Das vierte Viertel


Das vierte Viertel

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Eine neue Erinnerung an die gespenstischen Gestalten in den Glocken, ein unbestimmtes Gefühl, als ob letztere wieder läuteten, ein schwindelndes Bewußtsein, den Phantomenschwarm erneut und wieder erneut gesehen zu haben, bis sich das Bild desselben in dem wirren Durcheinander zahlloser Gestalten verloren hatte – eine sekundenlange Erkenntnis, obwohl er nicht wußte, woher sie kam, daß noch mehr Jahre entschwunden waren – und Trotty stand, von dem Geist des Kindes begleitet, wieder vor menschlicher Gesellschaft.

Eine beleibte Gesellschaft, eine rosenwangige Gesellschaft, eine behagliche Gesellschaft. Es waren ihrer nur zwei, aber sie waren rot genug für zehn. Sie saßen vor einem lustig prasselnden Feuer, zwischen sich einen kleinen, niedrigen Tisch, und wenn nicht der Duft von heißem Tee und Semmeln in diesem Gemach länger weilte als in den meisten andern, so mußte der Tisch kurz zuvor eine Mahlzeit gesehen haben. Aber die Tassen waren rein und standen an ihren Plätzen in dem Eßschrank; die Messingröstgabel hing in ihrem gewöhnlichen Winkel und breitete ihre vier müßigen Finger aus, als wolle sie sich einen Handschuh anmessen lassen, und es waren keine weiteren erkennbaren Merkmale eines eben beendigten Mahles vorhanden als diejenigen, die sich in dem Schnurren und Bartputzen der sich wärmenden Katze und in den lieblich (um nicht zu sagen fettig) glänzenden Gesichtern der beiden Personen aussprachen.

Dieses behäbige Paar (augenscheinlich verheiratet) hatte das Feuer ehrlich zwischen sich geteilt und sah den sprühenden Funken zu, die in den Rost fielen, bald ein wenig einnickend, bald wieder aufwachend, wenn etwa ein ungewöhnlich großes glühendes Fragment prasselnd niederkam, als wollte ihm das Feuer nachfolgen.

Es lief jedoch nicht Gefahr, bald zu verlöschen, denn es erglänzte nicht nur in dem kleinen Zimmer, an den Glasscheiben in der Tür und an dem darüber gezogenen Vorhang, sondern auch in dem kleinen Laden draußen. Ein kleiner Laden, zum Ersticken vollgestopft mit dem Überfluß seiner Vorräte – ein wahrhaft gefräßiger kleiner Laden mit einem Magen so bequem und voll wie der eines Haifisches. Käse, Butter, Brennholz, Seife, Pökelfleisch, Schwefelhölzer, Speckseiten, Tafelbier, Schnurrkreisel, Eingemachtes, Papierdrachen, Hanfsamen, kalter Schinken, Birkenbesen, Herdsteine, Salz, Weinessig, Stiefelwichse, Heringe, Schreibmaterialien, Schweinefett, Champignonsauce, Schnürbänder, Brotlaibe, Federbälle, Eier und Schieferstifte – alles war Fisch, was in das Netz dieses gierigen kleinen Ladens kam, und alle diese Gegenstände befanden sich in seinem Netz. Was für andre kleine Waren noch vorhanden waren, würde sich schwer aufzählen lassen; aber da befanden sich noch Bindfadenrollen, Zwiebelreihen, Lichterbündel, Kohlnetze und Bürsten, die traubenförmig wie eine außerordentliche Frucht von der Decke niederhingen, während verschiedene Büchsen, denen ein aromatischer Duft entströmte, den Wahrheitsbeweis der Aufschrift über der Ladentür lieferten , die dem Publikum kundtat , daß der Inhaber dieses Kramladens auch ein privilegierter Tee-, Kaffee-, Tabak-, Pfeffer- und Schnupftabakshändler sei.

Diese Artikel, die in dem Licht des Feuers und in dem weniger lieblichen Glanze zweier rauchender Lampen unterscheidbar wurden, welche düster in dem Laden brannten, als wenn ihnen dessen Vollblütigkeit schwer auf den Lungen läge, und dann ein Blick auf eines von den beiden Gesichtern bei dem Stubenfeuer ließen Trotty leicht die stämmige alte Dame Frau Chickenstalker erkennen. Sie hatte stets zur Korpulenz geneigt, schon in den Tagen, als er sie gekannt und ein kleines Pöstchen in ihren Büchern stehen hatte.

Die Züge ihres Gesellschafters waren ihm nicht so vertraut. Das große breite Kinn mit Falten, groß genug, daß man einen Finger hineinlegen konnte; die erstaunten Augen, die sich selbst Vorwürfe zu machen schienen , daß sie immer tiefer und tiefer in das nachgiebige Fett seines schwammigen Gesichts einsanken; die Nase, die mit jener Funktionsstörung behaftet war, die man in der Regel Stockschnupfen nennt; den kurzen, dicken Hals und die asthmatische Brust mit andern derartigen Schönheiten konnte Trotty, wie sehr sie auch geeignet sein mochten, sich dem Gedächtnis einzuprägen, anfangs niemand zuschreiben, den er gekannt hatte, obschon es ihm vorkam, als hätte er alles dies schon gesehen. Endlich aber erkannte er in Frau Chickenstalkers Lebens- und Handelsassocié den vormaligen Portier des Sir Joseph Bowley – eine apoplektische Unschuld, die in Trottys Geist vor Jahren schon in eine Beziehung zu Frau Chickenstalker getreten war, weil sie ihm Zutritt zu dem Herrenhaus gegeben, wo er seine Verbindlichkeiten gegen diese Dame bekannt und sich dadurch einen so ernsten Vorwurf auf sein unglückliches Haupt geladen hatte.

Nach den Veränderungen, die Trotty bereits gesehen hatte, interessierte er sich wenig für einen derartigen Wechsel; indes sind die Ideenverknüpfungen doch bisweilen sehr stark, und er sah unwillkürlich hinter die Stubentür, wo gewöhnlich die Posten der borgenden Kunden aufgekreidet waren. Sein Name war nicht mehr dabei. Es standen einige Namen da, doch waren sie Trotty fremd und außerdem in beträchtlich geringerer Anzahl als in früherer Zeit, woraus er schloß, daß der Portier die Barzahlung bevorzuge und daß er bei seinem Eintritt ins Geschäft den säumigen Kunden ziemlich scharf zugesetzt haben mußte.

Trotty fühlte ein solches Herzweh und trauerte so sehr um die Jugend und die Aussichten seines armen Kindes, daß es ihm sogar leid tat, keinen Platz mehr in Frau Chickenstalkers Schuldbuch einzunehmen.

»Was ists für eine Nacht, Anna?« fragte der vormalige Portier des Sir Joseph Bowley, indem er seine Beine vor dem Feuer ausstreckte und sie so weit rieb, als er mit seinen kurzen Armen reichen konnte, während seine Miene deutlich zu sagen schien. »Ich sitze da, wenns schlecht ist, und verlange nicht auszugehen, wenns gut ist.«

»Es stürmt, graupelt und droht mit Schnee,« entgegnete seine Frau. »Dunkel. Und sehr kalt.«

»Es freut mich, daran zu denken, daß wir Wecken hatten,« sagte der vormalige Portier in dem Ton eines Mannes, der sein Gewissen zur Ruhe gebracht hat. ’s ist eine Nacht, wie für Wecken gemacht; auch für Pfannkuchen und Teegebäck.«

Der ehemalige Portier brachte die Namen dieser aufeinander folgenden Leckerbissen vor, als ob er nachdenklich seine guten Taten aufzählte. Dann rieb er sich wieder seine fetten Beine, drehte sie in den Kniegelenken vor dem Feuer, um die strahlende Hitze auch den bisher ungerösteten Teilen zuzuführen, und lachte, als ob ihn jemand gekitzelt hätte.

»Du bist ja recht heiter, mein lieber Tugby,« bemerkte seine Frau.

Die Firma hieß jetzt Tugby, vormals Chickenstalker.

»Nein,« versetzte Tugby, »nein. Nicht besonders. Bin nur in etwas gehobener Stimmung. Die Wecken kamen so gelegen!«

Dabei kicherte er, bis er ganz schwarz im Gesicht war, und hatte so viel Not, wieder eine andre Farbe zu kriegen, daß seine fetten Beine die seltsamsten Exkursionen in die Luft machten. Auch wollten sie erst wieder einigermaßen Vernunft annehmen, als ihn Frau Tugby heftig auf den Rücken geklopft und wie eine große Flasche geschüttelt hatte.

»O du grundgütiger Himmel über diesen Mann!« schrie Frau Tugby entsetzt. »Was er nur treibt!«

Herr Tugby wischte sich die Augen und wiederholte mit matter Stimme, daß er sich ein wenig in gehobener Stimmung befinde.

»Na, sei so gut und laß es in Zukunft bleiben,« versetzte Frau Tugby, »wenn du mich mit deinem Rappeln und Herumfechten nicht zu Tod erschrecken willst!«

Herr Tugby erklärte, es nicht mehr tun zu wollen. Aber seine ganze Existenz war ein Fechtgang, bei dem er, wenn man nach seinem stets kürzer werdenden Atem und dem tiefen Purpur seines Gesichtes urteilen durfte, immer den kürzern zog.

»So stürmts also und graupelts und drohts mit Schnee; ists dunkel und sehr kalt, meine Liebe!« sagte Herr Tugby, indem er nach dem Feuer sah und wieder auf die Ursache und den Kern seiner momentanen gehobenen Stimmung kam.

»Bei Gott, ein rauhes Wetter,« erwiderte seine Frau, den Kopf schüttelnd.

»Ja, ja!« sagte Herr Tugby. »Jahre sind in dieser Hinsicht wie die Christen: Einige von ihnen sterben schwer, und bei andern geht es leicht ab. Das gegenwärtige hat nicht mehr weit hin und wehrt sich deshalb; aber es gefällt mir dafür nur um so besser. Es ist ein Kunde da, meine Liebe!«

Frau Tugby hatte das Knarren der Tür bereits vernommen und sich erhoben.

»Nun, was solls?« fragte die Dame, in den kleinen Laden hinausgehend. »O! ich bitt‹ um Verzeihung, Sir; wahrhaftig, ich wußte nicht, daß Sie es wären.«

Diese Entschuldigung galt einem Gentleman in Schwarz, der mit zurückgeschlagenen Ärmeln, den Hut seitwärts auf den Kopf gedrückt und die Hände in seinen Rocktaschen, rittlings auf dem Tafelbierfäßchen saß und ihr entgegennickte.

»Das ist eine schlimme Geschichte da oben, Frau Tugby,« sagte der Gentleman. »Der Mann kann nicht leben.«

»Wie, der aus dem hintern Dachstübchen?« rief Tugby, der in den Laden herauskam und sich an dem Gespräch beteiligte.

»Der Dachstübler, Herr Tugby,« entgegnete der Gentleman, »wird demnächst die Treppe herunterkommen und gar bald unter dem Rasen liegen.«

Während er abwechselnd Tugby und dessen Gattin anschaute, klopfte er mit den Knöcheln das Faß ab, um zu untersuchen, wieviel Bier noch darin sei, und sobald er dies ausfindig gemacht hatte, trommelte er einen Marsch auf dem leeren Teil.

»Das hintere Dachstübchen, Herr Tugby,« sagte der Herr, nachdem Tugby eine Zeitlang in stummer Bestürzung vor sich hingestarrt hatte, »ist im Begriff abzufahren.«

»Dann«, sagte Tugby, sich an seine Frau wendend, »muß er abfahren, bevor er abgefahren ist.«

»Ich glaube nicht, daß Ihr ihn fortschaffen könnt,« sagte der Gentleman, den Kopf schüttelnd. »Ich für meinen Teil möchte wenigstens nicht die Verantwortung auf mich nehmen und die Möglichkeit zugestehen. Laßt ihn bleiben, wo er ist. Er kanns nicht mehr lange treiben.«

»’s ist der einzige Gegenstand,« sagte Tugby, die Butterwagschale krachend auf den Ladentisch drückend, indem er seine Faust darin wog, »über den wir je einen Wortwechsel miteinander gehabt haben – sie und ich – und da sieht man, was am Ende dabei herausgekommen ist! Stirbt er zuletzt gar hier – stirbt auf unserm Grund und Boden – stirbt in unserm Haus!«

»Und wo willst du denn, daß er sterben soll, Tugby?« rief seine Frau.

»Im Armenhaus,« entgegnete er. »Wozu hat man denn Armenhäuser?«

»Dazu nicht,« erwiderte Frau Tugby mit großem Nachdruck. »Dazu nicht! Dazu habe ich dich auch nicht geheiratet. Schlag dir diese Gedanken aus dem Kopf, Tugby – ich wills nicht haben. Ich leide es einmal nicht – lieber ließe ich mich zuerst scheiden, um dein Gesicht nie wiederzusehen. Als mein Witwenname noch über dieser Tür stand – und er hat viele, viele Jahre da gestanden – war dieses Haus weit und breit als Frau Chickenstalkers bekannt, und jedermann rühmte es wegen seines ehrlichen Kredits und seines guten Rufs. Als mein Witwenname noch über jener Tür stand, Tugby, kannte ich ihn als einen schönen, kräftigen, männlichen, unabhängigen Jüngling – ich kannte sie als das süßeste und gutmütigste Mädchen, das man je gesehen hat – ich kannte ihren Vater (der arme alte Mann stürzte vom Turm, den er schlafwandelnd erstiegen hatte, und erschlug sich) als den einfachsten, unermüdlichsten und wohlwollendsten Mann, der nur je geatmet hat, und wenn ich sie aus dem Haus stoße, mögen mich die Engel aus dem Himmel stoßen. Das täten sie auch! Und mir würde nur recht geschehen!«

Ihr altes Gesicht, das zu Tobys Zeiten rund und voll Grübchen gewesen, schien wieder aus ihrem jetzigen hervorzuleuchten, als sie diese Worte sprach. Sie trocknete dann die Augen und schüttelte mit einem Ausdruck von Festigkeit, die augenscheinlich keinen Widerstand duldete, den Kopf und ihr Schnupftuch gegen Tugby, so daß Trotty vor sich hinsprach: »Gott segne sie! Gott segne sie!«

Dann horchte er mit klopfendem Herzen auf das, was nun folgen mochte; denn er wußte noch nichts, als daß sie von Meg sprachen.

Wenn Tugby in dem Stübchen ein wenig in gehobener Stimmung gewesen war, so wurde jetzt das Gleichgewicht mehr als erforderlich wieder hergestellt, indem er nun im Laden nicht wenig gedrückt dastand und seine Frau stumm anglotzte. Dabei – sei es in Anwandlung von Zerstreutheit oder als Vorsichtsmaßregel – ließ er heimlich alles Geld aus der Schublade in seine eignen Tasten gleiten.

Der Gentleman aus dem Tafelbierfaß, der augenscheinlich ein autorisierter Armenarzt war, mochte wohl an kleine Meinungsverschiedenheiten zwischen Mann und Weib zu sehr gewöhnt sein, um sich im gegenwärtigen Fall eine Bemerkung zu erlauben. Er blieb pfeifend sitzen und ließ kleine Tropfen aus dem Hahn auf den Boden rinnen, bis vollkommene Stille eingetreten war. Dann hob er seinen Kopf und sagte zu Frau Tugby, vormals Chickenstalker:

»Es ist sogar jetzt noch etwas Interessantes an der Frauensperson. Wie kam sie dazu, ihn zu heiraten?«

»Ach,« versetzte Frau Tugby, ihren Sitz neben ihm nehmend, »das ist ein recht grausamer Teil ihrer Geschichte, Sir. Ihr müßt nämlich wissen, daß sie und Richard vor vielen Jahren miteinander verlobt waren. Als sie noch ein junges und schönes Paar waren, hatten sie alles miteinander ausgemacht, und sie wollten sich an einem Neujahrstag trauen lassen. Da setzte aber ein Gentleman Richard in den Kopf, daß er etwas Besseres tun könne; er werde den Schritt bald bereuen – das Mädchen sei nicht gut genug für ihn, und ein lebensfroher junger Mann habe keinen Grund, zu heiraten. Und der Gentleman schüchterte auch sie ein und machte sie melancholisch, indem er ihr sagte, ihr Mann werde sie dann verlassen, ihre Kinder kämen an den Galgen, und es sei gottlos, zu heiraten, und was dergleichen mehr war. Kurz, sie zögerten und zögerten – ihr Vertrauen zueinander wurde gebrochen, und so ging es auch mit der Verlobung. Aber der Fehler lag an ihm, denn sie würde ihn mit Freuden geheiratet haben, Sir. Oftmals nachher habe ich gesehen, wie ihr fast das Herz brach, wenn er in stolzer, gleichgültiger Weise an ihr vorbeiging, und nie grämte sich ein Mädchen aufrichtiger um einen Mann als sie, wie sie zum erstenmal hörte, daß Richard auf Abwege gerate.«

»O! ist er auf Abwege geraten?« sagte der Gentleman, indem er den Luftzapfen des Fäßchens herauszog und durch das Loch nach dem Bier hinunterzugucken versuchte.

»Ja, seht Ihr, Sir, ich glaube nicht, daß er sich selbst recht verstand. Ich glaube, es bedrückte ihn sehr, daß sie miteinander gebrochen hatten, und hätte er sich nicht vor dem Gentleman geschämt – vielleicht trug er auch Bedenken, weil er nicht wußte, wie sie es aufnehmen würde – so hätte er vielleicht alles über sich ergehen lassen, nur um Megs Versprechen und Hand wiederzugewinnen. So glaube ich wenigstens, obschon er mirs leider nie gesagt hat. Er legte sich dann aufs Trinken, wurde ein Faulenzer und hielt sich an schlechte Gesellschaft – lauter Vergnügungen, die – nach dem Ausspruch des Gentleman – so viel besser für ihn sein würden als das behagliche Heim, das er hätte haben können. So verlor er denn sein gutes Aussehen, seinen guten Ruf, seine Gesundheit, seine Kräfte, seine Freunde, seine Arbeit – kurz alles!«

»Er hat nicht alles verloren, Frau Tugby,« erwiderte der Gentleman, »denn er gewann ja ein Weib, und ich möchte wissen, wie dies zuging.«

»Ich komme sofort dazu, Sir. So trieb ers Jahre um Jahre und sank immer tiefer und tiefer; das arme Ding aber erduldete Elend genug, um sich ganz aufzureiben. Endlich war er so herabgekommen, daß ihm niemand mehr Beschäftigung geben oder auf ihn achten wollte, und wohin er kam, wurde ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er wanderte von einem Ort zum andern und kam zum hundertstenmal zu einem gewissen Herrn, der es oft und oft mit ihm versucht hatte; denn er war bis zu allerletzt ein guter Arbeiter. Und dieser Herr, der seine Geschichte kannte, sagte zu ihm: ›Ich glaube, Ihr seid unverbesserlich; es gibt nur eine einzige Person in der Welt, die Euch möglicherweise noch retten kann. Bittet mich nicht mehr um mein Vertrauen, bevor sie nicht einen Versuch mit Euch gemacht hat.‹ So ähnlich fuhr er ihn in seinem Zorn an.«

»Ah!« entgegnete der Gentleman. »Und was weiter?« »Nun, Sir, er ging zu ihr und kniete vor ihr nieder – sagte, so stehe es und so sei es bisher gegangen, und bat sie dann, ihn zu retten.«

»Und sie? – Laßts Euch nicht so zu Herzen gehen, Frau Tugby.«

»Sie kam noch am nämlichen Abend zu mir und fragte mich, ob sie nicht in meinem Haus wohnen könnten. ›Was er mir einmal gewesen ist‹, sagte sie, ›ist tot und begraben, Seite an Seite mit dem, was ich ihm war. Aber ich habe mir die Sache überlegt und will den Versuch machen – in der Hoffnung, ihn zu retten, und um der Liebe des frohherzigen Mädchens willen, das Ihr noch gekannt habt und das an einem Neujahrstag heiraten sollte; um jener Liebe für ihren Richard willen.‹ Und sie sagte, er sei von Lilian zu ihr gekommen, und Lilian habe ihm vertraut, und sie könne dies nie vergessen. So heirateten sie; und als sie hierherkamen und ich sie sah, hoffte ich, daß sich Prophezeiungen, wie diejenigen, die sie in ihrer Jugend trennten, nicht oft erfüllen möchten, wie in diesem Falle; wenigstens möchte ich sie nicht um ganze Goldberge voraussagen.«

Der Gentleman stieg von dem Faß herunter und streckte sich, indem er zugleich bemerkte:

»Vermutlich mißhandelte er sie, sobald sie verheiratet waren?«

»Ich glaube nicht, daß er dies je getan hat,« versetzte Frau Tugby kopfschüttelnd und sich die Augen trocknend. »Es ging mit ihm eine kurze Zeit besser; aber seine Gewohnheiten waren zu stark und zu festgewurzelt, als daß er sie hätte los werden können. Er wurde ein wenig rückfällig, und das wiederholte sich immer öfter und stärker, bis ihn sein Leiden erfaßte. Ich glaube, er hat sie immer geliebt, und bin fest davon überzeugt. Ich habe gesehen, wie er in seinen Anfällen weinend und zitternd ihre Hand zu küssen versuchte, und hörte, wie er sie Meg nannte und wie er sagte, es sei ihr neunzehnter Geburtstag. Jetzt liegt er schon wochen- und monatelang da. Da sie ihre Zeit zwischen ihm und ihrem Kinde teilen muß, war sie nicht imstande, ihre frühere Arbeit fortzusetzen; sie verlor dieselbe, weil sie sie nicht regelmäßig abliefern konnte, wenn sie auch schließlich mit ihr fertig wurde. Wie sie ihr Leben fortzubringen vermochten, weiß ich kaum zu sagen.«

»Aber ich weiß es,« murmelte Herr Tugby, indem er nach der Geldschublade, im Geschäft umher und auf seine Frau blickte; dann wiegte er mit schlauer Miene den Kopf und sagte: »Wie Kampfhähne!«

Er wurde jetzt durch einen Schrei – einen Klagelaut aus dem obern Stockwerk des Hauses unterbrochen. Der Gentleman eilte hastig zur Tür.

»Mein Freund,« sagte er zurückblickend, »Ihr braucht jetzt nicht mehr zu streiten, ob er fortgeschafft werden soll oder nicht; denn ich glaube, er hat Euch die Mühe erspart.«

Mit diesen Worten eilte er die Treppe hinauf, und Frau Tugby folgte ihm nach, während Herr Tugby hinterdrein keuchte und brummte, denn er war kurzatmiger als gewöhnlich infolge der Beute aus der Geldlade, die eine unbequeme Menge Kupfer enthalten hatte. Trotty schwebte, das Kind an seiner Seite, wie ein Windhauch die Treppe hinauf.

»Folge ihr! folge ihr! folge ihr!« Er hörte beim Hinansteigen die gespenstigen Stimmen in den Glocken ihre Worte wiederholen. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

Es war vorüber. Es war vorüber. Dies also war sie, der Stolz und die Freude ihres Vaters! – dieses hagere, unglückliche Weib, die neben dem Bett, wenn es diesen Namen verdiente, weinte und gesenkten Hauptes ein Kind an ihre Brust drückte? Wie abgezehrt, krank und elend das arme Kind aussah – aber doch, wer kann sagen, wie teuer es ihr war?

»Gott sei Dank!« rief Trotty, die Hände gefaltet in die Höhe haltend. »O, Gott sei gedankt! Sie liebt ihr Kind!«

Der Gentleman war durch täglich sich wiederholende ähnliche Szenen gleichgültig gegen den Anblick geworden und wußte, daß sie nur bedeutungslose Ziffern in Filers Summen waren – nur Striche in den Berechnungen. Er legte seine Hand auf das Herz, das nicht mehr schlug, lauschte auf den Atem und sagte:

»Seine Leiden sind vorüber. Ihm ist wohl!«

Frau Tugby versuchte, die arme Frau mit liebevoller Teilnahme zu trösten, während Herr Tugby mit philosophischen Beruhigungsmitteln angestiegen kam.

»Nun, nun!« sagte er, die Hände in seinen Taschen; »Ihr müßt Euch nicht dem Schmerz hingeben. Es führt zu nichts. Ihr müßt dagegen ankämpfen. Was wäre aus mir geworden, wenn ich mich als Portier hätte so unterkriegen lassen, wo wir wohl sechsmal in der Nacht durch das zweimalige Klopfen, das immer einen Wagen ankündigte, aus dem Schlaf gerissen wurden, um dann zu sehen, daß man uns genarrt hatte. Ich aber besaß Geistesstärke genug und machte nicht auf!«

Abermals hörte Trotty die Stimmen sagen: »Folge ihr!« Er wandte sich nach seinem Führer um und sah , wie dieser sich in die Luft schwang. »Folge ihr!« sagte er und verschwand.

Trotty schwebte um sie her, setzte sich zu ihren Füßen nieder, blickte zu ihrem Gesicht auf, um auch nur eine einzige Spur ihres früheren Aussehens zu finden , und lauschte auf einen Ton ihrer alten lieblichen Stimme. Auch das Kind umwandelte er – es war so abgezehrt, so frühalt, so schrecklich in seinem Ernst, so kläglich in seinem schwachen, traurigen Wimmern. Er betete es beinahe an; er klammerte sich an das kleine Geschöpf als ihren einzigen Schutz, als das letzte lebendige Glied, das sie noch an die Welt fesselte. Er setzte seine Vaterhoffnung, sein ganzes Vertrauen auf dieses hinfällige Kind, bewachte jeden ihrer Blicke, als sie es in ihren Armen hielt, und rief zu tausend Malen:

»Sie liebt es! Gott sei Dank, sie liebt es!«

Er war Zeuge, wie die Frau sie nachts pflegte und zu ihr zurückkehrte, sobald ihr brummender Mann schlief und alles still war, um ihr Nahrung zu bringen, sie zu ermutigen und mit ihr zu weinen. Der Tag kam und dann wieder die Nacht – abermals ein Tag und wieder eine Nacht; die Zeit entschwand. Das Haus des Todes entledigte sich seines Toten, und das Zimmer blieb ihr und dem Kind überlassen. Er hörte es stöhnen und weinen; er sah, wie es die Mutter quälte und ermüdete – ja , die vor Erschöpfung kaum Eingeschlummerte wieder wachrief und sie mit seinen kleinen Händchen auf der Folter erhielt. Aber sie blieb ausdauernd , sanft und geduldig. Geduldig! Sie war seine liebende Mutter von ganzer Seele und ganzem Herzen, und sein Leben war mit dem ihrigen so verknüpft, als sei es noch nicht geboren.

In all dieser Zeit litt sie Not, siechte dahin in schrecklichem, verzehrendem Mangel. Das Kind in ihren Armen, wanderte sie da- und dorthin, um Beschäftigung zu suchen, und während sein hageres Gesichtchen in ihrem Schoß lag und zu ihrem Antlitz aufblickte, verrichtete sie jede Arbeit für den erbärmlichsten Preis – Tag und Nacht sich abmühend für so viele Kreuzer, als da Ziffern sind auf dem Uhrblatt! Wenn sie es gezankt, vernachlässigt, nur einen Augenblick mit Haß angesehen oder gar in hastigem Zornaufwallen geschlagen hätte! Nein. Sein Trost war, daß sie es immer liebte.

Sie teilte niemand ihre äußerste Not mit und wanderte tags draußen umher, um nicht von ihrer einzigen Freundin befragt zu werden; denn jede neue Hilfe, die sie von ihren Händen erhielt, hatte einen neuen Hader zwischen der guten Frau und ihrem Gatten zur Folge. Und der Gedanke, da auch noch die Ursache zu täglichem Zank und Wortwechsel zu werden, wo sie schon so viel schuldete, bereitete ihr neues Leid.

Dennoch liebte sie ihr Kind. Sie liebte es mehr und mehr. Aber es kam eine Nacht, in der auch ihre Liebe sich anders gestaltete.

Damals sang sie es leise in den Schlaf und ging auf und ab, um es einzulullen, als sich sacht die Tür öffnete und ein Mann hereinsah.

,,Zum letztenmal!« sagte er.

»William Fern!«

»Zum letztenmal!«

Er lauschte wie einer, hinter dem die Verfolger her sind, und sprach flüsternd:

»Margarete, meine Uhr ist nahezu abgelaufen. Ich konnte nicht enden, ohne Abschied von dir zu nehmen, ohne dir ein Wort des Dankes zu sagen.«

»Was habt Ihr getan?« fragte sie, ihn mit Entsetzen betrachtend.

Er sah sie an, gab aber keine Antwort.

Nach einem kurzen Schweigen machte er eine Gebärde mit der Hand, als wollte er ihre Frage abwehren, sie beiseite schieben, und sagte:

»Es ist jetzt schon lange her, Margarete; aber jene Nacht ist noch so frisch in meinem Gedächtnis , als wäre es erst gestern gewesen. Damals dachten wir nicht,« fügte er, mit einem Blick auf ihre Umgebung, hinzu, «daß wir uns jemals unter solchen Umständen wiedersehen sollten. Ist das dein Kind, Margarete? Laß es mich umarmen. Gib mir dein Kind.«

Er legte seinen Hut auf den Boden und nahm es auf, zitterte aber dabei vom Kopf bis zum Fuß.

»Ist es ein Mädchen?«

»Ja«

Er hielt seine Hand vor ihr kleines Gesichtchen.

»Schau , wie schwach ich geworden bin, Margarete , wenn ich nicht einmal den Mut habe, es anzusehen! Laß sie mir einen Augenblick. Ich tue ihr nichts. Es ist lange her, aber … Wie heißt die Kleine?«

»Margarete,« antwortete sie rasch.

»Das freut mich,« sagte er. »Das freut mich.«

Er schien freier zu atmen. Nach einer kurzen Pause nahm er seine Hand weg und sah dem Kind ins Antlitz. Dann aber bedeckte er es augenblicklich wieder.

»Margarete!« sagte er und gab ihr das Kind zurück. »Es ist Lilians Gesicht.«

»Lilians?«

»Ich hielt dasselbe Gesicht in meinen Armen, als Lilians Mutter starb und sie zurückließ.«

»Als Lilians Mutter starb und sie zurückließ?« wiederholte sie außer sich.

»Wie schrill du sprichst! Warum starrst du mich so an, Margarete?«

Sie sank in einen Stuhl, preßte das Kind an ihre Brust und weinte. Dann sah sie ihm ängstlich ins Gesicht und drückte es abermals an ihr Herz. Wenn sie es aber so betrachtete, schien sich etwas Wildes und Schreckliches in ihre Liebe zu mischen, und ihr alter Vater begann darob zu zittern.

»Folge ihr!« tönte es durch das Haus. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

»Margarete,« sagte Fern, sich über sie beugend und sie auf die Stirn küssend. »Ich danke dir zum letztenmal. Gute Nacht. Gott behüte dich! Gib mir deine Hand und versprich mir, mich von dieser Stunde an zu vergessen, und bilde dir ein, ich sei hier gestorben.«

»Was habt Ihr getan?« sagte sie abermals.

»Es wird heute nacht ein Feuer geben,« sagte er, von ihr zurücktretend. »Es werden in diesem Winter viele Feuer sein, um die dunkeln Nächte zu erhellen im Osten, Westen, Norden und Süden. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, dann wird die Farbe von Flammen herrühren. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, denke nicht mehr an mich; oder wenn du nicht anders kannst, so erinnere dich, welche Hölle in meinem Innern angezündet wurde, und denke, es seien ihre Flammen, die sich in den Wolken spiegeln. Gute Nacht. Gott befohlen!«

Sie rief ihm nach; aber er war fort. Dann setzte sie sich betäubt nieder, bis sie durch ihr Kind zum Gefühl des Hungers, der Kälte und der Dunkelheit geweckt wurde. Sie ging die liebe lange Nacht in der Stube auf und ab, es in den Armen wiegend und beschwichtigend, wobei sie mitunter vor sich hinmurmelte: »Es gleicht Lilian, als ihre Mutter starb und sie zurückließ!« Warum war ihr Schritt so hastig, ihr Auge so wild, ihre Liebe so ungestüm und schrecklich, sooft sie diese Worte wiederholte?

»Aber es ist Liebe,« sagte Trotty. »Es ist Liebe. Sie wird nie aufhören, es zu lieben. Meine arme Meg!«

Am andern Morgen kleidete sie das Kind mit ungewöhnlicher Sorgfalt – ach, welch eitle Mühe bei so elenden Fetzen! – und versuchte abermals, irgendeinen Verdienst aufzutreiben. Es war der letzte Tag des alten Jahres. Ohne etwas über die Lippen zu bringen, lief sie bis in die Nacht umher; aber all ihre Bemühungen waren vergeblich!

Sie mischte sich unter eine Gruppe herabgekommener Bittsteller, die im Schnee standen, bis ein Beamter , der zur Verteilung der öffentlichen Almosen – die das Gesetz gebot, nicht aber die Barmherzigkeit, die einst auf einem Berg gepredigt wurde – bestellt worden war, sich gnädigst herbeiließ, die Leute hereinzurufen, ins Verhör zu nehmen, dem einen zu sagen, »er solle da und dahin gehen,« dem andern zu bemerken, »er solle nächste Woche wiederkommen,« oder einen dritten Elenden wie einen Ball von hierher dorthin, von Hand zu Hand, von Haus zu Haus zu schleudern, bis er kraftlos umsank, um zu sterben, oder wieder aufsprang, um einen Diebstahl zu begehen und so zu einer höheren Art von Verbrecher zu werden, dessen Ansprüche keine Zögerung gestatteten. Aber auch hier sollte sie ihre Erwartung trügen. Sie liebte ihr Kind und wünschte, daß es an ihrer Brust läge. Dies war ganz genug.

Es war Nacht – eine kalte, dunkle, schneidende Nacht, als sie, das Kind an ihrem Leib wärmend, an das Haus gelangte, das sie ihr Heim nannte. Sie war so matt und schwindlig, daß sie niemand unter dem Haustor stehen sah, bis sie dicht daran war und eintreten wollte. Jetzt erst erkannte sie den Hausherrn, der sich so aufgepflanzt hatte – bei seiner Beleibtheit war dies nicht schwer – daß er den ganzen Eingang versperrte.

»O!« sagte er halblaut. »Ihr seid zurückgekommen?«

Sie blickte ihr Kind an und schüttelte den Kopf.

»Glaubt Ihr nicht , Ihr habt hier lange genug gewohnt , ohne Miete zu bezahlen? Glaubt Ihr nicht , daß Ihr für jemand, der nichts zahlt, eine recht anhängliche Kundin gewesen seid?« sagte Herr Tugby.

Sie wiederholte dieselbe stumme, flehentliche Bitte.

»Was würdet Ihr dazu sagen, wenn Ihr es versuchtet, woanders einzukaufen«, meinte er, »und Euch ein andres Quartier zu verschaffen? Nun! Glaubt Ihr nicht, es ließe sich machen?«

Sie versetzte mit gedämpfter Stimme, »daß es schon sehr spät sei. Morgen.«

»Ah, ich sehe schon, was Ihr wollt und was Ihr im Sinn habt,« entgegnete Tugby; »Ihr wißt, daß es in diesem Hause wegen Euch zwei Parteien gibt, und es macht Euch Freude, sie gegeneinander zu hetzen. Ich will keinen Streit haben und spreche jetzt so leise, um jeder Zänkerei vorzubeugen; aber wenn Ihr nicht geht, will ich laut reden, und es wird Worte setzen, die stolz und heftig genug sind, um Euch zu gefallen. Aber herein kommt Ihr mir nicht, das steht fest.«

Sie strich sich das Haar mit der Hand zurück und sah plötzlich zum Himmel auf in die düstere, dunkle Ferne.

»Dies ist die letzte Nacht des alten Jahres, und ich will nicht Euch oder irgend jemand anderm zuliebe böses Blut, Händel und Unfrieden ins neue hinübernehmen,« sagte Tugby, der in kleinerem Maßstab ein ›Freund und Berater‹ war. »Es wundert mich, daß Ihr Euch nicht vor Euch selbst schämt, mit solchen Kniffen ein neues Jahr anzufangen. Wenn Ihr in der Welt nichts andres zu tun habt als stets zu heulen und den Samen der Zwietracht zu streuen zwischen Mann und Weib, so tut Ihr besser, aus ihr hinauszugehen. Fort mit Euch!«

»Folge ihr! zur Verzweiflung!«

Abermals hörte der alte Mann die Stimmen. Er blickte auf und sah die Gestalten in der Luft schweben, die ihm den dunkeln Weg zeigten, den sie ging.

»Sie liebt es!« rief er in dringlichem Flehen. »Ihr Glocken, sie liebt es noch immer!«

Die Schatten schwebten in die Richtung, die sie eingeschlagen hatte, gleich einer Wolke.

Er schloß sich den Verfolgern an, hielt sich dicht an die Unglückliche und blickte ihr ins Gesicht. Da war derselbe wilde, schreckliche Ausdruck, der sich in ihre Liebe mengte und aus ihren Augen blitzte. Er hörte sie sagen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!« und ihre Eile verdoppelte sich.

O, gab es denn gar nichts, das sie aus ihrem Taumel reißen konnte? Nur ein Anblick, ein Schall, ein Geruch, der in einem Gehirn voll Feuer zartere Erinnerungen heraufbeschwören könnte? O Gott, nur ein einziges friedliches Bild der Vergangenheit sollte sich ihrem Auge zeigen!

»Ich war ihr Vater! ich war ihr Vater!« rief der alte Mann, seine Hand nach den dunkeln Schatten ausstreckend, die in der Luft dahinflogen. »Habt Erbarmen mit ihr und mit mir! Wohin geht sie zurück! Ich war ihr Vater!«

Aber sie deuteten bloß nach ihr hin, während sie weiter eilte, und sagten:

»Zur Verzweiflung! Lerne es an dem Geschöpf, das deinem Herzen am teuersten war!«

Hundert Stimmen hallten es nach, und die ganze Luft war ein für diese Worte verbrauchter Atem. Toby schien sie mit jedem seiner Atemzüge in sich zu saugen. Sie waren überall, und er konnte ihnen nicht entkommen. Dennoch eilte sie weiter – dasselbe unheimliche Licht in ihren Augen, dieselben Laute auf ihren Lippen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!«

Mit einem Male machte sie halt.

»O holt sie zurück!« rief der alte Mann, sich das weiße Haar zerraufend. »Mein Kind! Meine Meg! Holt sie zurück! Ewiger Vater, tu ihr Einhalt!«

Sie wickelte das Kind warm in ihr eignes dünnes Halstuch. Mit fieberigen Händen streichelte sie seine Glieder, legte sein Köpflein zurecht und ordnete den armseligen Anzug. Sie umschlang es mit ihren abgezehrten Armen, als wollte sie es nimmer von sich lassen, und mit ihren vertrockneten Lippen küßte sie es im höchsten Schmerz und im letzten langen Kampf der Liebe.

Sie legte des Kindes abgezehrte Hand auf ihren Hals, hielt es unter ihrem Kleid geschützt, drückte es an ihr verzweifeltes Herz und wandte das schlafende Gesichtchen dem ihren zu – dann eilte sie dem Fluß entgegen.

