Achtundzwanzigstes Kapitel


Achtundzwanzigstes Kapitel

Ein heiteres Weihnachtskapitel nebst Erzählung einer Hochzeit und einiger anderer Lustbarkeiten.

So rührig wie Bienen, wenn auch nicht so leicht beschwingt, versammelten sich die vier Pickwickier am Morgen des zweiundzwanzigsten Dezembers in dem Jahre des Heils, in dem alle diese so streng gewissenhaft aufgezeichneten Abenteuer erlebt wurden. Weihnachten stand vor der Tür mit all seiner schlichten und herzlichen Biederkeit; es war die Zeit der Gastlichkeit, des Frohsinns und der Freundschaft, und das alte Jahr schickte sich gleich jenem Philosophen der Antike an, mitten unter Gesang und Becherklang sanft und selig von hinnen zu scheiden. Es war eine fröhliche, schöne Zeit, besonders für vier von den zahlreichen Herzen, die sich sehr auf das herannahende Fest freuten.

Wir wollen uns aber nicht zu sehr in die Vorzüge der Weihnachtszeit verlieren, denn die Pickwickier warten in der Winterkälte darauf, daß die Postkutsche nach Muggleton abfährt, in die sie, eingehüllt in Überröcke und Halstücher, soeben eingestiegen sind. Die Mantel- und Reisesäcke sind schon verpackt, und Mr. Weller bemüht sich zusammen mit dem Kondukteur nur noch, einen riesigen Kabeljau in einen Korb zu pferchen, der wegen seiner Größe als letztes Gepäckstück auf einem halben Dutzend Austerntönnchen verstaut werden soll, die ebenfalls Herrn Pickwick gehören, der gespannt zusieht, wie der Kabeljau allen Kunstgriffen trotzt, bis der Kondukteur ihn ganz unvermutet samt dem Korb in den Kutschkasten hineinstößt, dabei selbst Hals über Kopf nachstürzt und bis zum Brustkorb im Kutschkasten verschwindet.

Alle Umstehenden lachen, Herr Pickwick stiftet dem Kondukteur einen Schilling, worauf dieser zusammen mit Mr. Weller für fünf Minuten verschwindet und beide mit einer Schnapsfahne wiederkehren. Und nun steigt der Kutscher auf den Bock, Mr. Weller springt hinten auf, die Pickwickier mummeln sich in ihre Überröcke und Halstücher und die Fahrt beginnt.

Um drei Uhr nachmittags erreichen die Herren per Postkutsche frisch und gesund, fröhlich und wohlgemut den Blauen Löwen“ von Muggleton, nachdem sie unterwegs eine hinreichende Menge Ale und Brandy zu sich genommen, um dem Frost Trotz bieten zu können, der den Erdboden in eiserne Fesseln schlug und Bäume und Hecken mit seinem schönen Netzwerk umspannte. Mr. Pickwick war eifrig mit der Musterung der Austernfäßchen und der Aufsicht über die Ausladung des Kabeljaus, die er mitgebracht, beschäftigt, als er sich sachte am Rockzipfel gezupft fühlte, und, sich umsehend, die Entdeckung machte, daß das Individuum, das dieses Mittel ergriffen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, niemand anders war als Mr. Wardles Lieblingspage, der fette Junge.

„Aha“, rief Mr. Pickwick.

„Aha“, rief auch der fette Junge, beäugelte zuerst den Kabeljau und dann die Austernfäßchen und gluckste vor Vergnügen. – Er war noch wesentlich fetter geworden.

„Na, du siehst ja recht blühend aus, junger Freund“, sagte Mr. Pickwick.

„Ich hab grade vor dem Feuer in der Schenkstube geschlafen“, erwiderte der fette Junge, dessen Gesicht sich durch ein Stündchen Schlummer bis zur Farbe eines glühenden Kochtopfes erhitzt hatte. „Mein Herr hat mich mit dem Karren rübergeschickt, Ihr Gepäck abholen. Er hätte auch ’n paar Reitpferde geschickt, aber er hat gemeint, bei dem kalten Wetter möchten Sie am Ende lieber zu Fuß gehen.“

„Jaja“, sagte Mr. Pickwick hastig, eingedenk der früheren equestrischen Abenteuer, „ja, wir wollen lieber gehen. – Sam!“

„Sir?“ erwiderte Mr. Weller.

„Hilf Mr. Wardles Diener das Gepäck in den Karren schaffen und fahre dann mit ihm; wir gehen voraus.“

Nachdem Mr. Pickwick diese Befehle erteilt, schlug er mit seinen drei Freunden den Fußpfad über die Felder ein und ließ Mr. Weller und den fetten Jungen vorderhand beieinander. Sam sah den fetten Jungen mit großer Verwunderung an, ohne jedoch ein Wort zu sprechen, und begann die Sachen eiligst in den Karren zu schaffen, während der fette Junge ruhig dabeistand, offenbar sehr einverstanden, daß Mr. Weller so fleißig war.

„So“, sagte Sam und lud den letzten Mantelsack auf jetzt haben wir’s.“

„Ja“, versetzte der fette Junge sehr zufrieden, „jetzt haben wir’s.“

„Na, junger Tausendpfünder“, meinte Sam, „Sie könnten sich für Geld sehen lassen. Wahrhaftig.“

„Dank schön“, erwiderte der fette Junge.

„Kummer und Sorgen scheinen Sie wohl nich sonderlich zu bedrücken, was?“ fragte Sam.

„O nein“, gab der fette Junge zu.

„Freut mich sehr, dies zu vernehmen“, versetzte Sam. „Trinken Sie was?“

„Ich esse lieber“, erwiderte der Junge.

„Hätte ich mir denken können“, sagte Sam. „Doch ich meine, ob Sie nicht ’n Tropfen nehmen wollen, um sich zu erwärmen? Aber Sie haben wohl unter Ihrem Speck noch nie gefroren, oder?“

„Bisweilen doch“, versetzte der Junge, „aber ich trinke schon auch einen Schluck, wenn er gut ist.“

„Wirklich, tun Sie das?“ sagte Sam. „Na, dann kommen Sie!“

Die Wirtsstube des „Blauen Löwen“ war bald erreicht, und der fette Junge goß ein Glas Brandy hinunter, ohne eine Miene zu verziehen – was ihn in Mr. Wellers Augen außerordentlich hob. Nachdem Mr. Weller seinerseits ein ähnliches Manöver vollführt, stiegen sie in den Karren.

