hatte er sich in den erforderlichen Zustand von Gedankenkonzentration versetzt, als er jemand in weiter Ferne in einem Gang seinen Namen rufen zu hören glaubte. Das war auch keine Täuschung, denn er lief alsbald von Mund zu Mund, und in wenigen Sekunden erzitterte die Luft mit lauter Wellers“.

„Hüür!“ schrie Sam mit Stentorstimme. „Was gibt’s? Wer fragt nach ihm? Is ’n Expresser gekommen, um ihm zu melden, daß sein Landhaus in Flammen steht?“

„In der Halle fragt jemand nach Ihnen“, sagte ein Mann in der Nähe.

„Geben Sie auf das Blatt und den Krug acht, alter Freund; wollen Sie?“ bat Sam. „Ich komme schon. Bei Gott, wenn sie mir vor die Schranken riefen, so könnten sie keinen größeren Lärm nich machen.“

Diese Worte mit einem sanften Schlag auf den Kopf des vorerwähnten jungen Herrn begleitend, der, die unmittelbare Nähe des Gerufenen nicht ahnend, aus Leibeskräften „Weller“ mitschrie, eilte Sam über den Hof und sprang die Treppe hinauf in die Halle. Hier war das erste, was seine Augen erblickten, sein heißgeliebter Vater, der mit dem Hute in der Hand auf der untersten Treppenstufe saß und alle Minuten aus vollem Halse „Weller“ brüllte.

„Warum grölst denn so?“ fragte Sam erregt, als der alte Herr eben wieder einen wilden Schrei ausgestoßen hatte. „Bist ja ganz rot, wie ’n irrsinniger Glasbläser! Was gibt’s denn?“

„Aha!“ rief der alte Herr, „da bist du ja. Ich bekam schon Angst, daß du womöglich ’nen Spaziergang um den Regentpark machtest, Sammy.“

„Na, hör mal!“ sagte Sam. „Man verhöhnt doch nich das Opfer des Geizes. Und dann geh mal von der Treppe da weg. Warum sitzt du überhaupt hier? Ich wohn doch nich hier.“

„Ich muß dir ’nen Spaß erzählen, Sammy“, versetzte Mr. Weller senior und erhob sich.

„Warte mal ’n Augenblick. Bist ganz weiß hinten.“

„Das is recht, Sammy, reib es weg“, versetzte Mr. Weller, als sein Sohn ihn abstaubte. „Ich möchte hier nicht den affigen Eindruck machen, daß ich was Weißes auf ‚m Leibe habe. Was, Sammy?“ Hier zeigten sich bei Mr. Weller unzweideutige Symptome eines neuerlich aufkommenden Lachkrampfes, den Sam zu verhindern suchte.

„Was hast denn nu wieder?“ fragte er, „du wirst noch mal platzen.“

„Sammy“, versetzte Mr. Weller und wischte sich über die Stirn, „ich hab Angst, dieser Tage trifft mir noch der Schlag vor lauter Lachen. Was denkst du wohl, wer mit mir hergekommen ist, Sammy?“

„Pell?“ riet Sam.

Mr. Weller schüttelte den Kopf und blies seine roten Backen vor verhaltenem Gelächter auf.

„Der Buntscheckige vielleicht?“

Mr. Weller schüttelte wieder den Kopf.

„Na also, wer denn?“

„Deine Stiefmutter“, erwiderte Mr. Weller.

Und es war ein Glück, daß er es herausbrachte, sonst wären seine Backen bei der unmäßigen Anstrengung unvermeidlich geborsten.

„Deine Stiefmutter, Sammy, und der Rotnasige, mein Junge, der Rotnasige. Hohoho!“

Und wieder bekam Mr. Weller Lachkrämpfe, während ihn Sam mit einem breiten Grinsen ansah, das sich allmählich über sein ganzes Gesicht verbreitete.

„Die sind hergekommen, um dir ins Gewissen zu reden, Samuel“, stöhnte Mr. Weller und trocknete seine Tränen. „Laß dir bloß nichts über deinen unnatürlichen Gläubiger rausholen, Sammy.“

„Was? Wissen sie nicht, wer es is?“ fragte Sam.

„Nich die Bohne.“

„Wo sind sie denn?“ fragte Sam feixend.

„Im Lauschestübchen. Denkst doch nich, der Rotnasige geht wohin, wo es nich was Gebranntes gibt; der nich, Samuel, der nich. Wir hatten diesen Morgen ’ne sehr hübsche Fahrt vom ,Marquis‘ hierher“, erklärte Mr. Weller, als er sich wieder einer artikulierten Ausdrucksweise fähig fühlte.

„Ich spannte den alten Schecken in das kleine Fuhrwerk, wo dem ersten Mann von deiner Stiefmutter gehört hatte. Und denn wurde ’n Armstuhl für den Hirten raufgepackt, und ich will verdammt sein“, fügte Mr. Weller mit einem Blick bodenloser Verachtung hinzu, „wenn sie nich noch ’ne tragbare Treppe auf die Straße schleppten, damit er leichter raufkam. Ich wünschte bloß, du hättest gesehen, wie der sich beim Aufsteigen festhielt, aus Angst, daß er runterprasseln und in tausend Fetzen auseinanderfallen könnte. Na, schließlich plumpste er rein, und wir fuhren los, und ich möchte beinahe sagen, mir kommt es so vor, Samuel, daß es ihm etwas rumpeln tat, wenn’s um die Ecken ging.“

„Nanu, denn nehme ich an, du bist an ’n paar Posten gedonnert?“ meinte Sam.

„Ich hab Angst“, versetzte Mr. Weller mit wildem Gebärdenspiel, „ich hab Angst, ich rappelte ein-, zweimal wo gegen; jedenfalls flog er nach alle Seiten aus sein Armstuhl raus.“

Ein heiseres innerliches Kollern benahm dem alten Herrn die Sprache.

„Sei unbesorgt, Sammy, sei unbesorgt“, sagte er, als er nach ungeheurer Anstrengung und verschiedentlichem konvulsivischem Stampfen auf den Boden seine Stimme wieder erlangt hatte. „Es is nur ’ne Art stilles Lachen, wo ich nich zum Ausbruch kommen lassen will, Sammy.“

„Na gut“, meinte Sam, „aber es wäre besser, du würdest es nich machen. Es sieht reichlich gefährlich aus.“

„Gefällt es dir nich, Sammy?“

„Könnte ich nich sagen“, versetzte Sam.

So weit war die Unterhaltung gediehen, als Vater und Sohn an der Tür des „Lauschestübchens“ ankamen, in das Sam alsbald hineintrat, nachdem er zuvor einen Augenblick stehengeblieben war, um über die Schulter weg einen schlauen Blick auf seinen verehrten Erzeuger zu werfen, der immer noch kicherte.

„Stiefmutter“, grüßte er dann höflich, „sehr verbunden für den gütigen Besuch. Hirte, wie befinden Sie sich?“

„Ach, Samuel!“ rief Mrs. Weller. „Das ist ja fürchterlich.“

„Ach wo, Ma’am“, versetzte Sam. „Oder doch, Hirte?“

Mr. Stiggins hob seine Hände empor und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße, oder vielmehr das Gelbe, sichtbar war, erwiderte aber nichts.

„Ist der Herr mit ’nem schmerzhaften Leiden behaftet?“ fragte Sam mit einem forschenden Blick auf seine Stiefmutter.

„Der gute Mann ist bekümmert, dich hier zu sehen, Samuel“, erklärte Mrs. Weller.

„Ah, soso!“ sagte Sam. „Ich bekam wegen sein Benehmen schon Angst, daß er womöglich vergessen hat, die letzten Gurken, wo er gegessen hat, mit Feffer zu bestreuen. Setzen Sie sich, Sir; zur Ruhe setzen kostet nichts, wie der König bemerkte, als er seine Minister wegjagte.“

„Junger Mann“, versetzte Mr. Stiggins hochtrabend, „ich fürchte, das Gefängnis hat Sie noch nicht gedemütigt.“

„Bitte um Verzeihung, Sir“, erwiderte Sam, „was waren Sie so gütig zu bemerken?“

„Ich fürchte, junger Mann, Ihr Charakter ist durch diese Züchtigung nicht demütiger geworden“, wiederholte Stiggins mit lauter Stimme.

„Sie sin sehr gütig“, erwiderte Sam. „Ich fürchte, meine Natur gehört nich zu den demütigen. Sehr verbunden für Ihre gute Meinung, Sir.“

Unanständige, gelächterartige Laute in der Gegend des Stuhles, auf dem Mr. Weller senior saß, drohten Mrs. Weller in hysterische Krämpfe zu versetzen.

„Weller!“ rief sie. „Weller, gleich kommst du aus dem Winkel raus!“

„Sehr verbunden, meine Liebe“, versetzte Mr. Weller, „aber ich fühle mir hier sehr behaglich.“

Sofort brach Mrs. Weller in Tränen aus.

„Was fehlt Ihnen, Madame?“ fragte Sam.

„Ach, Samuel!“ jammerte Mrs. Weller. „Dein Vater macht mich ganz unglücklich; will ihm denn gar nichts frommen?“

„Hörst du das?“ rief Sam. „Madam möchte wissen, ob dir gar nichts frommen tut.“

„Ich bin Mrs. Weller für ihre höfliche Frage sehr verbun’n, Sammy“, erwiderte der alte Herr. „Ich denke, ’ne Feife würde mir sehr frommen. Laß mich mal eine stopfen, Sammy!“

Abermals vergoß Mrs. Weller einen Tränenstrom, und Mr. Stiggins schluchzte.

„Holla! Dem unglücklichen Herrn wird schon wieder übel“, rief Sam und blickte umher. „Wo fühlen Se jetzt den Schmerz, Sir?“

„Auf derselben Stelle, junger Mann“, ächzte Mr. Stiggins, „auf derselben Stelle.“

„Wo mag das nur sein, Sir?“ riet Sam, anscheinend mit großer Einfalt.

„Im Herzen, junger Mann“, entgegnete Mr. Stiggins und drückte, seinen Regenschirm an die Weste.

Das war zu ergreifend für Mrs. Weller. Sie schluchzte laut und stellte die Behauptung auf, der Mann mit der roten Nase sei ein Heiliger. „Ich fürchte, Stiefmutter, der Herr mit seinen verdrehten Gesichtszügen bekommt Durst von dem traurigen Anblick, den er vor sich hat. Was meinst du, Frau Mutter?“

Die würdige Dame sah Mr. Stiggins forschend an, der seine Augen rollen ließ und sich an die Kehle griff, wobei er die Handlung des Schlingens mimte, um anzudeuten, daß er tatsächlich Durst habe.

„Ich habe Angst, Samuel, seine Gefühle haben ihn durstig gemacht“, bemerkte Mr. Weller düster.

„Was is Ihr gewöhnliches Getränk, Sir?“ fragte Sam.

„Oh, mein lieber junger Freund!“ wehrte Mr. Stiggins ab. „Getränke sind Eitölkeitön.“

„Ach, wie wahr, wie wahr!“ schluchzte Mrs. Weller mit beifälligem Kopfnicken.

„Na“, sagte Sam, „also welche ,Eitölkeitön‘ schmecken Ihnen denn am besten, Sir?“

„Ach, main liebör jungör Freund“, erwiderte Mr. Stiggins, „ich verachtö allö. Wann ös, wann ös ains gibt, das weniger schlimm ist als ain andörös, so ist ös der Gaist, den man Rum nönnt – warm, main liebör jungör Freund, mit drai Stückchön Zuckör für das Glaaas!“

„Tut mir sehr leid, Sir“, sagte Sam, „daß Ihre Lieblingseitelkeit in diesem Etablissemang nich verkauft wird; muß Ihnen leider sagen, es is nich gestattet.“

„Oh, über die Hartherzigkeit dieser verstockten Menschen!“ rief Mr. Stiggins aus. „Ach, über die fluchwürdige Grausamkeit dieser unmenschlichen Verfolger!“ – Und wieder hob der Hirt seine Augen auf und preßte den Regenschirm an seine Brust voll gerechter Empörung. Schließlich schlug Sam eine Flasche Portwein mit warmem Wasser, Gewürz und Zucker vor, weil dieses für den Magen sehr gesund sei und weniger nach Oitelkeit schmeckte als andre Mischungen, ließ das Getränk kommen und bereitete es, während der Herr mit der roten Nase und die Stiefmutter Mr. Weller senior ansahen und schluchzten.

„Na, was reckst du denn deine Hand auf so ’ne rohe Art und Weise nach dem Glas aus?“ rief Sam schnell, als die Faust Mr. Wellers, der abermals hinter dem Hirten allerlei drohende Gestikulationen vollführt hatte, mit dem Kopf Mr. Stiggins‘ zufällig in unsanfte Berührung kam. „Unabsichtlich, Sammy“, entschuldigte sich Mr. Weller kurz und hanebüchen.

„Versuchen Sie mal „ne innerliche Wundbehandlung, Sir“, riet Sam, als der rotnasige Herr sich mit kläglicher Miene den Kopf rieb. „Was halten Sie von so einer warmen Eitelkeit, Sir?“

Mr. Stiggins antwortete nicht mit Worten, aber sein Benehmen war ausdrucksvoll. Er kostete den Inhalt des Glases, das ihm Sam in die Hand gedrückt, stieß seinen Regenschirm auf den Boden, kostete wieder, rieb sich die Magengegend behaglich, trank dann das Ganze auf einen Zug aus, schmatzte mit den Lippen und hielt das Glas hin, um es wieder füllen zu lassen.

Auch Mrs. Weller wollte nicht zurückstehen, wo es galt, der Mischung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie protestierte anfangs, sie könne keinen Tropfen trinken – dann trank sie einen kleinen Tropfen – dann einen großen Tropfen – und dann eine große Menge Tropfen, und da ihr weiches Naturell durch gebranntes Wasser stark angegriffen wurde, ließ sie bei jedem Tropfen Glühwein einen Tränenstrom fließen und zerging schließlich derart, daß sie eine imposante Höhe von Elend erklomm.

Mr. Weller senior gab bei Beobachtung dieser Zeichen und Vorgänge sein Mißfallen auf mannigfaltige Weise durch heftiges Gebrumm kund. Mr. Stiggins erhob sich nach einem zweiten Krug schwerfällig und erging sich in einer erbaulichen Rede, die auf das Seelenheil der Gesellschaft, insbesondere Mr. Samuels, abzielte, den er in rührenden Ausdrücken beschwor, die Sünde zu fliehen, Heuchelei und Hochmut zu meiden und in allen Stücken sich ihn zum Muster und Vorbild zu nehmen, in welchem Fall er früher oder später zu dem köstlichen inneren Bewußtsein gelangen könne, daß er, gleich ihm, ein achtbarer und tadelloser Charakter und alle seine Bekannten und Freunde rettungslos verloren und verworfen seien; ein Bewußtsein, sagte er, das ihm die größte Seligkeit bereiten wurde.

Er beschwor ihn ferner, vor allen Dingen das Laster der Trunksucht zu fliehen, das er den unflätigen Gewohnheiten der Schweine und den giftigen und verderblichen Arzneien verglich, die, durch den Mund aufgenommen, das Gedächtnis schwächten. Bei dieser Stelle seiner Rede wurde der ehrwürdige Herr besonders unzusammenhängend und mußte, im Feuer der Beredsamkeit hin und her schwankend, sich an der Stuhllehne festhalten, um das physische Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Ganz besonders schien er seine Zuhörer vor den falschen Propheten und elenden Spöttern über die Religion warnen zu wollen, die, ohne die geistige Fähigkeit, die vornehmsten Glaubenssätze auszulegen, oder ohne das Herz, ihre Grundwahrheiten zu empfinden, gefährlichere Mitglieder der Gesellschaft seien als der gemeine Verbrecher, indem sie notwendigerweise auf die Schwächsten und am wenigsten Unterrichteten die stärkste Herrschaft ausübten, alles, was am heiligsten gehalten werden sollte, herabsetzten und verächtlich machten und ganze Klassen von tugendhaften und sittlich guten Menschen vieler vortrefflicher Sekten und Glaubensrichtungen in üblen Ruf brächten – aber da er sich eine geraume Zeit an der Stuhllehne festhielt und das eine Auge geschlossen hielt und mit dem andern ausdrucksvoll blinzelte, so läßt sich annehmen, daß er alles nur dachte, aber wohlweislich bei sich behielt.

Während der undeutlichen Predigt seufzte und weinte Mrs. Weller am Schlüsse jedes Abschnittes, während Sam mit übergeschlagenen Beinen und auf die Lehne seines Sessels gestützten Armen den Sprecher mit süßem, mildem Lächeln betrachtete und nur gelegentlich einen Blick des Einverständnisses auf den alten Herrn warf, der im Anfang entzückt war und ungefähr in der Mitte einschlief.