Dem rollenden, raschen und trüben Strom entgegen, auf dem die Winternacht brütend saß wie die letzten düsteren Gedanken vieler, die früher hier eine Zuflucht gesucht hatten. Wo zerstreute Lichter am Ufer unheimlich rot und trübe glommen, als wären sie Fackeln, die den Weg zum Tode wiesen. Wo kein Wohnplatz lebender Menschen seinen Schatten warf auf das tiefe, undurchdringliche, melancholische Schattenreich.

Dem Fluß entgegen! Zu jener Pforte der Ewigkeit lenkte sie ihre verzweifelten Schritte mit derselben Schnelligkeit, mit der seine raschen Wellen dem Meer zuströmten. Er versuchte, sie festzuhalten, als sie auf ihrem Weg nach dem dunkeln Spiegel an ihm vorbeikam; aber die wirre, wahnsinnige Gestalt, die wilde und schreckliche Liebe, die Verzweiflung, die alles menschliche Hindernis weit hinter sich gelassen hatte, rauschte wie der Wind an ihm vorbei.

Er folgte ihr. Sie hielt einen Augenblick an dem Rand inne, ehe sie den entsetzlichen Sprung tat. Er fiel auf seine Knie nieder und rief kreischend den Gestalten in den Glocken zu, die jetzt über ihnen schwebten.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »Von dem Wesen, das meinem Herzen am teuersten ist! O rettet sie, rettet sie!«

Er konnte seine Finger in ihren Anzug krampfen, konnte ihn halten! Als diese Worte seinen Lippen entschlüpft waren, fühlte er seinen Tastsinn zurückkehren, und er wußte, daß er sie abhielt.

Die Gestalten schauten festen Blickes auf ihn nieder.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »O habt Erbarmen mit mir in dieser Stunde, wenn ich in meiner Liebe zu ihr, die so jung und so gut ist, die Natur in den Herren der Mütter schmähte und sie zur Verzweiflung brachte! Habt Mitleid mit meiner Anmaßung, mit meinem Frevel und mit meiner Unwissenheit – rettet sie!«

Er fühlte, wie seine Hand kraftloser wurde. Sie schwiegen noch immer.

»Habt Erbarmen mit ihr!« rief er. »Dieses schreckliche Verbrechen wurde nur durch sinnlose Liebe gezeitigt; durch die stärkste, innigste Liebe, die wir gefallenen Menschen kennen! Bedenkt, wie groß ihr Elend gewesen sein muß, wenn solcher Same solche Frucht trägt. Der Himmel hat sie zum Guten bestimmt. Es gibt keine liebende Mutter auf der Erde, die nicht auch so weit getrieben werden könnte, wenn ein solches Leben vorhergegangen. O habt Erbarmen mit meinem Kinde, das selbst in diesem Augenblick Erbarmen mit dem ihren hegt und selber stirbt und ihre unsterbliche Seele dem Verderben preisgibt, um es zu erlösen!«

Sie lag in seinen Armen. Er hielt sie fest. Er hatte die Kraft eines Riesen.

»Ich sehe den Geist der Glocken unter euch,« sagte der alte Mann, das Kind erblickend, mit einer Art von Begeisterung, die dessen Blicke in ihm entzündeten. »Ich weiß, daß die Zeit unser Erbteil uns verwaltet. Ich weiß, daß eines Tages ein Meer der Zeit sich erheben und alle wie Blätter wegspülen wird, die uns unrecht tun und uns unterdrücken. Ich sehe, wie es heranflutet! Ich weiß, daß wir vertrauen und hoffen müssen und weder an uns noch an andern das Gute bezweifeln dürfen. Ich habe es von dem Wesen gelernt, das meinem Herzen am teuersten. Ich halte es wieder in meinen Armen. O ihr gnädigen und gütigen Geister, ich verschließe eure Lehre in die Brust, an der ich sie halte. O ihr gnädigen und guten Geister, ich danke euch!«

Er hätte vielleicht noch mehr gesagt, wenn nicht die Glocken, die alten, lieben Glocken, seine guten, treuen, beständigen Freunde, ihr Freudengeläut zum neuen Jahr so munter, so fröhlich und so schwellend begonnen hätten, daß er auf die Füße sprang und so den Zauber löste, der ihn fesselte. –

 

»Und was du auch tust, Vater,« sagte Meg, »du mußt jedenfalls den Arzt befragen, bevor du wieder Kuttelflecke ißt, damit er dir sagen kann, ob sie dir zuträglich sind. Denn was du getrieben hast! Du lieber Gott!«

Sie saß an dem kleinen Tisch am Feuer und nähte an ihrem einfachen Hochzeitskleide, das sie mit Bändern schmückte, und war so stillselig, so blühend und jugendlich, so voll schöner Verheißung, daß er laut aufschrie, als wenn ein Engel in seinem Haus wäre. Dann stürzte er auf sie zu, um sie in seine Arme zu schließen. Doch er verwickelte sich mit den Füßen in die Zeitung, die auf die Erde gefallen war, und jemand drängte sich zwischen ihn und Meg.

»Nein,« sagte die Stimme des besagten Jemand, und es war eine prächtige, helle Stimme! »Nicht einmal Ihr. Der erste Kuß von Meg im neuen Jahr gehört mir. Mir! Ich habe eine Stunde vor dem Haus gestanden, um die Glocken zu hören und mir ihn zu verdienen. Meg, mein liebster Schatz, ein glückliches Neujahr! und mögen wir noch recht viel glückliche Jahre verleben, mein liebes Weibchen!«

Und Richard erstickte sie fast mit seinen Küssen.

Als dies geschah, konnte man keinen glücklicheren Menschen sehen als Trotty. Ich kümmere mich nicht um das, was ihr gesehen und wo ihr es erlebt habt, denn es ist ausgeschlossen, daß ihr auch nur annähernd etwas Ähnliches geschaut habt. Er setzte sich auf seinen Stuhl, schlug sich auf die Knie und weinte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte und weinte in einem Atem. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Meg. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Richard. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte beide zu gleicher Zeit. Er lief zu Meg und nahm ihr frisches Gesicht zwischen seine Hände und küßte sie und ging rückwärts wie ein Krebs, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, und lief wieder auf sie zu, wie eine Figur in einer Räuberlaterne; und was immer er tat, er setzte sich beständig wieder in seinen Stuhl, blieb aber nicht einen Augenblick sitzen. Genug – und das ist die Wahrheit – er war außer sich vor Freude.

»Und morgen ist dein Hochzeitstag, mein Herzenskind?« sagte Trotty, »wirklich dein glücklicher Hochzeitstag?«

»Heute!« jauchzte Richard und schüttelte ihm die Hände, »heute! Die Glocken läuten eben das neue Jahr ein. Hört sie nur!«

Und sie läuteten wirklich.

Gott segne die kräftigen Burschen! O, es waren große Glocken, melodische, tiefstimmige, edle Glocken, von keinem gemeinen Metall gegossen, von keinem gemeinen Gießer geformt. Wann hätten sie jemals geläutet wie heute!

»Heute, meine Meg,« sagte Trotty, »hattest du wohl mit Richard einen kleinen Wortwechsel?«

»Weil er ein so schlechter Mensch ist, Vater,« sagte Meg. »Bist du das nicht, Richard? Solch ein heftiger, halsstarriger Mensch! Wollte er doch dem großen Herrn Alderman seine Meinung sagen, und er genierte sich so wenig, als er sich genieren würde …«

»Meg zu küssen,« half Richard ein und tat es sogleich.

»Nein, nicht ein bißchen mehr. Doch ich wollte ihn nicht lassen, Vater. Was hätte es genützt?«

»Richard, mein Junge,« sagte Trotty, »du bist ein Prachtkerl und wirst ein Prachtkerl bleiben bis an dein seliges Ende. Doch du, mein Liebling, weintest heute abend am Feuer – als ich nach Hause kam? Warum weintest du denn am Feuer?«

»Ich dachte an die Jahre, die wir miteinander verlebt haben, Vater. Bloß deshalb. Und ich dachte, du würdest mich recht vermissen und dich allein fühlen.«

Trotty kehrte wieder zu jenem ominösen Stuhl zurück, als das Kind, das von dem Lärm erwacht war, halb angekleidet hereinkam.

»Ei, hier ist sie ja,« sagte Trotty und hob sie auf, »hier ist sie ja, die kleine Lilian! Ha ha! hier sind wir und hier gehen wir! O, hier sind wir und hier gehen wir wieder! Und hier sind wir und hier gehen wir und auch Onkel Will!«

Er hielt in seinem Trab inne, um ihn herzlich zu begrüßen. »Ach, Onkel Will, was hab ich heute abend für eine Erscheinung gehabt, weil ich Euch beherbergt habe. Ach, Onkel Will, wie bin ich Euch verpflichtet, daß Ihr zu mir gekommen seid, mein guter Freund!«

Ehe Will Fern die mindeste Antwort geben konnte, trat eine Musikbande in das Zimmer in Begleitung von einer Menge Nachbarn, die alle: »Glückliches Neujahr, Meg! Fröhliche Hochzeit! Noch recht lange Jahre!« und andre gute Wünsche dieser Art riefen. Der Trommler, der ein besonders guter Freund Trottys war, trat hervor und sagte: »Trotty Veck, mein alter Knabe, wir haben erfahren, daß Eure Tochter heute heiratet. Es gibt keine Menschenseele, die Euch kennt und Euch nicht das beste Glück wünscht, oder die sie kennt und ihr nicht Segen gönnt, oder die Euch beide kennt und Euch beiden nicht alles Glück wünscht, das das neue Jahr bescheren kann. Und hier sind wir deshalb, um es einzuspielen und einzutanzen.«

Das wurde mit allgemeinem Jubel aufgenommen. Der Trommler war freilich ziemlich betrunken, aber das schadete weiter nichts.

»Was für ein Glück ist es doch,« sagte Trotty, »in solcher Achtung zu stehen! Wie freundlich und nachbarlich ihr seid! Das geschieht alles meiner lieben Tochter wegen. Sie verdient es!«

Sie waren in einer halben Sekunde zum Tanz fertig, Meg und Richard voran, und der Trommler war eben im Begriff, aus allen Kräften loszuledern, da ließ sich draußen ein Gemisch von wunderbaren Tönen hören, und eine gutmütig aussehende, schmucke Frau von fünfzig Jahren oder daherum trat herein in Begleitung eines Mannes, der einen steinernen Henkelkrug von erschrecklichem Umfang trug. Dicht hinter ihnen wurden die Klapperinstrumente und Glocken getragen; aber nicht die Glocken, sondern ein tragbares Glockenspiel in einem Gestell.

Trotty sagte: »Frau Chickenstalker!« und setzte sich nieder und schlug sich wieder auf die Knie.

»Was? heiraten und mir kein Wort davon sagen, Meg?« sagte die gute Frau. »Unerhört! Ich konnte am letzten Abend des alten Jahres nicht ruhen, ohne zu kommen und dir Glück und Freude zu wünschen. Nein, ich hätte es nicht gekonnt, Meg, und wenn ich bettlägerig gewesen wäre. Und so bin ich denn hier, und da es Neujahrsabend und zugleich dein Polterabend ist, so habe ich ein wenig Eierpunsch machen lassen und denselben mitgebracht.«

Frau Chickenstalkers Begriff von »ein wenig Eierpunsch« machte ihrem Charakter alle Ehre. Der Krug dampfte und rauchte wie ein Vulkan, und dem Mann, der ihn trug, war ganz schwach zumute.

»Frau Tugby,« sagte Trotty, der ganz entzückt um sie herumging, »ich wollte sagen Chickenstalker, Gott segne Sie! Ein glückliches Neujahr und noch recht viele hinterdrein, Frau Tugby,« sagte Trotty, als er sie geküßt hatte, »ich wollte sagen Chickenstalker – dies ist William Fern und Lilly.«

Die würdige Frau wurde zu seinem Erstaunen sehr blaß und sehr rot.

»Doch nicht Lilly Fern, deren Mutter in Dorsetshire gestorben ist?« sagte sie.

Ihr Onkel bejahte, und sie wechselten schnell einige Worte miteinander, deren Ergebnis war, daß Frau Chickenstalker ihm beide Hände schüttelte, Trotty noch einmal aus freien Stücken auf die Wange küßte und das Kind an ihre geräumige Brust drückte.

»Will Fern,« sagte Trotty, indem er seinen rechten Fausthandschuh anzog, »doch nicht die Freundin, die Ihr zu finden hofftet?«

»Freilich,« entgegnete Will und legte Trotty beide Hände auf die Schultern, »und wie es scheint, eine ebenso gute Freundin, wenn das sein kann, wie der Freund, den ich in Euch gefunden habe.«

»O!« sagte Trotty, »wollt ihr dort nicht aufspielen? Seid so gut!«

Bei dem Klang der Musik, der Schellen, der Klapperinstrumente – alles zu gleicher Zeit – und während noch die Glocken lustig vom Turm niederbrummten, führte Trotty Frau Chickenstalker, Meg und Richard als zweites Paar folgend, zum Tanz und haspelte denselben in einem vorher und nachher unbekannten Pas ab, der auf seinen eigentümlichen Trab begründet war. –

Hatte Trotty geträumt? Oder sind seine Freuden und Leiden und die handelnden Personen darin nur ein Traum? Er selber ein Traum? Der Erzähler dieser Geschichte ein Träumer, der eben erwacht? – Sollte dies so sein, lieber Leser, dann präge die bösen Wirklichkeiten, aus denen diese Schatten entspringen, deiner Seele ein und suche sie in deinem Kreise – keiner ist zu weit und keiner zu enge für solch einen Zweck – zu bessern und minder drückend zu machen. Möge das neue Jahr ein glückliches für dich, ein glückliches noch für viele sein, deren Glück von dir abhängt! Möge jedes Jahr glücklicher sein als das letzte, und nicht der geringste unsrer Brüder oder Schwestern ausgeschlossen bleiben von dem gerechten Anteil an dem, was unser großer Schöpfer zu ihrer Freude geschaffen!

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Zweiundfünfzigstes Kapitel


Zweiundfünfzigstes Kapitel

Mr. Samuel Pell ordnet mit Beihilfe eines auserlesenen Kutscherkomitees die Angelegenheiten Mr. Wellers senior.

„Samuel“, sagte Mr. Weller am Morgen nach dem Begräbnis zu seinem Sohn, „ich habe es gefunden, Sammy. Ich dachte ja gleich, daß es drin sein wird.“

„Was hast du gefunden?“ fragte Sam.

„Das Testament von deiner Stiefmutter, Sammy. Wonach die Anordnungen zu treffen sind, wo ich gestern abend von sprach; diesbezüglich die Fonds.“

„So? Hat sie denn nich gesagt, wo sie es aufbewahrt hat?“ fragte Sam.

„Nicht die Bohne, Sammy“, entgegnete Mr. Weller. „Wir legten gerade unsere kleinen Zwistigkeiten bei, und ich versuchte ihr aufzuheitern, und da vergaß ich alles dabei. Aber wenn ich auch dran gedacht hätte, ich weiß nicht, ob ich’s wirklich gemacht hätte“, fügte Mr. Weller hinzu. „Es is so ’ne Sache, Sammy, nach dem Testament von ein Menschen schnüffeln, wenn du an seinem Krankenbett sitzt. Is genauso, als wenn du ’nem runtergefallenen Außenpassagier wieder auf die Kutsche hilfst und steckst ihm dabei die Hand in die Tasche und fragst ihn, wie er sich fühlt. – Dieses hier is denn also das Testament, Sammy“, sagte Mr. Weller, öffnete seine Brieftasche und zog einen abgegriffenen Bogen Briefpapier heraus, auf dem krause Schriftzüge in wirrem Durcheinander standen.

„Dies hier ist das Dokument, Sammy. Es war in dem kleinen schwarzen Teetopf auf dem Sims in der Speisekammer. Sie pflegte ihre Banknoten drin aufzubewahren, bevor daß ich ihr heiratete, Samuel. Ich habe wohl hundertmal gesehen, wie sie den Deckel abnahm, wenn sie ’ne Rechnung bezahlte.“

„Was steht denn drin?“ fragte Sam.

„Genau das, was ich dir schon erzählt habe, mein Junge. Zweihundert Fund für meinen Stiefsohn Samuel, und den ganzen Rest meines Vermögens, welcher Art und Gattung es auch sein möge, meinem Mann, Mr. Tony Veller, welchen ich zu meinem einzigen Testamentenvollstrecker ernenne.“

„Is das alles?“

„Das is alles!“ antwortete Mr. Weller. „So, na denn nehme ich an, wo nu alles richtig in Ordnung is, für dich und für mich und wir die einzigen Fahrgäste sind, wo es was angeht, können wir den Wisch ins Feuer schmeißen.“

„Bist wohl verrückt, altes Mondkalb?!“ rief Sam und entriß seinem Vater das Papier, als dieser in aller Unschuld bereits das Feuer schürte, um seinem Worte die Tat folgen zu lassen. „Du wärst mir ’n sauberer Testamentsvollstrecker, du.“

„Wieso?“ fragte Mr. Weller und blickte mit dem Schüreisen in der Hand erstaunt auf.

„Wieso?“ rief Sam. „Weißte denn nich, daß es vorher geprieft, beglaubigt und beschworen werden muß?“

„Wahrhaftich?“ fragte Mr. Weller und legte das Schüreisen nieder.

Sam steckte das Testament sorgfältig in die Brusttasche und gab nur durch einen unwilligen Blick zu verstehen, daß er es wirklich so meine, und zwar in allem Ernst.

„Dann will ich dir sagen, was es is“, hob Mr. Weller nach kurzem Nachdenken an. „Es is dies ’n Fall für den vertrauten Freund vom Lordkanzler. Pell muß die Sache ausknobeln, Sammy. Er is der Mann für ’ne schwierige Rechtsfrage. Wir werden die Sache umgehend vor den Insolvenzgerichtshof bringen, Samuel.“

„Also, ich habe noch nie so ’n ollen Rappelkopf gesehen!“ rief Sam gereizt. „Gerichtshöfe, Insolvenzgerichte, Alibis und aller mögliche Blödsinn geht ihm dauernd durch den Schädel. Es wäre besser, du würdest deinen Sonntagskittel anziehen und denn in die Stadt mitkommen, anstatt daß du hier über Sachen brabbelst, wo du nichts von verstehst.“

„Na ja, na ja, Sammy“, erwiderte Mr. Weller. „Bin doch ganz einverstanden, Sammy. Aber merk dir’s wohl, mein Junge, niemand anders als Pell, niemand als Pell darf unser Advokat sein.“

„Verlange auch sonst niemand“, brummte Sam, der sich inzwischen vor einem kleinen Spiegel sein Halstuch umgebunden hatte, „kommst nu endlich?“

„Warte noch ’ne Minute, Sammy! Wenn du mal so alt bist wie dein Vater, wirst du auch nich mehr so leicht in den Rock reinschlüpfen“, stöhnte Mr. Weller und kämpfte sich mit großer Anstrengung in seinen Überzieher.

„Soll mich der Teufel holen, wenn ich überhaupt einen trage“, knurrte Sam.

„So denkst du jetzt“, sagte Mr. Weller mit der Gravität des Alters, „du wirst aber schon finden, daß man um so weiser wird, je dicker man wird. Weite und Weisheit, Sammy, wachsen auf einem Holz.“

Als Mr. Weller diesen unfehlbaren Grundsatz – das Ergebnis vieljähriger persönlicher Erfahrung und Beobachtung – preisgab, gelang es ihm durch eine gewandte Drehung des Körpers, den untersten Rockknopf seiner Bestimmung gemäß anzuwenden. Nachdem er wenige Sekunden pausiert hatte, um wieder Atem zu schöpfen, bürstete er seinen Hut mit dem Ellbogen und erklärte sich bereit.

„Vier Köpfe sin besser als zwei, Sammy“, sagte er ernst, als sie miteinander mit der Post nach London fuhren, „und wo doch … alle diese Habseligkeiten ’ne große Versuchung für ’n Adfokaten sin, wollen wir ’n paar von meinen Freunden mit dazunehmen, wo sehr schnell über ihm herfallen würden, wenn er sich ’ne Unregelmäßigkeit würde zuschulden kommen lassen. Es sind zwei von denen, wo dich damals in der Fleet besucht haben. Es sind die besten Ferdekenner, wo du je gesehen hast“, fügte Mr. Weller geheimnisvoll hinzu.

„Sind es aber auch Advokatenkenner?“ fragte Sam.

„Wer ein richtiges Urteil über ein Tier abgeben kann, der kann auch ein richtiges Urteil über alles andere abgeben“, erwiderte Mr. Weller so dogmatisch, daß Sam nicht zu widersprechen wagte.

Die beiden Droschkenkutscher, die der alte Herr zu seinen Beiständen ausersehen, waren bald aufgefunden. Er hatte sie vermutlich mit Rücksicht auf ihre Wohlbeleibtheit und die dadurch bedingte Weisheit ausgewählt und begab sich sofort mit ihnen nach dem Gasthaus in der Portugalstreet.

Der in den Insolvenzgerichtshof hinübergeschickte Bote fand Mr. Samuel Pell glücklicherweise mit einer nicht allzu schweren Arbeit, nämlich mit einer kleinen Zwischenmahlzeit, bestehend aus Abernethyzwieback und einem Hühnchen, beschäftigt. Der berühmte Anwalt vernahm kaum, was man von ihm wünschte, als er unverzüglich seinen Mundvorrat nebst verschiedenen amtlichen Dokumenten in die Tasche steckte und in das Wirtshaus eilte.

„Meine Herren“, begann er und lüftete seinen Hut, „seien Sie mir alle gegrüßt. Ich sage es nicht, um Ihnen zu schmeicheln, meine Herren; aber es gibt kaum noch fünf andre Männer auf der Welt, denen zuliebe ich heinte den Gerichtshof verlassen hätte.“

„So beschäftigt, was?“ fragte Sam.

„Oh, beispiellos“, erwiderte Pell, „ich bin ganz abgehetzt, wie mein Freund, der verstorbene Lordkanzler, immer zu mir sagte, wenn er aus dem Oberhaus kam, wo sie ihn mit Fragen bestürmt hatten. Jaja, der Ärmste! Solche Anstrengungen griffen ihn sehr an, und die Fragen pflegten ihm außerordentlich zu Herzen zu gehen. Ich glaubte wirklich mehr als einmal, er müsse unter der Last seiner Arbeiten notwendigerweise zusammenbrechen. Heda, liebes Kind, bringen Sie mir doch für drei Pence Rum.“ – Mr. Pell seufzte, seh wieg, betrachtete seine Schuhe, sah dann zur Decke empor und goß den Rum, der ihm sofort gebracht worden war, hinunter.

„Indes“, nahm er seine Rede wieder auf und rückte seinen Stuhl an den Tisch, „ein Geschäftsmann hat kein Recht, an seine Privatfreundschaften zu denken, wenn sein juristischer Beistand verlangt wird. Beiläufig gesagt, meine Herren, seit ich Sie das letztemal hier sah, haben wir ein sehr trauriges Ereignis zu beweinen gehabt. Ich habe es im Anzeiger gelesen, Mr. Weller“, setzte er hinzu. „Gott, Gott, nix mehr als zweiundfünfzig Jahre! Unglaublich. Hm. – Ich habe gehört, daß sie eine sehr schöne Frau gewesen ist, Mr. Weller?“

„Ja, Sir, das war sie“, brummte Mr. Weller. „Aber lassen wir das jetzt. Gehen wir mal ans Geschäft.“

Dieses Wort war Musik für Mr. Pell, denn er hatte so seine Zweifel gehabt, ob er nicht am Ende nur zu einem freundschaftlichen Glas Grog oder einer Bowle Punsch oder sonst einem ähnlichen Achtungsbeweise eingeladen worden sei. Mit funkelnden Augen nahm er das Testament entgegen, das ihm Sam reichte, und sagte:

„Diese andern Herren sind ohne Zweifel Legatare?“

„Nö, Sammy ist der einzige Legatar“, erwiderte Mr. Weller, „diese andern Herrn sin Freunde von mir. Habe sie als ’ne Art Schiedsrichter mitgebracht.“

„Hm“, sagte Pell, „sehr gut. Ich habe durchaus nichts dagegen. Nur muß ich um fünf Pfund Vorschuß bitten, bevor ich anfange.“

Das Komitee entschied, die fünf Pfund sollten vorgeschossen werden, Mr. Weller bezahlte die Summe, und dann fand eine lange Beratung statt, wobei Mr. Pell zur großen Befriedigung der Herren Schiedsrichter den Beweis führte, daß, wenn die Leitung des Geschäftes nicht ihm anvertraut worden wäre, es notwendig hätte schiefgehen müssen, aus Gründen, die zwar nicht ganz klar, aber genügend einleuchtend waren. Nachdem dieser wichtige Punkt ins reine gebracht war, erfrischte sich Mr. Pell auf Kosten der Beteiligten mit einigen guten Bissen und sowohl malzigen wie geistigen Getränken, und alle begaben sich nach Doktors Commons.

Nach den nötigen Verhandlungen war die Angelegenheit endlich so weit gediehen, daß der Tag anberaumt werden konnte, an dem durch Vermittlung des Börsensensals Wilkins Flasher, Esquire, der dazu von Mr. Pell in Vorschlag gebracht worden, Sams Erbteil in Fonds angelegt und der Rest zu Geld gemacht werden konnte.

Es war dies eine festliche Veranlassung, und die beteiligten Personen schmückten sich dazu in angemessener Weise. Mr. Weller ließ sich das Haar brennen, und alle prangten in Festornat, das heißt, sie zogen so viele Kleider an, wie nur möglich, und steckten Lorbeerzweige und Georginen in die Knopflöcher.

Mr. Pell erschien zur bestimmten Zeit am gewöhnlichen Versammlungsort und trug ein Paar Handschuhe und ein frisches Hemd (letzteres durch vieles Waschen am Kragen und den Manschetten ein wenig durchgerieben).

„Viertel vor zwei“, sagte er und blickte auf die Stubenuhr. „Wenn wir Viertel nach zwei zu Mr. Flasher kommen, ist es gerade die beste Zeit.“

Zur Feier des Tages wurde noch schnell ein kleiner Lunch, bestehend aus Bier, Brandy, Austern und Beefsteak, eingenommen und dann brach das Komitee gemächlich auf.

Das Bureau des Börsensensals Wilkins Flasher, Esquire, lag zu einem Hof hinaus hinter der Bank von England; das Haus Wilkins Flashers, Esquire, war in Brixton, Surrey; das Pferd und der Stanhope Wilkins Flashers, Esquire, standen in einem Mietsstall in der Nähe; der Groom Wilkins Flashers, Esquire, war auf dem Weg nach dem Westen von London, um Wildpret abzuliefern; der Schreiber Wilkins Flashers, Esquire, war zum Mittagessen gegangen, und so rief Wilkins Flasher, Esquire, in höchsteigener Person „herein“, als Mr. Pell mit seinen Begleitern an der Tür des Kontors anklopfte.

„Guten Morgen, Sir“, sagte der Advokat mit höflicher Verbeugung. „Wir möchten gerne etwas ä kleine Transaktion vornehmen, wenn es Ihnen konveniert.“

„Schön, schön!“ sagte Mr. Flasher. „Setzen Sie sich einen Augenblick. Ich stehe sogleich zu Diensten.“

„Danke Ihnen, Sir“, sagte Pell, „es hat keine Eile. Nehmen Sie einen Stuhl, Mr. Weller.“

Mr. Weller nahm einen Stuhl, Sam eine Kiste, und die Schiedsrichter nahmen, was sie bekommen konnten, und besahen sich den Kalender und ein paar an die Wand geklebte Papiere mit so offenkundiger Ehrfurcht, als ob es alte Meister gewesen wären.

„Also gut, ich wette ein halbes Dutzend Flaschen Bordeaux; schlagen Sie ein“, nahm Wilkins Flasher, Esquire, seine unterbrochene Unterhaltung mit einem stutzerhaft gekleideten jungen Gentleman wieder auf, der, seinen Hut schief auf, sich an einem Pulte rekelte und mit einem Lineal Fliegen totschlug. Wilkins Flasher, Esquire, balancierte dabei auf einem Schreibstuhl und zielte mit seinem Federmesser auf eine Oblatenschachtel, die er dann und wann mit großer Gewandtheit gerade in der Mitte traf. Beide Gentlemen trugen sehr weit ausgeschnittene Westen und sehr weit zurückgeschlagene Kragen, sehr kleine Stiefel und sehr dicke Ringe, sehr kleine Uhren und sehr große Uhrketten, knapp anliegende Hosen und parfümierte Taschentücher.

„Ich wette nie ein halbes Dutzend“, sagte der junge Herr. „Ein ganzes Dutzend muß es sein.“

„Gemacht, Simmery, es gilt!“ sagte Wilkins Flasher, Esquire.

„Aber sogleich zu bezahlen!“

„Versteht sich“, erwiderte Wilkins Flasher, Esquire, und trug die Wette in ein kleines Buch mit einem goldenen Crayon ein. Der andre Gentleman notierte sie ebenfalls in einem andern kleinen Buch, ebenfalls mit einem goldenen Crayon.

„Ich lese da gerade, daß Boffer“, bemerkte Mr. Simmery, „pleite ist.“

„Ich wette zehn Guineen gegen fünf, daß er sich die Kehle durchschneidet“, griff Wilkins Flasher, Esquire, sofort das Thema auf.

„Gemacht!“ schlug Mr. Simmery ein.

„Halt!“ sagte Wilkins Flasher, Esquire, gedankenvoll. „Vielleicht hängt er sich auch auf.“

„Auch gut“, meinte Mr. Simmery und zog den goldenen Crayon wieder heraus. „Ich nehme die Wette auch so an. Sagen wir also: er macht seinem Leben ein Ende.“

„Er tötet sich selbst“, ergänzte Wilkins Flasher, Esquire.

„Tötet sich selbst“, schrieb Mr. Simmery auf. „Flasher: zehn Guineen gegen fünf, Boffer tötet sich selbst. Binnen welcher Zeit wollen wir sagen?“

„Binnen vierzehn Tagen etwa.“

„Gott bewahre, nein“, erwiderte Mr. Simmery und hielt einen Augenblick inne, um eine Fliege mit dem Lineal zu erschlagen. „Sagen wir eine Woche.“

„Halbieren wir! – Zehn Tage?“ schlug Wilkins Flasher, Esquire, vor.

„Gut, also zehn Tage.“

„Es tut mir leid“, sagte Wilkins Flasher, Esquire, nach einer Pause, „daß er pleite ist. Er hat famose Soupers gegeben.“

„Und einen glänzenden Portwein gehabt. Wir werden morgen unsern Kellermeister in die Auktion schicken, um einiges von dem Vierundsechziger zu erstehen.“

„Zum Teufel!“ fuhr Wilkins Flasher, Esquire, auf. „Der meinige geht auch hin. – Fünf Guineen, daß mein Mann den Ihrigen überbietet.“ „Gemacht!“

Die Wette wurde wieder mit den goldenen Crayons in die kleinen Bücher eingetragen, und nachdem Mr. Simmery noch sämtliche Fliegen getötet und sich sämtliche Wetten durchgelesen hatte, begab er sich auf die Börse, um zu sehen, was sich dort „tue“.

Jetzt endlich ließ sich Wilkins Flasher, Esquire, herab, Mr. Samuel Pells Instruktionen entgegenzunehmen, und nachdem er einige gedruckte Formulare ausgefüllt, ersuchte er die Gesellschaft, ihn auf die Bank zu begleiten. Mr. Weller und seine drei Freunde hatten inzwischen alles, was zu sehen war, mit unbeschreiblichem Erstaunen angestarrt, nur Sam besichtigte jedes Ding mit einer Gleichgültigkeit und Kälte, der nichts zu imponieren vermochte.

Sie kamen über einen Hofraum und an ein paar Portiers mit Livreen so rot wie die Feuerspritze, die in einer Ecke stand, vorbei und traten dann in ein Bureau, wo das Geschäft abgemacht werden sollte und mehrere Herren hinter Pulten saßen.

„Das sin woll die reduzierten Konsols?“ flüsterte Mr. Weller. „Was, Samuel?“

„Glaubst wohl, die reduzierten Konsols sin lebendig?“ fragte Sam mit Verachtung.

„Woher soll ich’s denn wissen“, entschuldigte sich Mr. Weller. „Wat sin se denn?“

„Schreiber.“

„Warum essen se denn alle Schinken?“

„Vermutlich, weil’s mit zum Amte gehört“, erwiderte Sam, „gehört mit zum ganzen System, und se tun’s den ganzen Tag.“

Mr. Weller und seine Freunde hatten kaum Zeit, über diese sonderbare, mit dem Münzsystem des Landes zusammenhängende Einrichtung nachzudenken, als Pell wieder zu ihnen trat. Mr. Flasher begab sich in die Bank und kehrte bald darauf mit einem Scheck über fünfhundertunddreißig Pfund Sterling, dem Erlös von Mr. Wellers Anteil, zurück.

Der alte Herr war im Anfang hartnäckig entschlossen, das Papier bloß gegen Guineen auswechseln zu lassen, als ihm aber die Schiedsrichter vorstellten, daß er dann einen kleinen Sack kaufen müßte, um sie nach Hause zu bringen, willigte er endlich ein, den Betrag in Fünfpfundnoten anzunehmen.

„Mein Sohn“, sagte er, als sie von der Bank weggingen, „mein Sohn und ich haben heute nachmittag ’n ganz besonderes Geschäft, und es wäre mir lieb, wenn wir alles vorher ins reine brächten und mal die Rechnungen prüften.“

Das war bald geschehen. Mr. Pells Konto wurde von Sam geprüft und einige Posten von den Schiedsrichtern gestrichen; aber trotz Mr. Pells Schwüren und vielfach-feierlichem Protest, daß man zu hart mit ihm verfahre, war dies doch in jeder Beziehung das beste Geschäft, das er je gemacht hatte, denn er bestritt mit dem Betrag sechs Monate lang Kost, Quartier und Wäsche.

Nachdem die Schiedsrichter noch an einem Abschiedstrunk teilgenommen, schüttelten sie einander die Hände und reisten ab, da sie sämtlich noch vor Abend die Stadt verlassen mußten. Mr. Salomon Pell nahm ebenfalls, sobald er sah, daß es nichts mehr zu essen und zu trinken gab, aufs freundschaftlichste Abschied, und Sam und sein Vater waren endlich allein.

„Nun hätten wir also“, sagte Mr. Weller und verstaute seine Brieftasche, „außer den Rechnungen für den Mietkontrakt und solche Geschichten elfhundertundachtzig Pfund beisammen. Nu, Samuel, kehre mal um und fahre nach dem ‚Georg und Geier‘, mein Junge.“

Dreiundfünfzigstes Kapitel


Dreiundfünfzigstes Kapitel

Eine wichtige Beratung zwischen Mr. Pickwick und Sam, der Mr. Weller beiwohnt. Ein alter Herr in sthnupftabakjarbenen Kleidern tritt unerwartet auf.

Mr. Pickwick saß allein auf seinem Zimmer und sann über mancherlei Dinge, besonders aber darüber nach, wie er am besten für das junge Paar sorgen könne, dessen gegenwärtige unsichere Lage für ihn ein Gegenstand beständiger Sorge und Unruhe war, als Mary eilig hereintrippelte und etwas hastig meldete:

„Ach, Sir, erlauben Sie, Samuel ist unten und fragt, ob er Sie mit seinem Vater besuchen darf.“

„Gewiß, warum denn nicht?“ erwiderte Mr. Pickwick. „Ist Sam schon lange hier?“

„Ach nein, Sir“, erwiderte Mary eifrig. „Er ist eben erst nach Hause gekommen. Er wird Sie von jetzt an um keinen Urlaub mehr bitten, Sir, sagt er.“

Mary mochte selbst gefühlt haben, daß sie diese letzte Mitteilung mit mehr Wärme gemacht hatte, als eben notwendig war, oder hatte sie vielleicht das gutmütige Lächeln bemerkt, mit dem Mr. Pickwick sie ansah, als sie mit ihrem Vortrag zu Ende war, jedenfalls ließ sie das Köpfchen sinken und betrachtete den Zipfel ihrer hübschen kleinen Schürze mit mehr Aufmerksamkeit, als unumgänglich erforderlich schien. „Sagen Sie ihnen, sie könnten sogleich heraufkommen“, sagte Mr. Pickwick, und Mary eilte erleichterten Herzens mit ihrer Botschaft fort.

Mr. Pickwick ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder und rieb sich mit der linken Hand das Kinn, wie er gerne zu tun pflegte, wenn er in Gedanken verloren war.

„Jaja“, sagte er mit gutgelauntem, aber doch etwas wehmütigem Ton vor sich hin, „das ist die beste Art, wie ich ihn für seine Anhänglichkeit und Treue belohnen kann. So sei es denn in Gottes Namen. Es ist nun einmal das Los eines alten einsamen Mannes, daß seine Umgebung neue und andere Verbindungen anknüpft und ihn verläßt. Ich habe kein Recht zu erwarten, daß es mit mir anders sein sollte. Nein, nein“, fügte er ein wenig heiterer hinzu, „es wäre selbstsüchtig und undankbar von mir. Ich muß mich freuen, eine Gelegenheit zu haben, ihn so gut zu versorgen, und ich freue mich auch wirklich.“

Der Eintritt der beiden Herren Weller riß ihn aus seinen Betrachtungen.

„Freut mich, daß du wieder da bist, Sam“, rief er gutgelaunt. „Und wie befinden Sie sich, Mr. Weller?“

„Recht gut, danke Ihnen, Sir“, erwiderte der Witwer. „Und Sie sin hoffentlich auch wohl, Sir?“

„O ja, gewiß, ich danke Ihnen.“

„Ich möchte gerne paar Worte mit Ihnen sprechen, wenn Sie so fünf Minuten für mich übrig hätten.“

„Gewiß, warum denn nicht?“ erwiderte Mr. Pickwick freundlich. „Sam, gib deinem Vater einen Stuhl.“

„Dank dir, Samuel, habe schon einen“, wehrte Mr. Weller ab und schleppte einen Stuhl herbei, „’n wunderschöner Tag heute“, setzte er hinzu, stellte seinen Hut auf den Boden und setzte sich.

„Ja, sehr schön“, bestätigte Mr. Pickwick. „Sehr angenehmes Wetter.“

„’s angenehmste Wetter, wo ich je gesehen habe.“

Hier wurde der alte Kutscher von einem heftigen Husten befallen, nickte mit dem Kopf, zwinkerte und machte seinem Sohn allerhand wütende Gebärden, die dieser jedoch hartnäckig ignorierte.

Als Mr. Pickwick die Verlegenheit des alten Herrn bemerkte, stellte er sich, als wäre er beschäftigt, ein neben ihm liegendes Buch aufzuschneiden, und wartete geduldig, bis Mr. Weller mit dem Zweck seines Besuches herausrücken würde.

„Zeit meines Lebens habe ich noch nich so ein gottverlassenen Lausejungen gesehen, wie du bist, Samuel“, sagte Mr. Weller schließlich mit einem ungnädigen Blick auf seinen Sohn.