„Können Sie fahren?“ fragte der fette Junge.

„Sollt es fast meinen“, erwiderte Sam.

„Dorthinein also“, sagte der fette Junge, überließ Mr. Weller die Zügel und deutete auf einen Feldweg. „Immer gradaus. Sie können nicht fehlen.“ – Mit diesen Worten legte er sich neben den Kabeljau und fiel augenblicklich in Schlaf.

Mittlerweile hatten Mr. Pickwick und seine Freunde ihr Blut in raschere Zirkulation gesetzt und schritten munter dahin. Der Pfad war hart, das Gras bereift, die Luft rein, trocken und kalt, und das rasche Sinken des Tages ließ sie im Vorgenuß der Behaglichkeiten schwelgen, die ihrer bei dem gastfreundlichen Mr. Wardle warteten. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie würden ihre Mäntel abgelegt haben und in der frohen Stimmung ihrer Herzen zum Privatvergnügen ein kleines Bockspringen arrangiert haben, und sicherlich hätte in diesem Augenblick Mr. Tupman seinen Rücken dargeboten, Mr. Pickwick würde dieses Anerbieten zum fröhlichen Spiel mit größtem Eifer aufgegriffen haben.

Mr. Tupman schien sich aber nicht freiwillig zu einer solchen Belustigung anbieten zu wollen, und so verfolgten die Freunde ihren Weg unter heiteren Gesprächen. Als sie in den Pfad nach Manor Farm einbogen, traf Stimmengewirr ihr Ohr, und ehe sie sich noch in Mutmaßungen ergehen konnten, begrüßte sie ein lautes Hurra.

Da waren zuerst Mr. Wardle, der womöglich noch fröhlicher aussah als früher, dann Bella und ihr getreuer Trundle, ferner Emilie und acht bis zehn junge Damen, die alle zur morgigen Hochzeit eingeladen waren und so wichtig und selig aussahen, wie junge Damen meist bei solchen Gelegenheiten.

Die Zeremonie des Vorstellens war bald vorüber, und ein paar Minuten später scherzte bereits Mr. Pickwick mit den jungen Damen, die, solange er zusah, nicht über das Geländer steigen wollten oder, sich ihrer hübschen Füßchen und feinen Knöchel gar wohl bewußt, fünf Minuten lang darauf stehenblieben und erklärten, sie fürchteten sich zu sehr, um sich nur rühren zu können – scherzte mit ihnen so ungezwungen und vertraulich, als hätte er sie seit Kindheit an gekannt. Mr. Snodgraß leistete Emilie weit mehr Beistand, als die Gefahren des Geländers erfordert hätten, während eine schwarzäugige junge Dame mit sehr zierlichen Pelzstiefelchen laut schrie, als ihr Mr. Winkle hinüberhelfen wollte.

Alles dies war höchst unterhaltend und ergötzlich, und als endlich die Hindernisse des Geländers glücklich überwunden waren und man sich wieder auf offenem Felde befand, machte der alte Wardle Mr. Pickwick die Mitteilung, sie hätten sämtlich die Ausstattung und Einrichtung des Hauses in Augenschein genommen, das dem Jungen Paar gleich nach Weihnachten zur Verfügung stehen sollte. Bella und Trundle wurden darüber so rot, wie vorher der fette Junge in der Wirtsstube am Feuer, und die junge Dame mit den schwarzen Augen und den pelzverbrämten Stiefelchen flüsterte Emilie etwas ins Ohr und warf einen schlauen Seitenblick auf Mr. Snodgraß. Mr. Snodgraß, verschämt wie alle großen Geister, fühlte, wie rot er bis in die Ohren wurde, und wünschte in den Tiefen seines Herzens die junge Dame mit den schwarzen Augen, dem schelmischen Seitenblick und den pelzverbrämten Stiefelchen in das Land, wo der Pfeffer wächst.

Wie groß war aber erst die Wärme und Herzlichkeit, mit der die Herren aufgenommen wurden, als sie die Farm erreichten! Sogar das Gesinde grinste vor Vergnügen, als es Mr. Pickwick erblickte, und Emma warf Mr. Tupman einen halb verschämten, halb verwegenen Blick des Wiedererkennens zu, der hingereicht hätte, den Gipsnapoleon im Gang zu ermutigen, sie an sich zu drücken.

Die alte Dame saß wie gewöhnlich in der vorderen Wohnstube, war aber ein wenig verdrießlich und folglich ganz besonders taub. Sie selbst ging nie aus und sah es daher als eine Art Hochverrat an, wenn sich jemand die Freiheit nahm, etwas zu tun, was sie nicht mehr konnte.

„Mutter“, sagte Mr. Wardle, „Mr. Pickwick ist hier. Du erinnerst dich seiner doch noch.“

„Ach, ich bitte dich“, erwiderte die alte Dame mit großer Würde, „bemühe Mr. Pickwick nicht wegen einer alten Frau wie ich. Es bekümmert sich ja niemand um mich. Das ist ja auch so der Lauf der Dinge.“ Und die alte Dame schüttelte den Kopf und strich ihr lavendelfarbiges Seidenkleid mit zitternden Händen glatt.

„O nein, Madam!“ sagte Mr. Pickwick. „Ich kann nicht zugeben, daß Sie einen alten Freund auf diese Art abspeisen. Ich bin ausdrücklich deswegen hergekommen, um mich recht lange mit Ihnen zu unterhalten und eine Partie Whist mit Ihnen zu spielen. Ja, und ehe achtundvierzig Stunden um sind, wollen wir diesen Knaben und Mädchen einmal zeigen, wie man ein Menuett tanzt.“

Die alte Dame war augenblicklich umgestimmt, wollte es aber nicht merken lassen und sagte daher nur: „Ach, ich verstehe ihn nicht.“

„Aber komm, Mutter, komm“, begütigte Mr. Wardle. „Sei doch nicht so verdrießlich; er ist so ’ne gute Seele. Denk Bella. Komm, du mußt dem armen Mädchen ’n bißchen Mut machen.“