„Bravo! Vortrefflich!“ rief Sam, als der Mann mit der roten Nase nach Schluß der Rede seine abgetragnen Handschuhe anzog und dabei die Finger durch die durchlöcherten Enden steckte, bis die Knöchel sichtbar wurden. „Ganz vortrefflich.“

„Ich hoffe, es wird bei dir anschlagen, Samuel“, sagte Mrs. Weller feierlich.

„Ich denke ja, Stiefmutter“, nickte Sam.

„Ich wollte, es schlüge auch bei deinem Vater an“, seufzte Mrs. Weller.

„Danke dir, meine Teure“, erwiderte Mr. Weller senior. „Is dir nu leichter, meine Liebe?“

„Spötter!“ rief Mrs. Weller empört.

„Unerleuchteter Mann!“ lallte Ehrwürden Mr. Stiggins.

„Na, wenn ich kein besseres Licht nich bekommen tue als wie Ihren Mondschein“, knurrte Mr. Weller, „denn is es sehr wahrscheinlich, daß ich ständig ’ne Nachtkutsche fahren werde, bis ich mir von die Straße verabschieden tue. Aber jetzt, Mrs. Weller! Wenn der Schecke noch länger am Futtertrog steht, denn hält er es mir auf dem Heimweg nich mehr aus und schmeißt vielleicht den Armstuhl samt dem Hirten in die nächste Hecke.“

In augenscheinlicher Bestürzung ergriff Mr. Stiggins sofort Hut und Regenschirm und drang auf alsbaldige Abreise. Sam ging mit bis ans Gefängnistor und nahm dann zärtlich Abschied von seinen Gästen.

„Adio, Samuel“, sagte der alte Herr.

„Was heißt das, ,adio‘?“ fragte Sam.

„Na: Leb wohl!“

„Warum sagst das nich gleich? Na, denn leb wohl, Alter.“

„Sammy“, flüsterte Mr. Weller zum Abschied und blickte sich vorsichtig um, „meine Empfehlung an den Gouverneur, und wenn er sich auf was Besseres besinnen tut in seine Sache, denn soll er mich das wissen lassen. Ich und der Kunsttischler, wir haben ’nen Plan ausgeheckt, daß wir ihn rauskriegen, ’n Pjananino, Samuel – ’n Pjananino!“ fügte er triumphierend hinzu, schlug seinem Sohn mit der Rückseite der Hand auf den Brustkasten und trat ein paar Schritte zurück.

„Was meinst du damit?“ fragte Sam.

„’n Pjananinopforte, Samuel“, erwiderte Mr. Weller noch geheimnisvoller, „er kann es mieten; so eins, wo man gar nich drauf spielt, Sammy.“

„Er soll bloß zu meinem Freund, dem Kunsttischler, schicken und es holen lassen“, erklärte Mr. Weller. „Verstehst du jetz?“ „Nein“, antwortete Sam.

„Is gar nichts bei zu riskieren“, flüsterte Mr. Weller unbeirrt. „Er kann sich mit seinen Hut und seine Schuhe reinlegen und durch die Beine, die sind nämlich hohl, da kann er frische Luft schnappen. Wir halten ihm ’nen Schiffsplatz nach Amerika bereit. Die amerikanische Regierung gibt ihm nich wieder raus, wenn sie merkt, daß er Zaster hat, Sammy. Da soll er denn man bleiben, der Gouverneur, bis die Bardell tot is oder Dodson und Fogg am Galgen hängen, was wahrscheinlich zuerst passieren wird, Sammy. Und denn soll er zurückkommen und „n Buch über die Amerikaner schreiben. Wird ihm ’n Batzen Geld einbringen, wenn er sie bloß orntlich anstänkern tut.“

Mr. Weller flüsterte diesen kurzen Abriß eines Fluchtplanes seinem Sohne mit vielem Ungestüm ins Ohr, gab dann, als fürchte er, durch weitere Erklärungen die Wirkung seiner furchtbaren Mitteilung abzuschwächen, den freimaurerischen Kutschergruß und verschwand.

Sam hatte kaum seine gewöhnliche Ruhe wiedererlangt, die durch die geheimnisvolle Mitteilung seines verehrten Vaters gewaltig erschüttert worden war, als ihm Mr. Pickwick auf die Schulter klopfte.

„Sam!“

„Sir?“

„Ich wünsche einen Gang durch das Gefängnis zu machen, und du sollst mich dabei begleiten. Da kommt übrigens ein. Gefangener, den wir kennen, Sam“, fügte Mr. Pickwick lächelnd hinzu.

„Wer denn, Sir?“ fragte Sam. „Der Schenlemän mit dem Krauskopp oder der interessante Herr in den Strümpfen?“

„Keiner von beiden. Ein viel älterer Freund von dir, Sam.“

„Von mir, Sir?“

„Du wirst dich dieses Herrn schon noch erinnern“, sagte Mr. Pickwick. „Still jetzt! Kein Wort mehr, Sam, keine Silbe! Da ist er.“

Noch während Mr. Pickwick sprach, kam Jingle heran. Er sah weniger elend aus als das letztemal, denn er trug seine wenn auch recht abgeschabten Kleider, die er mit Mr. Pickwicks Hilfe aus der Gefangenschaft des Leihhauses erlöst hatte. Auch hatte er ein weißes Hemd an, und seine Haare waren frisch gestutzt. Gleichwohl war er sehr blaß und mager, und als er, auf einen Stock gestützt, langsam heranschlich, konnte man ihm leicht ansehen, daß er durch Krankheit und Mangel hart gelitten hatte und noch immer äußerst schwach war. Er zog den Hut, als Mr. Pickwick ihm zunickte, und schien beim Anblick Sam Wellers sehr gedemütigt und beschämt.

Dicht auf seinen Fersen erschien Hiob Trotter, in dessen Sündenregister jedenfalls Mangel an Treue und Anhänglichkeit an seinen Kameraden keinen Platz fand. Er war noch immer zerlumpt und schmutzig, sein Gesicht schien aber nicht mehr ganz so hohl zu sein wie bei seinem ersten Zusammentreffen mit Mr. Pickwick vor einigen Tagen. Als er vor dem wohlwollenden alten Herrn tief den Hut zog, murmelte er etwas von heißer Dankbarkeit und von Errettung vom Hungertode.

„Schon gut“, wehrte Mr. Pickwick ungeduldig ab. „Sie können mit Sam nachkommen. Ich wünsche Sie zu sprechen, Mr. Jingle. Können Sie gehen ohne seine Hilfe?“

„O ja, Sir – ganz zu Diensten – nicht zu schnell – Beine schlotterig – Kopf schwindelig – immer alles im Kreis herum – erdbebenartiger Zustand – ganz erdbebenartig.“

„Dann geben Sie mir Ihren Arm.“

„Nein, nein“, erwiderte Jingle hastig, „unmöglich – zuviel Güte.“

„Unsinn!“ sagte Mr. Pickwick. „Stützen Sie sich auf mich; ich will es, Sir!“

Da Mr. Pickwick sah, daß Jingle äußerst aufgeregt, verwirrt und unschlüssig war, zog er ohne Umstände den Arm des kranken Komödianten durch den seinigen und führte ihn fort, ohne ein Wort weiter zu verlieren.

Während dieser ganzen Zeit hatte Mr. Samuel Wellers Angesicht einen Ausdruck überwältigten und überschwenglichsten Erstaunens gezeigt, das sich die Einbildungskraft nur ausmalen kann. Nachdem er in tiefem Schweigen von Hiob zu Jingle und von Jingle zu Hiob geblickt, stieß er endlich leise die Worte aus: „Na, da hört sich doch ..,“ und wiederholte sie wenigstens zwanzigmal. Dann aber schien er seiner Stimme gänzlich beraubt zu sein und ließ in sprachloser Verwunderung seine Blicke aufs neue von dem einen zu dem andern wandern.

„Nun, Sam?“ fragte Mr. Pickwick über die Achsel.

„Komme schon, Sir“, erwiderte Mr. Weller, folgte seinem Herrn mechanisch und konnte noch immer kein Auge von Mr. Hiob Trotter abwenden, der schweigend an seiner Seite ging.

Hiob sah beharrlich zu Boden, und Sam, dessen Blick an Hiobs Gesicht geradezu klebte, rannte gegen alle Leute, die ihm begegneten, an, fiel über kleine Kinder, stolperte an Treppen und Geländern und schien von all dem nichts zu bemerken, bis Hiob endlich verstohlen aufblickte und fragte:

„Wie befinden Sie sich, Mr. Weller?“

„Ja, er is es!“ rief Sam, schlug sich auf das Bein und machte seinen Gefühlen mit einem langen, schrillen Pfiff Luft.

„Mit mir hat es sich sehr geändert, Sir“, sagte Hiob.

„Das seh ich“, rief Sam, mit unverhohlener Verwunderung die Lumpen seines Begleiters musternd. „Es ist aber ’n schlechter Tausch gewesen, wie der Schenlemän sagte, als er zwei verdächtige Schilling und sechs Pence in kleiner Münze für ’ne echte halbe Krone eingewechselt hatte.“ „Ja, das ist wahr“, versetzte Hiob mit Kopfschütteln. „Die Zeit des Betrügens ist jetzt vorbei, Mr. Weller. Tränen“, fügte er mit einem Anflug alter Verschmitztheit hinzu, „Tränen sind weder die einzigen Beweise von Kummer und Elend, noch die besten.“ „Wissen wir“, erwiderte Sam ausdrucksvoll.

„Man kann sie auch künstlich hervorrufen, Mr. Weller!“

„Sehr richtig bemerkt“, versetzte Sam. „Es gibt Leute, wo sie immer in Bereitschaft halten und den Stöpsel rausziehen können, wann sie wollen.“

„Jaja“, gab Hiob zu, „aber, mein lieber Mr. Weller, diese Dinge lassen sich doch nicht so leicht nachmachen, und es ist ein recht schmerzhafter Prozeß, sie künstlich hervorzurufen.“ Dabei deutete er auf seine blassen, eingesunknen Wangen, schlug seinen Rockärmel zurück und entblößte seinen Arm, der aussah, als ob man ihn ohne Mühe abbrechen könnte, so dünn und spitzig stachen die Knochen unter ihrer dünnen Fleischdecke hervor.

„Was haben Sie bloß mit sich angefangen?“ rief Sam schaudernd.

„Nichts.“

„Nichts?“

„Ich habe schon viele Wochen gar nichts getan“, sagte Hiob, „und beinahe ebensowenig gegessen und getrunken.“

Sam warf einen umfassenden Blick auf Mr. Trotters schmales Gesicht und seine ganze jammervolle Erscheinung, ergriff ihn dann beim Arm und fing an, ihn mit großer Heftigkeit mit sich fortzuziehen.

„Wohin wollen Sie, Mr. Weller?“ ächzte Hiob, vergeblich bemüht, sich dem eisernen Griff seines alten Feindes zu entwinden.

„Kommen Sie mit“, sagte Sam lakonisch, „kommen Sie mit.“

Und er würdigte Hiob keiner weiteren Erklärung, bis sie das „Lauschestübchen“ erreicht hatten, wo er einen Krug Porter kommen ließ.

„Da“, sagte er, „trinken Sie alles bis auf den letzten Tropfen, und denn kehren Sie den Krug um, damit ich sehe, ob Sie die Arznei auch eingenommen haben.“

„Aber mein bester Mr. Weller“, remonstrierte Hiob.

„Runter damit“, befahl Sam gebieterisch.

Gehorsam erhob Mr. Trotter den Krug und leerte ihn in kleinen, beinahe unmerklichen Schlucken bis auf den Grund. Einmal, aber auch nur ein einziges Mal, pausierte er, um einen langen Atemzug zu tun, ohne jedoch zu wagen, die Augen von dem Gefäß zu erheben, das er einige Augenblicke später mit ausgestrecktem Arm umgekehrt hinhielt. Nichts fiel auf den Boden als ein paar Tröpfchen Schaum, die sich langsam vom Rande losmachten und träge hinabträufelten.

„Bravo“, sagte Sam. „Na, wie fühlen Sie sich jetzt?“

„Besser, Sir, ich glaube, besser“, antwortete Hiob.

„Na, selbstredend“, sagte Sam in beweisendem Ton. „Is ja doch, als wenn Gas in einen Luftballong reingelassen wird. Ich kann es mit bloßem Auge sehen, daß Sie schon dicker werden. Was würden Sie zu ’ner zweiten Dosis sagen, ebenso kräftig wie die erste?“

„Ich möchte lieber nicht; ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir“, erwiderte Hiob, „aber ich möchte lieber nicht.“

„Na, meinetwegen“, brummte Sam. „Aber was zwischen die Zähne; was würden Sie davon halten?“

„Dank sei Ihrem guten Herrn, Sir“, antwortete Mr. Trotter, „wir haben heute um drei viertel auf drei eine gebackene Hammelkeule mit Kartoffeln gehabt.“

„Was? Hat er für Sie gesorgt?“ fragte Sam erschüttert.

„Ja, Sir, und noch mehr als das, Mr. Weller. Da mein Herr sehr krank war, hat er ein Zimmer für uns gemietet – wir bewohnten vorher ein wahres Hundeloch – und es bezahlt, Sir; auch ist er bei Nacht zu uns gekommen, damit es niemand erfahren sollte. Ja, Mr. Weller“, fügte Hiob, diesmal mit echten Tränen in den Augen, hinzu, „diesem Herrn könnte ich dienen, bis ich tot zu seinen Füßen niedersänke.“

„Das lassen Sie lieber, mein Freund“, verwies Sam, „kein Wort mehr davon.“

Hiob Trotter sah verwundert auf.

„Kein Wort mehr darüber, junger Mann, sage ich; kein anderer dient bei ihm als wie ich. Und weil wir gerade dabei sind, will ich Ihnen noch in ein Geheimnis einweihen“, fügte Sam hinzu und bezahlte das Bier. „Ich habe niemals gehört oder in Geschichtsbücher gelesen oder auf Gemälde was gesehen von irgendein Engel in eng anliegende Hosen und Gamaschen; nich mal in Komödien, soviel ich mir erinnere – allerdings mag das aus andere Gründe unterlassen worden sein; aber merken Sie es sich, Hiob Trotter, er is trotz alledem ein voll ausgebrüteter Engel, und ich möchte den Mann sehen, wo mir wagen würde zu erzählen, daß er einen besseren kennt.“

Sie fanden Mr. Pickwick auf dem Ballspielplatz, in einem sehr ernsthaften Gespräch mit Jingle begriffen. Er würdigte die buntscheckigen, hier versammelten Gruppen keines Blickes, obschon sie es wohl verdient hätten, daß man sie wenigstens aus Neugierde etwas näher ins Auge gefaßt hätte.

„Nun gut“, sagte er, als Sam und sein Begleiter näher kamen. „Wir werden sehen, wie es mit Ihrer Gesundheit wird, und wollen die Sache inzwischen genauer überlegen. Machen Sie mir einen Überschlag, sobald Sie sich stark genug fühlen; ich will dann darüber nachdenken und weiteres mit Ihnen besprechen. Jetzt gehen Sie auf Ihr Zimmer; Sie sind müde und dürfen nicht zu lange draußen bleiben.“

Ohne ein Wort zu sprechen, ohne einen Funken von seiner alten Lebhaftigkeit oder auch nur von der trübseligen Heiterkeit, die er angenommen hatte, als Mr. Pickwick zum erstenmal in seinem Elend auf ihn gestoßen, verbeugte sich Mr. Alfred Jingle tief, winkte Hiob, ihm noch nicht zu folgen, und schlich sich langsam hinweg.

„Eine kuriose Szene das, nicht wahr, Sam?“ sagte Mr. Pickwick, vergnügt um sich blickend.

„Ja, sehr kurios, Sir“, erwiderte Sam. „Die Wunder hören ja gar nich auf“, fügte er im Selbstgespräch hinzu. „Müßte mich sehr irren, wenn dieser Jingle da sich nich‘ mit dem Wasserkarrengeschäft abgibt.“

Überall schlenderten oder saßen in allen möglichen Stellungen gedankenlosen Nichtstuns eine Menge Schuldner herum, die größtenteils im Gefängnis den Tag zu erwarten hatten, wo ihr Prozeß vor dem Insolvenzgericht verhandelt werden sollte, während andere auf verschiedene Termine verwiesen waren. Einige waren schäbig gekleidet, andre herausgeputzt, die meisten schmutzig und nur wenige reinlich; alle aber hungerten, gingen müßig und schlichen ohne Zweck und Ziel herum wie die Tiere in einer Menagerie.