„Was tut er denn?“ erkundigte sich Mr. Pickwick. „Der will einfach nicht anfangen, Sir“, erwiderte Mr. Weller, „dabei weiß er ganz genau, daß ich mir nich ausquetschen kann, wenn es nich was Absonderliches is, und da steht er nu und sieht mir dasitzen, und wie ich Ihre kostbare Zeit raube und kommt mir nich mal mit eine Silbe zu Hilfe. Das is kein kindliches Benehmen nich, Samuel“, fuhr Mr. Weller fort und wischte sich die Stirn, „bestimmt nich.“

„Ich dachte, du wolltest doch selber reden“, entgegnete Sam, „wie konnte ich denn da wissen, ob du nich schon fertig warst?“

„Du hättest doch sehen müssen, daß ich nich in Schwung kam“, erwiderte der Alte. „Ich bin ebend auf die falsche Straßenseite geraten und in Gräben und allerhand Deubeleien gefallen und du streckst nich mal die Hand aus und hilfst mir. Ich schäme mich für dich, Samuel.“

„Die Sache ist die, Sir“, begann Sam mit einer leichten Verbeugung, „mein Vater hat sein Geld flüssiggemacht.“

„Sehr gut, Samuel, sehr gut“, lobte Mr. Weller und nickte zufrieden, „ich habe es nich so böse gemeint, Sammy. Sehr gut. So mußt de anfangen; denn bist de gleich am Ziel. Sehr gut, wahrhaftig, Samuel.“

„Setz dich doch, Sam“, unterbrach Mr. Pickwick, fürchtend, die Zusammenkunft könnte leicht länger werden, als er erwartet hatte.

Sam verbeugte sich abermals, setzte sich und fuhr fort: „Der Alte hat fünfhundertunddreißig Fund losgeeist.“ „Reduzierte Konsols“, ergänzte Mr. Weller senior. „Das hat nun nichts zu sagen, ob es reduzierte Konsols sin oder nich“, sagte Sam, „fünfhundertdreißig Fund is die Summe, oder nich?“

„Stimmt genau, Samuel.“

„Zu dieser Summe kommt noch „n bißchen was für das Haus und Geschäft …“

„Mietzins, Vergütung, Kapital, Niet- und Nagelfestes“, erklärte Mr. Weller. „Jedenfalls so viel, daß die Summe im ganzen elfhundertachtzig Fund ausmacht.“

„Was höre ich?“ rief Mr. Pickwick. „Das freut mich; da kann man Ihnen ja gratulieren, Mr. Weller, daß Sie so gut abgeschnitten haben.“

„Warten Sie noch ’ne Minute, Sir“, bat Mr. Weller und hob beschwörend die Hand hoch. „Fahr weiter, Samuel.“

„Und dieses Geld“, sagte Samuel mit einigem Zögern, „dieses Geld möchte er irgendwo unterbringen, wo er weiß, daß es sicher is, und ich möchte es auch, denn wenn er es behält, denn wird er es entweder verpumpen oder in Pferde stecken, oder seine Brieftasche mal verlieren, oder es sich auf die eine oder andre Art abluchsen lassen.“

„Sehr gut, Samuel“, lobte Mr. Weller wieder. „Sehr gut.“

„Und aus diesen Gründen“, fuhr Sam fort und stierte nervös auf seine Hutkrempe, „aus diesen Gründen hat er nu heute sein Geld mitgenommen und is mit mir hierhergekommen, weil er letzten Endes … weil er es Ihnen anbieten, oder mit anderen Worten, weil … ähem …“

„Um folgendes zu sagen“, fiel der alte Mr. Weller ungeduldig ein, „daß ich das Geld nich brauchen kann. Ich habe im Sinn, daß ich wieder ’ne regelmäßige Postkutsche fahren will, und ich hab keinen Ort, wo ich es aufbewahren kann, außer wenn ich den Kondukteur dafür bezahlen tue, daß er darauf aufpaßt, oder ich stecke es in den Kutschkasten und denn is es nu wieder ’ne Versuchung für die Innenpassagiere. Wenn Sie es mir aufbewahren würden, Sir, denn würde ich Ihnen sehr verbunden sein. Vielleicht“, setzte er hinzu, trat näher an Mr. Pickwick heran und flüsterte ihm ins Ohr, „vielleicht wäre Ihnen ’n bißchen damit gedient, von wegen Ihre Prozeßkosten; mit ‚m Zurückzahlen isses halb so wild, bis ich mal draufkomme.“

Mit diesen Worten legte Mr. Weller die Brieftasche in Mr. Pickwicks Hände, ergriff seinen Hut und rannte mit einer Geschwindigkeit zur Tür hinaus, die man von einem so wohlbeleibten Herrn kaum erwartet hätte.

„Halt ihn fest, Sam!“ rief Mr. Pickwick aufgeregt. „Eile ihm nach und bring ihn augenblicklich zurück. Mr. Weller! Heda! Kommen Sie zurück!“ Sam sah ein, daß den Befehlen seines Herrn der Gehorsam nicht verweigert werden durfte, ergriff daher seinen Vater am Arm, als er gerade die Treppe hinab wollte, und schleppte ihn mit Gewalt wieder zurück.

„Mein lieber Freund“, sagte Mr. Pickwick und faßte den alten Herrn bei der Hand. „Wirklich, Ihr Vertrauen rührt mich.“

„Ich sehe aber ganz und gar nicht den Grund ein“, erwiderte Mr. Weller verstockt.

„Und ich versichere Ihnen, mein lieber Freund, ich besitze mehr Geld, als ich jemals bedarf, weit mehr, als ein Mann in meinem Alter je noch verbrauchen kann“, sagte Mr. Pickwick.

„Niemand weiß, wieviel er brauchen kann, bis er’s probiert hat“, belehrte Mr. Weller.

„Mag sein“, gab Mr. Pickwick zu. „Da ich aber durchaus keine Lust habe, solche Experimente anzustellen, so werde ich wahrscheinlich nicht leicht in Not kommen. Ich muß Sie aber bitten, Ihre Brieftasche wieder zurückzunehmen, Mr. Weller.“

„Na gut“, brummte Mr. Weller mit sehr unzufriedenem Blick. „Aber merk dir, was ich dir sage, Sammy; ich werde mit dem Gelde da was Verzweifeltes anfangen, was ganz Verzweifeltes!“

„Laß das lieber bleiben“, riet Sam.

Mr. Weller besann sich eine Weile, knüpfte dann mit großer Entschiedenheit seinen Rock zu und sagte: „Ich werde mir ’n Schlagbaum pachten.“ „Was?“ rief Sam.

„’n Schlagbaum“, murmelte Mr. Weller durch die Zähne, „ich werde Schlagbaumwärter werden. Nimm Abschied von deinem Vater, Samuel; ich widme mir für den Rest meiner Tage ’nem Schlagbaum.“

Diese Drohung lautete so schrecklich, und Mr. Weller schien so fest entschlossen, sie auszuführen, und durch Mr. Pickwicks Weigerung dermaßen gekränkt zu sein, daß der Gelehrte nach kurzem Bedenken sagte:

„Nun gut, Mr. Weller, ich will das Geld annehmen. Ich kann vielleicht mehr Gutes damit tun als Sie.“

„Ganz meine Meinung“, rief Mr. Weller strahlend, „‚türlich können Sie das. Herr – ich – hm.“

„Gut, sprechen wir nicht mehr davon“, sagte Mr. Pickwick und verschloß die Brieftasche in sein Pult, „ich bin Ihnen herzlich verbunden, mein lieber Freund. Jetzt aber setzen Sie sich wieder, ich möchte Sie nämlich um Ihren Rat fragen.“

Das triumphierende innerliche Lachen, das nicht nur Mr. Wellers Gesicht, sondern auch seine Arme, Beine und seinen ganzen Leib krampfhaft zusammengezogen hatte, während die Brieftasche eingeschlossen wurde, wich plötzlich der würdevollsten Gravität, als er diese Worte hörte. „Sam, warte draußen ein paar Minuten“, befahl Mr. Pickwick.

Sam zog sich sogleich zurück.

Mr. Weller blickte höchst weise und verwundert drein, und Mr. Pickwick begann folgendermaßen:

„Sie sind, glaube ich, kein Anhänger des Ehestandes?“

Mr. Weller schüttelte den Kopf. Er schien der Sprache gänzlich beraubt zu sein, und unbestimmte Befürchtungen, irgendeiner ruchlosen Witwe könnten Pläne auf Mr. Pickwick geglückt sein, lahmten seine Zunge.

„Haben Sie vielleicht zufällig ein junges Mädchen unten gesehen, als Sie mit Ihrem Sohn heraufkamen?“

„Ja. Ich hab da so ’n junges Ding gesehen“, erwiderte Mr. Weller kurz.

„Was halten Sie von ihr? Aufrichtig gesprochen, Mr. Weller, wie gefiel sie Ihnen?“

„Ich glaube, sie war recht stramm und gut gebaut“, sagte Mr. Weller mit ernster Kennermiene.

„Ja, das ist sie. Ein hübsches Mädchen. Und wie hat Ihnen ihr Benehmen gefallen, soviel Sie von ihr gesehen haben?“

„Hm, sehr angenehm“, erwiderte Mr. Weller, „sehr angenehm und komformabel.“

„Ich interessiere mich sehr für sie, Mr. Weller“, platzte Mr. Pickwick heraus.

Mr. Weller hustete.

„Das heißt“, fuhr Mr. Pickwick fort, „ich interessiere mich insofern für sie, daß ich wünsche, es möchte ihr noch mal gut gehen. Sie verstehen mich?“

„Vollkommen“, erwiderte Mr. Weller, der noch immer nicht im mindesten begriff.

„Diese junge Person“, fuhr Mr. Pickwick fort, „ist in Ihren Sohn verliebt.“

„In Samuel Weller?“

„Ja.“

„’s is ja natürlich“, meinte Mr. Weller nach einigem Nachdenken, „’s is ja natürlich, aber doch recht beunruhigend. Sammy soll sich nur in acht nehmen.“

„Wieso?“

„Na, er muß sich sehr in acht nehmen, daß er nichts zu ihr sagt, damit daß er sich nich in ein unschuldigen Augenblick verleiten läßt, was vorzubringen, was zu eine Klage wegen Eheversprechen führen kann. Man is bei die Weibsbilder nie sicher, Mr. Pickwick. Wenn sie mal Absichten auf einen haben, denn haben sie einen ruckzuck beim Wickel, ehe man sich versieht. So habe ich mir ja selbst das erstemal verheiratet, Sir, und Sammy war die Folge von das Manöver.“

„Sie ermutigen mich nicht sehr bei dem, was ich sagen will“, bemerkte Mr. Pickwick, „und doch muß es heraus. Diese junge Person ist nicht nur in Ihren Sohn verliebt, Mr. Weller, sondern Ihr Sohn auch in sie.“

„Schön“, sagte Mr. Weller, „das sin ja recht erfreuliche Sachen für mein väterliches Ohr.“

„Ich habe sie bei verschiedenen Gelegenheiten beobachtet“, fuhr Mr. Pickwick fort, ohne von Mr. Wellers letzter Bemerkung weiter Notiz zu nehmen, „und ich hege nicht die mindesten Zweifel darüber. Wenn ich ihnen nun irgendein kleines Geschäft oder dergleichen verschaffen würde, mit dessen Einkünften sie anständig miteinander leben könnten, was würden Sie dazu sagen, Mr. Weller?“

Im Anfang nahm der alte Herr mit allerhand Grimassen den Vorschlag auf, der die Verheiratung eines Menschen bezweckte, der ihm nahestand; als aber Mr. Pickwick näher mit ihm auf die Sache einging und großen Nachdruck auf das Faktum legte, daß Mary doch keine Witwe sei, wurde er allmählich gefügiger und gab schließlich klein bei. Auch war ihm Marys Äußeres ausnehmend nett vorgekommen, und er hatte ihr bereits einigemal sehr unväterlich zugeblinzelt.

Endlich sagte er, es würde ihm schlecht anstehen, sich Mr. Pickwicks Wünschen zu widersetzen, und er werde mit Freuden seinen Rat befolgen, worauf ihn Mr. Pickwick fröhlich beim Worte nahm und Sam wieder hereinrief.

„Sam“, begann er und räusperte sich, „dein Vater und ich haben soeben von dir gesprochen.“

„Ja, von dir, Samuel“, bekräftigte Mr. Weller in nachdrucksvollem Beschützerton.

„Ich bin nicht so blind, Sam“, fuhr Mr. Pickwick fort, „um nicht schon geraume Zeit bemerkt zu haben, daß du gegen das Kammermädchen Mrs. Winkles etwas mehr als freundschaftliche Gefühle hegst.“

„Hörst du, Samuel!?“ rief Mr. Weller in demselben richterlichen Ton wie zuvor.

„Ich hoffe, Sir“, antwortete Sam, „ich hoffe, daß Sie nichts Böses daran finden tun, wenn ein junger Mann seine Augen auf ein junges Frauenzimmer wirft, wo ganz unbestritten hübsch aussieht und sich gut aufführen tut.“

„Ganz gewiß nicht.“

„Nö, nich im geringsten“, stimmte Mr. Weller in freundlichem, aber dennoch würdevollem Ton ein.

„Ich bin“, fuhr Mr. Pickwick fort, „soweit entfernt, an einem so natürlichen Benehmen etwas Unrechtes zu finden, daß ich vielmehr deinen Wünschen in dieser Beziehung entgegenzukommen und sie zu fördern beabsichtige. Ich habe schon mit deinem Vater eine kleine Unterredung darüber gehabt, und da ich den Eindruck habe, daß er meiner Meinung ist…“

„Weil nämlich das Frauenzimmer keine Witwe nich is“, fiel Mr. Weller erläuternd ein.

„Ja, weil das Frauenzimmer keine Witwe ist“, wiederholte Mr. Pickwick lächelnd. „Ich wünsche also, dich von dem Zwang zu befreien, den dir deine gegenwärtige Stellung auferlegt, und dir meine Dankbarkeit für deine Treue und vielen vortrefflichen Eigenschaften dadurch zu beweisen, daß ich dich in den Stand setze, das Mädchen zu heiraten und für dich selbst mit einer Familie ein unabhängiges Leben zu führen. Ich werde stolz darauf sein, Sam“, fügte Mr. Pickwick hinzu, dessen Stimme bisher ein wenig gebebt hatte, jetzt aber ihren gewöhnlichen Ton wieder annahm, „ich werde stolz darauf sein und mich glücklich schätzen, deine künftigen Aussichten im Leben zum Gegenstand meiner dankbaren und ganz besonderen Sorgfalt zu machen.“

Auf einige Augenblicke trat eine kurze Stille ein, dann aber sagte Sam mit etwas leiser und dumpfer, aber fester Stimme:

„Bin Ihnen ungemein verbunn für Ihre Güte, Sir, die Ihnen wieder ganz ähnlich sieht; aber ’s kann nich sein.“

„Kann nicht sein?“ rief Mr. Pickwick erstaunt.

„Samuel!!“ ermahnte Mr. Weller.

„Ich sage, es kann nich sein“, wiederholte Sam in bestimmtem Tone. „Was würde denn aus Ihnen werden, Sir?“

„Du bist ein guter Kerl!“ erwiderte Mr. Pickwick. „Aber die neuerlichen Veränderungen in den Verhältnissen meiner Freunde werden auch meine künftige Lebensweise ganz verändern; überdies werde ich älter und bedarf der Ruhe und Stille. Mein langes Herumziehen wird bald ein Ende haben, Sam.“

„Kann man noch nich so bestimmt wissen“, meinte Sam. „Jetzt denken Sie zwar so, aber wenn’s Ihnen mal wieder anders einfällt, was nich unwahrscheinlich ist, denn Se sin immer noch jugendlich wie ’n Fünfundzwanziger, was sollte dann aus Ihnen werden ohne mir? Nö! Es kann nich sein, Herr, kann einfach nich sein.“

„Sehr gut, Samuel, das is mal vernünftig gesprochen“, lobte Mr. Weller.

„Ich spreche nach langer Überlegung, Sam, und mit der Gewißheit, daß ich mein Wort halten werde“, sagte Mr. Pickwick und schüttelte den Kopf. „Ein neues Arbeitsfeld ist mir erschlossen. Mein Herumziehen hat ein Ende.“

„Tadellos!“ erwiderte Sam. „Das is ja denn gerade der beste Grund, warum Sie immer einen bei sich haben müssen, der wo Ihnen versteht und aufheitert und in gute Laune bringt. Wenn Sie irgendwie ’ne feinere Sorte von Menschen brauchen, auch gut und schön, denn nehmen Sie einen! Aber mit oder ohne Lohn, mit oder ohne Beachtung, mit oder ohne Kost und Logis: Sam Weller, den Sie in dem alten Krug in Borough aufgefischt haben, der bleibt bei Ihnen; da kann kommen, was will, da kann passieren was will und da können irgendwelche Leute noch so mit mir rumfuhrwerken, es is mir alles Wurst.“

Am Schluß dieser Erklärung, die Sam mit großer innerer Bewegung hervorgestoßen hatte, sprang Mr. Weller von seinem Sitz auf, vergaß alle Rücksichten auf Zeit, Ort und Schicklichkeit, schwenkte seinen Hut über dem Kopfe und brach in drei stürmische Hurras aus.

„Mein guter Junge“, sagte Mr. Pickwick, als Mr. Weller, etwas beschämt über seinen Enthusiasmus, sich wieder gesetzt hatte, „du mußt aber das junge Mädchen doch auch bedenken.“

„Tue ich auch, Sir“, sagte Sam. „Ich habe das junge Frauenzimmer bedacht, ich habe mit ihr gesprochen und ihr gesagt, wie meine Lage ist; sie ist bereit, zu warten, bis ich sie heiraten kann, und ich glaube auch, daß sie es tun wird. Und wenn nich, denn is sie ebend nicht das junge Frauenzimmer, für was ich sie halte, und denn lasse ich ihr mit Vergnügen sausen. Sie haben mir schon mal kennengelernt, Sir. Mein Entschluß is gefaßt, und nichts kann ihn jemals ändern.“

Wer hätte gegen solche Gesinnungen ankämpfen können? Mr. Pickwick gewiß nicht. Er empfand in diesem Augenblick mehr Stolz und Wonne über die uneigennützige Anhänglichkeit seiner niedriggestellten Freunde, als zehntausend Freundschaftsversicherungen der vornehmsten Leute in seinem Herzen hätten erwecken können.

Während in Mr. Pickwicks Zimmer diese Unterhaltung vor sich ging, erschien unten ein kleiner alter Herr in schnupftabakfarbenen Kleidern, gefolgt von einem Träger mit einem kleinen Mantelsack – versicherte sich eines Bettes für die Nacht und fragte dann den Kellner, ob eine gewisse Mrs. Winkle hier wohne, eine Frage, die dieser natürlich bejahend beantwortete.

„Ist sie allein?“

„Ich glaube ja, Sir. Ich kann indes ihr Kammermädchen rufen, Sir, wenn Sie …“

„Nein, das braucht es nicht“, wehrte der alte Herr schnell ab. „Führen Sie mich nur in ihr Zimmer, ohne mich anzumelden.“

„Wieso, Sir?“ fragte der Kellner.

„Sind Sie vielleicht taub?“ fragte der kleine alte Herr. „Nicht? Nun, dann hören Sie mich gefälligst an. Können Sie mich jetzt anhören?“

Ja, Sir.“

„Nun gut, dann zeigen Sie mir Mrs. Winkles Zimmer, ohne mich anzumelden.“

Während der kleine Herr diesen Befehl aussprach, ließ er fünf Schilling in die Hand des Kellners gleiten und sah ihn fest an.

„Wahrhaftig, Sir“, stotterte der Kellner, „ich weiß wirklich nicht, Sir, ob…“

„Aha, ich sehe schon, Sie wollen es tun“, unterbrach ihn der kleine alte Herr. „Tun Sie es deshalb lieber gleich, dann sparen wir Zeit.“

Es lag etwas so Ruhiges und Bestimmtes in dem ganzen Benehmen des alten Herrn, daß der Kellner die fünf Schilling einsteckte und ihn ohne weitere Einwendungen die Treppe hinaufführte.

„Dies ist also das Zimmer? Nun, dann können Sie gehen.“

Der Kellner gehorchte und wunderte sich, wer wohl der Fremde sein möge und was er wolle. Der kleine alte Herr wartete, bis er verschwunden war, und klopfte dann an die Tür.

„Herein!“ rief Arabella.

„Hm! Jedenfalls eine hübsche Stimme“, murmelte der kleine alte Herr, „das will aber noch nichts heißen.“

Dann öffnete er die Tür und ging hinein. Arabella, die gerade bei einer Handarbeit saß, erhob sich beim Anblick eines Fremden einigermaßen verwirrt, was ihr indes allerliebst stand.

„Bitte lassen Sie sich nicht stören, Ma’am“, begann der Unbekannte, trat ein und schloß die Tür hinter sich. „Mrs. Winkle, wie ich vermute?“ Arabella neigte den Kopf.

„Mrs. Nathaniel Winkle, die den Sohn des alten Winkle in Birmingham geheiratet hat?“ wiederholte der Fremde und betrachtete Arabella mit sichtlicher Neugierde.

Arabella nickte abermals mit dem Köpfchen und blickte unruhig um sich, halb unentschlossen, ob sie nicht um Hilfe rufen solle.

„Wie ich sehe, habe ich Sie überrascht, Ma’am?“

„Ich kann es nicht leugnen“, erwiderte Arabella, sich immer mehr wundernd.

„Wenn Sie erlauben, nehme ich mir einen Stuhl, Ma’am.“

Der Fremde setzte sich, zog ein Brillenfutteral aus der Tasche, nahm nachlässig sein Augenglas heraus und setzte es auf die Nase.

„Sie kennen mich nicht, Ma’am?“ fragte er und faßte dabei Arabella so scharf ins Auge, daß es ihr unheimlich wurde.

„Nein, Sir“, antwortete sie schüchtern.

„So? Wirklich nicht?“ sagte der alte Herr und schlug sich auf sein linkes Knie. „Ich wüßte allerdings auch nicht, woher Sie mich kennen sollten. Doch kennen Sie vielleicht meinen Namen, Ma’am?“

„Bitte um Entschuldigung“, sagte Arabella und zitterte heftig, obgleich sie kaum wußte, warum. „Darf ich Sie vielleicht um Ihren Namen bitten?“

„Sogleich, Ma’am, sogleich“, sagte der Unbekannte, der seine Augen noch immer nicht von ihrem Gesicht abgewandt hatte. „Sie haben sich doch erst vor kurzem verheiratet, Ma’am?“

„Ja“, erwiderte Arabella kaum hörbar, legte ihre Arbeit beiseite und schien sehr aufgeregt zu werden, da ein Gedanke, der ihr schon vorher gekommen war, sich ihr immer stärker aufdrängte.

„Ohne Ihrem Gatten vorgestellt zu haben, daß es sich geziemt hätte, seinen Vater, von dem er doch abhängig ist, zuerst um Rat zu fragen, nicht wahr?“

Arabella hielt ihr Tuch vor die Augen.

„Ohne sich auch nur die Mühe zu nehmen, durch irgendeine indirekte Anfrage in Erfahrung zu bringen, wie der alte Mann über eine Sache denkt, die ihn natürlich in hohem Grade interessieren muß?“

„Ich kann es nicht leugnen, Sir“, schluchzte Arabella.

„Und ohne Vermögen genug zu besitzen, Ihrem Gatten ein hinlängliches Auskommen zu sichern und ihn für die zeitlichen Vorteile zu entschädigen, die ihm natürlich nicht entgangen wären, wenn er den Wünschen seines Vaters gemäß geheiratet hätte? Knaben und Mädchen nennen dies uneigennützige Neigung, bis sie selbst Knaben und Mädchen haben und dann die Sache in einem ganz andern Lichte betrachten.“

Arabellas Tränen flössen reichlich, als sie zur Entschuldigung anführte, sie sei jung und unerfahren; Liebe allein habe sie zu diesem Schritte verleitet, und sie habe beinahe von Kindheit an des Rates sowie der Leitung ihrer Eltern entbehren müssen.

„Es war unrecht“, sagte der alte Herr in milderem Tone, „sehr unrecht. Es war romantisch, eines Geschäftsmannes unwürdig! Töricht!“

„Es ist meine Schuld, ganz meine Schuld, Sir“, jammerte die arme Arabella.

„Unsinn!“ brummte der alte Herr. „Gewiß war es nicht Ihre Schuld, daß er sich in Sie verliebte. Und doch ist es so“, fügte der alte Herr hinzu und blickte Arabella schalkhaft an, „und doch war es Ihre Schuld; er konnte nicht anders.“

Dieses kleine Kompliment oder die sonderbare Art, wie es der kleine alte Herr vorbrachte, oder sein verändertes Benehmen, das um so vieles freundlicher war als im Anfang – oder all diese drei Umstände zusammen, nötigten Arabella mitten unter ihren Tränen ein Lächeln ab.

„Wo ist denn Ihr Mann?“ fragte der alte Herr schnell, um ein Lächeln zu unterdrücken, das eben sein Gesicht überflog.

„Ich erwarte ihn mit jedem Augenblick. Ich redete ihm zu, heute früh einen Spaziergang zu machen. Er ist sehr niedergeschlagen und unglücklich, weil sein Vater nichts von sich hören läßt.“

„Niedergeschlagen? Geschieht ihm recht.“

„Ich fürchte, er ist es meinetwegen“, sagte Arabella. „Aber glauben Sie mir, ich empfinde es auch sehr schwer, denn ich bin doch allein schuld an seiner gegenwärtigen Lage.“

„Lassen Sie es sich nicht so sehr zu Herzen gehen, meine Liebe“, rief der alte Herr. „Es geschieht ihm ganz recht. Es freut mich – freut mich direkt. Wenigstens soweit es ihn betrifft.“

In diesem Augenblick kamen Fußtritte die Treppe herauf, die der alte Herr und Arabella beide genau zu kennen schienen. Der kleine alte Herr wurde blaß, gab sich indes viel Mühe, ruhig zu erscheinen, und stand auf, als Mr. Winkle ins Zimmer trat.

„Vater!“ rief Mr. Winkle und prallte verblüfft zurück.

„Jawohl“, erwiderte der kleine alte Herr. „Nun, was hast du mir zu sagen?“

Mr. Winkle schwieg.

„Du schämst dich hoffentlich vor dir selbst, was?“

Mr. Winkle sprach immer noch nicht.

„Schämst du dich, oder schämst du dich nicht?“

„Nein, Vater“, erwiderte Mr. Winkle und zog Arabellas Arm unter den seinigen. „Ich schäme mich weder meiner selbst noch meiner Frau.“

„Wirklich nicht!?“ rief der alte Herr ironisch.

„Es tut mir wirklich herzlich leid, etwas getan zu haben, was deiner Neigung zu mir Abbruch tut“, sagte Mr. Winkle, „aber zugleich muß ich erklären, daß ich keinen Grund habe, mich meiner Frau und du ebensowenig dich einer solchen Schwiegertochter zu schämen.“

„Gib mir die Hand, Nathaniel“, lenkte der alte Herr mit veränderter Stimme ein. „Küß mich, mein liebes Kind, du bist in der Tat ein allerliebstes Schwiegertöchterchen.“

Nach wenigen Minuten ging Mr. Winkle auf Mr. Pickwicks Zimmer, kam mit ihm zurück und stellte ihn seinem Vater vor, worauf die beiden alten Herren einander fünf Minuten lang ununterbrochen die Hände schüttelten.

„Mr. Pickwick, ich danke Ihnen aufs herzlichste für all Ihre Freundschaft gegen meinen Sohn“, sagte der alte Mr. Winkle mit seinem offenen, bieder-derben Wesen. „Ich bin ein alter Hitzkopf, und als ich Sie das letztemal sah, war ich etwas ärgerlich und ein wenig überrascht. Ich habe mir inzwischen die Sache überlegt und bin jetzt mehr als zufrieden. Soll ich noch mehr Entschuldigungen vorbringen Mr. Pickwick?“

„Oh, keineswegs“, erwiderte der Gelehrte. „Sie haben getan, was allein noch zur Vollendung meines Glückes fehlte.“

Hierauf folgte wieder ein neuerliches, fünf Minuten lang währendes Händeschütteln, begleitet von einer Unmasse von Komplimenten, die, abgesehen von der darin sich beurkundenden Höflichkeit, auch noch das Gute hatten, wirklich aufrichtig gemeint zu sein.

Sam hatte seinen Vater pflichtgemäß nach Belle Savage begleitet und begegnete auf dem Rückweg im Hof dem fetten Jungen, der ein Billett von Emilie Wardle zu überbringen gehabt hatte.

„Ich sage bloß“, begann Joe, der diesmal ungewöhnlich redselig war, „ich sage bloß, was diese Mary doch für ein hübsches Mädchen ist. Was, Sam? Ich bin ganz verliebt in sie.“

Mr. Weller gab darauf weiter keine Antwort, sondern betrachtete ganz verblüfft über diese Vermessenheit den fetten Jungen einen Augenblick lang, führte ihn dann am Rockkragen bis an die nächste Ecke und entließ ihn mit einem harmlosen, aber durchaus förmlichen Fußtritt und ging dann pfeifend ins Haus.

Vierundfünfzigstes Kapitel


Vierundfünfzigstes Kapitel

In dem der Pickwick-Klub aufgelöst wird und alles zur größten Zufriedenheit endet.

Eine ganze Woche lang nach der glückbringenden Ankunft Mr. Winkles aus Birmingham waren Mr. Pickwick und Sam Weller den ganzen Tag über von Haus abwesend und kehrten erst zum Mittagessen zurück. Sie trugen dabei ein geheimnisvolles, wichtiges Wesen zur Schau, das ihrem Naturell sonst ganz fremd war! Offenbar waren sehr ernste und ereignisschwere Dinge im Zuge. Einige Herren – und unter ihnen Mr. Tupman – waren geneigt, zu glauben, Mr. Pickwick plane eine eheliche Verbindung, aber diese Idee wurde von den Damen aufs entschiedenste verworfen. Andere neigten der Ansicht zu, er trage sich mit einem großen Reiseprojekt und beschäftige sich gegenwärtig mit den Vorbereitungen dazu, allein dies wurde unumwunden von Sam selbst geleugnet, der auf die Kreuz- und Querfragen Marys unzweideutig erklärte, es würden keine neuen Reisen mehr unternommen. Endlich, als sich der ganze Freundeskreis sechs Tage lang mit fruchtlosen Vermutungen das Gehirn zermartert hatte, wurde einhellig beschlossen, Mr. Pickwick zur Erklärung seines Benehmens aufzufordern und ihn offen zu fragen, warum er sich auf diese Art von der Gesellschaft seiner ihn doch so einhellig bewundernden Freunde zurückziehe.

In dieser Absicht lud Mr. Wardle den ganzen Zirkel zum Mittagessen nach Adelphi ein, und das Thema wurde zur Sprache gebracht, als der Wein zweimal die Runde gemacht hatte.

„Wir sind samt und sonders sehr gespannt zu erfahren“, begann der alte Herr, „was wir dir denn zuleide getan haben, daß du dich so gänzlich von uns zurückziehst und immer nur deine einsamen Spaziergänge machst.“

„Möchtest du es wirklich wissen?“ fragte Mr. Pickwick. „Merkwürdig, daß ich gerade heute im Sinn hatte, mich aus freien Stücken darüber auszulassen; gib mir noch ein Glas Wein, und dann will ich deine Neugier befriedigen.“

Der Wein ging mit ungewohnter Schnelligkeit von Hand zu Hand, und Mr. Pickwick fuhr, mit vergnügtem Lächeln in die Gesichter seiner Freunde schauend, folgendermaßen fort:

„Die einschneidenden Veränderungen, die in unserem Kreise stattgefunden haben, ich meine die bereits eingetretene und die nächstdem bevorstehende Hochzeit nebst allem, was notwendig daraus folgen wird, haben mich genötigt, ernstlich an einen künftigen Lebensplan für mich zu denken. Ich habe beschlossen, mich in einer hübschen Gegend in der Nähe von London zur Ruhe zu setzen, und fand da ein Haus, das meinen Wünschen gänzlich entspricht. Ich habe es gemietet und wohnlich eingerichtet, so daß ich kommen und gehen kann, wann ich will. Ich gedenke nun in der nächsten Zeit meinen Einzug zu halten und hoffe, noch manches Jahr in stiller Zurückgezogenheit daselbst zuzubringen, erfreut durch die Gesellschaft meiner Freunde, nach meinem Tode fortlebend in ihrer liebevollen Erinnerung.“

Hier hielt Mr. Pickwick inne, und ein leises Gemurmel erhob sich rings um die Tafel.

„Das Haus, das ich gemietet habe, steht in Dulwich, hat einen großen Garten und liegt in einer der reizendsten Gegenden der Umgebung Londons. Es ist die größte Aufmerksamkeit darauf verwendet worden, es so behaglich wie möglich, vielleicht sogar ein bißchen elegant, einzurichten. Doch darüber sollt ihr selbst urteilen. Sam begleitet mich dahin. Ich habe auf Perkers Vorstellung eine Haushälterin in Dienst genommen – eine sehr alte Person – und werde noch andre Dienerschaft aufnehmen, wenn sie es für nötig hält. Ich möchte nun mein kleines Heim durch eine Festlichkeit, auf der ich unbedingt bestehe, eingeweiht sehen. Wenn mein Freund Wardle nichts dagegen hat, so möchte ich ihn bitten, die Vermählung seiner Tochter in meinem neuen Hause an demselben Tage vollziehen zu lassen, an dem ich Besitz davon nehme. Das Glück junger Leute“, sagte Mr. Pickwick ein wenig bewegt, „war von jeher die größte Freude meines Lebens. Es wird mir das Herz erwärmen, unter meinem eigenen Dach Zeuge des Glücks meiner Freunde zu sein.“

Mr. Pickwick hielt abermals inne, und Emilie und Arabella schluchzten laut.

„Ich habe“, begann Mr. Pickwick aufs neue, „dem Klub sowohl mündliche wie schriftliche Mitteilungen davon gemacht und ihn von meinen Absichten in Kenntnis gesetzt. Er hat während unserer Abwesenheit viel an inneren Zwistigkeiten gelitten, und mein Austritt, verbunden mit noch andern Umständen, hat seine Auflösung herbeigeführt. – Der Pickwick-Klub existiert nicht mehr!“

„Ich werde es niemals bereuen“, setzte Mr. Pickwick mit heiserer Stimme hinzu, „ich werde es niemals bereuen, daß ich mich beinahe volle zwei Jahre hindurch unter verschiedenen Nuancen und Schattierungen des menschlichen Charakters umhergetrieben habe, so töricht meine Abenteuersucht auch vielen erschienen sein mag. Fast mein ganzes früheres Leben war Geschäften und trockenem Gelderwerb gewidmet, jetzt aber bin ich mit zahlreichen Szenen des menschlichen Lebens bekannt geworden, von denen ich früher keine Ahnung gehabt, und ich hoffe, daß sich mein Gesichtskreis dadurch erweitert hat. Wenn ich nur wenig Gutes getan habe, so glaube ich doch, noch weniger Böses getan zu haben, und hoffe, daß meine sämtlichen Abenteuer mir in meinem Lebensabend nur eine Quelle angenehmer und ergötzlicher Erinnerungen sein werden. – Gott segne euch alle!“

Bei diesen Worten füllte und leerte Mr. Pickwick mit bebender Hand sein Glas, und seine Augen wurden feucht, als sämtliche Freunde sich wie ein Mann erhoben und ihm von ganzem Herzen Bescheid taten.

Zur Vermählung Mr. Snodgraß‘ waren nur noch sehr wenige Vorbereitungen erforderlich. Da er weder Vater noch Mutter mehr besaß und während seiner Minderjährigkeit unter Mr. Pickwicks Vormundschaft gestanden hatte, so kannte dieser seine Vermögensverhältnisse aufs genaueste. Wardle war mit seiner Auskunft darüber vollkommen zufrieden, wie denn der gute alte Herr in dieser Zeit, wo er von Heiterkeit und Zärtlichkeit überfloß, fast mit allem zufrieden gewesen wäre; Emilie wurde ein hübsches Nadelgeld ausgesetzt und der vierte Tag bereits zur Vermählung anberaumt – eine Eile, die drei Putzmacherinnen und einen Schneidermeister fast an den Rand der Verzweiflung brachte.

Der alte Wardle nahm am folgenden Tage Postpferde, um seine Mutter nach der Stadt zu bringen. Da er der alten Dame diese Nachricht mit seinem charakteristischen Ungestüm mitteilte, fiel sie augenblicklich in Ohnmacht, kam indes sehr bald wieder zu sich, befahl, das Brokatkleid einzupacken, und fing an, verschiedene Umstände ähnlicher Art, die sich bei der Verheiratung der ältesten Tochter der verstorbenen Lady Tollimglower zugetragen, herzuzählen, womit sie nach drei vollen Stunden noch nicht zur Hälfte fertig war.

Mrs. Trundle mußte ebenfalls von den gewaltigen Vorbereitungen in London in Kenntnis gesetzt werden, und da sie sich in einem delikaten Gesundheitszustand befand, erfolgte die Mitteilung durch Mr. Trundle selbst, damit ihr die Überraschung nicht zu sehr schaden möchte‘. Sie schadete ihr natürlich keineswegs, denn sie schrieb sogleich nach Muggleton, bestellte sich eine neue Haube und ein schwarzes Atlaskleid und erklärte, unter allen Umständen der Hochzeitsfeier beiwohnen zu wollen. Mr. Trundle ließ den Arzt rufen, und dieser sagte, Mrs. Trundle müsse am besten wissen, wie sie sich fühle.

Zu den diversen Aufträgen, die Mr. Wardle bekommen hatte, gehörte auch die Besorgung zweier Briefchen an zwei junge Damen, die als Brautjungfern fungieren sollten und durch diese Einladung in Verzweiflung gerieten, denn sie jammerten, sie hätten nichts anzuziehen. Wie die beiden armen jungen Damen nach London kamen, ob zu Fuß oder zu Wagen oder zu Pferd, ist unbekannt; jedenfalls aber trafen sie vor Wardle ein, und die ersten Leute, die am Hochzeitsmorgen an Mr. Pickwicks Haustür klopften, waren sie – hoch aufgedonnert und zerfließend vor Liebenswürdigkeit.

Sie wurden natürlich aufs herzlichste bewillkommnet, denn Reichtum oder Armut machten keinen Unterschied in Mr. Pickwicks Augen. Die neuen Bedienten waren die Bereitwilligkeit selbst, und Sam befand sich in der unvergleichlichsten Festlaune, und Mary erglänzte in Schönheit und prächtigen Bändern.

Der Bräutigam, der sich schon zwei oder drei Tage vorher im Hause aufgehalten hatte, fuhr stattlich angetan in die Dulwicher Kirche, begleitet von Mr. Pickwick, Ben Allen, Bob Sawyer und Mr. Tupman – Sam Weller nicht zu vergessen, der im Knopfloch eine weiße Bandschleife, ein Geschenk der Dame seines Herzens, trug und überdies in einer neuen, prachtvollen, ausdrücklich für den Tag erfundenen Livree prangte. Dort trafen sich auch Mr. und Mrs. Wardle, Mr. und Mrs. Winkle, Braut und Brautjungfern und Mr. und Mrs. Trundle, und nach beendigter Feierlichkeit rasselten sämtliche Kutschen zum Frühstück nach Mr. Pickwicks Haus, wo sie der kleine Mr. Perker bereits erwartete.