Die gute alte Dame verstand alles, denn ihre Lippen zitterten, als ihr Sohn ihr so zuredete; aber das Alter hat nun einmal seine schwachen Seiten, und sie ließ sich noch nicht erweichen. Sie strich wieder an dem lavendelfarbigen Kleid hinunter und wandte sich zu Mr. Pickwick:

„Ach, Mr. Pickwick, als ich noch ein Mädchen war; waren die jungen Leute ganz anders.“

Kein Zweifel, Ma’am“, versetzte Mr. Pickwick. „Und gerade aus diesem Grunde achte ich auch die wenigen Menschen so hoch, die noch an die guten alten Zeiten erinnern.“ Dabei zog er Bella sanft an sich, drückte ihr einen Kuß auf die Stirn und bat sie, sich auf den kleinen Stuhl zu den Füßen ihrer Großmutter zu setzen. Die Herzensgüte Mr. Pickwicks rührte die alte Dame so sehr, daß sie weich wurde, ihren Kopf auf den Nacken ihrer Enkelin legte und ihre üble Laune in einer Flut stiller Tränen entströmen ließ.

Die Gesellschaft war an diesem Abend eitel Freude. Gesetzt und feierlich wickelte sich wieder die Whistpartie ab, die Mr. Pickwick und die alte Dame miteinander spielten, und lärmend das Gesellschaftsspiel am runden Tisch. Lange noch, nachdem sich die Damen zurückgezogen, machte der Glühwein, mit Rum und Gewürz verstärkt, aber und abermals die Runde, und gesund waren der Schlaf und süß die Träume, die darauf folgten. Es ist ein bemerkenswerter Umstand, daß Mr. Snodgraß die ganze Nacht von Emilie und Mr. Winkle von einer jungen Dame mit schalkhaften schwarzen Augen und außerordentlich niedlichen Pelzstiefelchen träumten.

In aller Frühe wurde Mr. Pickwick von einem Stimmengewirr und emsigem Hinundherlaufen geweckt, das sogar den fetten Jungen in seinem tiefen Schlummer stören mußte.

Er setzte sich auf und lauschte. Die Dienstmädchen und die weiblichen Gäste liefen unaufhörlich ab und zu, und es wurde sooft nach warmem Wasser und Nadel und Faden gerufen, und eine solche Menge Bitten: „Hilf mir, ich kann nicht damit zurechtkommen“, wurden laut, daß Mr. Pickwick in seiner Unschuld auf den Gedanken kam, es müsse irgend etwas Furchtbares vorgefallen sein, bis er nach und nach ganz munter wurde und sich erinnerte, daß heute ja Hochzeit sei. Dem Feste zu Ehren kleidete er sich mit besonderer Sorgfalt an und ging hinunter zum Frühstück.

Die Hausmädchen liefen in nagelneuen rosa Musselinkleidern mit weißen Schleifen an den Hauben in einem unbeschreiblichen Zustande von Aufregung und Diensteifer im Hause herum. Die alte Dame hatte ein Brokatkleid angelegt, das seit zwanzig Jahren das Tageslicht nicht mehr gesehen, von den spärlichen Strahlen vielleicht abgesehen, die sich durch die Ritzen in der Truhe gestohlen hatten, Mr. Trundle war in Prachteinband und selig, schien aber ein wenig nervös. Der fröhliche alte Herr suchte so aufgeräumt und unbefangen auszusehen wie möglich, verfehlte aber seinen Zweck sichtlich. Sämtliche jungen Damen schwammen in Tränen und weißem Musselin, mit Ausnahme der paar Auserwählten, die die besondere Ehre genossen, Braut und Brautjungfern im oberen Saal von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Sämtliche Pickwickier waren aufs festlichste herausgeputzt, und auf dem Grasplatz vor dem Hause machten die Knechte und Buben, die zum Pachtgut gehörten, jeder eine weiße Schleife im Knopfloch, einen furchtbaren Spektakel mit Singen und Herumspringen, angestiftet von Mr. Samuel Weller, der sich im Handumdrehen die Volksgunst zu erwerben gewußt und sich bereits so heimisch fühlte, als wäre er auf dem Lande geboren.

Die Trauung wurde schließlich von dem alten Geistlichen in der Kirche zu Dingley Dell vollzogen, und Mr. Pickwicks Name ist noch heute in dem Register in der Sakristei zu lesen. Die junge Dame mit den schwarzen Augen trug ihren Namen mit unsteter und zitternder Hand ein, und die Unterschrift Emiliens, der andern Brautjungfer, fiel beinahe ganz unleserlich aus. Sonst ging aber alles in bewunderungswürdiger Ordnung vor sich; die jungen Damen fanden im allgemeinen die Sache weit weniger schrecklich, als sie erwartet hatten, und die Eigentümerin der schelmischen schwarzen Augen versicherte Mr. Winkle, sie wisse gewiß, daß sie sich niemals zu einem so fürchterlichen Schritte würde entschließen können. Dem allen wäre noch hinzuzufügen, daß Mr. Pickwick der erste war, der die Braut beglückwünschte und ihr bei dieser Gelegenheit eine prachtvolle goldene Uhr umhing, die noch keines Menschen Auge, außer dem des Goldschmiedes, gesehen hatte. Dann fielen die alten Kirchenglocken so heiter ein, wie sie nur konnten, und der Hochzeitszug kehrte zum Frühstück nach Manor Farm zurück.

„Wo sollen die Fleischpasteten hin, junger Opiumfresser?“ fragte Mr. Weller den fetten Jungen, als er die Speisen ordnen half, die am vorhergehenden Abend noch nicht hatten aufgestellt werden können.

Der fette Junge deutete stumm auf die betreffende Stelle.

„Schön, und nu stecken Sie noch wat Jrünes rein. Dort in die andre Platte. So, jetzt nehmen wir uns erst hübsch aus, wie der Vater sagte, als er seinem Jungen den Kopf abschlug, um ihm das Schielen zu vertreiben.“

Dann trat Mr. Weller ein paar Schritte zurück, kniff ein Auge zu und übersah die Anordnungen mit dem Ausdruck größter Zufriedenheit.

Dann nahm die Gesellschaft ihre Plätze ein, und Mr. Pickwick mußte sogleich mit dem alten Wardle ein Glas Wein zu Ehren des jungen Paares leeren und Duzbrüderschaft trinken.