Schmutzige Weibsbilder mit abgetretenen Schuhen schlapften hin und wieder nach der Küche, die sich in einem Winkel des Ballplatzes befand, Kinder schrien, balgten sich herum und spielten miteinander; das Gerassel fallender Kegel, das Geschrei der Spielenden vermischten sich unaufhörlich mit diesen und hundert andern Tönen – nichts als Getöse und Getümmel ringsumher. Stille herrschte nur in dem kleinen, elenden Schuppen wenige Schritte davon, in dem starr und fahl der Leib des in der vorigen Nacht gestorbenen Kanzleigefangenen lag und das Possenspiel einer Totenschau erwartete. – Der Leib! So lautet der gerichtlich-gesetzliche Ausdruck für die ruhelos wirbelnde Masse von Sorgen und Ängsten, Gemütsbewegungen, Hoffnungen und Kümmernissen, die den lebenden Menschen ausmachen. Dem Gesetz war sein Leib verfallen, und da lag er, ins Grabtuch gehüllt, ein schauderhafter Zeuge für zärtlich-mitleidsvolle Fürsorge.

„Möchten Sie einen Pfeif-Laden sehen, Sir?“ fragte Hiob Trotter.

„Was meinen Sie damit?“ entgegnete Mr. Pickwick.

„Na, ’nen Feifladen, Sir“, warf Mr. Weller ein.

„Was ist denn das, Sam? Eine Vogelhandlung?“ erkundigte sich Mr. Pickwick.

„Himmel! Nein, Sir“, belehrte ihn Hiob und erklärte weiter, daß es bei schwerer Strafe verboten war, Branntwein in die Schuldgefängnisse einzuführen; bei der allgemeinen Beliebtheit, deren sich dieser Herzenstrost jedoch bei den inhaftierten Damen und Herren erfreute, hätte ein weitblickender Schließer den Einfall gehabt, bestimmten Gefangenen gegen entsprechende Beweise ihrer Erkenntlichkeit zu gestatten, diese beliebte Ware zu verhökern. „Dieses Geschäftsgebaren hat sich, wie Sie sehen, Sir, nach und nach in allen Schuldgefängnissen durchgesetzt“, schloß Mr. Trotter.

„Und das is ebend der große Vorteil dabei“, bemerkte Sam, „daß die Schließer jeden am Kragen packen, der wo dieses Laster frönen tut, bloß die nich, wo bar bezahlen, und denn kommt es in die Zeitung, wie wachsam sie sind. Auf die Art klatschen sie zwei Fliegen mit einer Klappe: sie scheuchen andere Leute vom Geschäft weg und verbessern ihr eigenes Ansehen.“

„Nun ja; aber werden denn diese Räumlichkeiten niemals revidiert?“ erkundigte sich Mr. Pickwick.

„Aber natürlich werden sie, Sir“, erwiderte Sam, „aber die Bullen wissen es doch vorher, und denn geben sie den Pfeifern einen Wink, na, und denn können Sie mal nachsehen; da is denn was gepfiffen drauf.“

Unterdessen hatte Hiob an eine Tür geklopft, die von einem Herrn mit ungekämmtem Haar geöffnet und nach ihrem Eintritt verriegelt worden war. Sodann grinsten Hiob und Sam einträchtig, worauf Mr. Pickwick in der Annahme, man erwarte das auch von ihm, gleichfalls ein Lächeln aufsetzte.

Der Herr mit dem strubbligen Kopf schien mit diesem zarten geschäftlichen Hinweis völlig zufrieden zu sein, denn er praktizierte eine flache Kruke unter seiner Lagerstatt hervor und füllte drei Gläser mit Gin.

„Noch einen?“ fragte der Pfeifer.

„Keinen mehr“, antwortete Trotter.

Mr. Pickwick bezahlte, die Tür wurde wieder geöffnet, und sie traten hinaus. Im gleichen Augenblick kam zufällig Mr. Roker vorbei. Der ungekämmte Herr gönnte ihm ein wohlwollendes Kopfnicken.

Mr. Pickwick durchwanderte noch sämtliche Galerien, ging alle Treppen auf und ab und machte noch einmal die Runde um den ganzen Hofraum. Die große Masse der Bevölkerung des Gefängnisses schien dem Schlage der Mivins oder Smangle, des Kaplans, des Metzgers oder des Roßkamms anzugehören. In allen Winkeln, den besten wie den schlechtesten, derselbe Schmutz, dasselbe Getümmel und Getöse, dieselben charakteristischen Merkmale. Auf dem ganzen Platz ein ruhelos-verworrenes Treiben; die Menschen drängten und wälzten sich hin und her, gleich den Schatten in einem unbehaglichen Traum.

„Jetzt habe ich genug gesehen“, seufzte Mr. Pickwick, als er sich in seinem kleinen Zimmer in einen Stuhl warf. „Der Kopf tut mir weh von all diesen Szenen, und das Herz nicht minder. Ich will hinfort auf meinem eigenen Stübchen Gefangener bleiben.“

Und standhaft beharrte er auf diesem Beschlüsse. Drei lange Monate blieb er den ganzen Tag eingeschlossen und stahl sich bloß bei Nacht, wenn der größere Teil seiner Mitgefangenen im Bett war oder auf seinen Zimmern zechte, hinaus, um frische Luft zu schöpfen. Seine Gesundheit begann infolge dieses selbstauferlegten strengen Gewahrsams sichtbar zu leiden; allein weder die vielfach wiederholten Bitten Perkers und seiner Freunde noch die weit häufigeren Warnungen und Mahnungen Mr. Samuel Wellers konnten ihn dazu bringen, auch nur ein Jota an seinem unbeugsamen Entschluß zu ändern.

Vierundvierzigstes Kapitel


Vierundvierzigstes Kapitel

Ein erschütternder, wenn auch nicht unlustiger Vorfall, herbeigeführt durch die Umsicht der Herren Dodson und Fogg.

Es war in der letzten Woche des Monats Juli, als eine Droschke, jedoch eine umnumerierte, in raschem Trab die Goswellstreet hinauffuhr. Drei Personen waren hineingepreßt – den Kutscher nicht eingerechnet, der natürlich seinen engen kleinen Außensitz auf der Seite innehatte –, zwei kleine, kampflustig aussehende Damen, und zwischen ihnen eingezwängt, auf einen äußerst kleinen Raum beschränkt, ein Gentleman von linkischem, unterwürfigem Benehmen, der jedesmal, wenn er eine Bemerkung wagte, von einer der kampflustigen Damen barsch angelassen wurde. „An dem Haus mit der grünen Tür halten Sie an, Schwager“, rief der schüchterne Gentleman.

„Ach was, du verdrehtes Geschöpf!“ keifte die eine der streitsüchtigen Damen. „Nein, an dem Haus mit der gelben Tür, Kutscher!“

„Na, wo soll ich denn nu eigentlich anhalten?“ fragte der Rosselenker. „Machen Sie es unter sich aus. Ich frage bloß, wo?“

Als die Droschke endlich in vollem Glanz vor dem Haus mit der gelben Tür vorfuhr, wobei sie, wie eine der Damen triumphierend bemerkte, „mehr Lärm machte, als wenn einer in seinem eigenen Wagen ankommt“, und der Kutscher abgestiegen war, um den Fahrgästen herauszuhelfen, schob sich der kleine Rundkopf Master Thomas Bardells zum Fenster eines Hauses mit einer roten Tür, wenige Nummern weiter, heraus.

„Eine ärgerliche Geschichte“, sagte die letzterwähnte keifende Dame mit einem vernichtenden Blick auf den linkischen Gentleman.

„Ich bin unschuldig, liebe Frau“, beteuerte der Gentleman bekniffen.

„Schweig, Schafskopf!“ herrschte ihn die Dame an. „Das Haus mit der roten Tür, Kutscher! Wenn je eine Frau sich mit einem boshaften Taugenichts angeschmiert hat, der seinen Stolz und sein Vergnügen darin sucht, sie bei jeder möglichen Gelegenheit vor Fremden zu blamieren, so bin ich’s!“

„Sie sollten sich schämen, Raddle“, ermahnte die andre Dame, die niemand anders war als Mrs. Cluppins.

„Was hab ich denn getan?“ jammerte Mr. Raddle.

„Sprich nicht mit mir, Scheusal; ich könnte sonst mein Geschlecht vergessen und dir eine runterhauen“, tobte Mrs. Raddle.

Der Wagen hielt jetzt endgültig.

„Nun, Tommy“, wandte sich Mrs. Cluppins an Master Bardell, „wie geht’s deiner lieben, armen Mutter?“

„Oh, sehr gut“, erwiderte Master Bardell, „sie is im Vorderzimmer; alles bereit. Ich bin auch bereit.“

Dabei steckte Master Bardell die Hände in die Taschen und hüpfte auf der untersten Stufe der Vortreppe auf und nieder.

„Sonst noch jemand da, Tommy“, verhörte Mrs. Cluppins und ordnete ihren Mantel.

„Mrs. Sanders“, erwiderte Tommy. „Und ich.“

„Der Mistbub!“ sagte die kleine Mrs. Cluppins. „Er denkt an nichts als an sich selbst. Komm her, lieber Tommy!“

„Na, und“, sagte Master Bardell.

„Wer sonst noch, mein Lieber?“ fuhr Mrs. Cluppins schmeichelnd zu fragen fort.

„Mrs. Rogers auch“, gestand Master Bardell, die Augen weit aufreißend, als er mit dieser Entdeckung herausrückte.

„Wie? Die Dame, die bei euch wohnt?“

Master Bardell steckte seine Hände noch tiefer in die Taschen und nickte genau fünfunddreißigmal, um anzudeuten, daß es wirklich diese Dame und keine andre sei.

„Wahrhaftig“, rief Mrs. Cluppins, „das ist ja eine feine Gesellschaft!“

„Ja, und wenn Sie wüßten, was wir in der Speisekammer haben, dann würden Sie das erst recht sagen“, versetzte Master Bardell.

„Was denn, Tommy?“ forschte Mrs. Cluppins liebkosend „Nicht wahr, mir sagst du’s doch, Tommy?“

„Nein, nein“, erwiderte Master Bardell, schüttelte den Kopf und hüpfte wieder auf der Türschwelle auf und ab. „Die Mutter hat gesagt, ich darf nicht. Ich krieg auch was davon.“ Und voll Freude über diese Aussichten machte sich das kluge Kind lebhaft wieder an seine Tretmühle. Während dieses Verhörs mit dem Kleinen hatten Mr. und Mrs. Raddle mit dem Kutscher einen Streit wegen des Fuhrlohns, und als der Sieg sich für den letzteren entschied, wankte Mrs. Raddle die Treppe hinauf.

„Aber, Marianne! Was ist denn geschehen?“ rief Mrs. Cluppins.

„Mir zittern die Knie vor Aufregung, Betty“, stöhnte Mrs. Raddle. „Raddle ist doch gar kein Mann; alles überläßt er mir.“

Das war nicht edel an dem unglücklichen Mr. Raddle gehandelt, der doch bei Beginn des Streits von seiner sanften Ehehälfte zur Seite gestoßen worden war und den peremtorischen Befehl erhalten hatte, den Mund zu halten. Gleichwohl war ihm keine Gelegenheit vergönnt, sich zu verteidigen, denn an Mrs. Raddle zeigten sich unzweideutige Symptome einer nahenden Ohnmacht, und als Mrs. Bardell, Mrs. Sanders, die neue Mieterin, und ihre Magd vom Zimmerfenster aus dies bemerkten, stürzten sie wie die Geier hinab und führten sie ins Haus, alle zugleich auf sie einsprechend und voll rührenden Mitgefühls.

„Ach, das arme Ding!“ jammerte Mrs. Rogers. „Ich kann mir nur zu gut denken, wie es ihr zumute sein mag.“

„Das arme Ding! Ja, ich kann mir’s auch denken“, stimmte Mrs. Sanders ein.

„Aber was hat’s denn gegeben?“ fragte Mrs. Bardell.

„Ja, was hat Sie so angegriffen, Ma’am?“ fragte Mrs. Rogers.

„Ach, ich bin abscheulich mißhandelt worden“, jammerte Mrs. Raddle, und sämtliche Damen warfen entrüstete Blicke auf Mr. Raddle.

„Die Sache ist die…“, wollte der unglückliche Ehegatte erklären.

„Sie würden besser daran tun, sie ganz uns zu überlassen, Raddle“, unterbrach ihn Mrs. Cluppins. „So lange Sie da sind, wird es ihr nicht besser.“

Sämtliche Damen stimmten dieser Ansicht natürlich bei. Mr. Raddle wurde aus dem Zimmer getrieben und angewiesen, sich im hintern Hofraum zu ergehen, was er auch etwa eine Viertelstunde getan hatte, als Mrs. Bardell ihm mit ernster Miene ankündigte, er könne jetzt kommen, müsse aber im Benehmen gegen seine Frau die äußerste Rücksicht beobachten. Sie wisse, daß er es nicht böse meine, aber Marianne sei eine gar zarte Natur, und wenn er sie nicht aufs sorgsamste behandle, so könne er sie verlieren, wenn er am wenigsten daran denke.

Mr. Raddle hörte dies alles mit großer Unterwürfigkeit an und kehrte, gebändigt und fromm wie ein Lamm, sogleich ins Zimmer zurück. „Nun, Mrs. Rogers“, begann Mrs. Bardell, „Sie sind, glaube ich, noch gar nicht vorgestellt worden. – Mr. Raddle, Ma’am; Mrs. Cluppins, Ma’am; Mrs. Raddle, Ma’am.“

„Mrs. Cluppins‘ Schwester“, fügte Mrs. Sanders erläuternd hinzu.

„Freut mich“, sagte Mrs. Rogers gnädig – sie war nämlich Mieterin und durfte sich daher erlauben, herablassend zu sein. „Ah, freut mich.“

Mrs. Raddle lächelte süß, Mr. Raddle verbeugte sich, und Mrs. Cluppins sagte, sie schätze sich äußerst glücklich, die Bekanntschaft einer Dame wie Mrs. Rogers zu machen, von der sie schon soviel Vorteilhaftes gehört habe – ein Kompliment, das die Dame mit Huld entgegennahm.

„Nun, Mr. Raddle“, nahm Mrs. Bardell das Wort, „Sie werden sich gewiß hochgeehrt fühlen, daß Sie und Tommy die einzigen Herren sind, die so viele Damen auf dem Weg nach dem Spanischen Garten in Hampstead begleiten dürfen. Nicht wahr, Mrs. Rogers?“

„Oh, selbstverständlich, Ma’am“, rief Mr. Raddle, sich die Hände reibend und eine leise Neigung verratend, ein bißchen lustig zu werden. „In der Tat, um die Wahrheit zu gestehen, ich sagte, als wir in der Droschke …“

Bei Wiederholung dieses Wortes, das so viele schmerzhafte Erinnerungen wecken mußte, drückte Mrs. Raddle ihr Taschentuch aufs neue an die Augen und stieß einen halbunterdrückten Schrei aus, so daß Mrs. Bardell Mr. Raddle mit finsterem Stirnrunzeln zu erkennen gab, er würde besser tun, zu schweigen, und dem Mädchen der Mrs. Rogers einen Wink erteilte, den Wein zu bringen.

Das war das Signal zur Enthüllung der in der Speisekammer verborgenen Schätze, die aus verschiedenen Platten Apfelsinen und Biskuit bestanden, nebst einer Flasche alten Portwein – zu einem Schilling und neun Pence – und einer andern von dem berühmten ostindischen Sherry zu vierzehn Pence. Nachdem Mrs. Cluppins noch einen großen Schrecken ausgestanden hatte durch einen Versuch Tommys, auszuplaudern, wie sie ihn über den Inhalt der Speisekammer hatte ausfragen wollen – ein Versuch, der zum Glück daran scheiterte, daß der liebe Junge sich bei dem alten Portwein verschluckte und beinah erstickte.

Endlich brach die Gesellschaft auf, um einen Landauer nach Hampstead zu nehmen. Ein paar Stunden später langten alle wohlbehalten im Spanischen Teegarten an, und des unglücklichen Mr. Raddles erster Fehlgriff, der seiner Gemahlin beinahe einen Rückfall zuzog, war, sieben Portionen Tee zu bestellen, wo doch, wie die Damen alle einstimmig bemerkten, nichts leichter gewesen wäre, als Tommy aus irgendeiner andern beliebigen Tasse mittrinken zu lassen, wenn der Kellner gerade weggesehen hätte.

Indessen ließ sich die Sache nun einmal nicht mehr ändern; das Teebrett kam mit sieben Ober- und sieben Untertassen und ebenso vielen Portionen Brot und Butter. Mrs. Bardell wurde einstimmig zur Präsidentin ernannt, Mrs. Rogers goß sich zu ihrer Rechten, Mrs. Raddle zu ihrer Linken hin, und der Schmaus ging mit großer Fröhlichkeit vor sich.