Nachdem sich hier die leichten Wolken des ernsteren und feierlichen Teils der Tagesereignisse zerteilt hatten, erglänzten alle Gesichter vor Freude, und man hörte nichts als Glückwünsche und Lebehochrufe.

Es war prächtig! Der Grasplatz vor dem Hause, der Garten dahinter, das kleine Gewächshaus, das Speise-, das Gesellschafts-, das Rauch- und die Schlafzimmer, vor allem aber das Studierzimmer mit seinen Gemälden, den behaglichen Sesseln, den merkwürdigen Wandschränken, den sonderbar geformten Tischen und zahllosen Büchern nebst seinem großen, freundlichen Fenster, das sich gegen einen hübschen Grasplatz hin öffnete und eine reizende, da und dort mit kleinen in Bäumen fast versteckten Häusern übersäte Landschaft beherrschte, und dann die Vorhänge, die Teppiche, die Stühle und die Sofas – alles so schön, so fein berechnet, so zierlich und so geschmackvoll, daß jedermann sagte, man wisse wirklich nicht, was am meisten Bewunderung verdiene.

Und mitten in all diesem stand Mr. Pickwick, das Gesicht von einem seligen Lächeln umstrahlt, dem das Herz keines Mannes, keiner Frau, keines Kindes widerstehen konnte: er selbst der Glücklichste im ganzen Kreise, immer denselben Leuten wieder und immer wieder die Hände schüttelnd – wenn die seinigen nicht gerade geschüttelt wurden.

Dann wurde das Frühstück serviert. Mr. Pickwick führte die alte Dame, die sehr beredt über das Thema Lady Tollimglower gewesen war, oben an die lange Tafel hin; Wardle setzte sich an das andre Ende, die Freunde reihten sich auf beiden Seiten ein, Sam faßte hinter dem Stuhle seines Herrn Posto, das Gelächter und Geplauder hörten auf, und Mr. Pickwick sprach das Tischgebet, schwieg dann einen Augenblick und blickte rund um sich, und dabei rollten ihm in der Überfülle seines Herzens die Tränen über die Wangen.

Und nun wollen wir von unserm alten Freund Abschied nehmen – in einem jener Augenblicke ungetrübten Glückes, von denen uns, wenn wir sie nur suchen, immerhin einige zur Erheiterung unseres flüchtigen Daseins beschieden sind. Die Erde hat finstere Schatten, aber der Kontrast hebt ihre Lichtseiten um so stärker hervor. Es gibt Leute, die, wie die Fledermäuse und Eulen, bessere Augen für die Finsternis haben als für das Licht; wir, denen solche optischen Fähigkeiten nicht gegeben sind, finden mehr Vergnügen daran, den geträumten Gefährten mancher einsamen Stunden unsern letzten Abschiedsblick zuzuwerfen, wenn der kurze Sonnenschein der Welt über sie hinstrahlt.

*

Es ist das Los der meisten Menschen, die sich in der Welt herumtreiben und es zu einem gewissen Alter bringen, daß sie sich viele wirkliche Freunde erwerben und sie durch den Lauf der Natur wieder verlieren. Es ist das Los aller Autoren oder Dichter, daß sie sich eingebildete Freunde schaffen und sie im Verlauf der Kunst wieder verlieren. Damit ist indes das Maß ihres Unglücks noch nicht erschöpft; man verlangt von ihnen auch noch eine umständliche Erzählung, was aus ihren Gestalten geworden ist.

Wir fügen uns hiermit dieser unbestreitbar bösen Gewohnheit und setzen daher noch einige wenige biographische Notizen über die bei Mr. Pickwick versammelte Gesellschaft hinzu.

Mr. und Mrs. Winkle, von dem alten Herrn vollkommen in Gnaden aufgenommen, bezogen bald darauf ein eigenes neugebautes Haus, nur eine halbe Meile von dem Mr. Pickwicks entfernt. Mr. Winkle wurde der City-Agent oder Stadtkorrespondent seines Vaters, vertauschte sein altes Kostüm mit der gewöhnlichen Kleidung der Engländer und zeigte sich von da an immer als zivilisierter Christ.

Mr. und Mrs. Snodgraß ließen sich in Dingley Dell nieder, wo sie mehr der Beschäftigung als des Gewinns halber ein kleines Gut kauften und bewirtschafteten. Mr. Snodgraß, der bisweilen zerstreut und melancholisch ist, gilt bis auf den heutigen Tag unter seinen Freunden und Bekannten als großer Dichter, obgleich wir nicht finden, daß er je etwas geschrieben hätte, was zu diesem Glauben berechtigen könnte. Übrigens kennen wir viele literarische, philosophische und anderweitige Notabilitäten, deren bedeutender Ruf keinen festeren Boden hat. Mr. Tupman ließ sich, als seine Freunde verheiratet waren und Mr. Pickwick sich zurückgezogen hatte, in Richmond nieder, wo er bis jetzt geblieben ist. In den Sommermonaten geht er beständig auf der Terrasse spazieren, und zwar mit einer jugendlichen Munterkeit, die ihm die Bewunderung aller der zahlreichen ältlichen Damen ledigen Standes gesichert hat, die in der Nähe wohnen. Er hat indes nie wieder einen Heiratsantrag gemacht.

Mr. Bob Sawyer lancierte sich selbst einige Male in die Zeitungen und ging dann, begleitet von Mr. Benjamin Allen, nach Bengalen, beide als wohlbestallte Chirurgen in Diensten der Ostindischen Kompanie. Sie haben vierzehnmal das gelbe Fieber gehabt und sich dann endgültig zu einiger Enthaltsamkeit entschlossen. Seitdem geht es ihnen sehr gut.

Mrs. Bardell vermietete ihr Haus noch an, manchen umgänglichen ledigen Herrn mit großem Profit, hat jedoch seitdem nie wieder wegen gebrochenen Eheversprechens geklagt. Ihre Anwälte, die Herren Dodson und Fogg, betreiben ihr Geschäft noch immer mit gewohnter Rührigkeit, beziehen ein bedeutendes Einkommen daraus und gelten allgemein für die Schlauesten unter den Schlauen.

Sam Weller hielt sein Wort und blieb noch zwei Jahre unverheiratet. Als nach Verfluß dieser Zeit die alte Haushälterin starb, beförderte Mr. Pickwick Mary zu diesem Posten, jedoch unter der Bedingung, Mr. Weller unverweilt zu heiraten, was sie auch ohne Murren tat. Aus dem Umstand, daß am Tore des Gartens hinter dem Hause zu wiederholten Malen ein paar derbe kleine Buben erblickt worden sind, glauben wir schließen zu dürfen, daß Sam Familie hat.

Mr. Weller senior regierte noch zwölf Monate lang eine Postkutsche, bekam dann aber die Gicht, die ihn nötigte, sich zurückzuziehen. Mr. Pickwick hatte den Inhalt seiner Brieftasche so gut für ihn. angelegt, daß er eine recht hübsche jährliche Rente bezieht, von der er gemächlich in einem vortrefflichen Gasthause in der Nähe von Shooters Hill lebt, wo er als ein wahres Orakel verehrt wird, sich gewaltig seiner vertrauten Freundschaft mit Mr. Pickwick rühmt und fortwährend den unüberwindlichsten Widerwillen gegen Witwen hegt.

Mr. Pickwick residiert rastlos in seinem neuen Hause und verwendet seine Mußestunden dazu, seine Memoiren zu schreiben, die er später dem Sekretär des einst so berühmten Klubs mitteilen will, oder sich gelegentlich von Sam Weller vorlesen läßt, dessen Bemerkungen, wie sie sich ihm gerade aufdrängen, niemals verfehlen, Mr. Pickwick großes Vergnügen zu bereiten. Im Anfang wurde er sehr durch die zahlreichen Gesuche der Herren Snodgraß, Winkle und Trundle belästigt, bei ihrer Nachkommenschaft Gevatter zu stehen; allein er hat sich jetzt daran gewöhnt und betrachtet diesen Dienst als eine Sache, die sich nun einmal nicht ändern läßt. Er hat auch niemals Veranlassung gehabt, seine Güte gegen Mr. Jingle zu bereuen, denn sowohl dieser wie Hiob Trotter sind mit der Zeit würdige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden, haben aber jede Aufforderung, nach den Schauplätzen ihres früheren Unwesens zurückzukehren, standhaft zurückgewiesen. Mr. Pickwick ist später etwas kränklich geworden, sein Geist aber hat alle seine Jugendfrische behalten, und man sieht ihn noch häufig die Gemälde in der Dulwicher Galerie betrachten oder an schönen Tagen in seiner hübschen Nachbarschaft lustwandeln.

Die Armen in der Gegend kennen ihn alle und ermangeln nie, mit großer Ehrerbietung die Hüte abzuziehen, wenn er vorübergeht; die Kinder vergöttern ihn, und die ganze Nachbarschaft tut es ebenfalls. Alljährlich begibt er sich zu einem großen Familienfest in Mr. Wardles Haus, und wie überallhin, begleitet ihn auch hier der getreue Sam, dessen Anhänglichkeit wohl nur der Tod ein Ende machen wird.

Siebentes Kapitel


Siebentes Kapitel

Eine altmodische Spielpartie. – Die Erzählung von der Rückkehr des Sträflings.

Die in dem alten Wohnzimmer versammelten Gäste standen auf, um Mr. Pickwick und seine Freunde bei ihrem Eintreten zu begrüßen, und während der Zeremonie des Vorstellens, die ungemein formell vonstatten ging, hatte Mr. Pickwick Muße, aus der äußeren Erscheinung der Anwesenden Schlüsse auf ihren Stand und Charakter zu ziehen – eine Gewohnheit, der er, gleich vielen anderen großen Männern, gern zu huldigen pflegte.

Eine uralte Dame in einer hohen Haube und einem verblichenen Seidenkleid – niemand Geringeres als Mr. Wardles Mutter – hatte den Ehrenplatz im rechten Kaminwinkel inne, wo verschiedene Hinweise, daß sie ihrem Jugendgeschmack auch im Alter treu geblieben, in Gestalt alter Stickmuster, gewirkter Landschaften von gleichem Alter und rotseidener Teekesselwärmer einer späteren Epoche, die Wände zierten.

Die Tante, die zwei jungen Damen und Mr. Wardle umdrängten den Lehnstuhl der alten Frau und wetteiferten miteinander, ihr unablässig ihre Aufmerksamkeit zu bezeigen. Die eine hielt ihr das Hörrohr, die andere eine Pomeranze, die dritte ein Riechfläschchen, während Mr. Wardle selbst sich emsig abmühte, ihr die Kopfkissen zu ordnen. Gegenüber saß ein kahlköpfiger alter Herr mit einem Gesicht voll Wohlwollen und fröhlicher Laune – der Geistliche von Dingley Dell – und neben ihm seine Ehehälfte, eine blühende, stattliche alte Dame, die ganz so aussah, als ob sie nicht allein die Kunst, Herzstärkungen zu andrer Leute Zufriedenheit zu bereiten, von Grund aus verstünde, sondern selbst auch gern gelegentlich einen Schluck nähme. In einem Winkel des Zimmers sprachen ein kleiner Mann mit einem Gesicht wie ein Borsdorfer Apfel und ein dicker alter Herr miteinander, und noch zwei oder drei alte Herren und noch zwei oder drei alte Damen saßen kerzengerade und regungslos auf ihren Stühlen und blickten mit strenger Miene Mr. Pickwick und seine Reisegefährten an. „Mr. Pickwick, Mutter!“ schrie Mr. Wardle der alten Dame ins Ohr.

„Ah“, sagte sie, den Kopf schüttelnd, „ich verstehe kein Wort.“

„Mr. Pickwick, Großmama!“ schrien die beiden jungen Damen zugleich.

„Ah“, rief die alte Dame. „Schadet nichts. Er wird sich wohl um eine alte Frau, wie ich bin, wenig kümmern.“

„Ich versichere Ihnen, Ma’am“, entgegnete Mr. Pickwick, erfaßte die Hand der alten Dame und sprach so laut, daß sein menschenfreundliches Antlitz von der Anstrengung blaurot wurde, „ich versichere Ihnen, Ma’am, daß mich nichts so sehr entfernt wie der Anblick einer Dame in Ihren Jahren mitten im Kreise ihrer Familie, zumal wenn sie dabei noch so jugendlich und wohl aussieht.“

„Ah“, erwiderte die alte Dame nach einer kleinen Pause, „das ist gewiß alles sehr schön, aber ich verstehe kein Wort.“

„Großmama ist augenblicklich nicht in guter Laune“, erklärte Miß Isabella Wardle mit leiser Stimme, „aber sie wird gleich mit Ihnen sprechen.“

Mr. Pickwick gab durch Nicken seine Bereitwilligkeit zu erkennen, den Schwächen des Alters gegenüber ein Auge zuzudrücken, und knüpfte mit der übrigen Gesellschaft ein allgemeines Gespräch an.

„Eine entzückende Lage hat dieser Landsitz, Mr. Wardle.“

„Entzückende Lage!“ wiederholten die Herren Snodgraß, Winkle und Tupman.

„O ja. Allerdings“, sagte Mr. Wardle.

„Es gibt keinen hübscheren Punkt in ganz Kent, Sir“, bemerkte der kleine Mann mit dem Borsdorfer Gesicht. „Nein, Sir, Sie können sich drauf verlassen, Sir.“

Und triumphierend blickte er umher, als ob ihm jemand hartnäckig widersprochen, jedoch den kürzeren gezogen hätte.

„Keinen hübscheren Punkt in ganz Kent“, wiederholte er nach einer Pause.

„Ausgenommen Mullins Meadows“, bemerkte der dicke Mann in feierlichem Ton.

„Mullins Meadows?“ rief der Borsdorfer mit tiefer Verachtung.

„Allerdings, Mullins Meadows!“ wiederholte der dicke Mann.

„Sehr schöner Ort das“, fiel ein zweiter dicker Mann ein.

„Ja, in der Tat“, fügte ein dritter dicker Mann hinzu.

„Wie jedermann weiß“, bestätigte der korpulente Herr des Hauses.

Der kleine Mann mit dem Borsdorfer Gesicht blickte zweifelnd umher; doch als er sah, daß er die Minorität bildete, nahm er eine mitleidige Miene an und sagte nichts weiter.

„Wovon spricht man?“ fragte die alte Dame eine ihrer Enkelinnen mit sehr lauter Stimme – denn, wie die meisten schwerhörigen Leute, war sie der Meinung, sich nur so verständlich machen zu können.

„Vom Lande, Großmama.“

„Vom Lande? Was denn? – Ist etwas los?“

„Nein, nein; Mr. Miller sagte nur, unser Landsitz sei schöner als Mullins Meadows.“

Was versteht er denn davon“, erwiderte die alte Dame ärgerlich. „Mr. Miller weiß überhaupt immer alles besser. Sag ihm das.“

Ohne zu ahnen, daß sie ganz laut gesprochen hatte, richtete sie sich in ihrem Lehnstuhl auf und warf dem Delinquenten mit dem Borsdorfer Gesicht giftige Blicke zu.

„Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie“, sagte verlegen der Herr des Hauses, um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. „Wie wäre es mit einer Partie ;Whist? Was meinen Sie dazu, Mr. Pickwick?“

„Oh, mit Freuden“, erwiderte Mr. Pickwick, „aber, bitte, nicht etwa meinetwegen.“

„Oh, ich versichere Ihnen, meine Mutter spielt es gleichfalls sehr gern“, sagte Mr. Wardle. „Nicht wahr, Mutter?“

Die alte Dame hörte plötzlich viel besser und bejahte.

„Joe, Joe! – Verdammter Junge! Ah, da ist er ja! – Joe, die Spieltische!“

Der lethargische Jüngling stellte wortlos zwei –Spieltische auf, den einen für „Pope Joan“, den andern für Whist. Die

Whistspieler waren Mr. Pickwick, die alte Dame, Mr. Miller und der dicke Gentleman, die übrigen setzten sich zum Gesellschaftsspiel nieder.

Am Whisttische herrschte der Ernst und die Stille, die der edlen Beschäftigung, der von Rechts wegen die Bezeichnung „Spiel“ gar nicht beigelegt werden sollte, zukommt. Bei dem Gesellschaftsspiel am andern Tische dagegen ging es so laut und lustig zu, daß Mr. Miller in seinen Kombinationen abgelenkt wurde und mehrere Fehler machte, die in hohem Grade den Zorn des dicken Herrn erregten und die gute Laune der alten Dame entsprechend hoben.

„Da!“ sagte Mr. Miller mit triumphierendem Blick, als er eben einen Stich machte. „Das hätte überhaupt nicht besser gespielt werden können – es war unmöglich, noch einen Stich mehr zu machen.“

„Miller hätte den Buben stechen sollen, nicht wahr, Sir?“ sagte die alte Dame.

Mr. Pickwick nickte bejahend.

„Hätte ich sollen?“ fragte der Unglückliche mit einem triumphierenden Blick auf seinen Mitspieler.

„Allerdings hätten Sie sollen, Sir!“ sagte der dicke Gentleman in zurechtweisendem Tone.

„Schade“, erwiderte gedemütigt Mr. Miller.

„Bin es bei Ihnen schon gewohnt“, brummte der dicke

Gentleman.

„Zwei Honneurs – macht acht für uns –“, sagte Mr. Pickwick.

„Können Sie?“ fragte die alte Dame.

„Jawohl“, versetzte Mr. Pickwick. „Double, simple – und den Rubber!“

„So ein Glück ist mir noch nicht vorgekommen!“ rief Mr. Miller.

„Bei den Karten!“ meinte der dicke Gentleman.

Es folgte ein feierliches Schweigen; Mr. Pickwick war fröhlich aufgelegt, die alte Dame ernst, der dicke Gentleman verdrießlich und Mr. Miller verlegen.

„Ein zweiter Double“, rief die alte Dame aus und markierte diesen Umstand dadurch, daß sie einen Sixpence und einen abgenutzten halben Penny unter den Leuchter schob.

„Ein Double, Sir“, meldete Mr. Pickwick.

„Hab es schon gesehen, Sir“, erwiderte der dicke Gentleman in scharfem Ton.

Ein zweites Spiel nahm denselben ungünstigen Verlauf durch ein Versehen Mr. Millers, über das der dicke Gentleman ganz außer sich geriet, so daß er seine Wut über das ganze Spiel kaum mehr zu unterdrücken vermochte. Nach Schluß der Partie zog er sich für genau eine Stunde und siebenundzwanzig Minuten in einen Winkel zurück, wo er seinen Ärger sich stumm austoben ließ. Endlich kam er wieder hervor und bot Mr. Pickwick eine Prise an, mit der Miene eines Mannes, der sich bezwungen hat und erlittenes Unrecht mit dem Mantel der christlichen Liebe bedeckt. Das Gehör der alten Dame hatte sich in der Zwischenzeit auch erheblich gebessert, und der unglückliche Mr. Miller fühlte sich so unbehaglich wie ein Delphin in einem Schilderhaus.

Mittlerweile nahm das Gesellschaftsspiel am andern Tische desto munterer seinen Fortgang. Miß Isabella Wardle und Mr. Trundle bekamen „Ehestand“, desgleichen Emilie und Mr. Snodgraß, und selbst Mr. Tupman und die alte Tante fanden sich zusammen. Mr. Wardle war die gute Laune selbst und handhabte „die Tafel“ so spaßhaft, und die Damen strichen ihren Gewinn so eilig ein, daß an dem Tische fortwährend schallendes Gelächter herrschte. Eine alte Dame hatte stets ein halbes Dutzend Karten zu bezahlen, worüber jedesmal alles lachte, und sah sie dabei verdrießlich aus, so wurde nur noch lauter gewiehert. Als sie es schließlich bemerkte, heiterte sich ihre Miene allmählich auf, und sie lachte noch lauter als alle übrigen. Bekam die Tante »Ehestand“, so kicherten die jungen Damen von neuem, und sie schien dann empfindlich werden zu wollen, bis sie Mr. Tupmans Händedruck unter dem Tische fühlte und ein heiteres Gesicht machte, als ob sie sagen wollte, daß sie wohl nicht gar so ferne vom Ehestand war, wie vielleicht gewisse Leute glauben mochten, worüber alle, und besonders Mr. Wardle, der immer dabei war, wenn es einen Spaß gab, abermals lachten. Mr. Snodgraß flüsterte Emilie unentwegt poetische Ergüsse ins Ohr, was einen alten Herrn zu vielen Anzüglichkeiten und Anspielungen auf Partnerschaft im Spiel und im Leben veranlaßte, worüber die Gesellschaft aufs neue in ein herzliches Gelächter ausbrach, namentlich die Ehehälfte des alten Herrn. Mr. Winkle paradierte mit Witzen, die in der Stadt uralt, aber auf dem Lande noch unbekannt waren, und da alle darüber lachten und sie köstlich fanden, tat er sich viel darauf zugute. Der wohlwollende Geistliche sah heiter zu, denn die vielen glücklichen Gesichter stimmten ihn fröhlich; wenn auch die Stimmung etwas lärmend war, so kam sie doch aus dem Herzen und nicht bloß von den Lippen, worin doch eigentlich die wahre Heiterkeit besteht.

Bei dieser fröhlichen Unterhaltung verstrich der Abend sehr schnell, und als die Gesellschaft nach dem zwar ländlichen, aber schmackhaften Abendessen einen Halbkreis am Kamin bildete, glaubte Mr. Pickwick sich in seinem ganzen Leben noch nie so glücklich und so befähigt gefühlt zu haben, den. Zauber der Gegenwart in vollen Zügen zu genießen.

„Sie entschuldigen, Sir, daß ich mir nach einer so kurzen Bekanntschaft eine Bemerkung erlaube“, wandte er sich nach einer längeren Pause an den Geistlichen. „Ich sollte meinen, ein Mann wie Sie müßte in seiner Stellung als Diener des Evangeliums im Lauf der Jahre so manche der Aufzeichnung werte Szenen und Vorfälle erlebt haben.“

„Allerdings ist mir schon vieles vorgekommen“, erwiderte der Geistliche, „doch waren die meisten Ereignisse und Charaktere bei meinem beschränkten Wirkungskreise nicht außergewöhnlicher Art.“

„Aber soviel ich weiß, haben Sie es doch der Mühe wert gefunden, sich einiges über John Edmunds zu notieren, oder?“ fragte Mr. Wardle, der im Interesse seiner neuen Gäste eine Erzählung anzuregen suchte.

Der Geistliche nickte bejahend, wollte aber dem Gespräch eine andre Wendung geben, doch Mr. Pickwick ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, und nach einigen Zureden Mr. Wardles und der übrigen Herren und Damen begann der Geistliche ohne weitere Vorrede folgende Erzählung, die wir uns erlauben zu betiteln:

DIE RÜCKKEHR DES STRÄFLINGS

„Als ich mich – es sind jetzt bereits fünfundzwanzig Jahre – hier in diesem Dorfe niederließ, war ein Pächter, namens Edmunds, das verrufenste Subjekt in meinem Kirchenspiel. Er war ein mürrischer, bösartiger Mensch, arbeitsscheu und Ausschweifungen ergeben und dabei wild und grausam. Mit Ausnahme einiger weniger liederlicher Vagabunden, mit denen er herumstreichen und sich in den Bier- und Branntweinschenken zu betrinken pflegte, hatte er keinen einzigen Freund oder Bekannten. Niemand mochte gern mit ihm verkehren; viele fürchteten ihn, aber alle verabscheuten ihn, und so wurde er denn von jedermann gemieden.

Dieser Mann nun hatte ein Weib und einen Sohn, der zu der Zeit, als ich hierherkam, etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Von den Leiden jener Frau, von der Sanftmut und Geduld, mit der sie sie ertrug, von den Kämpfen und Sorgen, unter denen sie den Knaben erzog, kann man sich schwer einen Begriff machen. Der Himmel möge mir verzeihen, wenn ich dem Manne Unrecht tue, aber ich bin fest davon überzeugt, daß er es viele Jahre hindurch geflissentlich darauf anlegte, sein Weib durch Kummer unter die Erde zu bringen. Sie ertrug jedoch alles geduldig um ihres Kindes und, wie unglaublich es auch klingen mag, um seines Vaters willen; denn so roh er auch war und so grausam er sie behandelte, so hatte sie ihn doch einst geliebt, und die Erinnerung an das, was er ihr gewesen, erweckte Gefühle der Nachsicht und Sanftmut in ihrer Brust, wie man sie unter allen Geschöpfen Gottes bloß bei dem Weibe findet.

Sie waren arm – wie hätte es auch anders sein können, wo der Mann auf solchen Pfaden wandelte –, doch rastlose Arbeit und angestrengter Fleiß der Frau wendeten gänzlichen Mangel ab. Leider wurden ihr ihre Bemühungen übel vergolten. Leute, die noch spät in der Nacht an ihrer Wohnung vorbeizugehen pflegten, erzählten, sie hätten das Wehklagen und Jammern der Frau und das Geräusch von Schlägen gehört, und mehr als einmal hatte der Knabe, lange nach Mitternacht noch, an einem Nachbarhause geklopft, um vor der Wut seines betrunkenen, unnatürlichen Vaters Schutz zu suchen.

Während dieser ganzen Zeit besuchte die arme Frau, die häufig die Spuren der Mißhandlungen nicht ganz verbergen konnte, regelmäßig unsre kleine Kirche. Jeden Sonntag, beim Früh- und Nachmittagsgottesdienst, saß sie mit ihrem Knaben an derselben Stelle, und obgleich beide nur ärmlich – und zwar noch ärmlicher als viele ihrer noch bedürftigeren Nachbarn – gekleidet waren, so war ihr Anzug doch immer sauber und reinlich. Jedermann hatte einen freundlichen Gruß und ein tröstliches Wort für die arme Frau, und wenn sie bisweilen nach dem Gottesdienst unter den Ulmenbäumen vor der Kirche stehenblieb, um ein paar Worte mit einer Nachbarin zu wechseln oder mit all dem Stolze und all der Liebe einer Mutter ihrem blühenden Knaben zuzuschauen, wie er sich mit seinen kleinen Gespielen herumtummelte, dann röteten freudige Empfindungen ihr von Sorgen verzehrtes Gesicht, und sie sah, wenn auch nicht froh und glücklich, doch ruhig und zufrieden aus.

So verstrichen fünf bis sechs Jahre, und der Knabe war zu einem starken, wohlgebauten Jüngling herangewachsen. Die Zeit, die den zarten Gliederbau des Kindes zu männlicher Kraft reifte, hatte die Gestalt der Mutter gebeugt und ihre Schritte wanken gemacht; aber der, der sie hätte stützen sollen, ging nicht mehr an ihrer Seite; der ihr hätte ein Trost sein sollen, kümmerte sich nicht um sie. Immer noch hatte sie ihren alten Platz in der Kirche, aber die Stelle neben ihr war leer. Sie hielt die Bibel so andächtig wie früher in der Hand, aber es war niemand da, sie mit ihr zu lesen. Die Nachbarn waren gegen sie noch ebenso freundlich wie vorher, aber sie wich ihren Grüßen aus mit abgewendetem Gesicht. Nie mehr blieb sie unter den Ulmenbäumen stehen, um von künftigem Glück zu träumen.

Das Maß des Elends der unglücklichen Frau sollte bald voll sein. Zahlreiche Untaten waren in der Umgegend begangen worden; da jedoch die Verbrecher unentdeckt blieben, so trieben sie ihr Unwesen nur um so dreister. Endlich veranlaßte ein mit beispielloser Frechheit verübter Raubüberfall eine ungewöhnlich strenge Nachforschung, die man nicht vermutet hatte. Der Verdacht fiel auf den jungen Edmunds und seine drei Spießgesellen. Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt, für schuldig erkannt – und zum Tode verurteilt.

Der wilde, durchdringende Schrei der Mutter, der durch den Gerichtssaal tönte, als der Richterspruch gefällt wurde, klingt noch heute in meinen Ohren. Er erfüllte das Herz des Verbrechers, auf den das Verhör, die Verhandlung und sogar das Todesurteil keinen Eindruck gemacht hatten, mit Schrecken und Entsetzen. Die Lippen, die bisher starrköpfiger Trotz verschlossen hatte, bebten und öffneten sich unwillkürlich, das Gesicht nahm eine erdfahle Farbe an, und der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. An allen Gliedern zitternd, wankte er in den Kerker zurück.

In den ersten Ausbrüchen ihrer Seelenangst warf sich die leidende Mutter zu meinen Füßen auf die Knie und flehte inbrünstig zum Allmächtigen, der ihr bisher in all ihren Trübsalen beigestanden, sie von einer Welt voll Elend und Jammer zu erlösen und das Leben ihres einzigen Kindes zu retten. Ein Ausbruch von Schmerz und ein Seelenkampf folgten, wie ich ihn in meinem Leben nicht mehr zu hören hoffe. Ich sah, daß ihr das Herz in dieser Stunde für immer brach, aber niemals kam eine Klage oder ein Murren über ihre Lippen.

Es war ein trauriger Anblick, das arme Weib Tag für Tag in den Gefängnishof gehen zu sehen, um das harte Herz ihres verstockten Sohnes mit heißen Bitten zu erweichen. Sie mühte sich umsonst. Er blieb verschlossen, starrköpfig und ungerührt. Nicht einmal die unvorhergesehene Verwandlung seiner Todesstrafe in vierzehnjährige Deportation vermochte seine Verstocktheit auch nur einen Augenblick zu beugen.

Aber der Geist der Ergebung und Standhaftigkeit, der sie so lange aufrechterhalten hatte, vermochte den Verfall ihres Körpers nicht aufzuhalten. Sie wurde krank. Noch einmal wollte sie ihren Sohn besuchen und wankte mit zitternden Gliedern aus dem Zimmer, aber die Kräfte verließen sie, und sie sank ohnmächtig zu Boden.

Jetzt wurde die Gleichgültigkeit des jungen Mannes, mit der er geprahlt hatte, wirklich auf die Probe gestellt, und die Vergeltung, die über ihn kam, war derart, daß es ihn beinahe wahnsinnig machte. Ein Tag verfloß, und seine Mutter war nicht dagewesen, der nächste ging vorüber, und wieder kam sie nicht; der dritte Abend erschien, und noch immer hatte er sie nicht gesehen, und in vierundzwanzig Stunden sollte er von ihr getrennt werden – vielleicht auf immer. Welch lang vergessene Erinnerungen an die Tage seiner Kindheit mußten in seinem Geiste aufgetaucht sein, als er in seiner schmalen Zelle auf und ab raste, als könnte seine fiebernde Ungeduld die ersehnte Nachricht um so schneller herbeiführen, und wie bitter mußte das Gefühl seiner hilflosen Lage und Verlassenheit sein, das in ihm aufstieg, als er die Wahrheit vernahm! Seine Mutter, die einzige Verwandte, die ihn je geliebt, lag krank danieder – vielleicht in den letzten Zügen –, kaum eine Viertelstunde von ihm entfernt; wäre er frei und fessellos, in wenigen Minuten stünde er an ihrer Seite. Er rüttelte an den Eisenstäben mit der Kraft der Verzweiflung und stemmte sich gegen die dicke Mauer wie ein wildes Tier, aber das Gebäude spottete seiner schwachen Anstrengungen. Und dann rang er die Hände und weinte wie ein Kind.

Ich brachte ihm den Segen seiner Mutter ins Gefängnis, und ihr, der Kranken, seine feierliche Versicherung der Reue und seine flehentliche Bitte um Vergebung an das Sterbebett. Ich hörte mit innigem Mitleiden den Reuigen tausend Pläne entwerfen, wie er seine Mutter unterstützen wolle, wenn er nur erst zurückgekehrt wäre, aber ich wußte, daß sie schon lange aus der Welt geschieden sein würde, wenn er den Ort seiner Bestimmung erreicht hätte.

Er wurde bei Nacht weggebracht. Wenige Wochen nachher schwang sich die Seele der Armen, wie ich zuversichtlich hoffe und glaube, zu den Gefilden der ewigen Seligkeit und Ruhe empor. Ich hielt den Leichengottesdienst. Sie liegt auf unserm kleinen Kirchhofe. Kein Stein erhebt sich über ihrem Grabe. Was sie gelitten hat, das wissen die Menschen, ihre Seelenstärke kennt Gott allein.

Es war vor der Deportation des Gefangenen ausgemacht worden, daß er unter meiner Adresse an seine Mutter schreiben sollte, sobald er die Erlaubnis dazu erhalten würde. Der Vater hatte sich von dem Augenblicke der Verhaftung an aufs entschiedenste geweigert, seinen Sohn zu sehen, und es war ihm gänzlich gleichgültig, ob er hingerichtet oder begnadigt werden würde. Eine Reihe von Jahren ging vorüber, ohne daß ich Nachricht von dem Sträfling erhielt, und als mehr als die Hälfte seiner Strafzeit verflossen war und ich noch immer keinen Brief bekommen hatte, vermutete ich, er wäre gestorben, was ich beinah auch hoffte.

Edmunds war bei seiner Ankunft in der Strafkolonie weit in das Innere des Landes verschickt worden, und diesem Umstände war es wohl zuzuschreiben, daß, obgleich er viele Briefe an mich abgeschickt hatte, doch keiner in meine Hände kam. Die ganze Zeit seiner Verbannung blieb er an demselben Orte. Nach Ablauf derselben kehrte er, seinem Entschlüsse und dem Versprechen, daß er seiner Mutter gegeben hatte, getreu, unter den größten Entbehrungen nach England zurück und gelangte zu Fuß in seinem Geburtsorte an.

An einem schönen Sonntagabend, im Monat August, setzte John Edmunds seinen Fuß in das Dorf, das er vor siebzehn Jahren in Schmach und Schande verlassen hatte. Weg führte ihn über den Kirchhof. Vielleicht stellte er sich vor, wie er als Kind an seiner Mutter Hand friedlich zur Kirche ging und erinnerte sich an ihr bleiches Gesicht und wie ihre Augen sich bisweilen mit Tränen füllten, wenn sie in seine Züge blickte – Tränen, deren Ursache er damals nicht gekannt hatte. Dachte vielleicht daran, wie oft er mit seinen Spielkameraden lustig auf diesen Wiesen gespielt und seine Mutter darüber lächeln gesehen und den Ton ihrer milden Stimme gehört hatte.

Er trat in die Kirche, erfuhr ich später. Der Nachmittagsgottesdienst war vorüber, und die Gemeinde hatte sich verlaufen, aber die Tür war noch nicht geschlossen. Seine Tritte widerhallten in der niederen Wölbung, und ein Schauer überfiel ihn, wenn er daran dachte, daß er allein sei; so still und ruhig war es. Er sah sich rings um. Nichts war verändert. Der Raum kam ihm kleiner vor als früher, aber es waren noch die alten Grabmäler, auf denen sein Auge tausendmal mit kindlicher Scheu verweilt hatte; die kleine Kanzel mit ihren verblichenen Kissen; d«r Altar, vor dem er sooft die Gebete hergesagt, die er als Knabe verehrt und als Mann vergessen hatte. Er trat an den alten Betstuhl. Etwas Kaltes und Düsteres ging von ihm aus. Das Kissen war fort, und die Bibel lag nicht mehr da. Vielleicht nahm seine Mutter jetzt, einen geringeren Stuhl ein, oder war sie zu schwach geworden, um die Kirche allein besuchen zu können? Er wagte es nicht, an das zu denken, was er fürchtete. Ein kalter Schauer überlief ihn, und er zitterte heftig, als er sich wegwandte.

Ein alter Mann trat eben zur Kirchtür herein, als er hinauswollte. Edmunds bebte zurück, denn er kannte ihn wohl; manchmal hatte er ihm zugesehen, wie er ein Grab im Kirchhofe grub. Was mag wohl der Greis zu dem Unglücklichen gesagt haben? Er starrte dem Fremden ins Gesicht, bot ihm einen guten Abend und ging langsam an ihm vorüber, ahnungslos, wer vor ihm stand.

Der Sträfling ging die Anhöhe hinab durch das Dorf. Das Wetter war warm, und die Einwohner saßen vor ihren Haustüren und ergingen sich in ihren Gärten, um sich von der Arbeit zu erholen und den heiteren Abend zu genießen. Manche Blicke richteten sich nach ihm, und oft schielte er verstohlen auf die Seite, um zu sehen, ob ihn jemand erkenne und ihm absichtlich aus dem Wege gehe. Es waren beinahe lauter fremde Gesichter; bisweilen erkannte er die stattliche Gestalt eines alten Schulkameraden, der noch ein Knabe gewesen war, als er ihn zum letzten Male gesehen hatte, von einer Schaf lustiger Kinder umgeben; dann sah er einen schwachen, entkräfteten Greis, dessen er sich noch als eines gesunden, rüstigen Arbeiters erinnerte, in einem behaglichen Lehnstuhl vor seiner Haustür sitzen; aber sie hatten ihn alle vergessen, und er ging unerkannt vorüber. Die letzten milden Strahlen der untergehenden Sonne fielen auf die Erde und warfen ihren feurigen Glanz auf das wogende Kornfeld und verlängerten die Schatten der Fruchtbäume des Gartens, als er vor dem alten Hause stand, der Heimat seiner Kindheit, nach der er sich während der ganzen langen Reihe der Jahre seiner Gefangenschaft und seines Elends so unbeschreiblich gesehnt hatte. Die Umzäunung war niedrig, wiewohl er sich der Zeit noch erinnerte, wo sie ihm wie eine hohe Wand vorgekommen war, und er sah über sie hinweg in den alten Garten. Er erblickte mehr Pflanzen und schönere Blumen, als sonst hier zu finden gewesen, aber die Bäume waren noch die alten, der Baum derselbe, unter dem er tausendmal im Schatten gelegen, wenn er des Spielens in der Sonne überdrüssig war, unter dem ihn sooft der sanfte Schlaf der glücklichen Kindheit umfangen. Er hörte Stimmen im Hause. Er lauschte, aber sie schlugen fremdartig an sein Ohr; er kannte sie nicht. Sie waren zu fröhlich, und er wußte wohl, daß seine arme Mutter nicht heiter sein konnte, solange sie ihn ferne wußte. Die Tür öffnete sich, und eine Schar Kinder hüpfte jubelnd und jauchzend heraus. Der Vater erschien auf der Schwelle mit 4J1 einem kleinen Jungen auf dem Arm. – – – Der Sträfling dachte daran, wie oft er an dieser Stelle vor dem finsteren Gesicht seines Vaters geflohen war. Er erinnerte sich, wie oft er seinen Kopf zitternd unter der Bettdecke versteckt und die rauhen Worte, die harten schweren Schläge und das Jammern seiner Mutter gehört hatte, und ob er gleich in tiefem Seelenschmerz laut aufschluchzte, als er den Ort verließ, so ließ ihn doch ein grimmer Haß die Fäuste ballen und die Zähne zusammenbeißen.

Das war also die Rückkehr, nach der er so viele Jahre lang geschmachtet und für die er so manche Mühseligkeiten erduldet hatte? Keine Miene des Willkomms, kein Blick der Verzeihung, kein gastfreundliches Haus, keine hilfreiche Hand – und alles das in seinem väterlichen Dorfe! Was war die Einsamkeit in den dichten Wäldern, in die noch keines Menschen Fuß gedrungen, gegen diese Gefühle!