Die alte Dame saß in vollem Prunk obenan, links neben ihr die junge Neuvermählte, rechts Mr. Pickwick. Sie zog An sogleich ins Gespräch, ließ sich in eine weitläufige und ausführliche Schilderung ihrer eignen Hochzeit ein und knüpfte daran eine Abhandlung über die damalige Mode, Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen, und einige Erlebnisse und Abenteuer der schönen Lady Tollimglower, wobei sie so herzlich lachte, daß die jungen Damen, verwundert, weshalb denn in aller Welt die Großmama auf einmal so gesprächig geworden, mit einstimmten. Und wenn die jungen Damen lachten, lachte die alte Dame noch zehnmal herzlicher und sagte, diese Geschichten hätten schon damals immer einen Kapitalspaß gegeben, was ein neuerliches Gelächter hervorrief, das die alte Dame geradezu in Rosenlaune versetzte. Dann wurde der Hochzeitskuchen zerschnitten und machte die Runde um die Tafel, und die jungen Damen legten sich heimlich Stücke beiseite, um sie unter das Kopfkissen zu schieben und von ihren künftigen Gatten zu träumen, was wiederum viel Spaß und Erröten verursachte.

„Mr. Miller“, wendete sich Mr. Pickwick zu seinem alten Bekannten, dem Herrn mit dem Borsdorfer Gesicht, „ein Glas Wein?“

„Mit dem größten Vergnügen, Mr. Pickwick“, versetzte der Herr mit dem Borsdorfer Gesicht feierlich.

„Wollen Sie mich nicht auch mit einschließen?“ fragte der wohlwollende alte Geistliche.

„Und mich auch“, fiel seine Gattin ein.

„Mich auch, mich auch“, riefen ein paar arme Verwandte am unteren Ende der Tafel, die aus Herzenslust gegessen und getrunken und über alles und jedes gelacht hatten.

Mr. Pickwicks Antlitz strahlte vor Freude über seine Beliebtheit, er stand auf und erhob sein Glas.

„Hört, hört! Hört, hört! Hört, hört!“ rief Mr. Weller im Übermaß seiner Gefühle.

„Ruft die gesamte Dienerschaft herein“, befahl der alte Wardle, um Mr. Weller den öffentlichen Verweis zu ersparen, der ihm sonst ohne allen Zweifel von seiten seines Herrn geblüht hätte.

„Jedem ein Glas Wein, um den Toast mitzutrinken! Nun, Pickwick?“

Tiefe Stille trat ein, die weibliche Dienerschaft flüsterte, die männliche stand verlegen da, und Mr. Pickwick begann:

„Meine Damen und Herren, nein, nicht meine Damen und Herren, meine lieben Freundinnen und Freunde, wenn mir die Damen eine so große Freiheit erlauben wollen …“

Ein unermeßlicher Beifall von seiten der Damen unterbrach ihn; die Herren stimmten mit ein, und mitten in dem Lärm hörte man die Eigentümerin der schwarzen Augen ganz deutlich sagen, sie möchte diesen lieben Mr. Pickwick küssen, worauf Mr. Winkle galant fragte, ob ihm das nicht auch ein Stellvertreter überbringen könne, eine Frage, die von der jungen Dame mit einem „Kommen Sie mir nicht mehr unter die Augen“ beantwortet, zugleich aber von einem Blick begleitet wurde, der so deutlich, wie es nur immer ein Blick konnte, hinzusetzte: „Wenn Sie das zuwege ringen.“

„Meine teuren Freundinnen und Freunde“, nahm Mr. Pickwick seine Rede wieder auf, „ich bringe hiermit die Gesundheit der jungen Neuvermählten aus. Gott segne sie! (Beifall und Tränen.) In meinem jungen Freund Trundle sehe ich einen vorzüglichen männlichen Charakter, und seine Frau kenne ich als eine höchst liebenswürdige, reizende junge Dame, wohl geeignet, das Glück, das sie zwanzig Jahre lang in ihres Vaters Haus um sich her verbreitet, in einen andern Wirkungskreis zu übertragen. (Hier brach der fette Junge in ein lautes Geheul aus und wurde von Mr. Weller am Rockkragen hinausgeführt.) Ich wünschte“, fügte Mr. Pickwick hinzu, „ich wünschte, ich wäre jung genug, um der Gatte ihrer Schwester zu sein (Beifall), aber da dies nun nicht der Fall ist, so bin ich doch so glücklich, alt genug zu sein, um ihr Vater sein zu können, und daher über jeden Verdacht versteckter Absichten erhaben, wenn ich sage, daß ich sie beide bewundere, achte und liebe. (Beifall und Schluchzen.) Der Vater der Braut, unser guter, lieber Freund, ist ein wackerer Mann, und ich bin stolz darauf, ihn zu kennen. (Großer Jubel.) Er ist ein liebevoller, vortrefflicher, vornehm denkender, herzensguter, gastfreundlicher, freigebiger Mann.

Enthusiastischer Beifall von seiten der armen Verwandten, besonders bei den beiden letzten Attributen.) Daß seiner Tochter all das Glück zuteil werde, das er selbst ihr nur immer wünschen kann, und daß er aus der Betrachtung desselben alle Freuden des Herzens und alle Ruhe der Seele ziehen möge, die er so wohl verdient, ist, ich bin es überzeugt, unser aller Wunsch. So laßt uns denn auf die Gesundheit des jungen Paares trinken und ihm ein langes Leben und reichen Segen wünschen!“ Unter stürmischem Beifall schloß Mr. Pickwick seine Rede und auf ein Zeichen Mr. Wellers taten auch die Lungen des Personals ihre Pflicht und Schuldigkeit. Sodann ließ Mr. Wardle Mr. Pickwick und dieser die alte Dame, Mr. Snodgraß Mr. Wardle, Mr. Wardle Mr. Snodgraß, der eine von den armen Vettern Mr. Tupman und der andre Mr. Winkle leben, und alles war eitel Lust und Freude, bis das geheimnisvolle Verschwinden der beiden armen Vettern unter den Tisch die Gesellschaft daran erinnerte, daß es Zeit sei, vom Frühstück aufzustehen.