„Wie herrlich es doch auf dem Lande ist!“ seufzte Mrs. Rogers. „Ich möchte das ganze Jahr da leben.“

„Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein, Ma’am“, fiel Mrs. Bardell schnell ein; denn aus Rücksicht auf ihre zu vermietenden Wohnräume war es durchaus nicht ratsam, solche Ansichten zu unterstützen. „Es würde Ihnen sicher nicht gefallen, Ma’am.“

„Meiner Ansicht nach“, bekräftigte die kleine Mrs. Cluppins, „sind Sie viel zu lebhaft und umworben, um gerne auf dem Lande zu wohnen, Ma’am.“

„Ja, das mag sein, Ma’am, das mag sein“, seufzte die Bewohnerin des ersten Stocks.

„Für einsame Leute, wo niemand haben, der für sie sorgt oder für den sie selbst sorgen müssen, oder die gemütskrank sind oder so“, bemerkte Mr. Raddle, mit krampfhafter Lustigkeit um sich blickend, „für solche Leute ist das Landleben ganz gut. Das Land ist für ein verwundetes Herz, pflegt man zu sagen.“

Der Unglückliche hätte alles in der Welt zur Sprache bringen können, nur gerade das nicht. Mrs. Bardell brach prompt in Tränen aus und bat, man möge sie augenblicklich vom Tisch wegführen, worauf ihr süßer Sprößling jämmerlich zu schreien begann.

„Sollte man es glauben, Ma’am“, wandte sich Mrs. Raddle ingrimmig an die Mieterin des ersten Stockes, „sollte man es glauben, daß man einen so rohen Menschen zum Mann haben kann, der imstande ist, den ganzen Tag mit den Gefühlen des weiblichen Herzens Spott zu treiben?“

„Aber, meine liebe Frau“, stammelte Mr. Raddle. „Ich habe es doch nicht bös gemeint!“

„Nicht bös gemeint!“ wiederholte Mrs. Raddle mit unaussprechlicher Verachtung. „Geh mir aus den Augen, ich kann dich nicht mehr ansehen, du Scheusal.“

„Sie dürfen sich nicht so aufregen, Marianne!“ mahnte Mrs. Cluppins. „Sie sollten wirklich auf sich selbst mehr Rücksicht nehmen. – Gehen Sie jetzt, Raddle, Sie machen der Ärmsten immer Kummer.“

„Sie hätten besser daran getan, Sir, Ihren Tee für sich allein zu trinken“, schloß sich Mrs. Rogers an, die dampfende Kanne aufs neue handhabend.

Mrs. Sanders, ihrer Gewohnheit gemäß mit dem Butterbrot beschäftigt, drückte dieselbe Ansicht aus, und Mr. Raddle zog sich demgemäß in die Einsamkeit zurück.

Es dauerte nicht lange, da kam Mrs. Bardell wieder zu sich, stellte Tommy wieder auf den Boden, wunderte sich, daß sie habe so närrisch sein können, und schenkte sich wieder Tee ein. In diesem Augenblick vernahm man das Gerassel herannahender Räder. Die Damen blickten auf und sahen eine Droschke am Gartentor halten.

„Da kommt noch mehr Gesellschaft“, rief Mrs. Sanders neugierig.

„Es ist ein Herr“, bemerkte Mrs. Raddle.

„Aber das ist doch bestimmt Mr. Jackson, der junge Schreiber von Dodson und Fogg!“ rief Mrs. Bardell. „Himmel noch mal! Sicher hat Mr. Pickwick die Entschädigung gezahlt.“

„Oder er will Sie jetzt heiraten?“ riet Mrs. Cluppins.

„Himmel, wie langsam der Herr ist!“ rief Mrs. Rogers. „Warum tummelt er sich denn nicht?“

Gerade während sie diese Worte sprach, wandte sich Mr. Jackson, nachdem er einige Bemerkungen an einen schäbig gekleideten Mann in schwarzen Hosen gerichtet hatte, der soeben mit einem dicken Eschenstab in der Hand aus dem Wagen aufgetaucht war, um und ging, die Haare unter den Rand seines Hutes streichend, direkt auf die Damen zu.

„Was gibt’s. Is was Neues vorgefallen?“ rief ihm Mrs. Bardell voll Eifer entgegen.

„Ganz und gar nichts, Ma’am“, erwiderte Mr. Jackson. „Wie befinden Sie sich, meine Damen? Ich muß um Verzeihung bitten, wenn ich ungelegen komme; aber das Geschäft, meine Damen, das Geschäft!“

Mr. Jackson lächelte, verbeugte sich und strich sein Haar abermals hinauf. Mrs. Rogers flüsterte Mrs. Raddle zu, er sei wirklich ein scharmanter junger Mann.

„Ich war in der Goswellstreet“, fuhr Jackson fort, „und da ich von dem Dienstmädchen hörte, daß Sie hier seien, nahm ich mir sogleich eine Droschke und fuhr Ihnen nach. Meine Prinzipale bedürfen Ihrer sogleich in der Stadt, Madam.“

„Um Gottes willen!“ rief Mrs. Bardell, ganz erschrocken über diese plötzliche Mitteilung.

„Jaja“, sagte Jackson und biß sich in die Lippen, „es ist eine sehr dringende Sache, die keine Umstände duldet. Dodson hat es mir ausdrücklich eingeschärft, und Fogg ebenfalls. Ich habe die Droschke eigens deswegen genommen, um Sie nach London zurückzufahren.“

„Seltsam!“ rief Mrs. Bardell.

Die Damen erklärten es ebenfalls für sehr seltsam, sprachen aber einstimmig ihre Ansicht dahin aus, die Sache müsse von großer Wichtigkeit sein, sonst würden Dodson und Fogg nicht nach ihr geschickt haben, und wegen dieser Dringlichkeit des Geschäfts solle sie sich nur unverzüglich in die Kanzlei begeben.

Es war Mrs. Bardell keineswegs unlieb, daß ihre Rechtsfreunde so erschrecklich dringend nach ihr verlangten, denn sie glaubte dadurch sowohl überhaupt als namentlich auch in den Augen der Bewohnerin ihres ersten Stocks bedeutend an Wichtigkeit zu gewinnen, ein Gedanke, der ihrer Eitelkeit nicht wenig schmeichelte. Sie zierte sich ein bißchen, stellte sich, als ob es ihr höchst unangenehm sei und sie sich nicht entschließen könne, kam aber doch zuletzt zu dem Schluß, sie glaube, gehen zu müssen.

„Aber wollen Sie nach Ihrer Fahrt nicht eine kleine Erfrischung einnehmen, Mr. Jackson?“ drängte sie.

„Danke vielmals, habe wirklich keine Zeit zu verlieren. Auch habe ich einen Freund bei mir“, erwiderte Jackson und blickte nach dem Mann mit dem Eschenstab.

„So bitten Sie doch Ihren Freund, hierherzukommen, Sir“, schlug Mrs. Bardell vor.

„Nein – wirklich – ich danke“, lehnte Mr. Jackson verlegen ab. „Er ist an Damengesellschaft nicht gewöhnt und ein bißchen blöde. Aber wollen wir nicht lieber aufbrechen?“

Mrs. Sanders und Mrs. Cluppins beschlossen sofort, Mrs. Bardell und Tommy zu begleiten und die übrigen dem Schutz Mr. Raddles zu überlassen, und verfügten sich zu dem Wagen.

„Isaak“, sagte Jackson, als Mrs. Bardell sich anschickte, einzusteigen, und blickte dabei den Mann mit dem Eschenstab eigentümlich an, der auf dem Bock saß und eine Zigarre rauchte.

„Sir?“

Dies ist Mrs. Bardell!“

„Weiß ich schon lange“, meinte der Mann.

Mrs. Bardell stieg ein, die Damen, Mr. Jackson und Tommy gleichfalls, und fort ging’s. Mrs. Bardell konnte dabei nicht umhin, sich allerhand Gedanken darüber zu machen, wer Mr. Jacksons Freund wohl sein könne.

„Eine verdrießliche Sache das mit den Prozeßkosten“, begann Jackson, als Mrs. Cluppins und Mrs. Sanders eingenickt waren. „Die Kosten für Ihren Prozeß, meine ich.“

„Ach, das ist mir ja so peinlich, daß sie nicht drankommen können“, versetzte Mrs. Bardell. „Aber wenn ihr juristischen Herren solche Sachen auf Spekulation macht, dann müßt ihr euch eben hin und wieder auch einen Verlust gefallen lassen.“

„Sie haben aber doch, soviel ich weiß, nach dem Prozeß ein Cognovit für die Kosten ausgestellt“, sagte Jackson.

„Ja, aber bloß der Form wegen.“

„Soso“, versetzte Jackson trocken, „der Form wegen! Soso!“

Sie fuhren weiter, und Mrs. Bardell nickte ebenfalls ein. Nach einiger Zeit wurde sie durch das Anhalten der Kutsche plötzlich aufgeweckt. „Heiliger Himmel!“ rief die Dame. „Sind wir denn schon da?“

„Wir fahren nicht ganz so weit“, erwiderte Jackson. „Haben Sie nur die Güte, auszusteigen.“

Mrs. Bardell gehorchte schlaftrunken. Es war ein sonderbarer Platz; eine große Mauer, mit einem Tor in der Mitte, und innen brannte ein Gaslicht.

„Nun, meine Damen“, rief der Mann mit dem Eschenstab in die Kutsche hinein und rüttelte Mrs. Sanders aus dem Schlaf, „kommen Sie!“

Mrs. Sanders weckte ihre Freundin und stieg aus. Mrs. Bardell war, an Jacksons Arm und Tommy bei der Hand führend, bereits zum Portal gegangen. Die übrigen folgten ihnen.

Der Raum, in den sie jetzt traten, sah noch weit sonderbarer aus als der Eingang. Warum standen so viele Leute herum und starrten sie so an!? „Wo sind wir denn?“ fragte Mrs. Bardell und blieb er1 staunt stehen.

„Bloß in einem unsrer öffentlichen Büros“, erwiderte Jackson, drängte sie schnell über die Schwelle und blickte zurück, ob die übrigen Damen nachfolgten.

„Geben Sie wohl acht, Isaak!“

„Machen Sie sich man keine Sorgen“, erwiderte der Mann mit dem Eschenstab. Die Türe wurde rasch zugeschlagen, und alle stiegen eine kleine Treppe hinab.

„So, jetzt wären wir da. Es ist alles nach Wunsch gegangen, Mrs. Bardell“, sagte Jackson voll Triumph.

„Was meinen Sie damit?“ fragte Mrs. Bardell ängstlich.

„Nichts Besonderes“, erwiderte Jackson und zog sie ein bißchen beiseite. „Erschrecken Sie nicht, Mrs. Bardell. Es gibt keinen zartfühlenderen Mann als Dodson und keinen billigdenkenderen als Fogg. Als Geschäftsleute hatten sie ihre Pflicht, Sie wegen der Kosten pfänden zu lassen; aber sie wollten dabei um jeden Preis Ihre Gefühle möglichst schonen. Es muß doch tröstlich für Sie sein, daß es so glatt gegangen ist! Wir sind in der Fleet, Ma’am. Wünsche Ihnen gute Nacht, Mrs. Bardell. – Gute Nacht, Tommy.“

Da Jackson jetzt in Gesellschaft des Mannes mit dem Eschenstab davoneilte, führte ein andrer Mann, mit einem Schlüssel in der Hand, der bisher untätig zugesehen, die bestürzten Damen an eine zweite kleine Treppe, die zu einem Tor führte.

Mrs. Bardell schrie laut auf, Tommy heulte, Mrs. Cluppins schauerte zusammen, und Mrs. Sanders nahm ohne weiteres Reißaus, denn vor ihnen stand – ‚der schwer beleidigte Mr. Pickwick, eben auf seinem nächtlichen Spaziergang begriffen, und neben ihm lehnte Samuel Weller und zog, als er Mrs. Bardell erblickte, mit spöttischer Ehrerbietung den Hut, während sein Gebieter ihr unwillig den Rücken kehrte.

„Vexieren Sie die Frau nicht“, verwies der Schließer Mr. Weller, „sie is eben erseht ankommen.“

„Als Gefangene?“ fragte Sam und setzte schnell den Hut wieder auf. „Wer sind die Kläger? Warum? Sprich, alter Knabe!“

„Dodson und Fogg“, brummte der Mann. „Exekution wegen Prozeßkosten.“

„He, hallo, Hiob, Hiob!“ schrie Sam und stürzte in den Gang. „Laufen Sie so schnell Sie können zu Mr. Perker. Ich muß ihm sofort sprechen. Das kann was Feines werden. Ein Kapitalspaß! Hurra! Juchhe! Wo ist der Gouverneur?“

Aber alle diese Fragen blieben unbeantwortet; denn Hiob war gleich nach Empfang seines Auftrags wie toll davongerannt.

Mrs. Bardell aber war – diesmal im Ernst – in Ohnmacht gesunken.

Siebenunddreißigstes Kapitel


Siebenunddreißigstes Kapitel

Mr. Samuel Weller wird zum Postillion d’amour ernannt und versieht sein Amt als solcher höchst gewissenhaft.

Am ganzen folgenden Tag behielt Sam Mr. Winkle scharf im Auge, und so unangenehm dieser strenge Gewahrsam für Mr. Winkle auch war, so hielt er es doch für besser, sich darein zu fügen, als sich der Gefahr auszusetzen, an Händen und Füßen gebunden nach Bath geschafft zu werden. Zum Glück trat abends um acht Uhr Mr. Pickwick in eigener Person ins Gastzimmer des „Busches“ und sagte, Sam zulächelnd, alles sei in Ordnung und er brauche jetzt nicht länger Schildwache zu stehen.

„Ich hielt es für besser, selbst zu kommen“, fügte er zu Mr. Winkle gewendet hinzu, während ihm Sam seinen Überrock und Reiseschal abnahm, „um mich, bevor ich die Verwendung Sams in dieser Sache zugebe, zu vergewissern, daß es Ihnen mit der jungen Dame auch vollkommen ernst ist.“

„So wahr ich lebe“, beteuerte Mr. Winkle voll Feuer.

„Bedenken Sie wohl“, sagte Mr. Pickwick mit strahlenden Augen, „daß wir sie im Hause unseres vortrefflichen gastlichen Freundes getroffen haben. Es wäre ein schlechter pank, wenn Sie mit der Neigung dieser jungen Dame ein leichtfertiges, unüberlegtes Spiel treiben wollten. Ich würde das nie zugeben, Sir – niemals.“

„Ich habe doch keine solche Absicht“, rief Mr. Winkle mit Wärme. »Ich habe mir die Sache schon lange wohl überlegt und fühle, daß all mein Glück in Arabella beschlossen ist.“

„Dann steckt es in ’nem sehr kleinen Behälter, Sir“, fiel Mr. Weller mit scherzhaftem Lächeln ein.

Mr. Winkle blickte, über diese Unterbrechung gelinde entrüstet, auf, und Mr. Pickwick verwies seinem Bedienten unwillig, mit einem der edelsten Gefühle des Menschenherzens Spott zu treiben.

Mr. Winkle erzählte sodann, was in bezug auf Arabella Wischen ihm und Mr. Ben Allen vorgegangen, erklärte, er Busse unbedingt mit der jungen Dame zusammenkommen, um ihr seine Leidenschaft in aller Form zu gestehen, und drückte seine auf gewisse dunkle Winke und Andeutungen des besagten Ben gegründete Überzeugung aus, sie werde jedenfalls in der Nähe der Dünen eingesperrt gehalten; das sei alles, was er wisse oder vermute.

Mit diesem schwachen Leitfaden ausgerüstet, sollte nun Mr. Weller am nächsten Morgen eine Entdeckungsreise antreten! Es wurde festgesetzt, daß Mr. Pickwick und Mr. Winkle, die kein übertriebenes Vertrauen auf ihre eigenen Kräfte besaßen, einstweilen die Stadt durchwandern und zufällig bei Mr. Bob Sawyer vorsprechen sollten, um dort vielleicht über die junge Dame etwas zu sehen oder zu hören zu bekommen.