Er sah, daß er sich seinen Geburtsort im fernen Lande seiner Verbannung und Schmach gedacht hatte, wie er ihn verlassen, nicht, wie er ihn bei seiner Rückkehr finden würde. Die traurige Wirklichkeit verwundete sein Herz tief und brach seinen Mut völlig. Er getraute sich nicht, die einzige Person, von der er eine mitleidige und liebevolle Aufnahme erwarten konnte, zu erfragen und aufzusuchen. Langsam ging er weiter und vermied den gewöhnlichen Pfad, gleich einem schuldbewußten Verbrecher. Er schlug den Weg zu einer wohlbekannten Wiese ein und warf sich ins Gras, das Gesicht in den Händen verbergend.

Er hatte nicht bemerkt, daß ein Mann neben ihm auf dem Boden lag. Erst als dieser sich umdrehte, um verstohlen zu sehen, wer denn gekommen, bemerkte ihn Edmunds und hob den Kopf in die Höhe.

Der Mann hatte sich zu einer sitzenden Stellung aufgerichtet. Sein Rücken war gekrümmt und sein Gesicht durchfurcht und gelb. Sein Anzug kennzeichnete ihn als einen Bewohner des Armenhauses. Er sah sehr alt aus, aber das schien mehr die Folge früherer Ausschweifung und Krankheit als des hohen Alters zu sein. Lange starrte er den Fremden an, und so matt und glanzlos anfangs seine Augen gewesen waren, sosehr nahmen sie jetzt den Ausdruck einer außerordentlichen Unruhe an und erglühten immer unheimlicher und unheimlicher. Edmunds richtete sich langsam auf seine Knie auf und sah dem alten Manne aufmerksamer ins Gesicht. So starrten sie einander schweigend an.

Der Greis erbleichte. Er schauderte und stellte sich zitternd auf seine wankenden Füße. Als Edmunds sich ihm näherte, bebte er zurück. Edmunds trat auf ihn zu.

,Ich will deine Stimme hören‘, sagte er, und es schnürte ihm fast die Kehle zu.

,Weg von mir!‘ rief der Alte mit einem schrecklichen Fluch. Der Sträfling trat näher.

,Weg von mir!‘ schrie der Greis wieder. Wütend erhob er seinen Stock und versetzte ihm einen Hieb über das Gesicht.

,Vater! – Teufel!‘ murmelte Edmunds zwischen den Zähnen, sprang wild auf und packte den Alten bei der Kehle. – Aber es war doch sein Vater! – Kraftlos fiel sein Arm nieder.

Der Greis stieß einen gellenden Schrei aus, der über die einsamen Felder hintönte wie das Geheul eines bösen Geistes. Sein Gesicht wurde schwarzblau. Das Blut strömte ihm aus Mund und Nase und färbte das Gras dunkelrot. Er wankte und fiel zu Boden. Ein Blutgefäß war ihm gesprungen, und er lag da, eine Leiche, ehe noch sein Sohn ihn aus der Blutlache aufrichten konnte.

In einem Winkel des Kirchhofs, fuhr der alte Herr nach einem minutenlangen Stillschweigen fort, „ruht ein Mann, der nach diesem Ereignis drei Jahre lang mein Arbeiter gewesen und die demütigste Reue und Zerknirschung zeigte, wie nur jemals ein Sterblicher. Niemand, außer mir, wußte zu seinen Lebzeiten, wer er war oder woher er kam. Es war John Edmunds, der zurückgekehrte Sträfling.“

Achtes Kapitel


Achtes Kapitel

Wie Mr. Winkle, anstatt auf Mr.Tupman zu zielen und die Krähe zu töten, auf die Krähe schoß und Mr. Tubman traf; wie der Kricketklub von Dingley Dell gegen Muggleton spielte und wie Muggleton auf Kosten von Dingley Dell speiste, nebst andern anziehenden und lehrreichen Vorfällen.

Die Strapazen des Tages oder die einschläfernde Wirkung Erzählung des Geistlichen hatten einen solchen Einfluß auf Mr. Pickwick ausgeübt, daß er wenige Minuten, nachdem er in sein behagliches Schlafzimmer geführt worden war, in einen gesunden und traumlosen Schlaf verfiel, aus dem er nicht eher erwachte, als bis die goldenen Strahlen der Morgensonne vorwurfsvoll in sein Zimmer schienen. Von Natur jeder Untätigkeit abhold, sprang Mr. Pickwick aus dem Bette wie ein streitbarer Krieger aus seinem Zelt.

„Herrliche, herrliche Gegend“, seufzte er begeistert, als die Jalousien öffnete. „Wer möchte da noch Tag für Tag auf Ziegel- und Schieferdächer starren, wenn er jemals die Wonnen einer solchen Natur empfunden? Wer möchte da bleiben, wo man keine andern Kühe sieht als die Kühe auf den Porzellantöpfen, kein andres Gestein als das Pflaster?“

Die süßen Wohlgerüche der Rosenhecken drangen zu ihm empor, die balsamischen Düfte des kleinen Blumengartens füllten die Luft um ihn her, die dunkelgrünen Wiesen glänzten im Morgentau, der auf jedem Blättchen schimmerte, wie es im sanften Lufthauch erzitterte, und die Vögel sangen, als wäre jeder funkelnde Tropfen eine Quelle der Begeisterung. Mr. Pickwick versank in eine süße, wonnige Träumerei, aus der ihn plötzlich ein lautes „Hallo“ weckte.

Er wandte sich nach rechts, sah aber niemand, er spähte nach links und suchte, irgend etwas Außergewöhnliches zu entdecken. Alles vergeblich. Er sah zu den Wolken empor, aber sie schienen sein nicht zu begehren. Endlich tat er, was ein gewöhnlicher Mensch gleich anfangs getan haben würde: er sah in den Garten, und richtig – da stand Mr. Wardle.

„Ausgeschlafen?“ fragte der gutmütige Herr fröhlich. „Ein schöner Morgen, wie? Freut mich, daß Sie so früh auf sind. Geschwind, kommen Sie herunter, ich warte hier auf Sie.“

Mr. Pickwick ließ sich das nicht zweimal sagen, und nach 7ehn Minuten stand er an der Seite des alten Herrn.

„Hallo!“ sagte er, als er seinen Wirt, mit einer Flinte bewaffnet und eine zweite neben ihm im Grase, sah. „Was haben Sie vor?“

„Ihr Freund und ich wollen vor dem Frühstück ein paar Krähen schießen. Er ist doch ein famoser Schütze – oder?“

„Er behauptet es wenigstens“, erwiderte Mr. Pickwick. „Allerdings war ich noch nie Zeuge.“

„Na“, sagte der alte Herr, „ich wollte, er käme endlich. Joe – Joe!“

Der fette Junge, der unter dem belebenden Einfluß der Morgenluft nicht halb so schläfrig zu sein schien als sonst, trat aus dem Hause.

„Geh hinauf und rufe den Herrn. Sag ihm, er kann mich und Mr. Pickwick beim Krähenhorst finden. Zeig dem Herrn den Weg, hörst du?“

Der Knabe entfernte sich gehorsam, und der alte Herr verließ, ein zweiter Robinson Crusoe, beide Flinten auf den Schultern, mit seinem Begleiter den Garten.

„Hier sind wir an Ort und Stelle“, sagte er, als sie nach einem Gang von wenigen Minuten in eine Allee gekommen waren.

Die Bemerkung war unnötig, denn das unaufhörliche Gekrächze der ahnungslosen Krähen verriet ihren Aufenthalt ohne weiteres.

Der alte Herr legte die eine Flinte auf den Boden und lud die andre.

„Da kommen sie“, sagte Mr. Pickwick und deutete auf die Gestalten der Herren Tupman, Snodgraß und Winkle im Hintergrunde. Der fette Junge, ungewiß, welchen Herrn er holen sollte, brachte scharfsinnigerweise alle drei, um jedem Irrtum vorzubeugen.

„Kommen Sie“, rief der alte Wardle, sich an Mr. Winkle wendend, „ein Nimrod wie Sie sollte schon lange bei der Hand sein, und wenn’s sich auch nur um Krähen handelt.“

Mr. Winkle antwortete mit einem gezwungenen Lächeln und nahm die herrenlose Flinte mit der Miene eines philosophischen armen Sünders, der den Tod durch den Strick vor sich sieht. Vielleicht war es Mut, aber immerhin sah es der Angst merkwürdig ähnlich.

Der alte Herr winkte, und zwei zerlumpte Jungen begannen alsbald auf zwei der Bäume zu klettern.

„Was haben die Burschen vor?“ fragte Mr. Pickwick hastig.

Er war etwas unruhig, denn er wußte nicht, ob sich die Jungen nicht vielleicht aus Armut, wie er schon so oft gehört hatte, zur Zielscheibe ungeschickter Schützen hergeben wollten, um sich durch dieses gefährliche Mittel einen kläglichen Erwerb zu sichern.

„Nur das Wild zu stellen“, antwortete Mr. Wardle lachend.

„Wozu?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nun, in schlichten Worten: um die Krähen aufzuscheuchen.“

„Oh! Sonst nichts?“

„Sind Sie jetzt beruhigt?“

„Vollkommen.“

„Schön. Soll ich anfangen?“

„Wie’s gefällig ist“, sagte Mr. Winkle, froh ob der Galgenfrist.

„Treten Sie zur Seite. Also los.“

Der Junge schrie und schüttelte einen Ast, auf dem sich ein Nest befand. Ein halb Dutzend junger Krähen, in lebhafter Unterhaltung begriffen, flog auf, um zu sehen, was es gäbe. Der alte Herr gab Feuer. Eine fiel herunter, und die andern flogen davon.

„Nimm sie, Joe“, sagte der alte Herr.

Ein Lächeln umspielte das Antlitz des Jungen. Unbestimmte Visionen von einer Krähenpastete umgaukelten seine Seele. Er lachte, als er mit dem Vogel zurückkam. – Er war sehr fett. Der Vogel nämlich.

„Nun, Mr. Winkle“, sagte der alte Herr, seine Flinte von neuem ladend, „schießen Sie!“

Mr. Winkle trat vor und legte an. Mr. Pickwick und seine Freunde bückten sich unwillkürlich, um den Krähen auszuweichen, die, wie sie zuversichtlich glaubten, auf den mörderischen Schuß ihres Freundes hageldicht herabfallen würden. Eine feierliche Pause – die Jungen auf den Bäumen schreien – Flügelschläge – ein Laut wie vom Schnappen eines Hahnes.

„Hallo?“ rief der alte Herr.

„Will es nicht losgehen?“ fragte Mr. Pickwick.

„Es hat versagt“, antwortete Mr. Winkle, totenbleich, wahrscheinlich vor Enttäuschung.

„Seltsam“, sagte der alte Herr, die Flinte betrachtend. „Sie hat noch nie versagt. Aber Sie haben ja kein Zündhütchen drauf.“

„Meiner Treu“, sagte Mr. Winkle, „das habe ich ganz vergessen.“

Die Sache war bald in Ordnung gebracht, und Mr. Pickwick bückte sich abermals. Mr. Winkle trat mit entschloßner Miene vor, und Mr. Tupman lugte hinter einem Baum hervor. Der Junge schrie – vier Vögel flogen auf. Mr. Winkle drückte ab. Da. Ein Schrei. – Nicht von einer Krähe. – Ein Angstschrei. Mr. Tupman hatte das Leben unzähliger Krähen gerettet, indem er einen Teil der Ladung mit dem linken Arm aufgefangen hatte.

Die Verwirrung, die jetzt folgte, spottete jeder Beschreibung. In der ersten Aufregung nannte Mr. Pickwick Mr. Winkle ein „Scheusal“, Mr. Tupman lag am Boden, und Mr. Winkle kniete, von Entsetzen geschüttelt, neben ihm. Mr. Tupman flüsterte, geistesabwesend, einen weiblichen Taufnamen und schloß zuerst das eine und dann das andre Auge. Erst allmählich kehrte er wieder ins Leben zurück, als man seinen Arm mit Taschentüchern verband und ihn, gestützt, langsamen Schrittes nach Hause führte.

So näherte sich der Zug dem Landhaus. Die Damen standen an der Gartentür und warteten auf die Ankunft der Schützen zum Frühstück. Die jugendliche Tante zeigte sich, lächelte und winkte den Herren, schneller zu gehen. Sie ahnte nicht, was vorgefallen. Armes Geschöpf! Es gibt Fälle im menschlichen Leben, wo Unwissenheit ein Glück ist. Sie kamen näher.

„Aber was hat denn der alte Herr?“ fragte Isabella Wardle.

Jungfer Tante achtete nicht auf die spöttische Frage; sie glaubte, sie bezöge sich auf Mr. Pickwick. In ihren Augen war Tracy Tupman ein Jüngling; sie betrachtete seine Jahre durch ein Verkleinerungsglas.

„Nur keine Aufregung“, rief Mr. Wardle, um seine Töchter nicht zu beunruhigen, die wegen des Gedränges um Mr. Tupman die wahre Natur des Unfalls nicht genau zu erkennen vermochten. „Nur keine unnötige Aufregung.“ „Was ist denn geschehen?“ riefen die Damen. „Mr. Tupman ist ein kleiner Unfall zugestoßen. Das ist alles.“

Die jungfräuliche Tante stieß einen durchdringenden Schrei aus, bekam einen hysterischen Lachkrampf und sank ihren Nichten in die Arme.

„Bespritzt sie mit kaltem Wasser“, riet der alte Herr.

„Nein, nein“, murmelte die jungfräuliche Tante, „es ist mir schon besser. Bella, Emilie, einen Arzt! Ist er verwundet? – Ist er tot? – Ist er … Hahaha!“ Ein zweiter Lach- und Weinkrampf befiel sie.

„Beruhigen Sie sich“, sagte Mr. Tupman, durch diesen Beweis von Teilnahme bis zu Tränen gerührt. „Teuerstes Fräulein, beruhigen Sie sich.“

„Es ist seine Stimme!“ rief die Tante, und heftige Symptome eines dritten Anfalls stellten sich ein.

„Seien Sie unbesorgt, ich bitte Sie, meine Teuerste“, bat Mr. Tupman in einschmeichelndem Ton. „Die Verletzung ist ganz unbedeutend, ich versichere es Ihnen.“

„So sind Sie also nicht tot?“ schrie die hysterische Dame. „Oh, sagen Sie, daß Sie nicht tot sind.“

„Sei nicht närrisch, Rachel“, mengte sich Mr. Wardle in etwas rauherem Tone ein, als sich mit der poetischen Natur des Auftrittes vertrug. „Was zum Teufel soll es denn helfen, wenn er sagt, er sei nicht tot.“

„Nein, nein, ich bin nicht tot“, versicherte Mr. Tupman. „Ich verlange keinen Beistand als den Ihren. Erlauben Sie, daß ich mich auf Ihren Arm stütze. – Ach, Miß Rachel!“ fügte er flüsternd hinzu.

Bebend trat die Dame vor und bot ihm den Arm. So gingen sie ins Frühstückszimmer. Mr. Tracy Tupman drückte ihre Hand zärtlich an seine Lippen und sank auf das Sofa.

„Fühlen Sie sich schwach?“ fragte Miß Rachel besorgt.

„Nein“, antwortete Mr. Tupman. „Es ist nichts. Es wird mir im Augenblick wieder wohler sein.“ – Er schloß die Augen.

„Er schläft“, flüsterte Miß Wardle, denn seine Sehwerkzeuge blieben nahezu zwanzig Sekunden geschlossen. „Geliebter – geliebter – Mr. Tupman!“

Mr. Tupman sprang auf. „Oh, sagen Sie diese Worte noch einmal!“ rief er aus.

Die Dame war äußerst verwirrt. „Sie haben es doch nicht gehört?“ fragte sie, vor Scham errötend.

„Ja, ich habe sie gehört“, versetzte Mr. Tupman. „Wiederholen Sie. Wenn Sie wünschen, daß ich genesen soll, wiederholen Sie.“

„Pst!“ flüsterte die Dame. „Mein Bruder.“

Mr. Tracy Tupman nahm seine frühere Lage wieder ein, und Mr. Wardle trat mit einem Arzt ins Zimmer.

Der Arm wurde untersucht, die Wunde verbunden und für höchst unbedeutend erklärt. Die Gesellschaft war beruhigt und ging wieder mit fröhlichem Gesicht an die Befriedigung ihres Appetits. Nur Mr. Pickwick war verstimmt und sprach kein Wort. Zweifel und Enttäuschung spiegelten sich in seinen Zügen. Sein Vertrauen auf Mr. Winkle hatte durch die Vorfälle des Morgens einen argen Stoß erlitten.

„Spielen Sie Kricket?“ fragte Mr. Wardle den Schützen. Zu jeder andern Zeit würde Mr. Winkle die Frage unbedingt bejaht haben. Aber jetzt fühlte er das Prekäre seiner Lage und hauchte ein bescheidenes: „Nein.“

„Und Sie?“ fragte Mr. Snodgraß.

„Jetzt nicht mehr“, antwortete der alte Herr, „ich habe es aufgegeben; ich gehöre zwar noch dem hiesigen Klub an, spiele aber selbst nicht mehr.“

„Heute findet, glaube ich, ein großes Match statt?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja“, erwiderte der alte Herr. „Sie werden doch zusehen kommen?“

„Ich wohne sehr gern jederlei Sport bei“, versetzte Mr. Pickwick, „wenn man dabei seines Lebens sicher ist und nicht Gefahr läuft, durch die ungeschickte Hand unerfahrener Leute Schaden zu nehmen.“ Er schwieg und sah starr auf Mr. Winkle, der unter seinen Flammenblicken beinahe in die Erde sank. Nach einigen Minuten wandte der große Mann seine Augen weg und fügte hinzu: „Können wir mit gutem Gewissen den Verwundeten der Pflege der Damen überlassen?“

„Sie können mich in keinen besseren Händen wissen“, sagte Mr. Tupman.

„Unmöglich“, bestätigte Mr. Snodgraß.

So wurde denn beschlossen, Mr. Tupman solle unter der Pflege der Damen zu Hause bleiben und die übrige Gesellschaft mit Mr. Wardle an der Spitze dem Match beiwohnen, das Muggleton aus seinem Schlummer geweckt und Dingley Dell in ein heftiges Fieber versetzt hatte.

Da ihr Weg, der mehr als zwei englische Meilen betrug, ;durch schattige Heckengänge und schmale Fußpfade führte und sich ihre Unterhaltung immerwährend um die reizende Landschaft drehte, die sie rings umgab, war Mr. Pickwick beinahe geneigt, den Ausflug zu bereuen, als er sich plötzlich mitten in der Hauptstraße der Stadt Muggleton befand.

Neugierig und wissensdurstig blickte er um sich. Er sah einen viereckigen Marktplatz und in dessen Mittelpunkt einen großen Gasthof mit einem Schild, das ein in der Kunst sehr gewöhnliches, in der Natur aber höchst seltenes Geschöpf darstellte: einen blauen Löwen, der drei Beine in die Lüfte streckte und auf der Spitze der mittleren Klaue des vierten balancierte. In der Nähe wohnten ein Auktionator, ein Agent der Feuerversicherungsgesellschaft, ein Kornhändler, ein Leinweber, ein Sattler, ein Branntweinbrenner, ein Spezereikrämer und ein Schuhmacher, in dessen Laden außer den Erzeugnissen für Fußbekleidung auch noch Hüte, Mützen, Anzüge, baumwollne Regenschirme und Artikel für Allgemeinwissen zu haben waren. Einige Jungen eilten dem Schauplatze des Wettspiels zu, und zwei oder drei Krämer standen in ihren Ladentüren und sahen aus, als hätten sie ebenfalls Lust, der Festlichkeit beizuwohnen, was sie auch ohne große Beeinträchtigung ihres Berufs getrost hätten wagen dürfen. Nachdem Mr. Pickwick diese Beobachtungen angestellt hatte, um sie später in sein Gedenkbuch einzutragen, eilte er schnellen Schrittes seinen Freunden nach, die die Hauptstraße verlassen hatten und bereits den Kampfplatz in der Ferne vor sich sahen.

Die Wickets waren bereits ausgesteckt, und ein paar Rast- und Erfrischungszelte für die Teams und die Zuschauer aufgeschlagen. Noch hatte das Spiel nicht begonnen. Zwei oder drei Dingley-Deller und einige Muggletoner belustigten sich damit, den Ball mit blasierter Miene von Hand zu Hand zu schlagen; einige andere Gentlemen in demselben Dreß, mit Strohhüten, Flanelljacken und weißen Hosen, ein Anzug, in dem sie wie Amateursteinmetze aussahen, standen um die Zelte herum, und Mr. Wardle führte seine Gesellschaft eben in eins derselben.

Einige Dutzend „Äh, Befinden?“ schallten dem alten Herrn entgegen, und ein allgemeines Hutlüften und Verbeugen der Flanelljacken folgten der Vorstellung seiner Gäste, dreier Herren aus London, die außerordentlich begierig wären, dem Ereignis des Tages beizuwohnen.

„Wollen Sie nicht lieber ins Hauptzelt treten, Sir?“ fragte ein sehr stattlich aussehender Gentleman, dessen untere Hälfte einem halbierten gigantischen Flanellballen glich, aus dem ein Paar aufgeblasene Kissenüberzüge als Beine herausragten.

„Sie sehen es hier am besten“, riet ein andrer stattlicher

Gentleman, der genau der zweiten Hälfte des erwähnten Flanellballens entsprach.

„Sie sind sehr gütig“, versetzte Mr. Pickwick.

„Hierher!“ sagte der erstgenannte Gentleman. „Hier wird gekerbt – es ist der beste Punkt auf dem ganzen Felde“, und schritt der Gesellschaft voran in das bezeichnete Zelt.

„Kapitalspiel – famoser Sport – feines Match“, waren die Worte, die an Mr. Pickwicks Ohren schlugen, als er in das Zelt trat, und das erste, was er sah, war sein grüngekleideter Freund aus der Postkutsche in Rochester, der gerade vor einem auserlesenen Kreise von Muggletonern zur nicht geringen Ergötzung und Erbauung seines Auditoriums einen Vortrag hielt. Sein Anzug hatte sich ziemlich gebessert, und er trug Halbschuhe, aber an seiner Identität war nicht zu zweifeln.

Auch der Fremde erkannte die Freunde sogleich. Er sprang auf, nahm Mr. Pickwick bei der Hand und führte ihn mit seiner gewohnten Hast zu einem Sitz, unaufhörlich schwatzend, als ob das ganze Fest unter seiner besonderen Leitung stände.

„Hierher – hierher – Kapitalspaß – massenhaft Bier – Rinderviertel – ganze Ochsen – Senf – Wagen voll – glorreicher Tag – setzen Sie sich – tun Sie, als ob Sie zu Hause wären – freut mich, Sie zu sehen – außerordentlich.«

Mr. Pickwick setzte sich, aber auch Mr. Winkle und Mr. Snodgraß unterwarfen sich dem Willen ihres geheimnisvollen Freundes. Mr. Wardle sah mit stummer Verwunderung zu.

„Mr. Wardle, ein Freund von mir“, stellte Mr. Pickwick vor.

„Freund von Ihnen? – Werter Herr, wie befinden Sie sich? – Ein Freund von meinem Freund. Ihre Hand, Sir!“

Der Fremde ergriff Mr. Wardles Hand mit der Glut einer mehrjährigen innigen Freundschaft, trat dann einen oder zwei Schritte zurück, als wollte er ihn erst recht genau von Angesicht zu Angesicht betrachten, und schüttelte dann seine Hand von neuem und womöglich noch wärmer als zuvor.

„Hm. Und wie kommen Sie eigentlich hierher?“ fragte Mr. Pickwick mit einem Lächeln, in dem Wohlwollen mit Überraschung kämpfte.

„Hierher kommen?“ erwiderte der Fremde. „In der ,Krone‘ abgestiegen – ,Krone‘ in Muggleton – Gesellschaft getroffen – Flanelljacken – weiße Hosen – Sandwiches mit Sardellen – Pfeffernieren – splendide Jungens – glorreich.“

Mr. Pickwick war mit dem stenographischen System des Fremden hinlänglich vertraut, um aus seinen abgebrochenen Mitteilungen zu entnehmen, daß er auf die eine oder andre Weise mit den Muggletonern eine Bekanntschaft angeknüpft und sie, vermittels des ihm eignen Verfahrens, bis zur Kameradschaft gesteigert hatte, worauf wahrscheinlich eine allgemeine Einladung erfolgt war. Mr. Pickwicks Wißbegier war somit befriedigt; er setzte seine Brille auf und schickte sich an, dem Spiele zuzusehen, das eben seinen Anfang nahm.

Muggleton hatte die ersten Innings, und die Spannung war ungeheuer, als die beiden berühmtesten Mitglieder des ausgezeichneten Klubs, Mr. Dumkins und Mr. Podder, mit den Bats in der Hand an ihre Wickets traten. Mr. Luffey, der Stolz Dingley Dells, hatte gegen den furchtbaren Dumkins den Ball zu werfen und Mr. Struggles seinerseits dem bisher unbesiegten Podder denselben Liebesdienst zu erweisen. Einige Spieler wurden aufgestellt, an verschiedenen Stellen des Feldes „aufzupassen“, und jeder nahm die erforderliche Stellung an, indem er die Hände auf die Knie stemmte, wie zum Bocksprung. Jeder Kricketer weiß, daß das so sein muß und daß es unmöglich ist, in irgendeiner andern Stellung gehörig aufzupassen.

Die Schiedsrichter stellten sich hinter die Wickets; die Skorer waren bereit zu kerben, und eine atemlose Stille trat ein. Mr. Luffey zog sich einige Schritte hinter das Wicket des untätigen Podder zurück und hielt einige Sekunden lang den Ball an sein rechtes Auge. Dumkins erwartete voll Zuversicht dessen Ankunft, die Blicke unverwandt auf Luffey geheftet,

„Play!“ rief plötzlich der Bowler.

Pfeilschnell flog der Ball aus Luffeys Hand geradenweges auf den mittleren Stab des Wickets zu. Aber Dumkins war auf der Hut; er fing ihn mit der Spitze seines Ballholzes auf und ließ ihn über die Köpfe der Aufpasser wegfliegen, die sich gerade tief genug bückten, um ihn über sich wegsausen zu lassen.

Die Sterne standen ungünstig für Dingley Dell.

Podder erntete Lorbeeren genug, um sich und ganz Muggleton damit zu bekränzen. Er schlug die zweifelhaften Bälle nieder, ließ die schlechten durch, fing die guten auf und gab sie nach allen Richtungen zurück; die Aufpasser waren erhitzt und müde; die Ballwerfer wechselten ab und bowlten, bis sie den Arm nicht mehr heben konnten; nur Dumkins und Podder blieben unermüdlich. Versuchte es ein älterer Herr, den Flug eines Balles zu hemmen, so rollte er ihm zwischen die Beine oder schlüpfte ihm durch die Hände. Wollte ihn ein flinker junger Mann auffangen, traf er ihn auf die Nase und flog mit doppelter Kraft lustig zurück, während sich die Augen des flinken jungen Mannes mit Tränen füllten. Schließlich zählte Muggleton vierundfünfzig, während das Kerbholz der Dingley-Deller so weiß war wie ihre Gesichter; der Vorsprung war zu groß, um wieder eingeholt werden zu können. Vergebens boten der gewandte Luffey und der selbstlose Struggles ihre ganze Geschicklichkeit und Erfahrung auf, um das Feld wieder zu erobern, das Dingley Dell im Kampfe verloren hatte; es war umsonst. Dingley Dell gab auf und erkannte damit Muggleton als Sieger an.

Der Fremde hatte mittlerweile rastlos gekaut, getrunken und gesprochen. Bei jedem guten Schlag drückte er in der herablassenden Weise des Gönners seine Zufriedenheit und seinen Beifall aus, wodurch sich die betreffende Partei notwendigerweise sehr geschmeichelt fühlen mußte, während er bei jedem Fehlschlag vor seinen demütigen Zuhörern sein persönliches Mißfallen durch die Worte: „Tj, tj – zu dumm – Butterfinger – fi – Patzer –“ und ähnliche Ausrufe zu erkennen gab: Ausrufe, die ihn in den Augen sämtlicher Anwesenden als einen vorzüglichen Kenner aller Mysterien des edlen Kricketspiels erscheinen ließen.

„Kapitalmatch – sauber hingelegt – einige bewundernswürdige Schläge“, sagte der Fremde, als sich nach dem Spiele beide Parteien im Zelt versammelten.

„Haben Sie früher auch Kricket gespielt, Sir?“ fragte Mr. Wardle, den die Geschwätzigkeit des Fremden ungemein amüsierte. „Gespielt? Will ich meinen – tausendmal – nicht hier – Westindien – ungeheure Anstrengung – heiße Arbeit – sehr heiß.“

„Es muß freilich unter jenem Himmelsstrich keine Kleinigkeit sein“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Kleinigkeit? – Heiß – brennend heiß – rotglühend. Spielte einmal ein Match – ein einziges Wicket – mein Freund, der Oberst – Sir Thomas Blazo – wer die meisten Läufe bekommen sollte. – Gewann den Wurf – Vorhand – sieben Uhr abends – sechs Eingeborene zum Aufpassen – kamen. Hielten mit – enorme Hitze – die Eingebornen alle ohnmächtig – weggebracht – frisches halbes Dutzend aufgestellt – auch ohnmächtig – Blazo bowlt – von zwei Eingebornen unterstützt – konnte mich nicht ausbowlen – auch ohnmächtig – Oberst weggebracht – wollten sich nicht ergeben – treuer Diener – Quanko Samba – der letzte Mann übrig – Sonne so heiß, daß die Ballhölzer kohlten und der Ball schwarz wurde – fünfhundertundsiebzig Läufe – ganz erschöpft – Quanko strengte seine letzten Kräfte an – bowlte mich aus. – Ich nahm ein Bad und ging zum Essen.“

„Und was wurde aus dem … Wie nannten Sie ihn, Sir?“ fragte ein alter Herr.

„Blazo?“

„Nein, der andre.“

„Quanko Samba?“

„Ja.“

„Armer Quanko – erholte sich nicht mehr – ausgebowlt. – Tot, Sir.“ Der Fremde begrub sein Gesicht in einen braunen Krug; ob er seine Rührung verbergen oder sich den Inhalt einverleiben wollte, ist nicht mehr festzustellen. Wir wissen nur, daß er plötzlich absetzte, lang und tief Atem schöpfte und sich neugierig umsah, als zwei von den ersten Mitgliedern des Dingley-Dell-Klubs mit den Worten zu Mr. Pickwick traten:

„Wir haben im ,Blauen Löwen‘ ein Festessen, Sir, und hoffen, Sie und Ihre Freunde werden uns die Ehre schenken.“

„Natürlich“, sagte Mr. Wardle. „Zu unsern Freunden zählen wir auch Mr. –“, hier sah er den Fremden an.

„– Jingle“, ergänzte der weltgewandte Gentleman. „Jingle – Alfred Jingle, Esq. von Ohneschloß, Nirgendheim.“

„Es wird mir ein großes Vergnügen sein“, bedankte sich Mr. Pickwick.

„Mir auch“, bemerkte Mr. Alfred Jingle, nahm Mr. Pickwicks Arm und flüsterte ihm vertraulich ins Ohr: „Verteufelt gutes Essen – kalt, aber kapital – schielte diesen Morgen in die Küche – Geflügel, Pasteten und alles mögliche – famose Jungens, das – gut benommen – sehr gut.“

Da schon alle Vorbereitungen getroffen waren, schlenderte die Gesellschaft in Gruppen zu zwei und drei langsam in die Stadt, und nach Verlauf einer Viertelstunde saßen alle im großen Saal des „Blauen Löwen“ von Muggleton. – Mr. Dumkins führte den Vorsitz, und Mr. Luffey hatte die Würde des Vizepräsidenten.

Ein allgemeines Stimmengewirr und Messer-, Gabel- und Tellergeklapper erhoben sich. Drei dickköpfige Servierkellner liefen unaufhörlich aus und ein, und die handfesten Fleischstücke verschwanden mit Blitzesschnelle von der Tafel; zu all dieser Verwirrung trug der muntere Mr. Jingle wenigstens sechsmal soviel bei als irgendein andres Mitglied der Gesellschaft. Nachdem jeder gegessen hatte, so viel er konnte, wurde abgedeckt, um für Flaschen, Gläser und Dessert Platz zu machen. Die Kellner trugen ab oder, besser gesagt, retteten die Überreste der Speisen und Getränke aus dem Saal.

Mitten in dem allgemeinen Getöse der Tafelfreuden und der Gespräche bemerkte man einen kleinen Mann mit einem wichtigtuerischen Gesicht, das immer widersprechen zu wollen schien. Er sagte weiter kein Wort und warf nur zuweilen, wenn die Unterhaltung stockte, Blicke um sich, als wolle er irgend etwas höchst Bedeutsames vorbringen; dann und wann räusperte er sich auch mit einer unbeschreiblichen Würde. Endlich, während einer kleinen Pause, rief er mit sehr lauter, feierlicher Stimme:

„Mr. Luffey!“

Alles schwieg sofort, nur der Angeredete erwiderte:

„Sir?“

„Ich wünsche einige Worte an Sie zu richten, Sir, wenn Sie die Herren bitten wollen, ihre Gläser zu füllen.“

Mr. Jingle ließ begönnernd ein „Hört! Hört!“ vernehmen, das von den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft wiederholt wurde, und nachdem die Gläser gefüllt waren, nahm der Vizepräsident eine Miene der gespanntesten Aufmerksamkeit an und sagte:

„Mr. Staple hat das Wort.“

„Sir“, begann der kleine Mann und erhob sich von seinem Sitz, „ich wünsche das, was ich zu sagen habe, an Sie zu richten, statt an unsern würdigen Präsidenten, weil unser würdiger Präsident gewissermaßen – ich darf sagen, in hohem Grade – der Gegenstand dessen ist, was ich zu sagen oder vielmehr – vielmehr –“

„– vorzutragen habe“, ergänzte Mr. Jingle.

„Ja, vorzutragen habe“, sagte der kleine Mann. „Ich danke meinem ehrenwerten Freunde, wenn er mir erlauben will, ihn so zu nennen“ – (vier „Hört, hört!“, von denen mindestens eines aus dem Munde Mr. Jingles kam) –, „daß er mir mit dem richtigen Wort ausgeholfen hat. Mein Herr, ich bin ein Deller – ein Dingley-Deller. (Beifall.) Ich kann keinen Anspruch auf die Ehre machen, ein Mitglied der Bevölkerung von Muggleton zu sein, und ich gestehe offen, Sir, ich begehre auch diese Ehre nicht, und warum nicht, sollen Sie sogleich hören, Sir. (Hört!) Ich gönne Muggleton von Herzen alle und jede Ehre und Auszeichnung, die es mit so großem Recht ansprechen kann. Seine Verdienste sind zu zahlreich und allgemein bekannt, als daß ich sie hier aufzählen müßte. Doch wenn Muggleton auch einen Dumkins und einen Podder hervorgebracht, so lasset uns andrerseits nicht vergessen, daß Dingley Dell einen Luffey und einen Struggles aufzuweisen hat. (Tosender Beifall.) Ich bitte nicht, etwa zu glauben, ich wolle die Verdienste der erstgenannten Herren herabsetzen. Nein, Sir; ich beneide Sie um Ihre Triumphe bei dieser Gelegenheit. (Beifall) Jeder der verehrten Anwesenden ist wahrscheinlich mit der Antwort des gewissen Weisen vertraut, die dieser von seiner Tonne aus dem Kaiser Alexander gab: .Wenn ich nicht Diogenes wäre, so möchte ich Alexander sein.‘ Ich stelle mir vor, die Herren hier denken auch: ,Wenn ich nicht Dumkins wäre, so möchte ich Luffey sein; wenn ich nicht Podder wäre, so möchte ich Struggles sein.‘ (Stürmischer Beifall.) Doch, meine Herren von Muggleton, ist es bloß das Kricket, in dem sich Ihre Mitbürger so auszeichnen? Haben Sie nicht von Dumkins gehört, wenn von Entschlossenheit die Rede war? Haben Sie nie gelernt, mit dem Namen Podder alles, was Rechtsbegriff heißt, zu verbinden? (Großer Beifall.) Sind Sie je bei der Verteidigung Ihrer Rechte, Ihrer Freiheiten, Ihrer Privilegien, wenn auch nur für einen Augenblick, mutlos und verzweifelt gewesen? Und wenn Sie niedergedrückt waren, hat nicht der Name Dumkins das erloschene Feuer in Ihrer Brust wieder angefacht? Und ist es nicht durch ein Wort von diesem Manne wieder aufgelodert, als wäre es nie erloschen? (Großer Beifall.) Meine Herren, ich fordere Sie auf, den vereinten Namen Dumkins und Podder ein donnerndes Hoch zu bringen.“

Der Kleine schwieg, und die Gesellschaft schrie, schlug auf den Tisch, und für den ganzen Abend war der Lustbarkeit und des Lärmens kein Ende. Noch andre Toaste wurden ausgebracht. Mr. Luffey und Mr. Struggles, Mr. Pickwick und s Mr. Jingle wurden nacheinander in Lobeshymnen gefeiert, und jeder bedankte sich pflichtschuldigst für die ihm erwiesene Ehre.

Leider sind wir nicht in der Lage, alle Reden wiederzugeben. Wohl zeichnete Mr. Snodgraß mancherlei auf, doch ist seine Handschrift an diesem Abend fast unleserlich. Wirklich lesbar ist eigentlich nur der Hymnus:

„Wir gehn noch lange nicht,
Wir gehn noch lange nicht,
Wir gehn noch lange nicht,
Bis früh der Tag anbricht.“

Neuntes Kapitel


Neuntes Kapitel

Das den Satz: „Die Liebe ist keine Eisenbahn“ in ein helles Licht rückt.

Die stille Abgeschiedenheit von Dingley Dell, die Anwesenheit so vieler Zierden des schönen Geschlechtes und die sorgsame Pflege und Wartung, die sie an den Tag legten, waren der Steigerung jener sanfteren Gefühle außerordentlich günstig, die die Natur tief in Mr. Tracy Tupmans Brust gesenkt hatte und die jetzt bestimmt schienen, sich auf einen liebenswürdigen Gegenstand zu konzentrieren. Die jungen Damen waren hübsch, ihr Äußeres einnehmend, ihr Betragen tadellos, aber in den Augen der jungfräulichen Tante lag ein Seelenleben, in ihrer Miene eine Würde, in ihrem Gang ein gewisses Noli me tangere, worauf jene bei ihrer Jugend keinen Anspruch erheben konnten und worin sie es jedem Weibe zuvortat, das Mr. Tupman je gesehen hatte. Daß in ihrer beiden Wesen etwas Verwandtes, in ihrem Empfinden etwas Übereinstimmendes, in ihrer Brust eine gewisse geheimnisvolle Sympathie lag, war augenscheinlich; ihr Name war der erste Laut, der über Mr. Tupmans Lippen kam, als er blutend im Grase lag, und ihr hysterischer Lachkrampf der erste Ton, der zu seinen Ohren drang, als er nach Hause gebracht wurde. Aber: hatte ihre Aufregung ihren Grund lediglich in einer liebenswürdigen weiblichen Empfindsamkeit gehabt, die bei jeder ähnlichen Gelegenheit zum Vorschein gekommen wäre, oder war sie durch ein tieferes, zärtlicheres Gefühl hervorgerufen worden, das nur er allein unter allen Männern erwecken konnte? Das waren Zweifel, die sein Gehirn marterten, als er hilflos auf dem Sofa lag, Zweifel, die er nun ein für allemal zu lösen beschloß.