An der Mittagstafel traf man wieder zusammen, nachdem die männlichen Glieder der Gesellschaft auf Mr. Wardles Empfehlung fünfundzwanzig Meilen weit spazierengegangen waren, um die Wirkungen des beim Frühstück genossenen Weines aufzuheben, während die armen Vettern den ganzen Tag im Bett lagen, um dasselbe Resultat zu erzielen, aber wegen der Erfolglosigkeit ihrer Bestrebungen liegenbleiben mußten. Mr. Weller erhielt die Dienerschaft in einem Zustand ununterbrochener Heiterkeit, und der fette Junge teilte seine Zeit zwischen Essen und Schlafen ein. Das Diner war ebenso heiter und ebenso geräuschvoll wie das Frühstück, nur Tränen kamen nicht vor. Dann trug man das Dessert auf und brachte noch verschiedene Toaste aus. Nachdem noch Tee und Kaffee serviert worden, nahm der Ball seinen Anfang.

Der Festsaal von Manor Farm war ein freundliches, langes, dunkelgetäfeltes Gemach, mit einem so geräumigen Kamin, daß eins der neumodischen Patentkabrioletts bequem hätte hindurchfahren können. Am oberen Ende des Saales saßen in einer schattigen Laube von Stechpalmen und Immergrün die beiden besten Geiger und die einzige Harfenspielerin von Muggleton. Alle Nischen und Gesimse waren mit alten, massiven silbernen Leuchtern geschmückt, jeder mit vier Armen, der Boden war mit Teppichen belegt, die Kerzen brannten hell, das Feuer loderte und knisterte im Kamin und heitere Stimmen und frohes Gelächter hallten durch den Saal.

Wenn irgend etwas den interessanten Eindruck dieser anmutigen Szene noch mehr hervorheben konnte, so war es der denkwürdige Umstand, daß Mr. Pickwick zum ersten Male, soweit sich seine ältesten Freunde zurückerinnern konnten, ohne Gamaschen erschien.

„Du willst wohl tanzen?“ fragte Mr. Wardle.

„Natürlich“, erwiderte Mr. Pickwick. „Siehst du denn nicht, daß ich mich extra dazu angekleidet habe?“ Und Mr. Pickwick wies auf seine gesprenkelten seidenen Strümpfe und Lackschuhe.

Sie in seidenen Strümpfen!“ rief Mr. Tupman in scherzhaftem Ton.

„Und warum nicht, Sir, warum nicht?“ fragte Mr. Pickwick ein wenig hitzig.

„0h, es ist natürlich gar kein Grund vorhanden, warum Sie sie nicht tragen sollten“, antwortete Mr. Tupman.

„Das will ich meinen, Sir, das will ich meinen“, sagte Mr. Pickwick mit sehr entschiednem Tone.

Mr. Tupman hatte Lust zum Lachen verspürt, fand aber, daß die Sache ernster Natur war, und nahm daher auch eine dementsprechende Miene an und sagte, die Strümpfe hätten ein hübsches Muster.

„Das hoffe ich“, bemerkte Mr. Pickwick mit einem strengen Blick auf seinen Freund, „aber ich erwarte von Ihnen, Sir, daß Sie auch an den Strümpfen als solchen nichts auszusetzen haben?“

„Gewiß nicht, oh, gewiß nicht“, beteuerte Mr. Tupman, entfernte sich schleunigst, und Mr. Pickwicks Gesicht nahm seinen gewohnten wohlwollenden Ausdruck wieder an.

„Ich glaube, die Paare sind jetzt geordnet“, sagte Mr. Pickwick, am Arm die alte Dame, nachdem er in seinem Feuereifer bereits viermal vor der Zeit die Anfangspas gemacht hatte.

Wardle gab das Zeichen, die zwei Geigen und die Harfe erklangen, und Mr. Pickwick begann eine Kreuztour, als ein allgemeines Händeklatschen erscholl und von allen Seiten „Halt! Halt!“ gerufen wurde.

„Was gibt’s denn?“ rief Mr. Pickwick, nur durch das Verstummen der Geige und der Harfe zum Stehen gebracht, was keine Irdische Gewalt sonst hätte erreichen können und wenn das Haus in Flammen gestanden hätte.

„Wo ist Arabella Allen?“ rief ein Dutzend Stimmen.

„Und Winkle?“ setzte Mr. Tupman hinzu.

„Hier sind wir“, rief Mr. Winkle, trat mit seiner hübschen Gefährtin aus einer Nische hervor, und es würde schwergehalten haben zu bestimmen, wer von beiden ein röteres Gesicht hatte, er oder die junge Dame mit den schwarzen Augen.

„Was ist das nur wieder für ein merkwürdiges Benehmen Winkle“, sagte Mr. Pickwick ein wenig ärgerlich, „daß Sie nicht rechtzeitig auf Ihrem Platz sind?“

„Gar nicht merkwürdig“, versetzte Mr. Winkle. „Nun ja“, meinte Mr. Pickwick mit einem sehr ausdrucksvollen Lächeln, als sein Blick auf Arabella fiel. „Nun, ich gebe ja zu, daß es nicht besonders merkwürdig ist.“

Es war indes keine Zeit mehr, die Sache weiterzuerörtern, denn Geigen und Harfe ertönten schon wieder. Mr. Pickwick schwebte dahin von der Mitte des Saales bis zum äußersten Ende, an den Kamin und wieder zurück an die Tür – Poussette hin und Poussette her – lautes Stampfen auf den Boden – das nächste Paar – ab – die ganze Figur wiederholt – eine neue Tour – das nächste Paar vor und das nächste und übernächste. So etwas war noch nicht da. Und endlich, nachdem alle ausgetanzt und volle vierzehn Paare nach der alten Dame abgetreten und die Gattin des Geistlichen die Stelle der Großmutter eingenommen, hielt der Treffliche noch immer aus und lächelte seiner Tänzerin die ganze Zeit über mit einer Freundlichkeit zu, die jede Beschreibung übersteigt.

Lange bereits, ehe sich Mr. Pickwick müde getanzt, hatte sich das neuvermählte Paar zurückgezogen. Unten erwartete die Gesellschaft ein vortreffliches Souper, und es wurde noch lange und viel getafelt. Und als Mr. Pickwick am andern Morgen spät erwachte, erinnerte er sich verworren, ungefähr fünfundvierzig Personen aufs dringendste eingeladen zu haben, sobald sie nach London kämen, im „Georg und Geier“ mit ihm zu speisen, was ihm ein untrügliches Zeichen war, daß er in der. „vergangenen Nacht seinem physischen Ich mehr zugemutet hatte als die bloße Bewegung.