Sam Weller ging also am nächsten Morgen auf die Suche, keineswegs eingeschüchtert durch die entmutigenden Aussichten, die vor ihm lagen. Er wandelte eine Straße hinauf und eine hinab – das heißt besser gesagt, einen Hügel hinauf und einen andern hinunter, da bekanntlich in Clifton alles Hügel ist – ohne auf irgend etwas zu stoßen, was das geringste Licht auf den Gegenstand seiner Forschungen gewerfen hätte. Mannigfaltig waren die Zwiegespräche, c];e Sam mit Bedienten einleitete, die Pferde spazierenritten, und mit Kindermädchen, die mit ihren Kindern in den Gassen herumschlenderten; allein er vermochte aus diesen beiden Arten von Menschenkindern nichts herauszulocken, was den mindesten Bezug auf seine so schlau betriebenen Nachforschungen gehabt hätte. Es gab wohl in sehr vielen Häusern sehr viele junge Damen, bei denen die männlichen und weiblichen Dienstboten scharfsichtig genug gemerkt hatten, daß sie in irgend jemand sterblich verliebt oder jedenfalls im Begriff seien, bei der nächsten besten Gelegenheit es zu werden – da aber unter diesen jungen Damen keine Miß Arabella war so blieb Sam so weise wie zuvor. Er arbeitete sich gegen einen starken Seewind die Dünen hindurch, voll Verwunderung, warum es in diesem Teile des Landes nötig sei, mit beiden Händen den Hut festzuhalten, und kam endlich in eine schattige Gegend, wo ihm mehrere kleine Landhäuser von ruhigem, abgeschlossenem Aussehen in die Augen fielen. Am Ende einer langen Sackgasse faulenzte ein Reitknecht in Halblivree, der sich offenbar einbildete, er stehe im Begriff, mit einem Spaten und einem Schiebkarren etwas zu arbeiten.

Sam dachte, er könne mit diesem Reitknecht ebensogut sprechen wie mit irgendeinem andern Menschen, zumal da er etwas müde vom Gehen war und gegenüber von dem Schiebkarren einen recht angenehmen breiten Stein zum Sitzen erblickte. Er schlenderte also das Gäßchen hinab, setzte sich und leitete mit der ihm eigentümlichen Ungezwungenheit ein Gespräch ein.

„Morgen, alter Freund“, begann er. „Nachmittag, wollen Sie wohl sagen“, erwiderte der Stallknecht.

„Sie haben recht, alter Freund“, sagte Sam, „ich wollte Nachmittag sagen. „Wie geht’s Ihnen?“

„Nicht viel besser, weil ich Sie sehe“, erwiderte übelgelaunt der Reitknecht.

„Das is höchst sonderbar“, meinte Sam, „Sie sehen doch so xmgemein lustig aus und scheinen überhaupt so ’n munterer Bursche zu sein, daß es ’ne wahre Lust ist, Ihnen anzusehen.

Der verdrießliche Groom machte ein noch verdrießlicheres Gesicht, jedoch nicht grämlich genug, um irgendeine Wirkung auf Sam hervorzubringen, der sogleich sehr angelegentlich zu fragen begann, ob sein Herr nicht Walker heiße?

„Nein“, antwortete der Groom.

„Oder Brown?“

„Nein.“

„Oder Wilson?“

„Auch nicht.“

„Gut“, erwiderte Sam, „denn habe ich mir ebend geirrt, und er hat nich die Ehre meiner Bekanntschaft; ich dachte schon vorher, daß er die nich hat. Bleiben Sie bloß nich etwa aus Höflichkeit gegen mir hier draußen“, setzte er hinzu, als der Groom den Karren hineinschob und sich anschickte, das Tor zu schließen, „’s geht nichts über die Bequemlichkeit, alter Knabe; ich entschuldige Ihnen gerne.“

„Und ich möchte Ihnen gerne für ’ne halbe Krone den Schädel einschlagen“, brummte der griesgrämige Stallknecht und schloß den eisernen Torflügel.

„Könnte es nich so billig geschehen lassen“, entgegnete Sam. „Würde Ihnen wenigstens ’ne lebenslängliche Verköstigung eintragen und wäre daher zu wohlfeil. Melden Sie im Hause meine Empfehlungen. Sagen Sie Bescheid, sie sollen nich mit dem Essen auf mich warten und auch nichts aufheben; es wird doch bloß kalt, bis ich komme.“

Der Groom schnitt ein falsches Gesicht, murmelte etwas zwischen den Zähnen und schlug ärgerlich die Tür hinter sich zu, der zärtlichen Bittf Sams, ihm wenigstens eine Locke von seinen Haaren zur Erinnerung da zu lassen, nicht die geringste Beachtung schenkend.

Sam blieb auf dem großen Stein sitzen, besann sich, was wohl jetzt am besten zu tun wäre, und wälzte eben in seinem Geist den Plan herum, fünf Meilen im Umkreis von Bristol an alle Türen anzuklopfen, indem er täglich etwa einhundertfünfzig oder zweihundert erledigte, um dadurch Miß Arabella ausfindig zu machen, als ihm der Zufall unerwartet etwas in den Weg warf, was er bei jahrelangem Sitzen auf Stein nicht hätts herausgrübeln können.

Zu beiden Seiten der Gasse, in welcher er saß, sah man mehrere Gartentore, die jeweils zu einem Hause führten. Da diese Gärten groß, lang und dicht mit Bäumen bepflanzt waren, so standen die Häuser nicht bloß ziemlich weit voneinander entfernt, sondern waren auch zum größten Teile beinahe unsichtbar. Sam betrachtete gerade geistesabwesenden Blicks das staubige Tor zunächst demjenigen, durch das der Groom verschwunden, und war in tiefes Nachsinnen über die Schwierigkeiten seines Unternehmens versunken, als das Tor sich öffnete und ein Mädchen auf die Gasse heraustrat, um einige Teppiche auszuschütteln.

Sam war so durchaus mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er höchstwahrscheinlich weiter keine Notiz von der jungen Dame genommen, sondern vielleicht nur den Kopf aufgerichtet und bemerkt hätte, sie habe ein recht hübsches Figürchen, wäre nicht seine Galanterie gewaltig durch die Bemerkung erregt worden, daß sie keinen Gehilfen hatte und die Teppiche für ihre schwache Kraft offenbar zu schwer schienen. Mr. Weller war in seiner Art ein höchst galanter Gentleman, und kaum hatte er diesen Umstand gewahrt, als er sich schleunigst von dem breiten Stein erhob und auf die Dame zuschritt.

„Mein liebes Kind“, sagte er mit großer Ehrerbietung, auf sie zuschlendernd, „Sie schaden offenbar Ihrer über alle Maßen schönen Figur, wenn Sie die Teppiche alleine ausschütteln. Werde Ihnen helfen.“

Die junge Dame, die sich züchtig gestellt hatte, als wüßte sie nichts von der Nähe eines Gentleman, drehte sich bei dieser Anrede um – ohne Zweifel, um das Anerbieten eines ihr völlig Unbekannten abzulehnen, aber statt zu sprechen, fuhr sie zurück und stieß einen halbunterdrückten Schrei aus. Sam war nicht viel weniger verblüfft, denn in dem Angesicht der wohlgestalteten jungen Dame erkannte er die wohlbekannten Züge des hübschen Hausmädchens von Mr. Nupkins. „Hoho, Mary, mein Schatz“, rief er. „Sieh einer an, der Mr. Weller“, erwiderte Mary, „wie Sie einen erschrecken können!“

Sam erwiderte nichts, wenigstens nicht mit Worten, denn Mary sagte nach einer kurzen Pause: „Lassen Sie mich, Sie Schlimmer.“ Der Umstand, daß ihm sein Hut wenige Augenblicke zuvor vom Kopfe gefallen war, ließ darauf schließen, daß Küsse und Umarmungen vorgefallen sein mußten. „Aber wie sin Sie denn hierhergekommen?“ fragte Mary, als das Gespräch, das diese Unterbrechung erlitten, wieder seinen Anfang nahm.

„Bloß, um nach Ihnen zu sehen, mein Schätzchen“, erwiderte Mr. Weller, bei dem die Leidenschaft den Sieg über die Wahrheitsliebe davontrug. „Woher haben Sie denn gewußt, daß ich hier bin? Wer kann Ihnen bloß gesagt haben, daß ich in Ipswich zu einer anderen Herrschaft gegangen bin, die dann hierher übergesiedelt ist, Mr. Weller?“

„Das möchten Sie wohl gern wissen“, sagte Sam mit pfiffigem Blick, „das möchten Sie gerne wissen. Wer, meinen Sie wohl, hat’s mir gesagt?“ „Mr. Muzzle vielleicht?“ fragte Mary.

„Nö, nö“, erwiderte Sam mit feierlichem Kopfschütteln, „Muzzle nicht.“

„Dann muß es die Köchin gewesen sein.“

„Versteht sich.“

„So was habe ich meinen Lebtag nicht gehört“, rief Mary aus.

„Ich auch nicht“, sagte Sam. „Aber mein Schatz“ – hier wurden Sams Manieren ungemein zärtlich –, „mein Schatz, ich habe da grade ’n Geschäft, wo äußerst pressant is. Es is da einer von meines Prinzipals Freunden – Mr. Winkle –, Sie erinnern sich doch, was?“

„Der mit dem grünen Rock?“ fragte Mary. „Ja, ja, weiß schon.“

„Na“, fuhr Sam fort, „der is schauderhaft verliebt. Rappelt förmlich.“

„Jessas!“ rief Mary interessiert.

„Wäre alles recht schön, aber was hilft’s, wenn wir das junge Frauenzimmer nich auftreiben können?“ sagte Sam und stattete unter mancherlei Abschweifungen über Marys Schönheit und die unaussprechlichen Qualen, die er ausgestanden, seit er sie zum letztenmal gesehen habe, einen getreuen Bericht über Mr. Winkles derzeitige Lage ab.

„’s is nicht zu glauben“, rief Mary.

„Is es auch nich“, erwiderte Sam, „und ich laufe darum wie der ewige Jude – der Wandersportsmann, wo Se auch wohl schon von gehört haben, mein Schatz, wo immer mit der Zeit um die Wette läuft und nich sterben kann – und suche nach Miß Arabella Allen.“

„Was für eine Miß?“ fragte Mary höchst erstaunt.

„Miß Arabella Allen.“

„Jessas“, rief Mary, nach dem Gartentore deutend, das der griesgrämige Stallknecht hinter sich verschlossen hatte. „Das is ihr Haus dort, und sie is schon seit sechs Wochen hier. Die obere Hausmagd, wo zugleich das Stubenmädchen von der gnä Frau is, hat’s mir neulich zur Waschküche raus gesagt, als die Herrschaft noch geschlafen hat.“

„Sapperlot, also grade neben Ihnen?“ rief Sam.

„Freilich, freilich.“

Mr. Weller war durch diese Nachricht so überwältigt, daß er es für unumgänglich notwendig hielt, mit beiden Armen seine schöne Auskunfterteilerin zu umschlingen, und erst nach verschiedenen kleinen Liebespassagen hatte er sich wieder gehörig gesammelt, um zur Sache zurückkommen zu können.

„Donnerwetter“, sagte er endlich, „wenn das nicht über die Hutschnur geht, denn geht überhaupt nichts mehr drüber, wie der Lordmajor sagte, als der Erste Staatssekretär nach dem Essen die Gesundheit von seiner Frau ausbrachte. – Also grade neben Ihrem Haus? Na, und ich habe eine Botschaft für ihr auszurichten, mit der habe ich mir schon den ganzen Tag abgeschunden.“

„Aber die können Sie jetzt noch nicht ausrichten“, erklärte Mary, „weil sie bloß abends im Garten spazierengeht, und jedesmal bloß ganz kurze Zeit; ausgehen tut sie überhaupt nicht ohne die alte Dame.“

Sam sann einige Augenblicke nach und entwarf folgenden Operationsplan: Er wollte in der Dämmerung, zu der Zeit also, in welcher Arabella täglich ihre Spaziergänge machte, wiederkommen. Mary sollte ihn in den Garten ihrer Herrschaft einlassen, und dann wollte er, geschützt durch die überhängenden Zweige eines großen Birnbaumes, unbemerkt über die Mauer klettern, seinen Auftrag ausrichten und, wenn irgend möglich, für den folgenden Abend zur gleichen Zeit eine Zusammenkunft zwischen dem Fräulein und Mr. Winkle vereinbaren.

Nachdem er diesen Plan mit großer Eile auseinandergesetzt, half er Mary bei ihrem lange hinausgeschobenen Geschäft des Teppichausschütteins. Das Teppichausschütteln ist nicht halb so unschuldig wie es aussieht; das Schütteln selbst zwar mag etwas ganz Harmloses sein, aber das Zusammenlegen ist eine sehr verfängliche Sache. Solange das Schütteln dauert und beide Parteien auf Teppichlänge voneinander getrennt sind, ist es eine so unschuldige Ergötzlichkeit, wie man sich nur eine denken kann; wenn aber das Zusammenlegen beginnt und die Entfernung der Schüttelnden von der Hälfte der früheren Länge zu einem Viertel derselben, sodann zu einem Achtel, endlich zu einem Sechzehntel und, wenn der Teppich lang genug ist, zu einem Zweiunddreißigstel zusammenschrumpft, wird es höchst gefährlich. Wir vermögen nicht genau zu bestimmen, wie viele Teppiche im vorliegenden Falle zusammengelegt wurden, aber das können wir zu behaupten wagen, daß Sam das hübsche Mädchen so viele Male küßte, als Teppiche da waren.

Mr. Weller labte sich mit Maß und Ziel in der nächsten Kneipe, bis es dunkel zu werden anfing, und kehrte sodann in die Sackgasse zurück. Nachdem ihn Mary in den Garten gelassen und ihm mehrfache Ermahnungen in betreffs Haisund Beinbruch erteilt hatte, kletterte er auf den Birnbaum, um Miß Allen zu erwarten.

Er mußte so lange unruhig ausharren, daß er schon glaubte, sie werde nicht mehr kommen, als er auf einmal leichte Fußtritte auf dem Kies vernahm und bald darauf Arabella erblickte, wie sie nachdenklich den Garten herabkam. Als sie in die Nähe des Baumes gelangte, begann Sam, um seine Anwesenheit so zart wie möglich zu erkennen zu geben, allerhand diabolische Töne auszustoßen, wie man sie allenfalls bei jemand natürlich finden könnte, der von frühester Kindheit an fortwährend an Halsentzündung, Krupp und Keuchhusten gelitten hat.

Die junge Dame warf einen hastigen Blick nach der Stelle, von wo die furchtbaren Laute kamen, und ihr anfänglicher Schreck wurde keineswegs dadurch vermindert, daß sie einen Mann zwischen den Zweigen erblickte. Sie wäre sicherlich entflohen und hätte Lärm geschlagen, allein glücklicherweise nahm ihr die Furcht alle Kraft, sich zu rühren, und sie sank auf einen zum Glück dastehenden Gartenstuhl nieder.

„Wird die doch einfach ohnmächtig“, monologisierte Sam in großer Verlegenheit. „Is aber auch ’n dolles Ding, daß diese jungen Frauenzimmer immer mit Gewalt in Ohnmacht fallen wollen, wo es gar nicht angebracht ist. He da, Fräuleinchen, Fräulein Beinsäger, hören Sie denn nich!“

War es nun der Zauber dieses Wortes oder die Kühle der Abendluft oder eine dunkle Erinnerung an Mr. Wellers Stimme, was Arabella wieder zum Leben brachte – jedenfalls erhob sie den Kopf und fragte mit matter Stimme: „Wer ist da, und was wollen Sie?“

„Pst“, warnte Sam, schwang sich auf die Mauer und kauerte sich dort auf einen möglichst kleinen Raum zusammen, „bloß ich bin’s, mein Fräulein, bloß ich.“

„Mr. Pickwicks Bedienter?“ fragte Arabella ernst. „Aufzuwarten, mein Fräulein. Mr. Winkle is hier, und zwar gänzlich meschugge, mein Fräulein.“

„Ah“, sagte Arabella und trat näher an die Mauer. „Ja freilich“, versicherte Sam. „Wir meinten schon gestern nacht, wir müßten ihm ’ne Zwangsjacke anlegen; er rast den ganzen Tag und sagt, wenn er Sie nich vor morgen nacht zu sehen bekommt, ersäuft er sich oder stellt sonst was an.“ „Um Gottes willen!“ rief Arabella und rang die Hände. „Ja, das hat er gesagt, mein Fräulein“, setzte Sam kaltblütig hinzu. „Es is ’n Mann von Wort, und ich bin überzeugt, daß er es tut. Der Beinsäger mit der Brille hat ihm von Ihnen erzählt?“

„Mein Bruder?“ fragte Arabella, der ein Licht aufging. „Ich weiß nich recht, welcher von beiden Ihr Bruder is“, erwiderte Sam. „Is es der Schmutzigere?“

„Jaja, Mr. Weller“, erwiderte Arabella, „aber weiter, weiter; schnell, schnell.“

„Nun gut, mein Fräulein. Er hat also von ihm alles erfahren, und mein Prinzipal meint, wenn er Sie nich sobald wie möglich zu sehen kriegt, würde der Beinsäger so viel Extrablei in den Kopf bekommen, daß die Entwicklung der Organe dadurch beschädigt wird, wenn man se nachher in Spiritus legt.“

„Gott im Himmel, was kann ich denn tun, diesen schrecklichen Streit zu verhindern?“ jammerte Arabella.