Es war Abend. Isabella und Emilie hatten mit Mr. Trundle einen Spaziergang gemacht; die taube alte Frau war in ihrem Lehnstuhl eingeschlafen; das Schnarchen des fetten Jungen drang dumpf und eintönig aus der entfernten Küche herüber; die strammen Mägde lehnten am Hoftor und genossen die Süßigkeit des Feierabends; von niemand beachtet und blind für die Umgebung vor sich hin träumend, saß das verliebte Pärchen da, ineinandergeschlungen wie ein Paar sorgfältig zusammengelegte Handschuhe.

„Ich habe meine Blumen vergessen“, sagte die Jungfrau.

„Begießen wir sie“, säuselte Mr. Tupman.

„Sie würden sich in der Abendluft erkälten“, wendete die Jungfrau zärtlich ein.

„Nein, nein“, erwiderte Mr. Tupman und stand auf. „Es wird mir guttun. Ich will Sie begleiten.“

Schweigend legte das Mädchen die Schlinge zurecht, in der der linke Arm des Jünglings lag, hängte sich in ihn ein und geleitete ihn in den Garten.

Am oberen Ende desselben lag eine Laube von Geißblatt, Jasmin und Schlingpflanzen, eines jener Ruheplätzchen, die empfindsame Seelen als Zufluchtsort für Spinnen zu errichten lieben.

Die Jungfrau ergriff eine große Gießkanne, die in einem Winkel stand, und wollte eben die Laube verlassen, da hielt sie Mr. Tupman zurück und zog sie auf einen Sitz neben sich nieder.

„Miß Wardle!“ begann er.

Die Jungfrau zitterte, bis einige Steinchen, die zufälligerweise den Weg in die Gießkanne gefunden hatten, klirrten wie eine Kinderklapper.

„Miß Wardle“, sagte Mr. Tupman, „Sie sind ein Engel.“

„Mr. Tupman!“ rief Rachel aus und wurde so rot wie ihre Gießkanne.

„Nein, nein“, sagte der beredte Pickwickier, „ich weiß es nur zu gut.“

„Alle Frauen sind Engel, wenn man den Männern glauben soll“, flötete die Dame in scherzhaftem Ton.

„Was wären Sie sonst, oder womit könnte ich Sie ohne Vermessenheit vergleichen?“ versetzte Mr. Tupman. „Wo ist das Weib, das Ihnen gliche? Wo sonst könnte ich eine so seltene Vereinigung von geistigen Vorzügen und körperlicher Schönheit zu finden hoffen? Wo sonst könnte ich … Oh!“ Mr. Tupman schwieg und drückte die Hand, die auf dem Henkel der beneidenswerten Gießkanne ruhte.

Das Mädchen blickte errötend zu Boden und flüsterte sanft:

„Die Männer sind voll Lug und Trug.“

„Ja, sie sind es, sie sind es“, versicherte Mr. Tupman. „Aber nicht alle. Hier wenigstens lebt einer, dessen Herz keinen Wankelmut kennt, einer, der sein ganzes Dasein Ihrem Glück opfern könnte, der nur von Ihren Blicken lebt, der nur in Ihrem Lächeln atmet, der die schwere Bürde des Lebens einzig und allein um Ihretwillen trägt.“

„Ja, wer einen solchen Mann finden könnte!“ seufzte das Mädchen.

„Sie könnten ihn finden?“ rief inbrünstig Mr. Tupman. „Er ist gefunden. Er liegt vor Ihnen, Miß Wardle.“

– Und ehe die Jungfrau seine Absicht ahnen konnte, lag er schon zu ihren Füßen auf den Knien.

„Stehen Sie auf, Mr. Tupman“, flehte Rachel.

„Nimmermehr“, war die entschlossene Antwort. „Oh, Rachel, sagen Sie, daß Sie mich lieben.“ Er ergriff so stürmisch ihre Hand, daß die Gießkanne zu Boden fiel.

„Mr. Tupman“, seufzte die Jungfrau mit abgewandtem Gesicht, „ich kann kaum Worte finden; doch – doch – Sie sind mir nicht ganz gleichgültig.“

Mr. Tupman hörte kaum dieses Geständnis, als er sich ganz seiner Begeisterung hingab und tat, was angeblich unter solchen Umständen die meisten Menschen tun. Er sprang auf, schlang seinen Arm um den Nacken der Jungfrau und drückte eine Anzahl Küsse auf ihre Lippen. Sie nahm sie nach pflichtschuldigem Zieren und Sträuben so geduldig hin, daß ihr Mr. Tupman vielleicht noch viel mehr aufgedrückt haben würde, wäre sie nicht plötzlich, heftig erschrocken und angsterfüllt, in die Worte ausgebrochen:

„Mr. Tupman, wir werden beobachtet! Wir sind entdeckt!“

Mr. Tupman sah sich um und erblickte die großen kreisrunden Augen des fetten Jungen, der ohne den mindesten Ausdruck auf seinem Gesichte, den der erfahrenste Physiognomiker als Erstaunen, Neugierde oder irgendeine bekannte Leidenschaft, die sonst noch die Brust der Menschen bewegt, hätte auslegen können, völlig regungslos in die Laube glotzte. Mr. Tupman starrte den fetten Jungen an, und der fette Junge ihn, und je länger Mr. Tupman das völlig nichtssagende Gesicht seines Gegenübers ansah, desto mehr kam er zur Überzeugung, daß dieses entweder nicht wußte oder nicht verstand, was vorgegangen war. In dieser Voraussetzung fragte er mit festem Ton:

„Was suchst du hier?“

„’s Essen is aufgetragen, Sir“, war die prompte Antwort.

„Bist du eben erst gekommen?“ fragte Mr. Tupman mit durchbohrendem Blick.

„Grad jetzt“, erwiderte der fette Junge.

Mr. Tupman sah ihn wieder scharf an, aber der Junge verzog keine Miene. Dann nahm er den Arm der Jungfrau und ging dem Hause zu; der fette Junge folgte.

„Er weiß nicht, was vorgefallen ist“, flüsterte Mr. Tupman.

„Nichts?“ fragte die Jungfrau.

Sie hörten einen Ton hinter sich, wie von einem halbunterdrückten Lachen. Mr. Tupman drehte sich blitzschnell um. Aber nein, der fette Junge konnte es nicht gewesen sein; in seinem ganzen Gesicht war keine Spur von Heiterkeit und überhaupt kein andrer Ausdruck als Eßlust zu erkennen.

„Er muß geschlafen haben“, flüsterte Mr. Tupman.

„Ich zweifle nicht im geringsten daran“, versetzte die Jungfrau, und beide lachten herzlich.

Aber Mr. Tupman irrte sich. Der fette Junge hatte zufällig nicht geschlafen. Er hatte gewacht, sogar völlig gewacht und alles mit angesehen.

Das Abendessen ging vorüber, ohne daß jemand eine allgemeine Unterhaltung anzuknüpfen gesucht hätte. Die alte Frau ging zu Bett; Isabella Wardle widmete sich ausschließlich Mr. Trundle, die Tante hatte für niemand Augen als für Mr. Tupman, und Emiliens Gedanken schienen in der Ferne zu verweilen, vielleicht bei dem abwesenden Snodgraß.

Elf Uhr, zwölf Uhr, ein Uhr hatte es geschlagen, und die Herren waren noch immer nicht zurück. Bestürzung und Unruhe lagen auf jedem Gesicht. Könnten sie vielleicht überfallen und beraubt worden sein? Sollte man Leute mit Laternen aussenden und sie suchen lassen? Oder sollte man … Horch! Sie sind’s. Was konnte sie so lange aufhaken? Und eine fremde Stimme? Wem konnte sie gehören? Man eilte in die Küche, um nach den Ankömmlingen zu sehen, und überzeugte sich alsbald von dem wahren Stand der Dinge.

Mr. Pickwick lehnte, die Hände in den Taschen und den Hut über das linke Auge gedrückt, am Anrichttisch, wackelte mit dem Kopf und lächelte unaufhörlich, ohne daß man irgendeinen Grund dafür entdecken konnte; der alte Mr. Wardle hielt einen fremden Herrn an der Hand, dem er mit flammendem Gesicht etwas von ewiger Freundschaft vorlallte; Mr. Winkle klammerte sich an die Wanduhr und rief mit matter Stimme auf jedes Mitglied der Familie, das heute nacht von Zubettgehen sprechen würde, Feuer und Schwefel vom Himmel herab, und Mr. Snodgraß war auf einen Stuhl gesunken, den Ausdruck des fürchterlichsten und hoffnungslosesten Elends, das sich die Phantasie eines Menschen nur ausmalen kann, in jeder Linie seines verstörten Gesichts.

„Ist etwas vorgefallen?“ fragten die drei Damen.

„Ni–nichts ist los“, antwortete Mr. Pickwick. „Wir – wir sind –. Alles in schönster Ordnung. – Wa–was Wardle, alles in sch–schönster Ordnung?“

„Das will ich meinen“, sagte der alte Herr lustig. „Meine Lieben, hier ist mein Freund, Mr. Jingle, Mr. Pickwicks Freund, Mr. Jingle. Er macht uns einen kleinen Besuch.“

„Ist Mr. Snodgraß etwas zugestoßen?“ fragte Emilie ängstlich.

„Nicht das mindeste, Ma’am“, mischte sich der Fremde ein. „Kricketschmaus – großartige Gesellschaft – Kapitalsänger – alter Portwein – Claret – gut – sehr gut – Wein. Ma’am, Wein.“

„Es lag nicht am Wein“, lallte Mr. Snodgraß mit gebrochner Stimme. „Der Lachs war schuld.“

„Wäre es nicht besser, Sie gingen zu Bett?“ fragte Emilie. „Zwei von den Knechten können die Herren hinaufführen.“

„Ich gehe nicht zu Bett“, lehnte Mr. Winkle bestimmt ab.

„Kein Mensch auf der Welt soll sich erdreisten, mich zu führen“, erwiderte Mr. Pickwick kühn, lächelte aber gleich darauf wieder so gutmütig wie zuvor.

„Hurra!“ rief Mr. Winkle.

„Hurra!“ wiederholte Mr. Pickwick, nahm seinen Hut ab, schleuderte ihn auf den Boden und warf dann seine Brille in einem Anfall von Tollheit mitten in die Küche. Dann lachte er über diesen Hauptspaß laut auf.

„Trinken – wir – noch – eine – Flasche“, rief Mr. Winkle mit lauter, aber bei jedem Wort immer schwächer werdender Stimme. Der Kopf sank ihm auf die Brust nieder, und nachdem er noch etwas von seinem unabänderlichen Entschluß, nicht zu Bett gehen zu wollen, und von einer blutdürstigen Reue, „den ollen Tupman diesen Morgen nicht vollends zur Strecke gebracht zu haben“, gelallt hatte, verfiel er plötzlich in einen tiefen Schlaf. Zwei junge Burschen, unter Oberaufsicht des fetten Jungen, brachten ihn zu Bett, und gleich darauf vertraute Mr. Snodgraß seinen Leichnam der Sorge derselben Personen an. Mr. Pickwick nahm den dargebotenen Arm Mr. Tupmans und verschwand ganz in der Stille, ein stereotypes Lächeln auf den Lippen, und Mr. Wardle erwies Mr. Trundle die Ehre, ihn die Treppe hinaufzugeleiten, und entfernte sich mit dem völlig vergeblichen Versuch, eine feierliche und würdevolle Miene anzunehmen, nachdem er zuvor von der ganzen Familie einen so zärtlichen Abschied genommen hatte, als ginge er unmittelbar dem Schafott entgegen.

„Was für ein abscheulicher Auftritt!“ rief die Jungfrau.

„Ab–scheulich!“ stimmten die beiden jungen Damen bei.

„Furchtbar – furchtbar!“ sagte Jingle mit ernster Miene. Er hatte aber auch anderthalb Flaschen mehr zu sich genommen als irgendein anderes Mitglied der Gesellschaft. „Ein schrecklicher Anblick. Gewiß.“

„Ein reizender Mensch!“ flüsterte die Tante Mr. Tupman zu.

„Und ein hübscher Mensch!“ flüsterte Emilie Wardle.

„Wahrhaftig, ja“, bemerkte die Tante.

Mr. Tupman dachte an die Witwe in Rochester, und seine Stirn umwölkte sich.

Die halbstündige Unterhaltung, die jetzt folgte, war nicht geeignet, seine Besorgnis zu beschwichtigen. Der neue Ankömmling war sehr gesprächig, und die Menge seiner Anekdoten wurde nur durch seine Höflichkeiten übertroffen. Mr. Tupman fühlte, daß er in dem gleichen Maße, in dem Mr. Jingles Beliebtheit stieg, immer mehr in den Schatten trat. Sein Lachen war gezwungen, seine Lustigkeit erheuchelt, und als er endlich seine schmerzenden Schläfen zwischen die Bettkissen steckte, wünschte er sich mit grausamer Lust Jingles Kopf in diesem Augenblicke zwischen Federbett und Matratze.

Der unverwüstliche Fremde stand am andern Tag zeitig auf und gab sich alle Mühe, während seine Gefährten die Folgen ihrer Schlemmerei noch im Bette verdämmerten, die Heiterkeit des Frühstücks durch seine Unterhaltung zu erhöhen. Dies gelang ihm auch so vollkommen, daß sogar die taube alte Dame sich einige seiner besten Scherze durch ihr Hörrohr wiederholen ließ und herablassend zu der Tante bemerkte, Mr. Jingle sei ein ausgelassener junger Mensch – eine Ansicht, der ihre Tochter und ihre Enkelinnen rückhaltlos beistimmten.

Es war eine Gewohnheit der alten Dame, sich an jedem schönen Sommermorgen nach der Laube zu begeben, in der sich Mr. Tupman am Tag vorher so ausgezeichnet hatte. Zu diesem Zweck mußte der fette Junge von einem Kleiderrechen hinter der Schlafzimmertür der alten Dame einen schwarzen Atlaskapotthut, einen warmen baumwollenen Schal und einen dicken Stock mit einer großen Krücke holen. Hatte sie sich dann, behaglich eingehüllt, mußte sie der fette Junge für eine halbe Stunde den Annehmlichkeiten, die mit dem Genuß frischer Luft verbunden sind, überlassen und nach Ablauf dieser Frist wieder ins Haus zurückführen.

Die alte Dame ging in solchen Fällen nie von ihrer gewohnten Weise ab, und da diese Zeremonie schon drei Sommer hintereinander, ohne das geringste Abweichen von der Regel, ausgeübt worden, so war sie ein wenig überrascht, als jetzt der fette Junge, statt wieder fortzugehen, nur einige Schritte von der Laube wegtrat, sich behutsam nach allen Richtungen umsah und dann ganz verstohlen und mit ungemein geheimnisvoller Miene wieder umkehrte.

Die alte Dame war furchtsam, wie es die meisten alten Damen sind, und so kam sie sogleich auf den Gedanken, der gedunsene Junge führe einen Mordanschlag gegen sie im Schilde, um sich in den Besitz des Kleingeldes, das sie bei sich trug, zu setzen. Sie würde daher um Hilfe gerufen haben, wenn ihre körperliche Gebrechlichkeit ihr nicht schon längst die Kraft zum Schreien benommen hätte, und mußte sich damit begnügen, Joes Bewegungen mit den Gefühlen unaussprechlicher Todesangst zu beobachten, die sich keineswegs milderte, als der Junge ganz dicht an sie herantrat und ihr mit einem – wie es schien – drohenden Ton ins Ohr schrie:

„Missus!“

Das Schicksal wollte es, daß sich in demselben Augenblick Mr. Jingle im Garten erging und sich gerade in unmittelbarer Nähe der Laube befand. Er hörte den lauten Ruf und blieb stehen, wozu er durch dreierlei Gründe veranlaßt wurde – erstens, weil er nichts andres zu tun hatte, zweitens, weil seine Neugierde kein Bedenken kannte, und endlich, weil seine Person durch Gestrüpp verborgen war. Wie gesagt, er machte halt und horchte.

„Missus!“ schrie der fette Junge.

„Ach, Joe“, sagte die alte Dame zitternd, „ich bin dir gewiß stets eine gütige Gebieterin gewesen und habe dich immer aufs freundlichste behandelt. Du hast nie viel arbeiten brauchen und doch jeden Tag genug zu essen gehabt.“

Letzteres war ein Appell an Joes Gefühlsleben. Er schien auch wirklich gerührt und entgegnete mit Nachdruck:

„Ich weiß.“

„Was kannst du denn noch von mir wollen?“ fragte die alte Dame, etwas ermutigt.

„Es wird Sie kalt überlaufen, wenn ich’s Ihnen sag“, erwiderte Joe.

Das klang wie ein ziemlich blutdürstiger Dankesgruß, und da sich die alte Dame über die Art, wie sich die Sache weiter abwickeln könne, nicht klarwerden konnte, kehrten alle ihre Schrecken wieder.

„Was meinen Sie wohl, hab ich gestern hier in dieser Laube gesehen?“ fragte der Junge.

„Barmherziger Himmel! Was?“ rief die alte Dame, beunruhigt durch die Feierlichkeit des korpulenten Jünglings.

„Der fremde Herr – der mit dem zerschoßnen Arm – hat sie geküßt und umarmt.“

„Wen, Joe, wen? Ich hoffe doch nicht eine der Mägde?“

„Schlimmer als das!“ brüllte der Junge in das Ohr der alten Dame.

„Wie, gar eine meiner Enkelinnen?“

„Noch schlimmer!“

„Noch schlimmer, Joe?“ versetzte die alte Dame, die schon ein solches Unterfangen für das Nonplusultra männlicher Verwegenheit betrachtete. „Wer ist’s gewesen, Joe? Ich muß es unbedingt wissen.“

„Miß Rachel.“

„Was?“ rief die Dame in schrillem Tone. „Sprich lauter.“

„Miß Rachel“, brüllte der fette Junge.

„Meine Tochter?“

Der fette Junge bejahte die Frage mit öfters wiederholtem Kopfnicken, wobei seine aufgedunsnen Backen wie Sülze erzitterten.

„Und sie ließ sich’s gefallen?“ rief die alte Dame.

Ein Grinsen stahl sich über die Züge des dicken Burschen.

„Sie küßte ihn wieder.“

Hätte Mr. Jingle den Ausdruck, den das Gesicht der alten Dame bei dieser Mitteilung annahm, sehen können, so wäre er höchstwahrscheinlich in ein Gelächter ausgebrochen, das seine Anwesenheit notwendigerweise hätte verraten müssen. So aber lauschte er aufmerksam weiter und vernahm nur einige abgebrochene Sätze wie: „Ohne meine Zustimmung!“ – „In ihren Jahren!“ – „Ich arme, unglückliche Frau!“ – „Hätte sie nicht warten können, bis ich tot bin.“ Dann hörte er die Stiefelsohlen des fetten Jungen im Sande knirschen und sich entfernen.

Es war ein merkwürdiger Zufall, aber dessenungeachtet eine Tatsache, daß Mr. Jingle schon in den ersten fünf Minuten nach seiner Ankunft in Manor Farm den Entschluß gefaßt hatte, unverzüglich Beschlag auf das Herz der jungfräulichen Tante zu legen. Er besaß hinreichend Scharfblick, um zu bemerken, daß sein keckes Benehmen dem schönen Gegenstande seiner Wünsche keineswegs mißfiel, und glaubte annehmen zu dürfen, daß sie auch im Besitz des wünschenswertesten aller Erfordernisse, nämlich eines unabhängigen Vermögens, sei. Die gebieterische Notwendigkeit, seinen Nebenbuhler auf eine oder die andre Weise auszustechen, tauchte rasch in seiner Seele auf, und so entschloß er sich, ohne Verzug die zweckdienlichen Hebel in Bewegung zu setzen. Fielding sagt, der Mann sei Feuer und das Weib Stroh, und der Fürst der Finsternis bringe sie miteinander in Berührung, um sofort eine helle Flamme auflodern zu lassen. Mr. Jingle wußte, daß junge Männer bei alten Jungfern dasselbe sind, was die Lunte für das Schießpulver ist, und so nahm er sich vor, ohne Zeitverlust auf eine Explosion hinzuwirken.

Über diesen wichtigen Entwurf brütend, schlich er sich aus seinem Schlupfwinkel und näherte sich unter dem Schütze des vorerwähnten Gesträuches dem Hause. Das Glück schien seine Absicht zu begünstigen, denn eben verließ Mr. Tupman mit den übrigen Herren den Garten durch eine Seitentür, und die jüngeren Damen hatten, wie er wohl wußte, gleich nach dem Frühstück einen Spaziergang angetreten. Die Luft war also rein.

Die Tür des Speisezimmers stand halb offen. Er blickte hinein. Die jungfräuliche Tante saß mit ihrem Strickstrumpf drinnen. Er hustete; sie sah auf und lächelte. Unschlüssigkeit, gehörte nicht zu Mr. Jingles Charaktereigenschaften. Er legte die Finger geheimnisvoll an die Lippen, trat ein und machte die Tür hinter sich zu.

„Miß Wardle“, begann er mit erkünsteltem Ernst, „entschuldigen meine Zudringlichkeit – kurze Bekanntschaft – keine Zeit zu Zeremonien. – Alles entdeckt!“

„Sir!“ entgegnete die Jungfrau, ein wenig überrascht über diese unerwartete Annäherung und voll Zweifel, ob der Mann nicht am Ende verrückt sei.

„Pst!“ warnte Mr. Jingle mit einem theatralischen Flüstern. „Dicker Junge – Knödelgesicht – runde Augen – Spitzbube!“ Nachdrücklich schüttelte er den Kopf, und die Jungfrau zitterte vor Aufregung.

„Ich vermute, Sie spielen auf Joe an, Sir?“ sagte sie und nahm sich zusammen, um gefaßt zu erscheinen.

„Jawohl, Ma’am, verdammter Junge! – Falscher Hund – verriet alles der alten Dame – alte Dame wütend – rast – tobt – Laube – Tupman – Küssen und Umarmen – und dergleichen. – Ma’am, wie?“

„Mr. Jingle“, sagte die alte Jungfer, „wenn Sie mich beleidigen wollen – „

„Aber nein – nicht im geringsten – hörte die Geschichte – kam her, Sie vor der Gefahr zu warnen – Dienste anzubieten – Skandal zu vermeiden. Nicht zu denken an Beleidigung. – Will augenblicklich wieder gehen.“ Und er wandte sich um, als wolle er seine Drohung unverzüglich ausführen.

„Aber was soll ich tun?“ jammerte die arme alte Jungfer, in Tränen ausbrechend. „Mein Bruder wird rasen!“

„Läßt sich denken!“ entgegnete Mr. Jingle nach einer Pause. „Wird wütend sein.“

„Ach, Mr. Jingle, was soll ich sagen?“ rief die Tante verzweifelt.

„Sagen Sie, er hat geträumt“, riet Mr. Jingle kaltblütig.

Ein Hoffnungsstrahl dämmerte in der Seele Miß Wardles auf. Mr. Jingle bemerkte es und nahm seinen Vorteil wahr.

„Pah, pah! – Nichts leichter als das. – Verwünschter Heimtücker – bezaubernde Dame – fetter Junge wird mit der Hundspeitsche traktiert – Ende vom Lied – alles in Ordnung.“

Miß Wardle errötete und warf einen dankbaren Blick auf Mr. Jingle.

Tief seufzte der weltgewandte Gentleman auf, heftete ein paar Minuten seine Augen auf die Jungfrau, schauerte theatralisch zusammen und ließ seine Blicke sinken.

„Sie scheinen unglücklich zu sein, Mr. Jingle“, sagte das Mädchen voll Teilnahme. „Darf ich Ihnen meine Dankbarkeit für Ihre gütige Vermittlung dadurch bezeigen, daß ich Sie nach dem Grunde Ihres Leidens frage, um es womöglich beseitigen zu können?“

„Ach!“ rief Mr. Jingle, wieder zusammenfröstelnd. „Beseitigen? – Mein Leid beseitigen, wo Ihre Liebe einem Manne gilt, der ein solches Glück gar nicht zu schätzen weiß? – Einem Manne, der sich >eben jetzt mit Absichten auf die Neigung der Nichte desselben Wesens trägt, das … Doch nein, er ist mein Freund, und so will ich seine Verworfenheit nicht enthüllen. Miß Wardle, leben. Sie wohl!“

Gegen Ende dieser Anrede, der zusammenhängendsten, die man je aus seinem Munde vernommen, drückte Mr. Jingle die spärlichen Reste seines Schnupftuchs vor die Augen und wandte sich zum Gehen.

„Bleiben Sie, Mr. Jingle!“ rief die Jungfrau emphatisch. „Sie haben eine Anspielung auf Mr. Tupman fallenlassen. Erklären Sie sich näher.“

„Nie!“ rief Mr. Jingle mit theatralischer Gebärde. „Nie!“ Und zum Zeichen, daß er nicht weiter gefragt zu werden wünschte, rückte er einen Stuhl dicht an die Seite der Jungfrau und setzte sich nieder.

„Mr. Jingle“, flehte die Tante, „ich bitte, ich beschwöre Sie, wenn irgendein schreckliches Geheimnis mit Mr. Tupman im Spiele ist, so lüften Sie den Schleier.“

„Kann ich“, versetzte Mr. Jingle, vor sich hin starrend, „kann ich mit ansehen – ein so liebliches Wesen – herzloser Habsucht geopfert?“ Er schien einige Sekunden mit einander widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen und fuhr dann mit leiser, gedämpfter Stimme fort: „Tupman hat nichts als Ihr Geld im Auge.“

„Der Elende!“ rief die Jungfrau voll Entrüstung.

– Mr. Jingles Zweifel waren behoben: sie hatte Geld.

„Und was noch mehr ist, er liebt eine andre.“

„Eine andre?“ rief die Tante. „Und wen?“

„Kleines Mädchen – schwarze Augen – Nichte Emilie.“

Eine Pause.

Auf der ganzen Welt gab es niemand, gegen den die jungfräuliche Tante eine tödlichere und tiefer gewurzelte Eifersucht fühlte, als gerade diese Nichte. Eine dunkle Röte schoß ihr über Gesicht und Nacken. Dann wiegte sie den Kopf mit der Miene unaussprechlicher Verachtung hin und her, biß sich in die dünnen Lippen, warf sich in die Brust und ächzte:

„Es kann nicht sein. Ich glaube es nicht.“

„Sie beobachten“, riet Jingle.

„Das will ich“, versetzte die Tante.

„Auf seine Blicke achtgeben.“

„Gut.“

„Und auf sein Liebesgeflüster.“

„Ja.“

„Wird am Tisch neben ihr sitzen.“

„Soll er.“

„Ihr Artigkeiten sagen.“

„Hm.“

„Ihr alle erdenkliche Aufmerksamkeit erweisen.“

„Meinetwegen.“

„Mit Ihnen brechen.“

„Mit mir brechen?!“ rief die alte Jungfer. „Er mit mir brechen!? Gut! Recht so!“ Und sie zitterte vor Wut und Enttäuschung.

„Wollen Sie sich überzeugen?“ fragte Jingle.

„Ich will.“

„Ihm entschlossen entgegentreten?“

„Ja.“

„Nachher nicht wieder mit ihm reden?“

„Nie. Nie.“

„Einen andern erhören?“

„Ja.“

„So tun Sie es.“ Mr. Jingle fiel auf die Knie, verharrte fünf Minuten in dieser Stellung und erhob sich wieder als der erklärte Liebhaber der Jungfrau – für den Fall, daß sich Mr. Tupmans Treulosigkeit wirklich herausstellen sollte.

Den Beweis hatte Mr. Alfred Jingle zu erbringen, und er entledigte sich seiner Aufgabe noch am selben Tage bei Tisch. Miß Wardle wollte kaum ihren Augen trauen. Mr. Tracy Tupman saß an Emiliens Seite und liebäugelte, flüsterte und lächelte, Mr. Snodgraß zum Trotz. Kein Wort, nicht einen Blick hatte er für die, die tags zuvor noch der Stolz seines Herzens gewesen.

Verwünschter Joe! dachte der alte Mr. „Wardle, dem seine Mutter die Erzählung des Jungen mitgeteilt hatte. Verwünschter Bube! Er muß geschlafen und geträumt haben. Nichts als Einbildung!

Treuloser Verräter! dachte die alte Jungfer ihrerseits. Der gute Mr. Jingle hat mich nicht hintergangen. Oh, wie hasse ich den Elenden!

Die folgende Schilderung mag dazu dienen, der Öffentlichkeit die scheinbar unerklärliche Veränderung in Mr. Tracy Tupmans Benehmen zu enträtseln.

Es war Abend, Schauplatz der Garten. Auf einem Nebenwege ergingen sich zwei Gestalten, die eine ziemlich klein und beleibt, die andre schlank und hager. Es waren Mr. Tupman und Mr. Jingle. Die kleinere Gestalt begann das Gespräch.

„Nun, wie habe ich meine Rolle gespielt?“

„Vortrefflich – kapital – hätt’s selbst nicht besser machen können – Sie müssen in dieser Weise – fortfahren. – Morgen – jeden Abend – bis auf weiteres.“

„Wünscht es Rachel noch immer?“

„Natürlich – tut’s freilich nicht, gern – aber muß sein – Verdacht abwenden – fürchtet ihren Bruder – sagt, es lasse sich nicht ändern – nur noch einige Tage – bis der Verdacht der alten Leute eingeschlafen ist. – Ihrem Glücke dann die Krone aufsetzen.“

„Läßt sie mir sonst nichts sagen?“

„Versichert Liebe, treue – unverbrüchliche Liebe. Soll ich ihr etwas ausrichten?“

„Mein lieber Freund“, versetzte nichtsahnend Mr. Tupman und ergriff voll Wärme die Hand des vermeintlichen Freundes, „versichern Sie Miß Rachel gleichfalls meiner heißesten Liebe, sagen Sie ihr, wie schwer mir diese Rolle wird, sagen Sie ihr alles, was sich in einem solchen Falle sagen läßt, aber fügen Sie auch hinzu, wie sehr ich die Notwendigkeit des Benehmens empfinde, das sie mir diesen Morgen durch Sie anempfehlen ließ. Sagen Sie ihr, daß ich ihre Klugheit und ihre Vorsicht bewundere.“

„Soll geschehen. Weiter nichts?“

„Nein; nur noch das, daß ich mich glühend nach dem Augenblicke sehne, wo ich sie mein nennen und die Maske abwerfen kann.“

„Wird besorgt, wird besorgt. Sonst noch etwas?“

„Ach, mein Freund“, sagte der arme Mr. Tupman und ergriff abermals die Hand seines Gefährten, „haben Sie Dank, wärmsten Dank, für Ihre uneigennützige Güte und vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen je, auch nur mit einem Gedanken, Sie könnten mir im Wege stehen, unrecht getan habe. Mein teurer Freund, kann ich Ihnen je Ihren Liebesdienst vergelten?“

„Reden Sie nicht davon“, wehrte Mr. Jingle ab, hielt aber sogleich inne, als ob er sich plötzlich auf etwas besinne, und sagte: „Apropos, können Sie nicht zehn Pfund entbehren? – Im Augenblicke zu besondern Zwecken sehr nötig. Zahle wieder in drei Tagen.“

„Gewiß kann ich das“, rief Mr. Tupman in der Überfülle seines Herzens. „Drei Tage, sagen Sie?“

„Nur drei Tage – alles vorüber dann – keine weiteren Schwierigkeiten.“

Mr. Tupman zählte das Geld seinem Freund auf die Hand, und dieser ließ, während sie zurückgingen, Goldstück für Goldstück in seine Tasche gleiten.

„Vorsichtig“, warnte Mr. Jingle. „Ja keinen Blick.“

„Gewiß, gewiß“, beteuerte Mr. Tupman.

„Keine Silbe!“

„Nicht die leiseste.“

„Alle Ihre Aufmerksamkeit auf die Nichte – eher etwas schroff gegen die Tante – der einzige Weg, die Alten hinters Licht zu führen.“

„Ich werde es schon hinkriegen“, sagte Mr. Tupman laut.

Ganz meinerseits! dachte Mr. Jingle. Dann traten sie ins Haus.

Die Mittagsszene wiederholte sich am Abend, und desgleichen an den drei nächstfolgenden Mittagen und Abenden. Am vierten war der Wirt ungemein aufgeräumt, denn er hatte sich von der Grundlosigkeit eines Verdachtes gegen Mr. Tupman überzeugt. Bei diesem war dasselbe der Fall, da ihm Mr. Jingle mitgeteilt hatte, die Sache würde sich jetzt bald entscheiden. Mr. Pickwick war ebenfalls sehr heiter, denn das lag in seinem Naturell. Nur von Mr. Snodgraß ließ sich dies nicht sagen, denn er war eifersüchtig auf Mr. Tupman, wähnend wiederum die alte Dame, weil sie im Whistspiel gewonnen, und Mr. Jingle nebst Fräulein Tante – aus Gründen, die in einem andern Kapitel unsrer ereignisreichen Geschichte erzählt werden sollen – sich der fröhlichen Stimmung der Mehrzahl anschlössen.

Zehntes Kapitel


Zehntes Kapitel

Entdeckung und Verfolgung.

Die Speisen standen auf dem Tisch, die Stühle waren zurechtgerückt, Flaschen, Krüge und Gläser aus dem Wandschrank hervorgeholt, und alles kündigte das Herannahen es vergnüglichsten Zeitabschnittes in dem Vierundzwanzig-Stunden-Bogen des Tages an.

„Wo ist Rachel?“ fragte Mr. Wardle.

„Ja, und Mr. Jingle?“ fügte Mr. Pickwick hinzu.

„Merkwürdig, daß ich ihn nicht schon früher vermißte. Mir fällt jetzt auf, daß ich seine Stimme wenigstens schon zwei Stunden nicht mehr gehört habe. Liebe Emilie, klingle noch einmal!“

Die Klingel wurde gezogen, und der dicke Junge trat ins Zimmer.

„Wo ist Miß Rachel?“

Achselzucken.

„Und Mr. Jingle?“

Abermals Achselzucken.

Alle blickten sich überrascht an. Es war spät, bereits elf Uhr vorbei. Mr. Tupman lachte sich ins Fäustchen. Sie spazierten natürlich irgendwo herum, um den Verdacht auf eine falsche Fährte zu lenken, und sprachen dabei von ihm. Haha! Ein famoser Einfall. Schrecklich komisch!

„Macht weiter nichts“, meinte Mr. Wardle nach einer kurzen Pause. „Ich wette, sie müssen jeden Augenblick kommen. Mit dem Nachtessen warte ich prinzipiell auf niemand.“

„Eine treffliche Hausregel, das“, bemerkte Mr. Pickwick. „Wirklich ausgezeichnet.“

Ein ungeheures Stück kalter Rinderbraten kam auf den Tisch, und Mr. Pickwick wurde mit einer kräftigen Portion davon versehen. Er brachte eben die Gabel an die Lippen und war im Begriffe, den Brocken seinen Zähnen zu überliefern, als sich plötzlich von der Küche her der summende Ton zahlreicher Stimmen vernehmen ließ. Er hielt inne und legte die Gabel nieder. Mr. Wardle horchte ebenfalls auf und ließ unwillkürlich das Tranchiermesser in der Rindskeule stecken.

Schwere Fußtritte ließen sich im Hausflur vernehmen. Die Tür ging plötzlich auf, und herein trat der Mann, der Mr. Pickwick gleich bei seiner ersten Ankunft die Stiefel gereinigt hatte, hinter ihm der fette Junge und das ganze Hausgesinde.

„Was, zum Teufel, soll das heißen?“ rief der Hausherr.

„Der Küchenschornstein hat Feuer gefangen, nicht wahr, Emma?“ forschte die alte Dame.

„Aber nein, Großmama, gewiß nicht!“ riefen die beiden jungen Damen.

„Was ist denn also los?“ schrie der Hausherr.

Der Mann schnappte nach Luft und keuchte mit schwacher Stimme:

„Sie sind fort, reineweg getürmt, Sir!“

Mr. Tupman ließ Messer und Gabel fallen und erblaßte.

„Wer ist fort?“ schrie Mr. Wardle heftig.

„Mr. Jingle und Miß Rachel! – In einer Postkutsche, vom ,Blauen Löwen‘ in Muggleton aus. Ich war dort, hab sie aber nicht aufhalten können, und da bin ich schnell hergelaufen, um’s zu melden.“

„Und das auf meine Kosten!“ rief Mr. Tupman, aufspringend und ganz außer sich. „Er hat mir zehn Pfund herausgelockt! Haltet ihn auf! Er hat mich betrogen! Ich lasse mir das nicht gefallen! Ich will Gerechtigkeit haben! Pickwick! Ich ertrage das nicht!“

Mit diesen und ähnlichen unzusammenhängenden Ausrufen raste der unglückliche Gentleman wie toll im Zimmer umher.

„Gott steh uns bei!“ rief Mr. Pickwick, das außerordentliche Gebaren seines Freundes mit entsetzten Blicken betrachtend. „Er ist. übergeschnappt! Was fangen wir nur an?“

„Anfangen?“ wiederholte, geistesabwesend, der Hausherr, der bloß Pickwicks letztes Wort gehört hatte. „Spannt das Pferd ins Gig! Ich will im ,Löwen‘ eine Postchaise nehmen und ihnen augenblicklich nachsetzen. Wo“, rief er, als der Mann sich entfernte, um den Befehl zu vollziehen, „wo ist der Halunke, der Joe?“

„Hier! Gar nicht Halunke“, versetzte eine Stimme. Es war die des fetten Jungen.

„Lassen Sie mich, Pickwick!“ schrie Wardle, riß sich los und stürzte sich auf den unglücklichen Jüngling. „Er hat sich von diesem Schurken, dem Jingle, bestechen lassen und mir einen Floh ins Ohr gesetzt, mit einer Geschichte von meiner Schwester und Ihrem Freunde Tupman.“ – Mr. Tupman sank in seinen Stuhl zurück. – „Lassen Sie mich, ich muß ihm zu Leibe.“

„Halten Sie ihn fest!“ kreischten die Damen, aus deren Geschrei man das Heulen des fetten Jungen deutlich heraushören konnte.

„Weg da!“ rief der alte Herr. „Zurück, Mr. Winkle! Lassen Sie mich los, Mr. Pickwick!“

Es war ein erhebender Anblick, mitten in diesem Tumult und der grenzenlosen Verwirrung den friedlichen und philosophischen Ausdruck in Mr. Pickwicks Antlitz zu betrachten, wie er, allerdings ein wenig gerötet von der Kraftanstrengung, die weite Taille seines korpulenten Wirtes mit starken Armen umschlingend, dastand und ihn von Tätlichkeiten zurückhielt, während der fette Junge von der Damenschar zur Tür hinausgeschoben und –gezerrt wurde. Mr. Pickwick hatte indes kaum losgelassen, als der Bediente mit der Meldung hereintrat, daß das Gig bereitstehe.