„Also heute abend wird sich die Familie in der Küche mit Gesellschaftsspielen unterhalten, mein Schatz?“ fragte Sam Emma.

„Ja, Mr. Weller“, erwiderte Emma. „Wir halten es immer so am Weihnachtsabend. Unser Herr besteht auf diesem Brauch.“

„Ihr Herr is überhaupt ’n Schenlmän, mein Schatz. Habe noch mein Lebtag keinen feineren kennengelernt.“

„Ja, das is er!“ mischte sich der fette Junge ins Gespräch. „Und die Ferkel, was er mästet!“

„Na, sind Sie endlich aufgewacht?“ fragte Sam.

Der fette Junge nickte bejahend.

„Ich will Ihnen mal was sagen, Sie junge Riesenschlange“, sagte Mr. Weller eindringlich. „Falls Sie nich ’n bißchen weniger schlafen und sich mehr Bewegung verschaffen, wenn Sie mal ins männliche Alter kommen, denn kann es Ihnen noch so gehen wie dem alten Herrn mit der Zopfperücke.“

„Und was ist dem passiert?“ fragte der fette Junge stotternd.

„Will ich Ihnen sagen“, erwiderte Mr. Weller, „war einer von den dicksten Schmerbäuchen, wo sich jemals umgedreht haben – ’ne Art Mastochse, der fünfundvierzig Jahre lang seine eignen Füße nicht sah.“

„Himmel!“ rief Emma.

„Ja, wahrhaftig, mein Schatz, und wenn Sie ihm das genaueste Modell von seinen Beinen auf ’n Tisch gelegt hätten, er hätte sie nich erkannt. Er ging immer in sein Bureau mit ’ner riesig feinen goldnen Uhrkette, wo anderthalb Fuß lang raushing, und einer goldnen Uhr dran in seiner Westentasche, die – ich kann es kaum sagen, wieviel, aber jedenfalls mordsmäßig viel wert war – ’n großes, schweres, rundes Ding, als Uhr so dick wie er als Mann, und mit n entsprechend breitem Gesicht. ,Solltest diese Uhr nich tragen‘, sagten die Freunde von dem Alten, ,man wird sie dir noch stehlen.‘ – ,Na‘, sagte er, ,den Dieb möchte ich sehen, die Uhr rausbrächte. Ich will verdammt sein, wenn ich sie selbst rausbringe. Wenn ich wissen will, wieviel Uhr es is, muß ich in ’n Bäckerladen sehen gehen.‘ Und dann lachte er so entsetzlich, daß er fast platzte, und ging wieder mit seinem gepuderten Kopf und Zopf aus und wälzte sich den ,Strand‘ hinunter, und die Kette hing weiter raus als je, und die große runde Uhr drückte beinah ’n Loch durch seine graue Kerseyhose. Es gab nich einen Taschendieb in ganz London, wo nich schon an der Kette gerissen hatte, aber se ging nich entzwei, und die Uhr ging nich raus, so daß sie’s bald satt bekamen, so ’n schweren alten Herrn die Straße entlangzuziehen, und dann ging er jedesmal nach Hause und lachte, daß sein Zopf, wie der Perpendikel an ’ner Holländeruhr, hin und her wackelte. Eines Tages nu wälzte sich der alte Herr wieder mal spazieren und sah ’nen Taschendieb, den er auf den ersten Blick erkannte, Arm in Arm mit ’nem kleinen Jungen, der ’n sehr dicken Kopf hatte, auf sich zukommen. Das gibt ’n Spaß, sagte sich der alte Herr, die werden’s wieder probieren, aber se werden sich schneiden. Und er fing schon an, aus vollem Halse zu lachen, als der kleine Junge plötzlich den Arm des Taschendiebes losließ und mit dem Kopf dem dicken Herrn in den Bauch rannte, daß dieser vor Schmerz fast die Besinnung verlor. ,Mörder!‘ rief der alte Herr und hörte grade noch, wie ihm der Taschendieb ins Ohr flüsterte: ,Allright, Sir.‘ Und wie er wieder auf den Beinen war, waren Uhr und Kette beim Teufel und, was noch schlimmer war, seine Verdauung war auch beim Teufel bis zum letzten Tag seines Lebens. – Sehen Sie sich also vor, junger Herr, und nehmen Se sich in acht, daß Se nich zu fett werden.“

Mit dieser Ermahnung schloß Mr. Weller seine Erzählung, die den fetten Jungen sehr zu ergreifen schien, und alle drei gingen in die große Küche, in der sich schon die Vorfahren Mr. Wardles, einem alten Brauche gemäß, seit unvordenklichen Zeiten um diese Stunde zu versammeln pflegten.

Soeben hatte der alte Wardle im Mittelpunkt der Decke eigenhändig einen großen Mistelzweig aufgehängt, was sofort ein allgemeines höchst ergötzliches Gedränge verursachte. Inmitten dieser Verwirrung nahm Mr. Pickwick mit einer Galanterie, die einem Abkömmling der Lady Tollimglower Ehre gemacht haben würde, die alte Dame bei der Hand, führte sie unter den mystischen Zweig und küßte sie mit ritterlichem Anstand. Die alte Dame unterwarf sich dieser Höflichkeit mit all der Würde, die einer so wichtigen und ernsten Feier angemessen war, aber die jüngeren Damen, die keine so abergläubige Verehrung für das Althergebrachte hegten oder der Meinung waren, der Wert eines Kusses werde bedeutend erhöht, wenn es einige Mühe koste, ihn zu erlangen, kreischten und sträubten sich und liefen in die Ecken, kurz, taten alles mögliche, nur die Küche verließen sie nicht. Erst als einige der weniger verwegenen Herren im Begriff waren, von ihrem Verlangen abzustehen, fanden sie es auf einmal zwecklos, noch ferner Widerstand zu leisten, und unterwarfen sich dem Kuß gutwillig. Mr. Winkle küßte die junge Dame mit den schwarzen Augen, Mr. Snodgraß Emilie, und Mr. Weller kaprizierte sich nicht darauf, daß es gerade unter dem Mistelzweig geschehen müsse, und küßte Emma und die übrigen Dienstmädchen, wo er sie gerade erhaschte. Was die armen Vettern betraf, so küßten sie alle ohne Unterschied, nicht einmal den unansehnlicheren Teil der weiblichen Gäste ausgenommen, die in ihrer außerordentlichen Verwirrung geradenwegs unter den Mistelzweig rannten, ohne es selbstverständlich zu wissen. Wardle stand mit dem Rücken gegen den Kamin und schaute vergnügt zu, während der fette Junge die Gelegenheit ergriff, eine besonders schöne Fleischpastete, die für jemand anders extra zurückgelegt worden war, zu seinem eignen Gebrauche zu verwenden. Das Kreischen hatte aufgehört, die Gesichter glühten, alle locken waren in Verwirrung, Mr. Pickwick stand unterm Mistelzweig und sah mit vergnügter Miene dem Treiben ringsum zu, als die junge Dame mit den schwarzen Augen nach einem kurzen Geflüster mit ihren Freundinnen ganz plötzlich auf ihn zusprang, ihren Arm um seinen Nacken legte und ihn zärtlich auf die linke Wange küßte. Und noch ehe er recht wußte, wie ihm geschah, war er umringt und von allen geküßt.