„Die Vermutung, daß ’ne frühere Neigung vorliegt, is an der ganzen Geschichte schuld, ’s wäre wirklich das beste, wenn Sie ihn sehen würden, Miß.“

„Aber wie und wo?“ rief Arabella. „Ich darf das Haus nicht allein verlassen. Mein Bruder ist so unfreundlich wie unvernünftig. Ich weiß, wie auffallend Ihnen diese Sprache erscheinen muß, Mr. Weller, aber ich bin sehr, sehr unglücklich –“ und dabei fing die arme Arabella so bitterlich zu weinen an, daß es Sam ganz ritterlich ums Herz wurde.

„Mag es auffallend sein, wie es will, Miß“, rief er feurig, „aber ich kann Ihnen nur sagen, daß ich nich bloß bereit, sondern auch willens bin, alles zu tun, was die Sache zu ’nem guten Ende zu führen vermag. Und wenn man einen von den Beinsägern zum Fenster rauswerfen muß, bin ich der Mann dazu.“

Bei diesen Worten krempelte Sam, um seine Bereitwilligkeit zu bekräftigen, mit augenscheinlicher Gefahr, von der Mauer herabzufallen, seine Ärmel auf.

So schmeichelhaft diese Beweise von gutem Willen auch sein mochten, so weigerte sich doch Arabella zu Sams größter Verwunderung entschieden, davon Gebrauch zu machen. Lange sträubte sie sich mit Entschlossenheit gegen die von Sam so pathetisch verlangte Zusammenkunft mit Mr. Winkle, endlich aber, als die Unterhaltung durch die unwillkommene Ankunft einer dritten Person unterbrochen zu werden drohte, gab sie ihm unter mannigfachen Versicherungen ihrer Dankbarkeit eiligst zu verstehen, es sei doch möglich, daß sie am nächsten Abend um eine Stunde später in den Garten kommen könne. Sam begriff vollkommen, Arabella trippelte, nachdem sie ihn mit ihrem süßesten Lächeln beglückt, anmutig davon und ließ ihn, von Bewunderung ihrer körperlichen und geistigen Vorzüge erfüllt, allein.

Nachdem Mr. Weller sicher von der Mauer herabgeklettert war und nicht vergessen hatte, seinen eigenen Angelegenheiten in diesem Departement einige Augenblicke zu widmen, kehrte er so schnell wie möglich in den „Biisch“ zurück, wo seine lange Abwesenheit bereits großes Kopfzerbrechen und Unruhe erregt hatte.

„Wir müssen bedächtig zu Werke gehen“, meinte Mr. Pickwick, nachdem er Sams Bericht mit Aufmerksamkeit angehört, „nicht um unsrer selbst, sondern um der jungen Dame willen. Wir müssen sehr vorsichtig sein.“

Wir?“ sagte Mr. Winkle mit scharfer Betonung.

Mr. Pickwicks Gesicht verdüsterte sich vor Unwillen über den Ton dieser Bemerkung, nahm jedoch bald wieder den ihm eigentümlichen wohlwollenden Ausdruck an, als er erwiderte: „Allerdings, Sir, wir, denn ich werde Sie begleiten „

„Sie?“

„Allerdings, ich„, entgegnete Mr.Pickwick voll Milde. „Als die Dame Ihnen das Rendezvous bewilligte, hat sie einen vielleicht natürlichen, aber immerhin sehr unklugen Schritt getan. Wenn ich dabei bin, als Ihr beiderseitiger Freund, der alt genug ist, beider Vater sein zu können, dann kann sich die Stimme der Verleumdung später nicht gegen sie erheben.“

Mr. Pickwicks Augen funkelten von gerechtem Entzücken über seine Vorsicht, als er so sprach. Mr. Winkle war durch diesen Beweis zartsinniger Verehrung für die junge Dame tief gerührt und ergriff die Hand des Meisters mit einem Gefühl, das an Ehrfurcht grenzte.

„Ja, Sie müssen mitgehen!“ rief er.

„Natürlich gehe ich mit“, erwiderte Mr. Pickwick. „Sam, halte meinen Überrock und Schal in Bereitschaft und bestelle auf morgen abend, etwas früher als unbedingt notwendig wäre, einen Wagen, damit wir rechtzeitig an Ort und Stelle sind.“

Mr. Weller griff an seinen Hut, um seinen Gehorsam auszudrücken, und entfernte sich, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen.

Der Wagen fuhr zur bestimmten Stunde vor, und Mr. Weller nahm, nachdem er Mr. Pickwick und Mr. Winkle pflichtgemäß hineingeholfen, seinen Sitz auf dem Bock neben dem Kutscher ein. Verabredetermaßen stiegen sie etwa eine Viertelmeile vor dem Ort des Stelldicheins ab, befahlen dem Kutscher, ihre Rückkehr zu erwarten, und machten den übrigen Weg zu Fuß.

Zu dieser Höhe war das Unternehmen gediehen,, als Mr. Pickwick unter manchem Lächeln und verschiedenen andern Anzeichen großer Befriedigung aus einer seiner Rocktaschen eine Blendlaterne hervorzog, mit der er sich ausdrücklich für den Fall versehen hatte, sie anzündete und ihre großen mechanischen Vorzüge im Weitergehen zur nicht geringen Verwunderung der paar Leute, die ihnen begegneten, Mr. Winkle erklärte. „Bei meiner letzten nächtlichen Gartenexpedition wäre mir ein solches Ding sehr zustatten gekommen, nicht wahr, Sam?“ sagte er und sah sich mit vergnügtem Lächeln nach seinem Bedienten um, der hinter ihm hertrollte.

„Sehr hübsche Dinger das, Sir, wenn man sie recht gebraucht“, erwiderte Mr. Weller, „aber wenn man nich gesehen sein will, glaube ich, daß sie nützlicher sin, wenn das Licht ausgelöscht is, als wenn es brennt.“

Mr. Pickwick schien Sams Bemerkung einzuleuchten, denn er steckte seine Laterne wieder in die Tasche und ging schweigend weiter.

„Nach da runter“, sagte Sam, „lassen Sie mich den Weg zeigen. Das is die Gasse, Sir.“

Es war bereits ziemlich dunkel, und Mr. Pickwick nahm ein- oder zweimal die Laterne heraus, die einen sehr hellen Lichtkreis, jedoch bloß von einem Fuß im Durchmesser, auf den Weg warf. Es war recht hübsch anzusehen, schien aber die Wirkung zu haben, die Gegenstände in der Umgebung noch dunkler erscheinen zu lassen.

Endlich kamen sie an den großen Stein, und hier empfahl Sam seinem Gebieter und Mr. Winkle, sich zu setzen, indes er rekognoszieren und sich vergewissern wolle, ob Mary noch Warte.

Nach einer Abwesenheit von fünf oder zehn Minuten kam er mit der Nachricht zurück, das Tor sei offen und alles ruhig. Mr. Pickwick und Mr. Winkle schlichen ihm verstohlen nach und befanden sich bald im Garten. Hier sagten alle drei gar manches Mal „Pst“, und keiner schien eine genaue Vorstellung von dem zu haben, was zunächst zu geschehen habe.

„Ist Miß Allen schon im Garten, Mary?“ fragte Mr. Winkle sehr aufgeregt.

„Ich weiß nicht, Sir“, erwiderte das hübsche Hausmädchen „Am besten würde es sein, wenn Mr. Weller Ihnen auf den Baum hilft, und Mr. Pickwick könnte inzwischen so freundlich sein, aufzupassen, ob keiner die Straße entlang kommt. Ich würde inzwischen am andern Ende vom Garten aufpassen. Aber, grundgütiger Himmel, was ist das da?“

„Die verdammte Latüchte wird uns noch alle ins Unglück stürzen“, sagte Sam ärgerlich. „Nehmen Sie sich doch in acht, Herr; Sie werfen doch „n ganz hellen Lichtschein in das Fenster vom hintern Zimmer da.“

„Weiß Gott“, sagte Mr. Pickwick und wandte sich schnell ab, „das habe ich nicht beabsichtigt.“

„Jetzt is ’s im nächsten Hause“, eiferte Sam.

„Donnerwetter“, rief Mr. Pickwick, sich abermals umwendend.

„Jetzt im Stall, und die Leute werden meinen, es brennt drin“, sagte Sam, „machen Sie doch die Klappe zu, Herr, können Sie denn nich?“ „Es ist doch die sonderbarste Laterne, die ich je in meinem Leben gesehen habe“, rief Mr. Pickwick, ganz verblüfft über die Wirkungen, die er so unabsichtlich hervorbrachte. „Ein so starker Reflektor ist mir noch nicht vorgekommen.“

„Er wird wohl zu stark für uns werden, wenn Sie ’n so weiterleuchten lassen“, erwiderte Sam, als Mr. Pickwick nach mehreren vergeblichen Versuchen den Schieber endlich zubrachte. „Da kommt die junge Dame. Also los, Mr. Winkle, schnell hoch!“

„Halt, halt!“ sagte Mr. Pickwick, „ich muß zuerst mit ihr sprechen. Hilf mir hinauf, Sam.“

„Nur sachte“, warnte Sam, seinen Kopf an die Mauer lehnend und machte aus seinem Rücken eine Plattform. „Treten Sie zuerst auf diesen Blumentopf, Sir. Jetzt schnell hinauf.“

„Ich fürchte, ich tue dir weh, Sam“, sagte Mr. Pickwick.

„Sorgen Sie sich nich um mich, Sir. Geben Sie ihm die Hand, Mr. Winkle. Nur feste, Sir; so ist’s richtig.“

Unter Anstrengungen, die bei einem Herrn von seinen Jahren und seinem Gewicht fast übernatürlich zu nennen waren, gelang es endlich Mr. Pickwick, Sams Rücken zu erklimmen; Sam richtete sich allmählich in die Höhe, und Mr. Pickwick hielt sich am Rande der Mauer fest, indes Mr. Winkle seine Beine festhielt, so daß des Meisters Brille gerade noch den Mauerrand überragte.

„Verehrtes Fräulein“, begann Mr. Pickwick, als er über die Mauer schaute und auf der andern Seite Arabella erblickte, „erschrecken Sie nicht, mein Fräulein – ich bin’s.“

„Bitte, bitte, gehen Sie doch, Mr. Pickwick“, erwiderte Arabella. „Sagen Sie ihnen, sie sollen alle fortgehen, ich bin in der tödlichsten Angst. Lieber, lieber Mr. Pickwick, bleiben Sie nicht länger. Sie werden ganz gewiß herunterfallen und nicht mehr aufstehen können.“

„Seien Sie ohne Sorgen, liebes Kind“, beschwichtigte Mr. Pickwick. „Ich versichere Ihnen, es ist nicht die geringste Gefahr vorhanden. – Steh fest, Sam“, setzte er hinzu und blickte unter sich.

„Sehr wohl, Sir“, erwiderte Mr. Weller, „bleiben Sie nur nich länger, als es gerade notwendig is. Sie sind’n bißchen schwer.“

„Nur noch einen Augenblick, Sam. – Ich wünschte Ihnen nur zu sagen, mein Kind, daß ich meinem jungen Freund nicht gestattet haben würde, Sie auf diesem heimlichen Wege zu besuchen, wenn Ihre Verhältnisse ihm einen andern Ausweg übriggelassen hätten. Damit Ihnen nun die Ungebührlichkeit dieses Schrittes keine Unruhe verursache, mein liebes Kind, mag es Ihnen zur Befriedigung dienen, zu wissen, daß ich in der Nähe bin; mehr habe ich nicht zu sagen, meine Liebe.“

„Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden für Ihre rücksichtsvolle Güte, Mr. Pickwick“, schluchzte Arabella, sich mit ihrem Taschentuch die Tränen trocknend.

Sie hätte wahrscheinlich noch mehr gesagt, wenn nicht Mr. Pickwick infolge eines falschen Trittes auf Sams Schulter blitzschnell verschwunden wäre. Er stand jedoch im Augenblick wieder auf, ermahnte Mr. Winkle, sich zu beeilen und die Zusammenkunft nicht zu versäumen, und rannte sofort mit dem Mut und dem Feuer eines Jünglings auf die Gasse, um Schildwache zu stehen. Mr. Winkle, hochbeglückt, war im Nu auf der Mauer, und hielt oben nur inne, um Sam zu sagen, er solle für seinen Herrn Sorge tragen.

„Unbesorgt, Sir“, erwiderte Sam. „Überlassen Sie ihn nur mir.“

„Wo ist er? Was macht er denn jetzt, Sam?“ fragte Mr. Winkle.

„Gott segne seine alten Gamaschen“, erwiderte Sam, mit einem Blick nach der Gartentür. „Dort in der Gasse steht er mit seiner Blendlaterne Schildwache, wie ’n liebenswürdiger Pulververschwörer. Hab mein Lebtag nichts Schöneres gesehen. Der Teufel soll mich holen, wenn sein Herz nicht wenigstens fünfundzwanzig Jahre nach seinem Leibe auf die Welt gekommen is.“

Mr. Winkle nahm sich nicht die Zeit, die Lobrede auf seinen Freund und Meister anzuhören, war schnell die Mauer hinabgesprungen, hatte sich vor Arabella auf die Knie geworfen und setzte ihr die Aufrichtigkeit seiner Neigung mit einer Beredtsamkeit auseinander, die Mr. Pickwicks selbst würdig gewesen wäre.

Während dies im Freien vor sich ging, saß ein ältlicher Herr von großem, wissenschaftlichem Rufe, der zwei oder drei Häuser vom Garten hinweg wohnte, in seinem Studierzimmer und schrieb eine naturwissenschaftlidle Abhandlung, wobei er von Zeit zu Zeit aus einer achtunggebietenden Flasche, die auf dem Tische stand, seine Lippen und seine Arbeit mit einem Glas Bordeaux befeuchtete. Während seiner geistigen Geburtswehen blickte der gelehrte Herr bald auf den Teppich, bald zur Decke empor, bald an die Wand, und wenn ihm weder Teppich noch Dedce, noch Wand den erforderlichen Grad von Begeisterung zu liefern vermoditen, so sah er zum Fenster hinaus.

In einer dieser Pausen starrte er gedankenschwer in d’e dichte Finsternis hinaus, als er zu seiner höchlichen Überraschung ein glänzendes Licht in geringer Entfernung über die Erde hin durch die Luft gleiten und beinahe augenblicklich wieder verschwinden sah. Nach kurzer Zeit wiederholte sich das Phänomen, nicht bloß ein oder zwei, sondern mehrere Male. Der gelehrte Herr legte seine Feder nieder und begann darüber nachzudenken, weldien natürlichen Ursachen diese Erscheinung wohl zuzuschreiben sei.

Meteore konnten es nicht sein, dazu waren sie zu niedrig. Johanniswürmer auch nicht wegen der Höhe. Es waren keine Irrlichter, keine Leuchtkäfer, es war kein Feuerwerk. Was konnte es wohl sein? Irgendein außerordentliches und wunderbares Phänomen, das noch kein Naturforscher vor ihm gesehen – eine Erscheinung, deren Entdeckung ihm allein vorbehalten war und die seinen Namen unsterblidl machen mußte, wenn er sie zu Nutz und Frommen der Nachwelt aufzeichnete. Von dieser Idee begeistert, ergriff der gelehrte Herr seine Feder wieder und brachte verschiedene Bemerkungen über diese unvergleichbare Erscheinung mit Angabe des Tages, der Stunde, der Minute und Sekunde, in der sie sichtbar gewesen, zu Papier – Stoff genug, um ein umfangreiches, von großem Forschungsgeist und tiefer Gelehrsamkeit zeugendes Werk zu schreiben, zum Erstaunen aller atmosphärischen Weisen in sämtlichen Teilen des zivilisierten Erdballes.

Er warf sich in seinen Lehnsessel zurück, ganz durchtränkt von Betrachtungen künftiger Berühmtheit. Das geheimnisvolle Lidit zeigte sich wiederum, und zwar glänzender als zuvor; allem Anschein nach tanzte es die Gasse auf und ab, kreuzte herüber und hinüber und bewegte sich in so exzentrischen Bahnen, wie ein Komet!

Der gelehrte Herr war Hagestolz, hatte daher keine Frau, die er hereinrufen konnte, damit sie sich mit ihm wundere, und läutete deshalb seinem Bedienten.

„Pruffle“, sagte er, „es ist heute abend etwas ganz Außerordentlidies in der Luft. Siehst du es dort?“ fügte er hinzu, zum Fenster hinausdeutend, als das Licht wieder sichtbar wurde.