„Lassen Sie ihn nicht allein fort!“ jammerten die Damen. „Er wird jemand töten!“

„Ich werde ihn begleiten!“ beruhigte Mr. Pickwick sie sogleich.

„Sie sind ein wackerer Freund, Pickwick“, sagte Mr. Wardle, die Hand des Gelehrten ergreifend. „Emma, leg Mr. Pickwick einen Schal um; rasch! Seht nach eurer Großmutter, Mädchen; sie ist ohnmächtig geworden. Also, kommen Sie schon! – Sind Sie fertig?“

Da Mr. Pickwick inzwischen Mund und Kinn hastig in ein großes Tuch gehüllt, den Hut auf den Kopf gestülpt und den Reisemantel über den Arm genommen hatte, antwortete er mit Ja.

Sie sprangen in das Gig.

„Laß dem Gaul die Zügel, Tom!“ rief Mr. Wardle. Und fort ging’s, über die schmalen Feldwege weg, holterdiepolter über die Wagengeleise und an den Hecken vorbei, daß alle Augenblicke zu befürchten stand, das leichte Fuhrwerk könne in Stücke gehen.

„Wieviel haben sie Vorsprung?“ keuchte Mr. Wardle, als das Gig vor dem „Blauen Löwen“ anlangte, um den sich, so spät es war, bereits ein kleines Häuflein Neugieriger versammelt hatte.

„Nicht über dreiviertel Stunden“, lautete die vielstimmige Antwort.

„Schnell einen Vierspänner! Heraus damit! Das Gig könnt ihr ja nachher ausspannen.“

„Los, Jungens!“ schrie der „Blaue Löwe“, „eine Chaise und vier Pferde! Flott, flott! Mehr Leben in die Bude!“

Die Knechte und Stallburschen eilten hinweg; Laternen bewegten sich hin und her, Pferdehufe klapperten auf dem holperigen Hofpflaster, die Chaise rumpelte aus dem Kutschenschuppen heraus, und alles war voll Leben und Bewegung.

„Nun, wird’s noch diese Nacht?“ rief Wardle ungeduldig.

„Kommt eben in den Hof, Sir“, versetzte ein Stallknecht. Und der Wagen kam, die Pferde wurden eingespannt, der Kutscher sprang herzu, die Reisenden stiegen ein.

„Wohlverstanden, die Siebenmeilenstation muß in weniger als einer halben Stunde gemacht sein“, rief Mr. Wardle. „Fort!“

Die Jungen brachten die Peitsche, die Kellner schrien, die Stallknechte fluchten, und fort sauste der Wagen in rasender Eile.

Hübsche Situation, dachte Mr. Pickwick, als er einen Augenblick Zeit zum Überlegen hatte. Hübsche Situation für den Präsidenten des Pickwick-Klubs. Dumpfige Chaise – fremde Pferde – fünfzehn Meilen in der Stunde – und Mitternacht!

Die ersten drei oder vier Meilen fiel kein Wort zwischen den beiden Herren, da jeder zuviel mit seinen eignen Gedanken beschäftigt war. Dann aber, als die warm gewordnen Pferde gleichmäßiger gingen, wurde auch Pickwick durch die Raschheit der Bewegung fröhlicher gestimmt und vermochte nicht länger, wortlos dazusitzen.

„Ich glaube, wir werden sie sicher einholen“, begann er.

„Ich hoffe“, versetzte sein Gefährte.

„Eine schöne Nacht“, sagte Mr. Pickwick, nach dem klaren Vollmond aufblickend.

„Um so schlimmer“, entgegnete Wardle, „denn sie haben für ihren Vorsprung den Vorteil der Helligkeit gehabt, der uns abgehen wird, da der Mond höchstens noch eine Stunde im Himmel bleibt.“

„In der Dunkelheit wird’s wohl mit der Geschwindigkeit hapern, oder?“

„Jedenfalls“, versetzte Mr. Wardle trocken.

Mr. Pickwicks Begeisterung begann sich ein wenig abzukühlen, als er über die Unbequemlichkeiten und Gefahren der Reise nachdachte, auf die er sich so unüberlegt eingelassen hatte. Ein lautes Rufen des Stallburschen auf dem Leitgaul riß ihn aus seinen Betrachtungen.

„Ö – ö – ö – ö!“

„Ö – ö – ö – ö!“ wiederholte der zweite Stallbursche.

„Ö – ö – ö – ö!“ stimmte der alte Wardle laut mit ein und beugte sich mit dem halben Körper zum Kutschenfenster hinaus.

„Ö – ö – ö – ö!“ schrie Mr. Pickwick am kräftigsten von allen, obgleich er durchaus nicht wußte, warum.

Und während dieses vierfachen „Ö“ machte der Wagen alt.

„Was gibt’s?“ fragte Mr. Pickwick.

„Wir sind an einem Schlagbaum und werden hier etwas von den Flüchtigen hören“, erklärte der alte Wardle.

Nach Verlauf von fünf Minuten, die unter Klopfen und Schreien vergingen, trat endlich ein Greis, nur mit Hemd und Unterhosen bekleidet, aus dem Schlagbaumhäuschen und schob die Barre zurück.

„Wie lange ist’s, seit eine Postkutsche hier durchkam?“ fragte Mr. Wardle.

„Wie lange?“

„Jaja, wie lange.“

„Kann’s nicht genau sagen. Gar lang wird’s nicht sein, aber auch nicht gar kurz. – Na, so zwischendrin, denke ich.“

„Aber eine Chaise ist doch vorbeigekommen?“

„O ja, ’ne Chaise ist vorbeigekommen.“

„Aber wie lange ist’s her, guter Freund?“ mischte sich Mr. Pickwick ein. „Vor einer Stunde vielleicht?“

„So was mag’s gewesen sein.“

„Oder zwei Stunden?“ fragte der Postillion auf dem Handpferd.

„Können auch zwei Stunden sein“, entgegnete der Greis gedankenvoll.

„Fort, Jungens!“ rief Mr. Wardle ärgerlich. „Haltet euch nicht mit dem alten Dummkopf auf.“

„Dummkopf?“ brummte der Greis mit einem Grinsen, schob den Balken halb vor und trat in die Mitte des Weges, um dem Wagen nachzusehen, der in der Ferne immer kleiner und kleiner wurde. „Lange noch kein solcher, wie der da drinnen. Verliert er da seine zehn Minuten und geht so gescheit fort, wie er gekommen ist. Wenn jeder Schlagbaumwärter seine Guinee nur halb so gut verdient, wie ich, wirst du die Chaise vor Michaeli nicht einholen, alter Schmerbauch.“

Mit einem weiteren Grinsen schloß der Greis den Schlagbaum vollends, trat in sein Haus und schob den Riegel hinter sich zu.

Inzwischen raste der Wagen mit gleichbleibender Geschwindigkeit weiter, bis er am Ende des Stationsbereichs anlangte. Der Mond ging, wie Mr. Wardle richtig vorhergesagt, bald unter, und große Ballen schwarzer Wolken, die schon seit einiger Zeit den Himmel umdüstert hatten, sammelten sich schnell zu einer einzigen dunkeln Masse. Große Regentropfen, die hin und wieder an die Wagenfenster schlugen, schienen den Reisenden eine stürmische Nacht zu verkünden. Der Wind blies ihnen entgegen, fegte in furchtbaren Stößen die schmale Straße daher und heulte greulich in den Chausseebäumen. Mr. Pickwick wickelte sich tiefer in seinen Mantel, drückte sich behaglich in eine Ecke des Wagens und sank in ein gesundes Schläfchen, aus dem er erst wieder erwachte, als der Wagen haltmachte und die Stallknechtsklingel nebst dem Melderuf: „Rasch! Pferde vor!“ erscholl.

Wieder gab es eine Verzögerung. Die Postjungen lagen in einem so geheimnisvoll tiefen Schlaf, daß man bei jedem fünf Minuten brauchte, um ihn zu wecken. Der Pferdeknecht hatte den Stallschlüssel verlegt, und als er endlich gefunden war, verwechselten die Postillione die Geschirre, so daß das Geschäft des Vorspannens wieder aufs neue begonnen werden mußte. Wäre Mr. Pickwick allein gewesen, so würden diese vielen Hindernisse der Fortsetzung der Fahrt für diese Nacht ein Ende gesetzt haben, aber der alte Mr. Wardle war nicht so leicht zu entmutigen. Er legte überall so rührig mit Hand an, knuffte hin und wieder einen der Burschen, zog da eine Schnalle an und legte dort eine Kette ein, so daß der Wagen in weit kürzerer Zeit, als sich unter so vielen Schwierigkeiten hätte erwarten lassen, zur Abfahrt bereitstand.

Dann ging die Reise – allerdings unter nicht besonders günstigen Auspizien – wieder weiter. Die nächste Station war fünfzehn Meilen entfernt, die Nacht finster, der Sturm heftig, und der Regen schüttete in Strömen. Es war unmöglich, unter solchen Verhältnissen rasch vorwärts zu kommen. – Ein Uhr hatte es bereits geschlagen, und man brauchte fast zwei Stunden, um die Haltestelle zu erreichen. Hier ließ jedoch ein Lichtblick alle Hoffnungen wieder aufleben.

„Wann ist diese Chaise angekommen?“ rief der alte Wardle, sprang aus dem Wagen und deutete auf ein Fuhrwerk, das, kotbespritzt, im Hofe stand.

„Vor nicht ganz einer Viertelstunde, Sir“, antwortete der Stallknecht, an den die Frage gerichtet war.

„Ein Herr und eine Dame?“ fragte Wardle mit fast atemloser Hast.

„Ja, Sir.“

„Der Herr groß – dünn – lange Beine?“

„Ja, Sir.“

„Dame ältlich – schmales Gesicht – etwas mager – wie?“

„Ja, Sir.“

„Beim Himmel, sie sind’s, Pickwick!“ rief der alte Herr.

„Sie wären schon früher angekommen, wenn ihnen nicht ein Zugstrang gerissen wäre“, erklärte der Stallknecht.

„Sie sind’s“, rief Mr. Wardle. „Beim Zeus, sie sind’s! Geschwind. – Ein Vierspänner! Wir holen sie ein, noch ehe sie die nächste Station erreichen. Jedem eine Guinee, Jungens. – Rührt euch! – Flott, flott! – So; brave Burschen.“

Geschäftig rannte der alte Herr im Hof hin und her und befand sich dabei in einer Aufregung, die sich sogar Mr. Pickwick mitteilte. Eigenhändig half der Gelehrte beim Anschirren mit und machte sich auf eine ganz wundersame Weise mit den Rossen und den Rädern zu schaffen, fest überzeugt, durch seine Mitwirkung die Vorbereitungen zum schleunigen Aufbruch wesentlich zu fördern.

„Hinein! Hinein!“ rief Mr. Wardle, stieg in den Wagen, zog den Tritt nach und schloß den Schlag. „Kommen Sie, beeilen Sie sich.“

Und noch ehe Mr. Pickwick wußte, was geschah, fühlte er sich durch ein Zerren des alten Herrn und durch einen Schub des Stallknechts zu der andern Tür hinein in den Wagen befördert. Und schon ging es wieder weiter.

„Na, das ist wenigstens ’n Tempo“, rief der alte Herr frohlockend.

„Ich bin in meinem Leben noch nie so gerüttelt worden“, entgegnete Mr. Pickwick.

„Macht nichts, wird bald vorüber sein. Nur nicht die Ruhe verlieren.“

Mr. Pickwick verstaute sich, so gut er konnte, in seiner Ecke, und der Wagen rollte, schneller als je, dahin.

Sie hatten in dieser Weise ungefähr drei Meilen zurückgelegt, als Mr. Wardle, der auf ein paar Minuten durch den Schlag hinausgesehen, plötzlich seinen mit Kot bespritzten Kopf zurückzog und in atemloser Erregung ausrief:

„Dort sind sie!“

Mr. Pickwick steckte gleichfalls den Kopf durch das Fenster. Ja, es war ein Wagen mit vier Pferden, die in kurzer Entfernung vor ihnen dahingaloppierten.

„Vorwärts! Vorwärts!“ schrie der alte Herr. „Zwei Guineen für jeden, Jungens! Holt sie ein! – Drauf, drauf!“

Die Pferde des vorderen Wagens rasten im Galopp dahin, und die Mr. Wardles jagten wütend hinterdrein.

„Ich sehe seinen Kopf“, rief der cholerische alte Herr. „Ich will verdammt sein, wenn ich nicht seinen Kopf sehe.“

„Ich gleichfalls. Er ist’s!“ Mr. Pickwick hatte sich nicht geirrt. Mr. Jingles Gesicht, über und über mit Straßenkot bespritzt, war deutlich an dem Wagenfenster zu erkennen, und die ungestümen Bewegungen seines Armes gegen die Postillione verrieten, daß er sie antrieb, ihr Äußerstes zu tun.

Die Spannung stieg aufs höchste. Felder, Bäume und Hecken schienen mit der Schnelligkeit des Windes vorüberzufliegen. Man konnte deutlich Jingles Stimme die Postillione antreiben hören. Der alte Wardle schäumte vor Wut. Er warf dem Entführer die „Schurken“ und „Spitzbuben“ zu Dutzenden nach und schüttelte grimmig die Faust, aber Mr. Jingle antwortete nur mit einem verächtlichen Lächeln und erwiderte die Drohungen des alten Herrn durch lautes Frohlocken, als seine Pferde unter Peitsche und Sporen plötzlich wieder rascher anzogen und die Verfolger ein Stück hinter sich ließen.

Mr. Pickwick hatte eben seinen Kopf zurückgezogen und Mr. Wardle, vom Schreien erschöpft, ein Gleiches getan, als sie durch einen furchtbaren Stoß des Wagens nach vorn geschleudert wurden. Ein dumpfer Krach – ein lautes Prasseln – ein Rad flog ab, und der Wagen schlug um.

Nach einigen Augenblicken der Verwirrung und Bestürzung, in denen sich nichts als das Ausschlagen der Pferde und das Klirren der Glasscheiben vernehmen ließ, fühlte sich Mr. Pickwick gewaltsam aus dem zertrümmerten Wagen hervorgezogen, und als er endlich auf den Beinen stand und sich aus den Falten seines Mantels herauswickelte, die den Gebrauch seiner Brille wesentlich beeinträchtigten, gewahrte er den ganzen Umfang des Unheils, das ihnen zugestoßen war.

Der alte Mr. Wardle stand ohne Hut und mit zerrißnen Kleidern neben ihm, und die Trümmer des Wagens lagen zu ihren Füßen. Die Postillione, denen es gelungen war, die Stränge abzuschneiden, hielten, beschmutzt und von dem scharfen Ritte erschöpft, ihre Pferde am Zaum. Die andre Chaise hatte einen Vorsprung von ungefähr hundert Yards und machte halt, als man dort das Krachen vernahm. Die Stallburschen blickten aus ihren Sätteln mit grinsenden Gesichtern zurück, und Mr. Jingle, der das Unglück aus dem Kutschenfenster mit angesehen hatte, strahlte vor Zufriedenheit. Der Tag brach eben an, so daß sich die ganze Szene im Dämmerlichte des Morgens deutlich unterscheiden ließ.

„Hallo!“ rief der schamlose Jingle. „Jemand beschädigt? – Ältliche Herren – ziemliches Gewicht – faule Sache – wahrhaftig.“

„Sie sind ein Schurke!“ brüllte Wardle.

„Haha!“ lachte Mr. Jingle. Dann fügte er mit einem bedeutsamen Wink und einer Bewegung seines Daumens gegen das Innere seiner Kutsche hinzu: „Übrigens – sie ist ganz wohl – bittet, Sie möchten sich ihretwegen nicht bemühen – läßt den ,Tapps‘ grüßen. – Vielleicht hinten aufsitzen? – Vorwärts, Jungens!“

Die Postillione ritten wieder los, und die Chaise rasselte weiter, während Mr. Jingle höhnisch sein Schnupftuch zum Fenster hinausflattern ließ.

Nichts von dem ganzen Abenteuer – nicht einmal der Umsturz des Wagens – war imstande gewesen, Mr. Pickwicks Gemütsruhe zu erschüttern, aber die Bosheit dieses Menschen, der zuerst von seinem treuen Begleiter Geld borgte und dann seinen Namen schmählicherweise in „Tapps“ abkürzte, war mehr, als er ertragen konnte. Er holte tief Atem, wurde rot bis an seinen Brillensteg und sagte langsam und nachdrücklich:

„Wenn ich je wieder mit diesem Menschen zusammentreffe, so will ich …“

„Jaja“, unterbrach ihn Mr. Wardle, „das ist alles recht schön. Aber während wir hier stehen und schwatzen, verschafft er sich eine Heiratslizenz und läßt sich in London trauen.“

Mr. Pickwick hielt inne und verkniff sich seine Rachegedanken.

„Wie weit ist’s bis zur nächsten Station?“ fragte Mr. Wardle einen der Postillione.

„Sechs Meilen, was, Tom?“ „Eher mehr.“

„Etwas über sechs Meilen, Sir.“

„Da kann man weiter nichts tun, als zu Fuß gehen, Pickwick“, meinte Mr. Wardle.

„Freilich, ja“, gab dieser wahrhaft große Mann zu, und so sandten sie denn einen Stallburschen zu Pferd voraus, um einen neuen Wagen samt Bespannung zu bestellen, und ließen den andern bei den Trümmern zurück, während sie selbst sich mannhaft in Bewegung setzten, nachdem sie zuvor ihre Hälse mit Tüchern bewickelt und ihre Hutkrempen heruntergeschlagen hatten, um sich, so gut es ging, gegen den Regen zu schützen, der sich jetzt, nach kurzem Nachlassen, wieder in Strömen zu ergießen begann.

Fünfundvierzigstes Kapitel


Fünfundvierzigstes Kapitel

Handelt von Geschäftsangelegenheiten und dem zeitlichen Vorteil der Herren Dodson und Fogg. Mr. Winkle tritt unter außerordentlichen Umständen wieder auf, und Mr. Pickwicks gutes Herz siegt über seine Hartnäckigkeit.

Hiob Trotter rannte wie besessen Holborn hinauf, bald mitten auf der Straße, bald auf dem Bürgersteig und bald im Rinnstein, je nachdem das Gedränge der Männer, Weiber und Kinder und Wagen abwechselte, und blieb nicht eher stehen, als bis er das Tor von Grays Inn erreicht hatte. Trotz aller seiner Eile war aber das Tor schon seit einer guten halben Stunde geschlossen. Er sah sich daher um und machte endlich Mr. Perkers Waschfrau ausfindig, die mit einer verheirateten Tochter zusammenlebte, die mit ihrer Hand einen auswärtigen Kellner beglückt hatte und ein paar Zimmer bei einer Brauerei wenig hinter Grays Inn Lane bewohnte.

Mr. Lowten mußte aus dem Hinterzimmer der „Elster“ herausgeklopft werden, und Hiob hatte Sam Wellers Botschaft kaum ausgerichtet, als die Glocke zehn Uhr schlug.

„Zu spät“, sagte Lowten. „Sie können nicht mehr zurück. Oder haben Sie vielleicht den Schlüssel?“

„Sorgen Sie sich nicht um mich“, erwiderte Hiob, „ich kann überall schlafen. Aber würde es nicht besser sein, Mr. Perker heute nacht noch aufzusuchen, damit wir morgen in aller Frühe zur Stelle sind?“

„Meinetwegen“, versetzte Lowten nach kurzer Überlegung. „Wenn es sich um irgend etwas andres handelte, so würde Perker über einen so späten Besuch sehr ungehalten sein; da es aber Mr. Pickwick betrifft, so glaube ich wohl einen Wagen nehmen und aufrechnen zu dürfen.“

Nachdem sich Mr. Lowten zu dieser Maßregel entschlossen hatte, nahm er seinen Hut, bat die versammelte Gesellschaft, in seiner Abwesenheit einen andern Präsidenten zu ernennen, steuerte auf den nächsten Droschkenplatz los, wählte den Wagen, dessen Aussehen am meisten versprach, und befahl dem Kutscher, nach dem Montagueplace, Russellsquare, zu fahren.

Mr. Perker gab an diesem Abend ein Souper, wie der Lichterglanz in den Fenstern des Gesellschaftszimmers verriet. Da zufällig einige wertvolle Kunden vom Lande zu gleicher Zeit in die Stadt gekommen waren, so hatte sich zu ihrem Empfang eine vergnügte kleine Gesellschaft zusammengefunden, bestehend aus Mr. Snicks, dem Sekretär der Lebensversicherung, aus Mr. Prosee, dem ausgezeichneten Rechtskonsulenten, aus drei Anwälten, einem Kommissär vom Fallitengericht, einem Advokaten vom Temple, einem kleinäugigen, peremtorischen jungen Herrn, seinem Mündel, der ein scharfes Buch über das Legatengesetz mit einer ungeheuren Menge Randnoten und Zitaten geschrieben hatte, und mehreren anderen hervorragenden Personen. Von dieser Gesellschaft machte sich der kleine Mr. Perker los, als ihm die Ankunft seines Schreibers zugeflüstert wurde, begab sich in das Speisezimmer und traf dort Mr. Lowten und Hiob Trotter beim trüben Dämmerschein eines Küchenlichtes, das der Gentleman, der sich herabließ, gegen vierteljährlichen Lohn in kurzen Plüschhosen und wollenen Strümpfen zu erscheinen, mit gebührender Verachtung für den Schreiber und alle das Geschäft berührenden Dinge auf den Tisch gestellt hatte.

„Nun, Lowten“, sagte der kleine Perker und schloß die Tür hinter sich ab, „was gibt’s? Sind wichtige Briefe angekommen?“

„Nein, Sir. Aber hier ist ein Bote von Mr. Pickwick, Sir.“

„Von Pickwick? Was will er denn?“

„Dodson und Fogg haben Mrs. Bardell wegen der Prozeßkosten verhaften lassen“, sagte Hiob.

„Unmöglich“, rief Perker, steckte beide Hände in die Taschen und lehnte sich rücklings an den Kredenztisch.

„Es ist wirklich so“, bekräftigte Hiob. „Wie es scheint, haben sie sich von ihr unmittelbar nach der Gerichtsverhandlung ein Cognovit für die Prozeßkosten ausstellen lassen.“

„Bei Gott!“ rief Perker, in die Hände klatschend, „das sind doch die gescheitesten Leute, mit denen ich je zu tun gehabt habe.“

„Die schärfsten“, bemerkte Lowten.

„Die schärfsten?“ wiederholte Perker. – „Jaja, allerdings, die schärfsten.“

„Mhm“, erwiderte Lowten, und dann versanken beide, Meister und Geselle, einige Sekunden lang mit belebten Gesichtern in tiefes Sinnen, gleich, als ob sie über eine der schönsten und sinnreichsten Entdeckungen nachdächten, die der menschliche Verstand jemals ausgeklügelt hat. Als sie sich einigermaßen von ihrem träumerischen Bewunderungsanfall erholt hatten, entledigte sich Hiob Trotter des Restes seines Auftrags, und Perker nickte gedankenvoll und zog seine Uhr heraus.

„Schlag zehn Uhr werde ich dort sein“, sagte er. „Sam hat vollkommen recht. Sagen Sie ihm das. Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Lowten?“

„Nein, ich danke Ihnen, Sir.“

„Sie meinen ,ja‘ – denke ich“, sagte das Männchen und wandte sich an den Kredenztisch, um eine Flasche und Gläser zu holen.

Da Lowten wirklich „ja“ meinte, verlor er kein Wort mehr über die Sache, sondern fragte Hiob mit hörbarem Flüstern, ob das gegenüber vom Kamin hängende Porträt Perkers nicht zum Sprechen ähnlich sei, worauf Hiob natürlich bejahte. Inzwischen war der Wein eingeschenkt, und Lowten trank auf die Gesundheit Mrs. Perkers und ihrer Kinder und Hiob auf das Wohlsein des Herrn Anwalts.

Da der Gentleman in den kurzen Plüschhosen und wollenen Strümpfen es nicht für seine Amtspflicht hielt, den Leuten hinauszuleuchten, mußten beide ihren Weg selbst suchen. Der Advokat verfügte sich in sein Besuchszimmer, der Schreiber in die „Elster“, und Hiob ging auf den Covent-Garden-Markt, um die Nacht in einem leeren Gemüsekorb zu verbringen.

Pünktlich zur bestimmten Stunde klopfte am andern Morgen der aufgeräumte kleine Anwalt an Mr. Pickwicks Tür. Sam Weller öffnete sofort. „Mr. Perker, Sir“, meldete er den Besuch Mr. Pickwick, der gedankenvoll am Fenster saß. „Sehr erfreut, daß Sie gelegentlich auch mal nach uns sehen, Sir. Ich glaube, der Gouvernör möchte gern ’n paar Worte mit Ihnen sprechen.“ Perker wechselte einen Blick des Einverständnisses mit Sam, womit er ihm bedeuten wollte, er verstehe, daß er nicht sagen solle, man habe nach ihm geschickt, winkte ihn dann näher zu sich und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr.

„Nich möglich!“ rief Sam und prallte mit äußerster Überraschung einige Schritte zurück. Perker nickte und lächelte.

Mr. Samuel Weller blickte erst ihn, dann Mr. Pickwick, dann die Stubendecke, dann wieder Mr. Perker an, grinste, lachte laut auf, nahm endlich seinen Hut vom Nagel und verschwand ohne weitere Erklärung.

„Was soll das alles bedeuten?“ fragte Mr. Pickwick verwundert. „Was hat Sam in diese Aufregung versetzt?“

„O nichts, nichts“, erwiderte Perker. „Kommen Sie, mein lieber Herr, rücken Sie Ihren Stuhl an den Tisch. Ich habe viel mit Ihnen zu sprechen.“

„Was sind das für Papiere?“ fragte Mr. Pickwick, als der kleine Advokat ein mit roter Schnur zusammengebundenes Paket Dokumente auf den Tisch legte.

„Die Papiere in Sachen Bardell kontra Pickwick“, erwiderte Perker, den Knoten mit den Zähnen öffnend.

Mr. Pickwick stieß mit dem Stuhl auf den Boden, warf sich dann hinein, faltete die Hände und blickte seinen Rechtsfreund grimmig an – wenn er überhaupt grimmig blicken konnte.

„Sie hören diesen Namen nicht gern?“ meinte der kleine Mann, noch immer mit dem Knoten beschäftigt.

„Nein, wahrhaftig nicht.“

„Tut mir leid“, fuhr Perker fort, „aber eben darüber möchte ich mit Ihnen sprechen.“

„Von dieser Sache darf zwischen uns keine Rede mehr sein, Perker“, unterbrach ihn Mr. Pickwick erregt.

„Pah, pah, mein lieber Herr“, sagte der kleine Mann, band das Paket auf und blickte seinen Klienten dabei aus den Augenwinkeln scharf an. „Wir müssen davon sprechen! Ich bin ausdrücklich deswegen hierhergekommen. Sind Sie bereit, mich anzuhören, mein lieber Herr? Es hat keine Eile; wenn es Ihnen nicht genehm ist, so kann ich warten. Ich habe die Zeitungen von heute früh mitgenommen. Sie dürfen nur sagen, wann es Ihnen gefällig ist. – So.“

Mit diesen Worten schlug Mr. Perker ein Bein über das andre und gab sich den Anschein, als begänne er mit großer Ruhe und Aufmerksamkeit zu lesen.

„Gut, gut“, seufzte Mr. Pickwick und lächelte bereits wieder, „sagen Sie also, was Sie zu sagen haben. Ohne Zweifel immer wieder die alte Geschichte?“

„Nur mit einem kleinen Unterschied, mein lieber Herr; mit einem Unterschied. Mrs. Bardell, die Klägerin in Ihrem Prozeß, befindet sich innerhalb dieser Mauern, Sir!“

„Das weiß ich.“

„Sehr gut! Und ohne Zweifel wissen Sie auch, wie sie hierhergekommen ist? Ich meine, aus was für Gründen und auf wessen Verlangen?“

„Ja; wenigstens hat mir Sam davon erzählt“, versetzte Mr. Pickwick mit erkünstelter Gleichgültigkeit.

„Sanas Erzählung“, erwiderte Perker, „ist gewiß vollkommen richtig; wenigstens möchte ich es zu behaupten wagen. Nun gut, mein lieber Herr, die erste Frage, die ich an Sie zu richten habe, ist, ob diese Frau hierbleiben soll?“

„Hierbleiben?!“ wiederholte Mr. Pickwick erstaunt.

„Ja, hierbleiben, mein lieber Herr“, entgegnete Perker, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und fixierte seinen Klienten.

„Wie können Sie mich so fragen? Das hängt lediglich von Dodson und Fogg ab. Sie wissen das recht gut.“

„Nein, ich weiß es nicht“, entgegnete Perker fest. „Es hängt mitnichten von Dodson und Fogg ab. Sie kennen die Leute ebensogut wie ich, mein lieber Herr; es hängt einzig und allein nur von Ihnen ab.“

„Von mir?“ rief Mr. Pickwick, sprang hastig von seinem Stuhle auf und setzte sich sofort wieder.

Der kleine Mann klopfte zweimal auf den Deckel seiner Schnupftabaksdose, öffnete sie, nahm eine große Prise, schlug die Dose zu und wiederholte die Worte: „Von Ihnen.

Jaja, mein lieber Herr! Ich sage, ihre schleunige Befreiung oder lebenslängliche Einkerkerung hängt von Ihnen ab, und lediglich nur von Ihnen. Hören Sie mich gefälligst zu Ende, mein lieber Herr, und erhitzen Sie sich nicht so, Sie kommen dadurch nur in Schweiß, und das hilft doch zu nichts. Ich sage“, fuhr Perker fort, „ich sage, daß niemand als Sie die arme Frau aus dieser Höhle des Elends erlösen kann, und daß Sie dies nur können, wenn Sie sämtliche Kosten dieses Prozesses, sowohl die für die Klägerin als für den Beklagten, den Gaunern von Freemans Court, ausbezahlen. – Bitte, lassen Sie mich gefälligst ausreden, mein lieber Herr.“

Mr. Pickwick, dessen Mienen während dieser Rede die überraschendsten Wechsel durchgemacht hatte, stand sichtlich auf dem Punkte, loszubrechen, und hielt sich nur mit Mühe zurück; Perker fuhr, sich wieder durch eine Prise Schnupftabak stärkend, unbeirrt fort:

„Ich habe die Frau heute morgen gesehen. Wenn Sie die Prozeßkosten bezahlende kann Ihnen die Entschädigungssumme gänzlich erlassen werden, und überdies bekommen Sie von ihr – was, wie ich wohl weiß, in Ihren Augen von weit größerer Bedeutung ist, mein lieber Herr – eine freiwillige, eigenhändige Erklärung in der Form eines Schreibens an mich, daß diese Leute, Dodson und Fogg nämlich, an dem ganzen Prozeß schuld sind, indem sie sie verleiteten und durch glänzende Vorspiegelungen dazu veranlaßten; daß sie es ferner aufs tiefste bedauere, sich zum Werkzeug hergegeben zu haben, und daß sie mich dringend ersuchte, in der Sache zu vermitteln und Sie um Verzeihung anzuflehen.“

„Wenn ich die Kosten für sie bezahle!“ rief Mr. Pickwick entrüstet. „Wahrhaftig, eine nette Zumutung!“

„Es ist von keinem ,Wenn‘ mehr die Rede, mein lieber Herr“, sagte Perker triumphierend. „Hier ist das Schreiben. Es wurde mir heute früh um neun Uhr von einer Frau auf mein Büro gebracht, ehe ich noch einen Fuß in dieses Haus gesetzt oder die geringste Unterhandlung mit Mrs. Bardell gepflogen hatte; das kann ich Ihnen auf meine Ehre versichern.“ Und der kleine Advokat suchte den Brief aus dem Paket heraus, legte ihn Mr. Pickwick hin und schnupfte zwei Minuten hintereinander, ohne zu blinzeln.

„Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?“ sagte Mr. Pickwick, ein wenig besänftigt.

„Noch nicht. Ich kann in diesem Augenblick noch nicht sagen, ob die Abfassung des Cognovits, die Natur des Scheinkontrakts und die Aufschlüsse, die wir hinsichtlich des ganzen Vorgehens bei diesem Prozeß bekommen können, hinreichend sein werden, um eine Klage wegen Anstiftung und Betrügerei zu begründen. Ich fürchte, nein, mein lieber Herr; diese Leute sind gar zu schlau. Jedenfalls aber werden sämtliche Tatsachen zusammengenommen mehr als hinreichend sein, Sie in den Augen aller vernünftigen Menschen zu rehabilitieren. Und nun, mein lieber Herr, überlasse ich die Sache ganz Ihnen. Diese hundertfünfzig Pfund, oder was es sein mag, wenn man eine runde Summe annimmt, sind ja doch nichts für Sie! Eine Jury hat gegen Sie entschieden und ihr Ausspruch war ungerecht; allein die Geschworenen haben nun einmal entschieden, wie sie es für recht hielten, und der Spruch ist gegen Sie ausgefallen. Sie haben jetzt Gelegenheit, unter sehr annehmbaren Bedingungen eine weit höhere Stellung in der öffentlichen Meinung einzunehmen, als Sie durch Ihr Hierbleiben jemals erzielen können; denn, glauben Sie mir, mein lieber Herr, jedermann, der Sie nicht kennt, würde es Ihnen als baren, verrückten, lächerlichen und abgeschmackten Eigensinn auslegen. Können Sie noch zögern, diese Gelegenheit zu benutzen, durch die Sie Ihren Freunden, Ihren alten Beschäftigungen und Vergnügungen zurückgegeben werden und ihre Gesundheit wiederherstellen können? – Eine Gelegenheit, die Ihren treuen, anhänglichen Diener, den Sie sonst für die ganze Dauer Ihres Lebens zur Einkerkerung verurteilen, befreit – und vor allem eine Gelegenheit, die Sie instand setzt, eine höchst großmütige Rache zu nehmen, die, wie ich weiß, ganz Ihrem Herzen entspricht – und diese Frau von einem Schauplatz des Elends zu erlösen, wo man nach meiner Ansicht nicht einmal Männer einsperren sollte, geschweige denn Frauen. Ich frage Sie, mein lieber Herr, nicht bloß als Ihr juristischer Beirat, sondern als wohlmeinender treuer Freund, ob Sie die Gelegenheit, alles dies zu erreichen und so viel Gutes zu tun, schießen lassen wollen wegen armseliger paar Pfund, die allerdings in die Tasche zweier Schufte wandern, die dadurch aber nicht glücklicher, vielleicht nur um so habsüchtiger werden, und sich möglicherweise um so eher zu einem Schurkenstreich verleiten lassen werden, der mit ihrem Sturze enden muß? So schwach und unvollkommen ich Ihnen alle diese Rücksichten auch vorgelegt haben mag, mein lieber Herr, so ersuche ich Sie doch, sie in Erwägung zu ziehen und, solange es Ihnen beliebt, darüber nachzudenken. Ich werde geduldig wie ein Lamm Ihrer Antwort harren.“ Ehe Mr. Pickwick noch etwas erwidern konnte und Mr. Perker den zwanzigsten Teil der Prise zu sich genommen hatte, die eine so ungewöhnlich lange Rede gebieterisch erheischte, vernahm man ein leises Gemurmel draußen und sodann ein schüchternes Klopfen an die Tür.

„Mein Gott!“ rief Mr. Pickwick, von den letzten Bemerkungen seines Freundes sichtlich aufgewühlt. „Wie ärgerlich, daß wir gestört werden! Wer ist denn da?“

„Ich, Sir“, erwiderte Sam Weller und steckte den Kopf herein.

„Ich kann dich jetzt nicht brauchen, Sam“, sagte Mr. Pickwick ärgerlich. „Ich bin beschäftigt, Sam.“

„Bitte um Verzeihung, Sir. Aber hier ist eine Dame, wo sagt, sie hat Ihnen ganz besondere Mitteilungen zu machen.“

„Ich kann jetzt keinen Damenbesuch annehmen“, entgegnete Mr. Pickwick, dessen Geist lauter Gestalten wie Mrs. Bardell vorschwebten.

„Das möchte ich doch nich so bestimmt behaupten“, drängte Mr. Weller. „Wenn Sie wüßten, wer hier is, denn würden Sie, schätz ich, aus ner andern Tonart feifen, wie der Habicht sagte, als er das Rotkehlchen um die Ecke singen hörte.“

„Wer ist’s denn?“

„Wollen Sie selbst sehen, Sir?“ fragte Mr. Weller und behielt vorsichtig die Tür in der Hand, als hätte er draußen irgendein merkwürdiges lebendes Tier.

„Nun, so laß sie ein“, sagte Mr. Pickwick mit einem verzweifelten Blick auf Perker.

„Richtig so“, rief Sam. „Jetzt geht der Tanz los! Die Geigen gestimmt, den Vorhang hochgezogen, und herein treten die zwei Verschwörer.“

Dabei riß er die Tür auf, und herein stürmte Mr. Nathaniel Winkle, an der Hand dieselbe junge Dame, die in Dingley Dell die hübschen Pelzstiefelchen getragen hatte und jetzt – eine höchst anmutige Mischung von Erröten, Verwirrung, lila Seide und Spitzenschleierhut – reizender aussah als je.

„Miß Arabella Allen!“ rief Mr. Pickwick und sprang von seinem Stuhle auf.

„Nein“, erwiderte Mr. Winkle und ließ sich auf ein Knie nieder, „Mrs. Winkle. Verzeihen Sie mir, mein teurer Freund, verzeihen Sie mir!“

Mr. Pickwick wollte kaum seinen Augen trauen und würde es vielleicht auch nicht getan haben, hätte nicht das lächelnde Gesicht Perkers sowie die leibliche Anwesenheit Sams und des hübschen Hausmädchens im Hintergrund, die beide die Szene mit der lebhaftesten Befriedigung zu betrachten schienen, jeden Zweifel an der Wirklichkeit ausgeschlossen.

„Ach, Mr. Pickwick“, sagte Arabella mit leiser Stimme, durch das Stillschweigen des alten Herrn beunruhigt, „können Sie mir meine Unklugheit verzeihen?“

Mr. Pickwick antwortete nicht mit Worten, sondern nahm in großer Hast seine Brille ab, umarmte die junge Dame und küßte sie öfter, als unbedingt notwendig gewesen wäre, und sagte dann, fortwährend eine ihrer Hände in der seinigen behaltend, Mr. Winkle sei ein verwünscht frecher Gesell. Er solle übrigens endlich aufstehen. Mr. Pickwick schlug ihm hierauf mehrere Male auf den Rücken und schüttelte dann Perker herzlich die Hand, der, um mit seinen Komplimenten nicht zurückzubleiben, sowohl die junge Frau wie das hübsche Dienstmädchen aufs wärmste begrüßte, und nachdem er Mr. Winkle aus lauter Freundschaft beinahe die Hand aus dem Gelenk gerissen, seine Freudenbezeigungen damit schloß, daß er Schnupftabak genug nahm, um ein halbes Dutzend Leute mit gewöhnlich konstruierten Nasen zeitlebens niesen zu machen.