Es war eine Lust, Mr. Pickwick inmitten der Gruppe zu sehen, bald dahin, bald dorthin gezerrt und zuerst auf das Kinn und die Nase und dann auf die Brille geküßt – eine Lust, das fröhliche Gelächter zu hören, das ihn umjubelte Aber wie entzückend war es erst, ihn gleich darauf mit einem seidenen Taschentuch um die Augen gegen die Wand rennen und in die Winkel tappen und mit Herzenslust auf alle Geheimnisse des Blindekuhspieles eingehen zu sehen, bis er endlich einen von den armen Vettern erwischte und dann selbst der blinden Kuh aus dem Wege gehen mußte, was er mit einer Behendigkeit und Gewandtheit tat, die allen Zuschauern Ausrufe der höchsten Bewunderung entlockte. Nachdem alle das Blindekuhspiel satt hatten, wurde eine große Drachenschnappe arrangiert und Rosinen aus brennendem Rum herausgefischt, und schließlich setzte man sich neben dem hoch auflodernden Feuer zu einem tüchtigen Nachtessen und einer mächtigen Schüssel, die etwas kleiner war als ein gewöhnlicher Waschkessel und in der die heißen Äpfel einladend und lustig zischten und tanzten, daß es eine Lust war.

„Ja, das ist“, sagte Mr. Pickwick und blickte rundum, „das ist wirkliche, köstliche Weihnachtsfreude.“

„Unser alter Brauch“, erwiderte Mr. Wardle. „Am Weihnachtsabend sitzen wir alle, samt und sonders, Herr und Diener, beisammen und warten, bis die Glocke zwölf Uhr schlägt und die Weihnacht einläutet, und vertreiben uns die Zeit mit Pfänderspielen und alten Geschichten. – Trundle, mein Junge, schür doch mal das Feuer an. Hm?“

Die hellen Funken flogen zu Tausenden auf, und die dunkelrote Flamme ergoß einen glänzenden Schein bis in die entfernteste Ecke der Küche und bestrahlte jedes Gesicht mit seinem heiteren Glanz.

Dann ging der Humpen herum, und Mr. Wardle stimmte unter großem Beifall ein fröhliches Lied an, und besonders die armen Vettern waren vor Entzücken ganz außer sich. Das Feuer wurde von neuem geschürt, und der Humpen machte wieder die Runde.

„Wie es schneit“, sagte einer von den Knechten leise.

„Schneien?“ fragte Wardle.

„Eine rauhe, kalte Nacht, Sir“, erwiderte der Mann, „und ein Wind geht, daß es den Schnee in dicken weißen Wolken über die Felder jagt.“ „Was sagt Jem?“ fragte die alte Dame. „Es ist doch kein Unglück passiert?“

Nein, nein, Mutter“, beruhigte sie Wardle. „Er spricht nur von einem Schneegestöber und von einem kalten, schneidenden Wind. Man hört’s aber auch am Sausen im Kamin.“

„Ach“, sagte die alte Dame, „vor fünf Jahren, vor dem Tod deines armen Vaters, ging auch ein solcher Wind. Es war auch Weihnachtsabend, und ich erinnere mich, daß er uns in derselben Nacht die Geschichte von den Gespenstern zählte, die den alten Gabriel Grub geholt haben.“ „Die Geschichte von was?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ach nichts, nichts“, erwiderte Wardle. „Von einem alten Totengräber, von dem die guten Leute glauben, die Gespenster hätten ihn geholt.“ „Glauben?“ rief die alte Dame aus. „Ist jemand so verstockt, um es nicht zu glauben? Glauben! Hast du nicht schon als Kind gehört, daß er von den Gespenstern geholt wurde, und weißt du vielleicht nicht, daß es wirklich so ist?“

„Schon gut, Mutter, jaja. Also es war so, wenn du darauf bestehst“, sagte Wardle lachend. „Er wurde von den Gespenstern geholt, Pickwick, und damit gut.“

„Nein, nein“, rief Mr. Pickwick, „nicht ,damit gut‘. Ich muß doch wissen, wie und warum und so weiter.“

Wardle lächelte, als er sah, daß alle die Ohren spitzten, ließ jedem einschenken, trank Mr. Pickwick zu und begann die Geschichte von den Kobolden, die einen Totengräber entführten.

In einer alten Klosterstadt in diesem Teile unsrer Grafschaft wirkte vor langer, langer Zeit – vor so langer Zeit, daß die Geschichte wahr sein muß, weil unsre Urahnen schon unbedingt daran glaubten – ein gewisser Gabriel Grub als Totengräber auf dem Kirchhof. Daraus, daß ein Mann ein Totengräber und beständig von Sinnbildern der Sterblichkeit umgeben ist, folgt noch keineswegs, daß er ein mürrischer und melancholischer Mann sein muß. Die Leichenbesorger zum Beispiel sind die fröhlichsten Leute von der Welt, und ich hatte einmal die Ehre, mit einem sogenannten „Stummen“, Bern Gehilfen eines Begräbnisunternehmers, befreundet zu sein, der in seinem Privatleben und außer seinem Berufe ein so spaßhafter und jovialer Junge war, wie nur je einer ein lustiges Liedchen sang oder ein gutes, bis an den Rand gefülltes Glas Grog leerte, ohne den Atem zu verlieren. Allein Gabriel Grub war ein verdrießlicher, mürrischer, grämlicher Geselle – ein trübsinniger, menschenscheuer Kerl, der mit niemand als mit sich selbst und einer alten korbumflochtenen Flasche, die genau in seine große, tiefe Westentasche paßte, Umgang pflog und jedes fröhliche Gesicht mit einem solch bösartigen und verdrießlichen Blick ansah, daß man ihm nicht begegnen konnte, ohne sich verstimmt zu fühlen.