„Ja, Sir.“

„Was denkst du davon, Pruffle?“

„Was ich davon denke?“

„Nun ja. Du bist auf dem Lande aufgewachsen. Welcher Ursache würdest du diese Lichter zuschreiben?“

Der gelehrte Herr setzte lächelnd voraus, Pruffle werde antworten, er wisse die Ursache dieser Lichter nicht anzugeben. Pruffle sann nach. „Ich denke, es sind Diebe“, sagte er endlich.

„Du bist ein Dümmkopf und kannst dich entfernen“, schrie ihn der gelehrte Herr an.

„Sehr wohl, Sir“, erwiderte Pruffle und ging.

Allein dem gelehrten Herrn ließ der Gedanke keine Ruhe, die scharfsinnige Abhandlung, die er bereits projektiert, möchte für die Welt verlorengehen, was unvermeidlich hätte der Fall sein müssen, wenn die Ansicht des scharfsinnigen Pruffle nicht im Keim erstickt wurde. Er setzte daher den Hut auf und ging schnell in den Garten hinab, entschlossen, der Sache bis auf den Grund nachzuspüren.

Kurz, ehe der gelehrte Herr kam, war Mr. Pickwick so schnell wie möglich die Gasse herabgelaufen und hatte falschen Lärm geschlagen, es komme jemand des Weges, wobei er zufällig die Laterne vor sich hinhielt, um nicht in den Graben zu fallen. Mr. Winkle kletterte flugs wieder über die Mauer, Arabella eilte ins Haus, das Gartentor wurde geschlossen, und die Abenteurer eilten, so schnell sie konnten, die Gasse hinab, als sie auf einmal durch das Erscheinen des gelehrten Herrn erschreckt wurden, der gerade sein Gartentor aufschloß.

„Halt!“ flüsterte Sam, der natürlich voranging, „machen Sie jetzt mal ’ne Sekunde Licht, Herr.“

Mr. Pickwick tat, wie ihm geheißen. Sam, der einen Kopf sehr vorsichtig, bloß ein paar Schritte von ihm entfernt, aus dem Gartentore herausblicken sah, versetzte ihm mit der geballten Faust einen kleinen Schlag, so daß er mit hohlem Klang gegen das Tor flog. Nachdem er mit großer Schnelligkeit und Gewandtheit diese Tat vollführt, nahm er Mr. Pickwick auf den Rücken und folgte Mr. Winkle die Gasse hinab mit einer bei seiner Bürde wahrhaft erstaunlichen Geschwindigkeit.

„Haben Sie sich jetzt wieder erholt, Sir?“ fragte er, als ef das Ende erreicht hatte.

„Vollkommen“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Na, dann kommen Sie“, fuhr Sam fort und stellte seinen Herrn wieder auf die Füße. „Gehen Sie zwischen uns beiden, Sir. Wir haben keine halbe Meile mehr zu laufen. Stellen Sie sich vor, es ginge zum Schoppen, Sir. Nur munter vorwärts.“

So ermutigt, machte Mr. Pickwick den möglichst besten Gebrauch von seinen Beinen, und man kann zuversichtlich behaupten, daß nicht leicht ein Paar schwarze Gamaschen je schneller über den Boden hüpften, als die Mr. Pickwicks bei diesem denkwürdigen Anlasse.

Der Wagen wartete, die Pferde waren frisch, die Straßen glatt, der Kutscher voll guten Willens, und die ganze Gesellschaft langte sicher im „Busch“ an, ehe Mr. Pickwick verschnauft hatte.

„Schnell hinein mit Ihnen, Sir“, mahnte Sam, als er seinem Herrn heraushalf. „Nach dem Tempo dürfen Sie keine Sekunde auf der Straße bleiben. Bitte um Verzeihung, Sir“, fuhr er fort, an die Hutkrempe greifend, als Mr. Winkle ausstieg. „Hoffe, ’s war keine frühere Neigung nich vorhanden?“

„Es ist alles in Ordnung“, flüsterte ihm Mr. Winkle ins Ohr, „ganz in Ordnung, lieber Sam“, worauf Mr. Weller sich zum Zeichen des Verständnisses dreimal tüchtig an die Nase schlug, lächelte, blinzelte und mit dem Ausdruck der lebhaftesten Freude im Gesicht die Treppen hinanschritt.

Was den gelehrten Herrn betrifft, so bewies er in einer meisterhaften Abhandlung, die wundervollen Lichter seien Wirkung der Elektrizität, und bewies dies unwiderleglich durch den umständlichen Bericht, wie ihm, als er den Kopf zur Tür hinausgesteckt, ein blitzendes Leuchten vor den Augen getanzt und er gleich darauf einen Schlag erhalten, der ihn eine volle Viertelstunde seiner Sinne beraubt habe. Dieses Traktat versetzte sämtliche gelehrten Gesellschaften in grenzenlose Erregung und sicherte dem Autor als Licht und Zierde der Wissenschaft später großen Ruhm.

Achtunddreißigstes Kapitel


Achtunddreißigstes Kapitel

Führt Mr. Pickwick in eine neue und interessante Phase im großen Drama des Lebens.

Der Trinitytermin nahte heran, und nach Verlauf seiner ersten „Woche kehrte Mr. Pickwick mit seinem Freunde nach London zurück, geradenwegs in sein altes Quartier im „Georg und Geier“.

Am dritten Morgen nach der Ankunft, als sämtliche Glocken in der City, jede einzelne neun und alle zusammen neunhundert, schlugen und Sam eben im Hof frische Luft schöpfte, rasselte ein sonderbares frisch angestrichenes Vehikel vor, aus dem mit großer Behendigkeit, die Zügel einem neben ihm sitzenden vierschrötigen Mann zuwerfend, ein sonderbarer Herr heraussprang, der vortrefflich zu dem Fuhrwerk zu passen schien.

Das Fahrzeug war nämlich nicht ganz Gig und ebensowenig ein Stanhope. Es war nicht, was man in der Regel einen Cart nennt, keine Kalesche und kein Kabriolett, und doch hatte es etwas vom Charakter aller dieser Maschinen. Es war hellgelb angestrichen, die Deichsel und die Räder schwarz betupft, und der Kutscher saß in orthodoxem Jagdstile und Polstern, die etwa zwei Fuß höher waren als die Wagenleiter. Das Pferd, ein ziemlich munterer Brauner, hatte etwas Schmuckes und Bissiges an sich, das vortrefflich sowohl zu dem Wagen wie zu dem Herrn paßte.

Der Herr selbst war ungefähr Vierziger und trug schwarze Haare und einen sorgfältig gekämmten Schnurrbart; sein ganzer Anzug war auffallend und mit einer Menge Schmuck übersät, jeder Stein wenigstens dreimal so groß, als man gewöhnlich zu tragen pflegt; das Ganze krönte ein zottiger Überrock. In eine Tasche dieses Überrocks steckte der Herr beim Aussteigen seine linke Hand, während er aus der andern mit seiner rechten ein seidenes Sacktuch zog, mit dem er ein paar Staubflecken von seinen Stiefeln abwischte, es sodann in der Hand zusammendrückte und sodann weiter in den Hof vorging.

Es war Sams Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß, als dieser Herr abstieg, ein schäbig aussehender Mann in braunem Paletot mit etlichen fehlenden Knöpfen daran, der vorher dem Wirtshaus gegenüber auf und ab gewandelt war, auf einmal herüberkam und sich zu dem Ankömmling gesellte. Da Sam hinsichtlich des Zweckes eines Besuchs seitens dieses Gentlemans so seinen Verdacht hatte, ging er ihm in den „Georg und Geier“ voran, wandte sich dann rasch um und pflanzte sich mitten auf der Haustorschwelle auf.

„Na, Bursche!“ sagte der Herr in dem zottigen Rock mit herrischem Ton und versuchte ihn zugleich wegzustoßen.

„Na, also was denn?“ entgegnete Sam, den Stoß mit reichlichen Zinsen zurückgebend.

„Komm Er mir nicht so, Mensch. Laß Er das gefälligst, ja!“ schimpfte der Eigentümer des zottigen Rocks, seine Stimme erhebend, und wurde sehr blaß. „Hierher, Smouch.“

„Na gut, wo fehlt’s denn?“ murrte der Mann im knopflasen Überzieher, der sich während dieses kurzen Zwiegesprächs allmählich durch den Hof herangeschlichen hatte.

„Bloß eine Unverschämtheit von diesem jungen Burschen“, erklärte der Prinzipal, Sam einen neuen Stoß versetzend.

„Lassen S‘ das bleiben“, murrte Smouch und gab Sam ebenfalls einen recht derben Puff.

Das hatte die Wirkung, die der erfahrene Mr. Smouch beabsichtigte; denn während ihn Sam, um das Kompliment so schnell wie möglich zurückzugeben, an den Türpfosten drückte, schlich sich der Prinzipal hinein und gelangte in die Schenkstube, wohin ihm Sam unter allerhand bezeichnenden Bemerkungen gegen Mr. Smouch alsbald nachfolgte.

„Servus, liebes Kind“, sagte der Prinzipal mit kannibalischer Ungezwungenheit und neusüdwälischer Artigkeit zu der jungen Dame in der Schenkstube. „Wo ist Mr. Pickwicks Zimmer?“

„Zeigen Sie es ihm“, befahl das Mädchen einem Kellner, ohne den sonderbaren Gast eines weiteren Blickes zu würdigen.

Der Kellner ging die Treppe hinauf, der Herr mit dem zottigen Rock folgte, und dicht hinter ihm Sam, der unterwegs, zum unaussprechlichen Ergötzen des Gesindes und anderer Zuschauer, durch allerhand Gebärden seine überschwengliche Verachtung und einen herausfordernden Trotz an den Tag legte. Mr. Smouch, der an einem trockenen Husten litt, blieb unten im Gang.

Mr. Pickwick lag in tiefem Schlummer, als sein, früher Gast, von Sam gefolgt, ins Zimmer trat. Das Geräusch, das sie machten, weckte ihn auf. „Wasser zum Rasieren, Sam!“ rief er hinter den Bettvorhängen hervor.

„Rasieren Sie sich nur gleich, Mr. Pickwick“, sagte der Gast, den obersten Bettvorhang zurückschiebend. „Ich habe auf Verlangen der Bardell einen Exekutionsbefehl gegen Sie. – Da ist er. Unterzeichnet vom Gericht. Hier meine Karte. Ich dächte, Sie gingen mit mir.“ Dabei warf er seine Karte auf die gesteppte Bettdecke und zog einen goldnen Zahnstocher aus der Westentasche.

„Namby ist mein Name, Offiziant des Sheriffs“, sagte er, als Mr. Pickwick seine Brille unter dem Kissen hervorzog und aufsetzte, um die Karte zu lesen. „Namby, Bell Alley, in der Colemansstreet.“

Hier mischte sich Sam Weller, der seine Augen fortwährend wie gebannt auf Mr. Nambys glänzenden Biberhut geheftet hatte, ins Gespräch: „Sind Sie ’n Quäker?“ fragte er.

„Wirst es mit der Zeit schon erfahren, wer ich bin“, erwiderte der entrüstete Offiziant. „Ich will dir eines schönen Tags schon Mores lehren, mein sauberer Bursche.“

„Hut ab!“ sagte Sam als Antwort und schlug Mr. Namby geschickt und kräftig den Hut vom Kopf. Vor Schrecken verschluckte der Offiziant beinahe seinen goldnen Zahnstocher.

„Sie haben es gesehen, Mr. Pickwick“, sagte er, bestürzt nach Luft schnappend, „ich bin in der Ausübung meiner Amtspflicht von Ihrem Bedienten in Ihrem Zimmer tätlich insultiert worden. Ich bin in Gefahr und rufe Sie zum Zeugen auf.“

„Bezeugen Sie nichts, Sir“, unterbrach Sam. „Machen Sie die Augen fest zu, Sir; ich werde ihn zum Fenster hinauswerfen; nur schade, daß er nich hoch fallen kann.“

„Sam!“ verwies Mr. Pickwick in ärgerlichem Tone, als sein Bedienter allerhand feindselige Vorbereitungen traf. „Wenn du noch ein Wort sprichst oder diesem Manne die geringste Beleidigung zufügst, entlasse ich dich auf der Stelle.“

„Aber Sir – „, entgegnete Sam.

„Halt deinen Mund“, versetzte Mr. Pickwick, „und hebe den Hut wieder auf.“

Letzteres verweigerte Sam auf das entschiedenste, was ihm von seinem Herrn einen strengen Verweis eintrug, und schließlich hob der Beamte, der große Eile hatte, seinen Hut selbst auf. Die Drohungen, die er dabei ausstieß, ließen Mr. Weller sehr kalt und veranlaßten ihn nur zu der Bemerkung, daß, wenn Mr. Namby sich erkühnen sollte, seinen Hut wieder aufzusetzen, er ihm diesen bis ans Ende der nächsten Woche immer wieder herunterschlagen werde. Mr. Namby der sich von einem solchen Prozeß nicht viel Ersprießliches zu versprechen schien, zog es vor, Mr. Weller nicht in Versuchung zu führen, rief nach einer Weile Smouch herein und sagte ihm, die Verhaftung sei geglückt und er solle warten, bis Mr. Pickwick sich vollends angekleidet hätte, und stolzierte dann hinaus. Schließlich mußte Sam eine Droschke holen, und das Triumvirat fuhr nach der Colemansstreet. Glücklicherweise war das nicht weit, denn Mr. Smouch, der an sich schon kein eben bezauberndes Talent für Unterhaltung besaß, war bei dem trockenen Husten, der ihn beständig quälte, in einem so engen Raum ein entschieden unangenehmer Gesellschafter.

Der Wagen fuhr in die sehr enge und düstere Straße und hielt vor einem Haus mit eisernen Gittern an sämtlichen Fenstern an; die Türpfosten schmückte die Aufschrift: „Namby, Agent der Sheriffe von London.“ Das innere Tor wurde von einem Gentleman geöffnet, anscheinend einem verwahrlosten Zwillingsbruder Mr. Smouchs, der kraft seines Amtes mit einem gewaltigen Schlüssel bewaffnet war, und Mr. Pickwick in das „Gastzimmer“ gewiesen.

Dieses Gastzimmer war eine einfache Stube, deren Hauptvorzüge in ihrem frischen Sand auf dem Fußboden und veraltetem Tabaksrauch bestanden. Mr. Pickwick verbeugte sich gegen die drei Personen, die drinnen saßen, befahl Sani, Mr. Perker zu holen, zog sich in einen dunklen Winkel zurück und betrachtete von da aus mit beträchtlicher Neugierde seine Gefährten.

Einer davon war ein Bursche von neunzehn oder zwanzig Jahren, der, obgleich es erst zehn Uhr war, bereits Wacholderbranntwein mit Wasser trank und eine Zigarre dazu rauchte – Vergnügungen, denen er, nach seinem roten Gesicht zu schließen, die letzten zwei Jahre seines Lebens so ziemlich ununterbrochen gehuldigt haben mußte. Ihm gegenüber saß, mit der Stiefelspitze in der Kohlenglut herumstochernd, ein vierschrötiger Bursche von etwa dreißig Jahren, mit bleichem Gesicht und heiserer Stimme, der offenbar seine Weltkenntnis und faszinierende Ungeniertheit in Kneipen und an ordinären Billards erworben hatte. Der dritte Bewohner des Zimmers war ein Mann in mittleren Jahren mit einem sehr abgetragnen, schwarzen Rock und so verstörtem Aussehen, als erwartete er jemand.

„Sie können diesen Morgen mein Rasiermesser haben, Mr. Ayresleigh“, sagte der Mann am Kamin zu ihm und zwinkerte dabei seinem Freund, dem jungen Burschen, zu.

„Danke bestens; ich werde es nicht brauchen. Ich hoffe, etwa in einer Stunde frei zu werden“, erwiderte der Angeredete hastig, spähte durch die Fensterscheibe und wandte sich enttäuscht und seufzend wieder ab. Als er dann das Zimmer verließ, brachen die zwei andern in ein lautes Gelächter aus.

„Ein Mordsspaß“, sagte der Gentleman, der das Rasiermesser angeboten hatte und Price zu heißen schien.

„Man möcht’s kaum glauben“, wendete er sich dann lachend an Mr. Pickwick, „eine Woche schon hat sich dieser Mensch nicht rasiert, weil er immer meint, in einer halben Stunde frei zu sein.“

„Der arme Mann!“ erwiderte Pickwick. „Hat er denn gar keine Aussicht, aus seiner schwierigen Lage loszukommen?“

„Keine Spur“, erwiderte Price. „Ich möcht hundert gegen eins wetten, daß er zehn Jahre lang auf keine Straße mehr kommt.“

Dabei schnalzte Mr. Price verächtlich mit dem Finger und schellte.