„Aber mein liebes Kind“, rief Mr. Pickwick endlich, „wie ist denn dies alles zugegangen? Setzen Sie sich zu mir, und erzählen Sie! Wie sie hübsch aussieht, was, Perker?“ setzte er hinzu und blickte dabei Arabella mit so viel Stolz und Wonne ins Gesicht, als ob sie seine eigene Tochter sei.

„Zum Entzücken, mein lieber Herr“, beteuerte der kleine Mann. „Wäre ich nicht selbst schon verheiratet, so könnte es mich anwandeln, Sie zu beneiden, Sie Tausendsasa.“

Bei diesen Worten klopfte er Mr. Winkle auf den Rücken, und beide fingen an, laut zu lachen, doch immerhin nicht so laut wie Mr. Samuel Weller, der seinen Gefühlen soeben dadurch Luft verschafft hatte, daß er hinter der Tür das hübsche Hausmädchen küßte.

„Wahrhaftig, ich kann Ihnen nicht dankbar genug sein, Sammy“, sagte Arabella mit ihrem süßesten Lächeln. „Ich werde Ihre Bemühungen im Garten in Clifton nie vergessen.“

„Sprechen Sie da nich von, Madam“, wehrte Sam ab. „Ich bin bloß der Natur zu Hilfe gekommen, Ma’am, wie der Doktor zur Mutter des Knaben sagte, als er ihm so lange zur Ader gelassen hatte, bis er tot war.“

„Setzen Sie sich doch, liebe Mary“, unterbrach Mr. Pickwick diese Komplimente. „Und nun, wie lange seid ihr denn schon verheiratet?“

Arabella blickte ihren Herrn und Gebieter verschämt an, und dieser erwiderte:

„Erst drei Tage.“

„Erst drei Tage?“ rief Mr. Pickwick. „Aber was habt ihr denn die ganzen drei Monate über getrieben?“

„Jaja“, fiel Perker ein, „rechtfertigen Sie sich nur. Sie sehen, Mr. Pickwick wundert sich darüber, daß Sie nicht schon vor Monaten ans Ziel gekommen sind.“

„Die Sache ging so zu“, erklärte Mr. Winkle mit einem zärtlichen Blick auf seine errötende junge Frau, „ich konnte Bella lange nicht überreden, mit mir durchzugehen, und als es mir endlich gelungen war, wollte sich lange keine Gelegenheit dazu bieten. Auch Mary mußte einen Monat zuvor aufkündigen, ehe sie ihre Stelle verlassen konnte, und ihr Beistand war für uns unbedingt notwendig.“

„Auf mein Wort“, rief Mr. Pickwick, der inzwischen seine Brille wieder aufgesetzt hatte und mit so viel Entzücken seine Blicke von Arabella auf Winkle und von Winkle auf Arabella schweifen ließ, wie ein warmes Herz und freundliche, liebevolle Teilnahme nur einem menschlichen Antlitz mitteilen können, „auf mein Wort, ihr scheint sehr systematisch zu Werke gegangen zu sein. Und weiß Ihr Bruder schon alles, mein liebes Kind?“

„Ach nein, nein“, stammelte Arabella und wechselte die Farbe. „Lieber Mr. Pickwick, er darf es nur von Ihnen – nur aus Ihrem Munde erfahren! Er ist so heftig, so voll von Vorurteilen, und hatte so – so lebhafte Wünsche für seinen Freund, Mr. Sawyer“, fügte sie verschämt hinzu, „daß ich die entsetzlichste Angst vor den Folgen habe.“

„Jaja“, meinte Perker ernsthaft. „Sie müssen diese Sache für sie ausfechten, mein Lieber Herr. Vor Ihnen werden diese jungen Männer Respekt haben, wenn sie schon auf niemand sonst hören; Sie müssen Unglück verhüten, mein lieber Herr. Heißes Blut – heißes Blut!“

„Sie vergessen nur, liebes Kind“, sagte Mr. Pickwick freundlich, „Sie vergessen nur, daß ich ein Gefangener bin.“

„Nein, mein lieber Mr. Pickwick“, erwiderte Arabella, „gewiß nicht. Ich habe es nie vergessen und beständig daran gedacht, wie entsetzlich Sie an diesem abscheulichen Ort leiden müssen. Ich hoffte nur, wozu keine Rücksicht auf Ihre eigne Person Sie bewegen könnte, dazu würden Sie sich vielleicht durch Ihre Wünsche für unser Glück bestimmen lassen. Wenn mein Bruder es von Ihnen zuerst erfährt, so hoffe ich mit Bestimmtheit auf eine Aussöhnung. Er ist mein einziger Verwandter in der Welt, Mr. Pickwick, und wenn Sie nicht für mich sprechen, fürchte ich, daß ich auch ihn noch verlieren werde. – Ich habe unrecht getan – sehr unrecht; ich weiß es wohl“, schluchzte Arabella.

Mr. Pickwick erschütterten schon diese Tränen gewaltig; als aber Mrs. Winkle ihre Augen trocknete und anfing, ihn mit den süßesten Schmeichelworten zu bestürmen, wurde er sehr unruhig und sichtlich in seinem Entschlüsse wankend, wie aus seinem mehrfach wiederholten krampfhaften Reiben an den Brillengläsern, an Nase und Schenkeln, Kopf und Gamaschen hervorging.

Mr. Perker benutzte diese Symptome von Unentschlossenheit und setzte mit juristischer Gewandtheit und Advokatenschlauheit auseinander, wie auch Mr. Winkle senior von dem wichtigen Fortschritt, den sein Sohn auf der Lebensleiter gemacht habe, noch nichts wisse, wie die künftigen Aussichten des Sohnes gänzlich davon abhingen, daß besagter Winkle senior ihn fortwährend mit unverminderten Gefühlen der Liebe und Zuneigung betrachte, was höchst unwahrscheinlich sei, wenn ihm dieses große Ereignis lange geheimgehalten werde; wie ferner Mr. Pickwick, wenn er sich nach Bristol begebe, um Mr. Allen zu besuchen, ebensogut auch nach Birmingham gehen und Mr. Winkle senior aufsuchen könne, zumal dieser ihn mit Recht als Mentor und Ratgeber seines Sohnes betrachte.

So standen die Verhandlungen, als sehr zur gelegenen Zeit Mr. Tupman und Mr. Snodgraß erschienen. Mr. Pickwick wurde geradezu aus allen seinen Entschlüssen hinausdisputiert und –argumentiert, und endlich schloß er Arabella in seine Arme, erklärte, sie sei ein unendlich liebenswürdiges Geschöpf, er habe sie vom ersten Augenblick an außerordentlich liebgewonnen und brächte es nicht übers Herz, ihrem Glück im Wege zu stehen, und sie könnten jetzt mit ihm anfangen, was sie wollten.

Als Mr. Weller von dieser Nachgiebigkeit vernahm, war sein erstes, daß er Hiob Trotter zu dem berühmten Mr. Pell schickte mit der Aufforderung, dem Boten die rechtsgültige Quittung zu übergeben, die sein kluger Vater in den Händen des gelehrten Gentleman zu lassen die Vorschrift gehabt hatte; sein zweites war, daß er seinen ganzen Vorrat an barem Gelde zum Ankauf von fünfundzwanzig Gallonen Porter verwendete, die er eigenhändig auf dem Ballplatz gratis an alle Durstigen ausschenkte. Dann hallote er in den verschiedenen Teilen des Hauses herum, bis er ganz heiser war, und versank endlich wieder in seine philosophische Ruhe und Sammlung.

Um drei Uhr nachmittags warf Mr. Pickwick einen letzten Blick in sein kleines Zimmer und bahnte sich, so gut er konnte, seinen Weg durch den Haufen von Schuldnern, die sich herandrängten, um ihm noch einmal die Hand zu schütteln. In dem ganzen Gedränge bleicher, abgezehrter Gesichter war kein einziges, das er nicht durch seine wohlwollende Teilnahme glücklicher gemacht hätte.

„Perker“, sagte er an der Treppe und winkte einen jungen Mann zu sich, „dies ist Mr. Jingle, von dem ich Ihnen bereits erzählt habe.“

„Sehr wohl, mein lieber Herr“, erwiderte Perker, Jingle scharf ins Auge fassend. „Sie werden mich morgen wiedersehen, junger Mann. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, wird Ihnen hoffentlich zeitlebens in Erinnerung bleiben.“

Jingle verbeugte sich ehrerbietig, zitterte heftig, als er Mr. Pickwicks dargebotene Hand ergriff, und wendete sich ab.

„Den Hiob kennen Sie doch?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja, ich kenne den Spitzbuben“, erwiderte Perker heiter. „Seien Sie morgen um ein Uhr auch bereit. – Vergessen Sie’s nicht. – Nun, gibt es sonst noch etwas?“

„Nein“, entgegnete Mr. Pickwick. „Sam, du hast doch das Päckchen abgegeben, das ich dir für deinen alten Stubengenossen gab?“

„‚türlich“, nickte Sam. „Er hat laut aufgeheult und sagte, Sie sind sehr schenerös, daß Sie auch an ihm gedacht haben; er wünschte bloß, daß Sie ihm die galoppierende Schwindsucht hätten einokulieren gekonnt; jetzt, wo sein alter Freund gestorben ist, der wo so lange hier gelebt hat, da kann er sich, meint er, nach keinen neuen mehr umsehen.“

„Der arme, arme Kerl“, seufzte Mr. Pickwick. „Lebt jetzt wohl, meine Freunde, Gott segne euch.“

Die Menge brach in ein lautes Geschrei aus und umdrängte Mr. Pickwick, um ihm nochmals die Hand zu drücken. Aber er nahm Perkers Arm und eilte für den Augenblick weit betrübter und niedergeschlagener aus dem Gefängnis, als er es betreten hatte.

Wie viele unglückliche, trostlose Menschen ließ er dort zurück!

Am nächsten Morgen bestiegen Mr. Pickwick und Sam Weller eine Postkutsche.

„Sir“, rief Sam seinem Herrn zu.

„Ja, Sam“, antwortete Mr. Pickwick und steckte den Kopf aus dem Fenster.

„Ich wünschte, die Pferde da hätten auch gute drei Monate in der Fleet hinter sich, Sir!“

„Weshalb denn, Sam?“

„Na, Sir“, rief Sam und rieb sich die Hände, „was meinen Sie, wie die rennen würden!“

Sechsundvierzigstes Kapitel


Sechsundvierzigstes Kapitel

Mr. Pickwick erweicht mit Hilfe Samuel Wellers das Herz Mr. Benjamin Allens und besänftigt den Zorn Mr. Robert Sawyers.

Mr. Ben Allen und sein Freund saßen in dem kleinen Ambulatorium beisammen, mit Kalbshaschee und künftigen Aussichten beschäftigt, da sich das Gespräch naturgemäß um die Praxis Bobs und seine Hoffnungen drehte, aus dem ehrenwerten Beruf, dem er sich gewidmet, die Mittel zu einer unabhängigen Lebensführung herauszuschlagen.

„Ich meine“, spann Bob Sawyer das Thema fort, „ich meine, Ben, es ist immer noch zweifelhaft.“

„Was ist zweifelhaft?“ fragte Mr. Ben Allen und schärfte seine Verstandeskräfte mit einem Schluck Bier. „Was ist zweifelhaft?“

„Nun, die Aussichten.“

„Ja, so. Ich hatte es schon wieder vergessen“, brummte Mr. Ben Allen. „Hm, ja, allerdings, Bob; sie sind allerdings zweifelhaft.“

„Es ist erstaunlich, wie die Armen des Orts mich begünstigen“, meinte Bob Sawyer nachdenklich. „Sie klopfen mich zu allen Stunden der Nacht aus dem Bett, nehmen Arzneien ein in Quantitäten, daß ich früher so etwas für rein unmöglich gehalten hätte, lassen sich mit einer Beharrlichkeit, die einer besseren Sache würdig wäre, Blasenpflaster und Blutegel setzen und vermehren ihre Familie auf eine wahrhaft erschreckliche Weise. Sechs ‚Störche‘ beehrten mich an einem Tag mit ihrem Vertrauen; denk dir das mal aus, Ben!“

„Doch höchst erfreulich“, knurrte Mr. Ben Allen und hielt seinen Teller hin, um sich noch eine Portion Kalbshaschee geben zu lassen.

„Hm, gewiß. Aber noch erfreulicher wäre mir das Zutrauen von Patienten, die auch einige Schillinge für mich übrig hätten. So habe ich mir’s wenigstens bei Eröffnung des Geschäftes gedacht, Ben. Jetzt besitze ich zwar eine Praxis – eine sehr ausgedehnte Praxis –, aber das ist auch alles.“

„Ich muß dich sobald wie möglich in den Besitz von Arabellas tausend Pfund setzen“, brach Mr. Ben Allen los, legte Messer und Gabel nieder und sah seinen Freund starr an.

„Dreiprozentige Konsols, gegenwärtig auf ihren Namen in das Buch oder die Bücher der englischen Bank eingetragen“, ergänzte Mr. Bob Sawyer feierlich.

„Ganz recht. Sie bekommt sie, sobald sie mündig wird oder heiratet. Mündig wird sie in einem Jahr, und wenn es dir nicht ganz an Mut gebräche, so brauchte sie keinen Monat mehr zu warten, um einen Mann zu haben.“

„Sie ist ein allerliebstes, entzückendes Geschöpf“, erwiderte Mr. Robert Sawyer, „und hat meines Wissens nur einen einzigen Fehler. Nämlich Mangel an Geschmack. Sie kann mich nicht leiden.“

„Ich möchte nur“, stieß Mr. Ben Allen zwischen den Zähnen hervor, „ich möchte nur wissen, ob irgendein Schuft ihr den Kopf verdreht hat. Ich würde ihn, glaube ich, erdolchen, Bob.“

„Und ich würde ihm eine Kugel in den Bauch jagen, wenn ich ihn fände“, sagte Mr. Sawyer, nahm einen langen Schluck Bier und sah dabei giftig über den Rand des Kruges hinüber. „Und wenn das noch nicht genügte, würde ich sie ihm wieder mit der Sonde herausholen und ihn dadurch umbringen.“

Mr. Benjamin Allen starrte seinen Freund einige Minuten lang in düsterem Schweigen an und fragte dann:

„Hast du ihr nie direkt einen Antrag gemacht, Bob?“

„Nein. Hätte keinen Zweck gehabt.“

„So mußt du es tun, bevor du vierundzwanzig Stunden älter bist. Sie soll dich nehmen, oder ich will den Grund wissen, warum sie dich nicht mag. – Ich werde meine ganze brüderliche Gewalt anwenden.“

„Also gut“, sagte Mr. Bob Sawyer, „wir werden ja sehen.“

„“Wir werden allerdings sehen, mein Freund“, erwiderte Mr. Ben Allen grimmig, schnappte einige Sekunden nach Luft und fügte dann mit zornbebender Stimme hinzu: „Du hast sie schon als Kind geliebt, Bob. Hast sie geliebt, als wir noch Schuljungen waren, und damals schon hat sie dich nicht mögen. Erinnerst du dich noch, wie du ihr einmal zwei kleine Kümmelbiskuits und einen Apfel mit Gewalt aufdrängen wolltest?“ „Jaja, ich weiß“, erwiderte Mr. Bob Sawyer. „Sie sagte, ich hätte den Apfel so lange in der Tasche meiner Manchesterhose getragen, bis er ganz warm geworden sei.“

„Hm“, nickte Mr. Ben Allen düster. „Wir beide aßen ihn dann zusammen, jeder abwechselnd einen Biß.“

Bob Sawyer gab mit melancholischem Stirnrunzeln zu verstehen, daß er sich auch dieses Umstandes recht wohl entsinne. – Dann versanken beide einige Zeit in dumpfes Grübeln.

Inzwischen war ein Einspänner, dunkelgrün lackiert und von einem dickköpfigen braunen Gaul gezogen, wie ihn alte Damen zu halten heben, und mit einem sauertöpfisch aussehenden Kutscher auf dem Bock ehrbarlich durch die Straßen Bristols gerollt und hielt vor dem Ambulatorium.

„Martin!“ rief eine alte Dame aus dem vorderen Fenster. „Sag dem Laufburschen, er soll herauskommen und das Pferd halten.“

„Werde ich schon selbst besorgen“, sagte Martin und legte seine Peitsche auf das Kutschendach.

„Nein, nein“, eiferte die alte Dame, „unter keinen Umständen. Deine Zeugenschaft ist von höchster Wichtigkeit, und du mußt unbedingt mit ins Haus kommen. Du darfst während der ganzen Unterredung nicht von meiner Seite weichen. Verstanden?“

„Ja, ich verstehe“, erwiderte Martin.

„Nun gut; auf was wartest du dann noch?“

„Auf nichts“, versetzte Martin und stieg gemächlich vom Rade herab, auf dem er sich mit den Zehenspitzen gewiegt hatte, rief den Jungen in der grauen Livree, öffnete den Wagenschlag, streckte seine in einen dunklen waschledernen Handschuh gehüllte Rechte ins Innere der Kutsche und zerrte seine Herrin wie einen schweren Koffer heraus.

„Ach, du mein Gott“, jammerte die alte Dame, „mir ist angst und bange, Martin; ich zittere an allen Gliedern.“

Mr. Martin hustete hinter seinem waschledernen Handschuh, drückte aber weiter kein Mitgefühl aus und geleitete die Alte in den Laden.

Unmittelbar, nachdem sie eingetreten, waren, stürzten Benjamin Allen und Mr. Bob Sawyer, die inzwischen die geistigen Getränke beiseite geschafft und Ammoniak ausgeschüttet hatten, um den Tabaksgeruch zu übertäuben, voll Entzücken, Freundlichkeit und Zärtlichkeit herein.

„Ach, meine gute Tante“, rief Mr. Ben Allen. „Wie lieb, daß du uns auch einmal besuchen kommst! – Mr. Sawyer – meine Tante! Mein Freund, Mr. Bob Sawyer, von dem ich dir schon erzählt habe; du weißt schon, weswegen, Tante.“

Er fügte, da er sich nicht besonders nüchtern fühlte, flüsternd – wie er meinte, aber immerhin noch laut und vernehmlich genug, daß es alle Anwesenden hören mußten – das Wort „Arabella“ hinzu.

„Mein lieber Benjamin“, begann die alte Dame, die sehr mit Asthma zu kämpfen hatte und am ganzen Leibe zitterte, „erschrick nicht, mein guter Junge; aber ich möchte gern Mr. Sawyer auf einen Augenblick allein sprechen – nur auf einen Augenblick.“

„Bitte sehr“, erwiderte Bob in sehr professionellem Ton. „Hier herein, meine verehrteste Madame. Haben Sie nur keine Angst, Madame. Ich zweifle keinen Augenblick, daß wir Sie in kurzer Zeit vollkommen wiederherstellen werden. Hier, meine teuerste Madame, wenn es Ihnen gefällig ist.“ Er geleitete sie zu einem Stuhl, schloß die Tür und wartete auf die Schilderung der Symptome eines langwierigen, gewinnbringenden Leidens.

Das erste, was die alte Dame tat, war, daß sie sehr oft den Kopf schüttelte und dann zu schluchzen begann.

„Nervös“, sagte Bob Sawyer verbindlich. „Kamphor julep mit Wasser, dreimal täglich, und einen beruhigenden Trank vor dem Schlafengehen.“

„Ich weiß nicht, womit ich beginnen soll, Mr. Sawyer“, keuchte die alte Dame. „Es ist so namenlos peinlich und schmerzlich.“

„Ich weiß schon, was Sie sagen wollen“, beruhigte Mr. Sawyer, „der Kopf.“

„Ach nein, das Herz“, stöhnte die alte Dame schwach.

„Das macht nichts, Ma’am“, erwiderte Bob Sawyer. „Der Magen ist die Hauptsache.“

„Mr. Sawyer!“ rief die alte Dame und richtete sich auf.

„Ohne Zweifel, Ma’am“, unterbrach sie Bob mit weiser Miene, „Arznei zur rechten Zeit würde alles verhütet haben, meine teuerste Madame.“

„Mr. Sawyer!“ rief die alte Dame noch aufgeregter, „Ihr Benehmen gegenüber einer Frau in meiner Lage ist entweder eine Impertinenz oder ein Beweis, daß Sie über den Zweck meines Besuches gänzlich im Irrtum sind. Hätte ich das, was geschehen ist, durch Arzneien oder Vorsicht verhüten können, so hätte ich es gewiß getan. Es ist übrigens am besten, ich wende mich unmittelbar an meinen Neffen“, fügte sie hinzu, nahm voll Entrüstung ihren Pompadour und stand auf.

„Bleiben Sie doch noch einen Augenblick, Ma’am“, bat Bob Sawyer. „Ich fürchte, ich habe Sie mißverstanden. Um was handelt es sich denn, Ma’am?“

„Doch um meine Nichte, Mr. Sawyer, um die Schwester Ihres Freundes.“

„Nun und, Ma’am?“ drängte Bob voll Ungeduld, denn die alte Dame sprach trotz ihrer sichtlichen Aufgeregtheit mit peinigender Langsamkeit.

„Nun und, Ma’am?“

„Sie verließ mein Haus vor drei Tagen, Mr. Sawyer, angeblich, um meine Schwester – eine andre Tante von ihr – zu besuchen, die unmittelbar jenseits des dritten Meilensteins die große Pension hält; dort, wo der große Lindenbaum und das eichene Tor stehen“, erklärte die alte Dame und hielt inne, um sich die Augen zu trocknen.

„Der Teufel hole den Lindenbaum, Ma’am“, fluchte Bob, der in seiner Angst seine Amtswürde ganz vergaß. „Ein bißchen schneller, wenn ich bitten darf; wenden Sie ein wenig mehr Dampf an, Ma’am.“

„Heute morgen“, fuhr die alte Dame langsam fort, „heute morgen ist sie …“

„Zurückgekommen, ohne Zweifel?“ fiel Bob sehr aufgeregt ein. „Zurückgekommen?“

„Nein, zurückgekommen nicht. Sie schrieb.“

„Und was schrieb sie denn?“

„Sie schrieb, Mr. Sawyer – und darauf bitte ich Sie, Benjamin allmählich und vorsichtig vorzubereiten –, sie schrieb, sie sei – ich habe den Brief in meiner Tasche, Mr. Sawyer – aber meine Brille liegt noch im Wagen, und es würde zuviel Zeit kosten, wenn ich Ihnen die betreffende Stelle ohne Brille vorlesen wollte; kurz und gut, Mr. Sawyer, sie schrieb, sie sei … verheiratet.“

„Was!“ sagte oder schrie vielmehr Mr. Bob Sawyer.

„Verheiratet“, wiederholte die alte Dame.

Mr. Bob Sawyer wollte nichts mehr hören; er stürzte aus dem Hinterstübchen in den Laden und rief mit Stentorstimme:

„Ben, Ben, denk dir, sie ist durchgegangen!“

Mr. Ben Allen, der, hinter dem Ladentisch eingeschlummert, den Kopf fast auf den Knien hängen hatte, vernahm kaum diese Schreckensnachricht, als er urplötzlich auf Mr. Martin losstürzte, den schweigsamen Diener an seinem Halstuch faßte und die liebenswürdige Absicht ausdrückte, ihn auf der Stelle zu erwürgen, was er auch sogleich mit der Raschheit, die oft nur die Verzweiflung zu verleihen vermag, und dabei mit großer Kraft und chirurgischer Geschicklichkeit auszuführen begann.

Mr. Martin, ein Mann von wenig Worten und geringer Beredsamkeit, unterwarf sich dieser Operation ein paar Sekunden lang mit sehr ruhigem und heiterem Gesicht; als er aber sah, daß sie schnell zu einem Resultat zu führen drohte, das ihn für alle künftigen Zeiten außerstand setzen würde, Trink- oder Schmerzensgelder oder sonst etwas zu beanspruchen, murmelte er eine unartikulierte Gegenvorstellung und schlug Mr. Benjamin Allen zu Boden. Da dieser jedoch die Halsbinde nicht losließ, blieb ihm keine andere Wahl, als mit ihm hinzufallen, und so kämpften die beiden in liegender Stellung weiter, bis die Ladentür aufging und die Gesellschaft durch die Ankunft zweier höchst unerwarteter Gäste, nämlich der Herren Pickwick und Weller, vermehrt wurde.

Der erste Eindruck, den der Anblick auf Mr. Weller machte, war, daß Mr. Martin von dem Etablissement Sawyer, weiland Nockemorf, offenbar gedungen sei, um starke Arzneien einzunehmen, Anfälle zu bekommen und Experimente mit sich anstellen zu lassen, oder auch, um dann und wann ein Gift zu verschlucken, damit sich die Wirksamkeit einiger neuer Gegengifte an ihm erproben ließe, oder sonst etwas zu tun, was die Wissenschaft fördern und den glühenden Wissensdurst befriedigen könnte, der im Busen ihrer zwei jungen Anhänger brannte. Er machte daher keinen Versuch, sich ins Mittel zu legen, sondern blieb ruhig stehen und sah zu, auf das Ergebnis des Experiments äußerst begierig. Nicht so Mr. Pickwick, der sich sogleich mit seiner gewohnten Energie auf die Kämpfer warf und die Umstehenden laut aufforderte, sie auseinanderzureißen.

Sein Geschrei brachte Mr. Bob Sawyer, der bisher wie gelähmt dagestanden, wieder zu sich, und mit vereinten Kräften wurde Ben Allen wieder auf die Beine gestellt. Mr. Martin, der sich nunmehr allein auf dem Boden liegen sah, stand ebenfalls auf und blickte wild um sich.

„Mr. Allen“, rief Mr. Pickwick, „was gibt es denn hier?“

„Das geht Sie einen Schmarrn an“, brummte Mr. Allen trotzig.

„Was ist denn geschehen?“ wendete sich Mr. Pickwick an Bob Sawyer. „Ist er unwohl?“

Doch ehe dieser noch antworten konnte, ergriff Ben Allen Mr. Pickwicks Hand und murmelte wehmütig:

„Meine Schwester, lieber Mr. Pickwick, meine Schwester!“

„Oh, ist das alles?“ rief Mr. Pickwick. „Nun, das werden wir hoffentlich bald ins reine bringen. Ihre Schwester ist wohl und gesund, und ich bin hier, mein lieber Herr, um …“

„Tut mir leid, die schönen Purrparlehs zu unterbrechen, wie der König sagte, als er das Parlament auflöste“, fiel Mr. Weller ein, der inzwischen durch die Glastür in das Hinterzimmer gespäht hatte, „aber da liegt ’ne ehrwürdige alte Dame auf ‚m Teppich und wartet auf ’ne Sektion oder Galvanisierung oder sonst ’ne andre wissenschaftliche Wiederbelebung.“

„Ach, richtig, ich habe ja ganz vergessen“, rief Mr. Ben Allen. „Es ist meine Tante.“

„’ne sonderbare Lage für ’n Familienmitglied“, bemerkte Sam Weller und hob die alte Dame auf einen Stuhl. „Heda, Vizebeinsäger, ’n Riechfläschchen her!“

Die Aufforderung galt dem Laufburschen in der grauen Livree, der den Einspänner der Fürsorge eines Straßenaufsehers überlassen hatte und hereingeeilt war, um zu sehen, was der Lärm zu bedeuten habe, und seinen und den Bemühungen Mr. Bob Sawyers und Benjamin Allens gelang es endlich, die alte Dame wieder zu Bewußtsein zu bringen. Dann wandte sich Mr. Ben Allen verstört an Mr. Pickwick und fragte ihn, was er habe sagen wollen, als er auf eine so beunruhigende Weise unterbrochen worden sei.

„Wir sind doch lauter gute Freunde hier?“ begann Mr. Pickwick, räusperte sich und ließ seinen Blick nachdenklich auf dem wortkargen Mann mit dem sauertöpfischen Gesicht ruhen.

Dies erinnerte den Wundarzt daran, daß der Bursche in der grauen Livree mit weitaufgerissenen Augen und gespitzten Ohren zuschaute. Nachdem daher der junge angehende Chemiker am Rockkragen in die Höhe gehoben und zur Tür hinausgeworfen worden war, versicherte Bob Sawyer Mr. Pickwick, er könne jetzt ohne Rücksicht sprechen.

„Ihre Schwester, mein teurer Sir“, begann Mr. Pickwick zu Mr. Benjamin Allen gewendet, „befindet sich in London und ist wohl und glücklich.“ „Ich habe nichts mit ihrem Glück zu schaffen, Sir“, wehrte Benjamin Allen mit einer ungeduldigen Handbewegung ab.

„Ich aber habe mit ihrem Gatten zu schaffen, Sir!“ fiel Bob Sawyer ein. „Ich will auf zwölf Schritte mit ihm zu schaffen haben, Sir, mit diesem niederträchtigen Schurken!“

„Halt, Sir!“ rief Mr. Pickwick. „Bevor Sie auf den in Rede stehenden Gentleman solche Epitheta anwenden, erwägen Sie einmal leidenschaftslos den Umfang seiner Schuld, und bedenken Sie vor allem, daß er – ein Freund von mir ist.“

„Was?“ rief Mr. Bob Sawyer.

„Wie heißt er? Wer ist er?“ sehne Ben Allen.

„Mr. Nathaniel Winkle“, erklärte Mr. Pickwick mit Festigkeit.

Benjamin Allen zertrat bedächtig seine Brille mit dem Stiefelabsatz, las die Stücke auf und steckte sie in drei verschiedene Taschen; dann verschränkte er die Arme, biß sich in die Lippen und blickte mit drohender Gebärde in das sanfte Gesicht Mr. Pickwicks.

„Dann haben also Sie, Sir, und niemand anders als Sie diese Verbindung gutgeheißen und womöglich zustande gebracht?“ brachte er endlich heraus.

„Und dann ist es“, fiel die alte Dame ein, „vermutlich der Bediente dieses Herrn gewesen, der um mein Haus herumgeschlichen ist und mein Gesinde zu einer Verschwörung gegen mich zu verleiten suchte. – Martin!“

„Ma’am?“ sagte der sauertöpfische Groom und trat vor.

„Ist dies der junge Mann, den Sie in der Gasse gesehen und von dem Sie mir heute früh erzählt haben?“

Mr. Martin, der, wie bereits erwähnt, ein kurz angebundner, wortkarger Mann war, sah Sam Weller an, nickte mit dem Kopfe und brummte:

„Ja, der ist’s.“

Mr. Weller, der nie stolz war, lächelte freundlich, als seine Augen denen des griesgrämigen Stallknechtes begegneten, und gestand in höflichen Ausdrücken, daß er ihn schon von früher her kenne.

„Und diesen treuen Menschen“, rief Mr. Ben Allen, „hätte ich beinahe erwürgt! Mr. Pickwick, wie konnten Sie es wagen, Ihrem Kerl zu erlauben, daß er sich bei der Entführung meiner Schwester gebrauchen ließ? Ich verlange Aufklärung von Ihnen, Sir.“

„Jaja, erklären Sie sich, Sir“, schrie Bob Sawyer wild.

„Es ist eine Verschwörung!“ sagte Ben Allen.

„Ein hinterlistiger, niederträchtiger Betrug!“

„Eine schändliche Büberei“, bemerkte die alte Dame.

„Ein echtes Bubenstück“, meinte Martin.

„Bitte, hören Sie mich doch an“, flehte Mr. Pickwick, als Mr. Ben Allen in den Stuhl sank, in dem gewöhnlich die Patienten zur Ader gelassen wurden, und seine Zuflucht zu seinem Taschentuch nahm. „Ich war bei der Sache durchaus unbeteiligt, außer daß ich einer Zusammenkunft der beiden jungen Leute beiwohnte, die ich nun einmal nicht verhindern konnte. Und zwar tat ich es in der Überzeugung, daß meine Anwesenheit auch den geringsten Schein von Unschicklichkeit, den die Sache sonst gehabt hätte, beseitigen müßte. Weiter habe ich die Hand nicht im Spiele gehabt. Ich hatte sogar nicht einmal eine Ahnung davon, daß eine so schnelle Verbindung beabsichtigt war. Im übrigen will ich nicht sagen, daß ich sie verhindert haben würde, wenn ich etwas davon gewußt hätte.“

„Sie hören es alle! Sie hören es!“ stöhnte Mr. Benjamin Allen.

„Hoffentlich“, fuhr Mr. Pickwick milde fort, während ihm die Röte ins Gesicht stieg. „Sie hören hoffentlich auch noch, Sir, daß ich Ihnen, nach allen eingezogenen Erkundigungen, versichern muß, daß Sie keineswegs berechtigt waren, den Neigungen Ihrer Schwester einen Zwang anzutun, und sich vielmehr hätten befleißigen sollen, ihr durch freundliches, zärtliches Benehmen alle andern näheren Verwandten zu ersetzen, deren sie von Kindheit an keine gehabt hat. Was meinen jungen Freund betrifft, so erlaube ich mir hinzuzusetzen, daß er in bezug auf Glücksgüter und materielle Verhältnisse zum mindesten auf gleichem Fuße mit Ihnen steht, wo nicht auf einem weit besseren, und daß ich übrigens nichts mehr über die Sache reden werde, wenn sie nicht mit geziemender Mäßigung und dem gebührenden Anstand verhandelt wird.“

„Ich möchte ja auch noch „n paar Bemerkungen machen; nämlich zu die Sache, wo der ehrenwerte Schendlmän vorhin von gesprochen hat“, fiel Mr. Weller ein, „nämlich da hat doch ein Gewisser auf mich ,Kerl‘ gesagt.“

„Das hat nichts mit dieser Sache zu tun, Sam“, verwies Mr. Pickwick. „Sei so gut und schweig.“

„Ich wollte auch weiter nichts sagen“, lenkte Sam ein, „als bloß noch den Klecks: Vielleicht denkt der Schändlmän, daß eine frühere Zuneigung bestanden hat; es is aber durchaus nich der Fall, weil nämlich die junge Dame gleich anfangs bei unserer Bekanntschaft sagte, sie kann ihm nich leiden. Keiner hat ihn ausgestochen, und es wäre ganz egal für ihm gewesen, wenn die junge Dame den Mr. Winkle überhaupt nich gesehen haben würde. Das wollte ich bloß sagen, Sir, und ich hoffe, der Schendlmän wird sich nu beruhigen.“

Auf diese trostreichen Worte Mr. Wellers folgte eine tiefe Stille; dann sprang Mr. Ben Allen von seinem Stuhl auf und schwor, Arabella dürfe ihm nie wieder vor die Augen treten, indes Mr. Bob Sawyer, trotz Sams schmeichelhafter Versicherung, dem glücklichen Nebenbuhler schreckliche Rache gelobte.

Doch gerade in dem Augenblick, als die Sache das feindseligste Aussehen gewann und zu behalten drohte, fand Mr. Pickwick einen mächtigen Beistand an der alten Dame, der die Art, wie er die Sache ihrer Nichte verfochten hatte, offenbar sehr gefiel, und die es daher wagte, Benjamin Allen einige tröstliche Betrachtungen vorzuhalten, worunter die erheblichsten die waren, es sei doch vielleicht gut, daß es nicht noch schlimmer gekommen sei. Bei Licht betrachtet, stünden die Sachen doch nicht gar so böse; geschehene Dinge müsse man eben hinnehmen, und was man nicht abändern könne, darein müsse man sich in Geduld fügen; nebst verschiedenen andern ebenso neuartigen wie auch tröstlichen Versicherungen.

Mr. Benjamin Allen erwiderte bloß, er habe jeden möglichen Respekt vor seiner Tante und vor jedermann; das ändere aber an der Sache nichts, und man müsse ihm schon erlauben, daß er seinem eigenen Kopf folge. Er werde sich das Vergnügen machen, seine Schwester bis zu ihrem Tode und noch über das Grab hinaus zu hassen.

Als er diesen felsenfesten Entschluß wohl noch fünfzigmal beschworen, brauste die alte Dame plötzlich auf, blickte höchst majestätisch um sich und verlangte zu wissen, was sie denn getan habe, um so wenig Ehrerbietung zu verdienen, wo sie doch ihren Neffen seit fünfundzwanzig Jahren, von seiner Geburt angefangen, stets im Auge behalten, noch ehe er einen Zahn im Munde gehabt, nicht zu gedenken ihrer Anwesenheit, als man ihm zum erstenmal das Haar geschnitten, und ihrer tätigen Mitwirkung bei vielen andern Vorgängen und Feierlichkeiten während seiner Kindheit – lauter Dinge, die denn doch wichtig genug seien, um ihre Ansprüche auf seine Liebe und seinen Gehorsam für immer zu begründen. Während die gute Dame solchergestalt Mr. Ben Allen den Text las, hatten sich Mr. Bob Sawyer und Mr. Pickwick in eifriger Unterhaltung in das Hinterstübchen zurückgezogen. Der unglückliche Brautwerber hatte dabei zu wiederholten Malen eine schwarze Flasche angesetzt, und unter deren Einfluß hatten seine Züge allmählich einen vergnügteren und schließlich sogar heiteren Ausdruck gewonnen. Endlich trat er sogar mit der Flasche in der Hand aus der Stube heraus, erklärte, es tue ihm sehr leid, sich so albern benommen zu haben, trank auf die Gesundheit und das Wohlergehen Mr. Winkles und seiner Gattin und sagte, daß er sie nicht nur nicht um ihr Glück beneide, sondern auch der erste sein wolle, der ihnen dazu gratuliere.

Als Mr. Ben Allen dies hörte, sprang er von seinem Stuhl auf, ergriff die schwarze Flasche und trank gleichfalls den Toast so herzhaft, daß er von dem starken Inhalt beinahe ebenso schwarz im Gesicht wurde wie die Flasche selbst. Endlich machte die Bouteille die Runde, bis nichts mehr darin war, und dann gab es ein Händeschütteln und eine allgemeine Beglückwünschung, daß selbst Mr. Martin mit dem steinernen Gesicht sich herabließ, zu lächeln.

„Und jetzt“, rief Bob Sawyer und rieb sich die Hände, „jetzt wollen wir eine lustige Nacht haben.“

„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Mr. Pickwick, „daß ich in meinen Gasthof zurückkehren muß, aber ich bin seit längerer Zeit an keine Strapazen mehr gewöhnt, und die Reise hat mich sehr angegriffen.“

„Aber eine Tasse Tee werden Sie doch annehmen, Mr. Pickwick?“ schmeichelte die alte Dame mit gewinnendem Lächeln.

„Danke sehr, aber ich kann wirklich nicht“, lehnte der Gelehrte ab.

In Wirklichkeit war das sichtlich zunehmende Wohlwollen der alten Dame für ihn ein Hauptgrund, zu gehen. Er mußte an Mrs. Bardell denken, und jeder Strahl aus den Augen der Dame brachte ihn in kalten Schweiß.

Da er sich daher unter keinen Umständen bewegen ließ zu bleiben, wurde auf seinen eignen Antrag beschlossen, Mr. Benjamin Allen solle ihn auf seiner Reise zu Mr. Winkle senior begleiten. Die Kutsche werde am nächsten Morgen um neun Uhr vor der Tür stehen. Er nahm sodann Abschied und ging in Begleitung Samuel Wellers nach dem „Busch“ zurück.