„Geben Sie mir ’n Bogen Papier, Crookey“, sagte er zu dem Wärter, der seiner Kleidung und ganzen Erscheinung nach ein Mittelding zwischen einem bankrotten Viehmäster und einem zahlungsunfähigen Pächter zu sein schien, „und ein Glas Branntwein mit Wasser. Hören Sie? Ich will meinem Vater schreiben und muß eine kleine Anregung haben, sonst kann ich dem Alten kein Loch in den Bauch reden.“

Mr. Pickwick, den diese Sprache sowie das ganze Benehmen der zwei Burschen nicht wenig anekelte, wurde auf sein Verlangen in ein Privatzimmer geführt, das mit einem Teppich, einem Tisch, mehreren Stühlen, einem Kredenztisch und Sofa möbliert und mit einem Spiegel sowie mehreren alten Bildern geschmückt war. Hier hatte er den Genuß, solange sein Frühstück bereitet wurde, unmittelbar über seinem Haupte Mrs. Namby Klavier spielen zu hören, und als endlich aufgetragen wurde, erschien auch Mr. Perker.

„Aha, mein lieber Herr“, rief der kleine Mann, „endlich in die Falle gegangen? Ich gräme mich indes nicht sehr darüber, denn jetzt werden Sie doch endlich das Törichte Ihres Vorhabens einsehen. Ich habe mir den Betrag der Prozeßkosten sowie der Entschädigungsgelder notiert, und es wäre am gescheitesten, wir machten die Sache mit einem Male und ohne Zeitverlust ab. Namby wird wohl jetzt zurückgekommen sein. Was meinen Sie, mein lieber Herr, soll ich den Scheck gleich ausfüllen?“

„Perker“, erwiderte Mr. Pickwick voll Ernst, „ich muß Sie bitten, mich nichts mehr davon hören zu lassen. Ich sehe nicht ein, warum ich noch länger hier bleiben soll, und will deswegen heute nacht noch ins Gefängnis geführt werden.“

„In die Whitecrosstreet können Sie unmöglich, mein werter Herr“, stellte ihm Perker vor. „Da sind sechzig Betten in einer Abteilung und die Riegel sechzehn Stunden täglich vorgeschoben.“

„Also dann in ein anderes Gefängnis, wenn es möglich ist. wo nicht, so muß ich mich eben doch dort bequemen, so gut es geht.“

„Sie können in die Fleet gehen, mein lieber Herr, wenn Sie überhaupt entschlossen sind, wohin zu gehen“, meinte Perker.

„Also gut“, sagte Mr. Pickwick, „gleich nach dem Frühstück.“

„So warten Sie doch noch ein wenig, mein lieber Herr; es hat doch keine so schreckliche Eile“, sagte der gutmütige kleine Anwalt. „Wir müssen erst ein Habeas corpus erwirken und bis vier Uhr nachmittags warten. Früher ist kein Richter anzutreffen.“

„Auch recht“, sagte Mr. Pickwick mit unerschütterlichem Gleichmut, „dann können wir um zwei Uhr hier noch ein Beefsteak nehmen. Bestelle es, Sam, damit es pünktlich kommt.“

Da Mr. Pickwick trotz aller Vorstellungen und Beweisgründe Perkers fest blieb, erschienen und verschwanden die Beefsteaks zur bestimmten Zeit, und gleich darauf wurde die Fahrt nach Chancery Lane angetreten.

Im Vorzimmer von Sergeants Inn waren zwei Richter, einer von der Kings Bench und einer von Common Pleas, anwesend, und es schienen gewaltig viele Geschäfte abgemacht zu werden, wenigstens nach der Menge Advokatenschreiber, die mit Aktenstößen herein- und hinauseilten, zu schließen. Als die Herren an dem niedrigen Bogengang hielten, der den Eingang in die Inn bildet, zankte sich Mr. Perker einige Minuten lang mit dem Kutscher wegen des Fahrgeldes herum und Mr. Pickwick trat zur Seite, um dem Gedränge der Hinein- und Herausströmenden auszuweichen, und blickte mit einiger Neugierde um sich.

Drei oder vier Gentlemen von schäbig elegantem Aussehen, die vor den vorbeigehenden Anwälten an die Hüte griffen und ein Geschäft zu haben schienen, dessen Art er sich vergeblich zu erraten bemühte, erregten besonders seine Aufmerksamkeit.

Es waren das höchst sonderbar aussehende Leute. Der eine war schlank und ein bißchen lahm, hatte einen schmierigen schwarzen Rock an und ein weißes Halstuch; ein andrer war untersetzt und beleibt und ebenso gekleidet wie der erste, nur daß er ein großes, schwarz-rotes Halstuch trug; ein dritter, klein von Gestalt, hatte ein finniges Gesicht und sah aus wie ein Trunkenbold. Sie alle schlenderten, die Hände auf dem Rücken, mit aufmerksamen Blicken auf und ab und flüsterten von Zeit zu Zeit einigen von den Herren, die mit den Papieren in den Saal stürzten, etwas ins Ohr. Mr. Pickwick erinnerte sich, sie schon oft unter dem Torweg, wenn er gerade vorüberging, herumlungern gesehen zu haben, und war neugierig, welche Art Beruf diese schmierigen Gentlemen wohl haben möchten.

Eben wollte er Namby der sich dicht bei ihm hielt und an einem großen goldnen Ring an seinem kleinen Finger saugte, darüber befragen, als Perker zu ihm gestürmt kam und ihm mit der Bemerkung, man habe keine Zeit zu verlieren, den Weg in den Saal wies. Als er sich anschickte ihm zu folgen, trat der Lahme zu ihm, zog höflich den Hut und hielt ihm eine beschriebene Karte hin. Mr. Pickwick, um die Gefühle des Mannes nicht durch eine Weigerung zu verletzen, nahm sie freundlich an und steckte sie in seine Westentasche.

„Hier herein, bitte“, sagte Perker und wandte sich, bevor er in die Amtsstube trat, um, ob seine Gefährten auch hinter ihm seien. „Hier herein, mein lieber Herr. Ja, was wollen denn Sie?“

Die Frage galt dem Lahmen, der sich ohne Mr. Pickwicks Wissen angeschlossen hatte. Statt der Antwort zog der Mann mit größter Höflichkeit den Hut und deutete auf Mr. Pickwick.

„Nein, nein“, wehrte Perker lächelnd ab, „wir bedürfen Ihrer ganz und gar nicht, guter Freund.“

„Bitte um Entschuldigung, Sir“, erwiderte der Lahme, „aber der Herr hat meine Karte angenommen. Ich hoffe, Sie werden Verwendung für mich haben, Sir. Der Herr hat mir zugenickt, Sir! Ich berufe mich auf den Herrn selbst. Nicht wahr, Sie haben mir zugenickt, Sir?“

„Lächerlich, Unsinn. Sie haben niemand zugenickt, Pickwick. Ein bloßes Mißverständnis“, sagte Perker.

„Der Herr hat mir seine Karte angeboten“, erklärte Mr. Pickwick und zog sie aus der Tasche. „Ich habe sie angenommen, wie der Herr zu erwarten schien; ich war in der Tat einigermaßen neugierig, sie gelegentlich näher zu betrachten – ich – „

Der kleine Advokat brach in ein lautes Gelächter aus, gab dem Lahmen die Karte zurück, sagte ihm, es sei ein Mißverständnis, und flüsterte Mr. Pickwick, als der Mann sich wutentbrannt abwandte, ins Ohr, es sei dies nur ein „Bürge“.

„Ein was?“ rief Mr. Pickwick.

„Ein Bürge“, wiederholte Perker.

„Ein Bürge?“

„Ja, mein lieber Herr; es gibt ungefähr ein halbes Dutzend solcher Leute hier. Sie verbürgen sich für jede beliebige Summe und verlangen nur eine halbe Krone. Nicht wahr, ein sonderbares Geschäft?“ fügte Perker hinzu und labte sich mit einer Prise Tabak.

„Wie?!“ rief Mr. Pickwick, ganz erschrocken über diese Entdeckung. „Verstehe ich recht? Erwerben diese Leute wirklich dadurch ihren Lebensunterhalt, daß sie hier herumlungern und vor den Richtern des Landes Meineide schwören? – Für eine halbe Krone ein Verbrechen?“

„Meineid müssen Sie es nicht gerade nennen, mein lieber Herr“, erwiderte der kleine Anwalt, „dieser Ausdruck ist ein wenig zu hart. Es ist eine Rechtsfiktion, mein lieber Herr, weiter nichts.“ Dabei zuckte Mr. Perker die Achseln, lächelte, nahm eine zweite Prise und ging voraus in die Gerichtsschreiberei.

Es war das ein Raum von ganz besonders schmutzigem Aussehen, mit sehr niedriger Decke und getäfelten Wänden, dabei so finster, daß man bei hellichtem Tag auf den Schreibtischen große Talglichter brannte. Eine Tür führte in das Privatzimmer des Richters, um die sich eine Menge von Anwälten und Schreibern drängte, die hereingerufen wurden, sobald die Reihe an sie kam. Sooft diese Tür sich öffnete, um eine Partei hinauszulassen, machte die nächstfolgende Partei jedesmal gewaltsame Versuche sich vorzudrängen, was immer nebst den lauten Zwiegesprächen zwischen den Gentlemen, die auf den Anblick des Richters harrten, und allerhand persönlichen Zwistigkeiten ein betäubendes Getöse hervorrief. In einer Loge hinter einer hölzernen Schranke am andern Ende des Zimmers stand ein Schreiber mit der Brille auf der Nase, der die Advokatenschreiber beeidigte und die Protokolle darüber haufenweise von Zeit zu Zeit dem Richter zur Unterschrift in sein Privatzimmer schickte. Dabei gab es an der Schranke des bebrillten Herrn ein Stoßen und Drängen, wie manchmal am Eingang des Theaters, wenn Ihre Majestät dasselbe mit Allerhöchst Ihrer Gegenwart beehrt. Ein andrer Held von der Feder übte seine Lunge von Zeit zu Zeit damit, daß er die Namen der Beeidigten laut ausrief, um ihnen vom Richter unterzeichnete Affidavits zurückzustellen, was natürlicherweise wieder zu mehrfachen Püffen und Stößen Veranlassung gab, und da alles dies zu gleicher Zeit geschah, so herrschte ein beispielloses Durcheinander und Getöse.

Zwischendurch hörte man den Mann mit der Brille‘ in gleichmäßigem Tonfall und ohne Unterbrechung die Eidesformel und was dazu gehörte wiederholen:

„Nehmen Sie das Buch in die rechte Hand dies ist Ihr Name und Handschrift Sie schwören daß der Inhalt Ihres Affidavits wahr ist so wahr mir Gott helfe Sie müssen einen Schilling bezahlen herausgeben kann ich nicht.“

Es währte lange genug, bis Mr. Pickwick dran kam und der Bewachung des Gerichtsdieners mit dem Bemerken, ihn dem Vorsteher des Fleetgefängnisses zu überantworten und so lange in Verwahrung zu halten, bis die Entschädigungssumme an Mrs. Bardell nebst Prozeßkosten auf Heller und Pfennig bezahlt sein würde, übergeben wurde.

„Da soll ihnen die Zeit lang werden“, sagte Mr. Pickwick lachend. „Sam, hole eine Droschke. Perker, mein werter Freund, auf Wiedersehen!“

„Ich werde mit Ihnen gehen, um mich von Ihrer glücklichen Ankunft zu überzeugen“, erwiderte Perker.

„Ich danke Ihnen vielmals“, lehnte Mr.Pickwick ab, „aber ich möchte mich nur von Sam begleiten lassen. Sobald ich mich häuslich eingerichtet habe, werde ich Ihnen schreiben und bitte dann um Ihren Besuch. Inzwischen leben Sie wohl.“

Sam setzte sich auf den Bock und sie fuhren ab.

„Ein ganz außerordentlicher Mann das“, sagte Perker und blieb stehen, um seine Handschuhe anzuziehen,

„Er hätte einen famosen Bankerottier abgegeben, Sir“ bemerkte Mr. Lowten, der in der Nähe stand. „Der würde die Kommissäre was plagen, bis sie schwarz würden.“

Inzwischen rumpelte die Kutsche in die Fleetstreet, und der Gerichtsdiener führte Mr. Pickwick und Sam ins Gefängnis. Dort wandten sie sich nach links und gelangten durch eine offene Tür in eine Vorhalle, aus der ein schweres Tor, von einem vierschrötigen Kerkermeister mit dem Schlüssel in der Hand bewacht, ins Innere des Gefängnisses führte.

Hier warteten sie, bis der Gerichtsdiener seine Papiere abgegeben hatte, und man sagte Mr. Pickwick, er habe sich so lange zu gedulden, bis er sich der dem Eingeweihten wohlbekannten Zeremonien unterworfen, das heißt, zu einem Porträt gesessen hätte.

„Zu meinem Porträt gesessen?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja, Sir, damit wir Ihr Konterfei haben“, erklärte der stämmige Schließer. „Wir verstehen uns aufs Abkonterfeien, brauchen nur einen Augenblick dazu und treffen immer richtig. Tun Sie ganz, als ob Sie zu Hause wären, Sir.“

Mr. Pickwick willfahrte der Aufforderung, setzte sich, und Mr. Weller, der sich hinter seinem Stuhle aufgestellt, flüsterte ihm zu, das mit dem „Porträtsitzen“ sei bloß ein andrer Ausdruck für die Beaugenscheinigung von Seiten der verschiedenen Schließer, damit diese die Gefangenen von Besuchern unterscheiden könnten.

„Gut Sam“, sagte Mr. Pickwick, „dann wünschte ich, die Künstler kämen. Es ist das ein unangenehm exponierter Platz.“

„Sie werden wohl nich lange ausbleiben“, versetzte Sam. „Da hängt ’ne hölzerne Schwarzwälderuhr.“

„Das sehe ich“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Und ’n Vogelkäfig. Reusen in Reusen, ’n Gefängnis im Gefängnis. Nich wahr, Sir?“

Noch während Mr. Weller diese philosophische Betrachtung zum besten gab, gewahrte Mr. Pickwick, daß das „Sitzen“ bereits seinen Anfang genommen hatte, denn der stämmige Schließer hatte Platz genommen und betrachtete ihn nachlässig von Zeit zu Zeit, indes ein langer, schmächtiger Bursche, mit den Händen unter den Rockschößen, sich ihm gegenüber aufpflanzte und ihn unverwandt anstarrte. Ein dritter Gentleman von etwas grämlichem Aussehen, der offenbar beim Tee gestört worden war, denn er verfügte bei seinem Eintritt gerade über den letzten Rest seiner butter-bestrichenen Brotschnitte, stellte sich dicht daneben auf, stemmte die Hände in die Seiten und beschaute ihn so nahe wie möglich, während noch zwei andre mit aufmerksamen, gedankenschweren Gesichtern seine Züge studierten.

Mr. Pickwick rückte dabei des öftern unruhig hin und her, und die Sitzung schien ihm ganz und gar nicht zu behagen; er machte jedoch die ganze Zeit über keine Bemerkung, selbst gegen Sam nicht, der, an die Rückseite des Stuhles gelehnt, teils über die Lage seines Herrn, teils über das große Vergnügen nachdachte, das ihm ein feindlicher Angriff auf sämtliche Schließer gewähren würde, wenn er unter dem Schutz des Gesetzes und ohne Friedensbruch über einen nach dem andern herfallen dürfte.

Endlich war das Konterfei vollendet, und man bedeutete Mr. Pickwick, er könne sich jetzt ins Gefängnis verfügen.

„Wo werde ich heute nacht schlafen?“ fragte Mr. Pickwick.

„Das weiß ich selbst nicht recht“, erwiderte der vierschrötige Schließer, „aber morgen bekommen Sie ’n Schlafkameraden und können sich dann häuslich einrichten. In der ersten Nacht ist gewöhnlich noch nicht alles recht in Ordnung, aber morgen können Sie bekommen, was Sie wollen.“ Nach einigem Hin und Her erwies es sich indessen, daß einer der Schließer ein Bett zu vermieten hatte, und Mr. Pickwick war froh, es für die Nacht bekommen zu können.

„Wenn Sie mit mir kommen wollen, so will ich es Ihnen sogleich zeigen“, sagte der Mann. „Es ist zwar nicht besonders groß, aber pennen kann man herrlich drin. – Hier, Herr.“

Sie gingen durch das innere Tor, stiegen eine kurze Treppe hinab, der Schlüssel wurde hinter ihnen umgedreht, und Mr. Pickwick befand sich zum ersten Male in seinem Leben innerhalb der Mauern eines Schuldgefängnisses.