An einem Weihnachtsabend, als es eben zu dämmern begann, schulterte Gabriel seinen Spaten, zündete seine Laterne an und begab sich nach dem alten Kirchhof, denn er mußte bis zum nächsten Morgen ein Grab geschaufelt haben. Als er die gewohnte Straße entlangging, sah er durch die alten Fenster den Glanz des Feuers lustig schimmern und hörte lauten Jubel und fröhliches Lachen. Er gewahrte die geschäftigen Vorbereitungen für den folgenden Tag und roch die vielen herrlichen Düfte, die ihm aus den Küchenfenstern entgegenwogten. All das war seinem Herzen Galle und Wermut, und wenn hie und da eine Kinderschar aus den Häusern heraushüpfte, über die Straße sprang und, ehe sie noch an der gegenüberstehenden Tür anklopfen konnte, von einem Halbdutzend kleiner Lockenköpfe empfangen und zum gemeinsamen Spiel und Fest eingeladen wurde, lächelte er grimmig, faßte seinen Spaten fester und dachte an Masern, Scharlach, Halsentzündung, Keuchhusten und andre Trostquellen.

In solch glücklicher Gemütsverfassung schritt Gabriel seines Weges, die freundlichen Grüße der Nachbarn, die dann und wann an ihm vorüberkamen, mit einem kurzen mürrischen Knurren erwidernd, bis er in das dunkle Gäßchen einbog, das auf den Kirchhof führte. Er hatte sich bereits danach gesehnt, denn es war ein düsteres, trauriges Stück Weg, das die Leute aus der Stadt nur am hellen Mittag besuchten, wenn die Sonne schien. Er war daher nicht wenig entrüstet, als er mitten in diesem Heiligtum, das seit den Tagen des alten Klosters und der geschorenen Mönche das Sarggäßchen genannt wurde, eine Kinderstimme ein lustiges Weihnachtslied singen hörte. Als er weiterging und die Stimme näher kam, bemerkte er, daß sie einem kleinen Jungen angehörte, der mit schnellen Schritten das Gäßchen herabeilte, um eine von den kleinen Gesellschaften in der alten Straße zu treffen, und teils zur Unterhaltung, teils zur Vorbereitung auf die bevorstehende Feier aus vollem Halse sang. Gabriel wartete, bis der Junge vorbeikam, drückte ihn dann in eine Ecke und schlug ihm fünf- bis sechsmal die Laterne um die Ohren, nur um ihm das Modulieren zu lehren, und als der Knabe die Hand an den Kopf hielt und eine ganz andre Weise anstimmte, lachte Gabriel herzlich, trat in den Kirchhof und schloß das Tor hinter sich.

Er legte seinen Rock ab, stellte seine Laterne auf den Boden, stieg in das angefangne Grab und arbeitete wohl eine Stunde lang mit regem Eifer. Aber die Erde war hartgefroren, und es ging nicht so leicht, die Schollen aufzubrechen und hinauszuschaufeln, und wenn auch der Mond am Himmel stand, so war er kaum erst sichelförmig und warf nur einen matten Schein auf das Grab, das überdies noch im Schatten der Kirche lag. Zu jeder andern Zeit hätten diese Hindernisse Gabriel Grub sehr verdrießlich und mürrisch gemacht, aber es freute ihn so sehr, dem Jungen das Singen vertrieben zu haben, daß er sich über den langsamen Fortgang der Arbeit wenig grämte, und nachdem er sie für diesen Abend vollendet hatte, sah er mit grimmiger Lust in das Grab hinunter und brummte, sein Handwerkszeug zusammenraffend:

Billige Wohnung für jung und alt,
Schwarze Erde naß und kalt;
Ein Stein zu Häupten, ein Stein zu Fuß,
Und für die Würmer ein Hochgenuß.

„Ho! ho!“ lachte er, setzte sich auf den niedrigen Grabstein, auf dem er gewöhnlich ausruhte, und zog seine Weidenflasche hervor. „Ein Sarg um Weihnachten – auch ein Weihnachtsgeschenk. Ho! ho! ho!“

„Ho! ho! ho!“ wiederholte eine Stimme dicht neben ihm. Gabriel hielt erschrocken in seinem Geschäft, die Flasche an die Lippen zu setzen, inne und sah sich rings um. Der Grund des ältesten Grabes konnte nicht stiller und ruhiger sein als der Kirchhof im blassen Mondlicht. Der Rauhreif funkelte auf den Grabsteinen und blitzte gleich Diamanten auf dem steinernen Bildwerk der alten Kirche. Der Schnee lag hart und krustig wie eine weiße, glatte Decke über den Grabhügeln, als hätten die Leichen ihre Sterbetücher ausgebreitet Nicht das geringste Geräusch unterbrach die tiefe, feierliche Stille. Der Schall selbst schien erfroren zu sein, so kalt und ruhig war alles.

„Es war der Widerhall“, sagte Gabriel Grub und setzte die Flasche wieder an seine Lippen.

„Er war es nicht„, antwortete eine tiefe Stimme.

Gabriel sprang auf und blieb vor Bestürzung und Schrecken wie angewurzelt stehen, denn seine Augen ruhten auf einer Gestalt, deren Anblick ihm das Blut erstarren machte.

Auf einem aufrecht stehenden Grabstein dicht neben ihm saß ein seltsames, überirdisches Wesen, und Gabriel fühlte sogleich, daß es nicht von dieser Welt sein konnte. Die langen phantastischen Beine, die den Boden leicht hätten erreichen können, waren hinaufgezogen und kreuzten sich auf eine seltsame Weise; die nervigen Arme waren nackt, und die Hände ruhten auf den Knien. Auf dem kurzen runden Leib trug die Gestalt ein eng anschließendes Gewand, mit kleinen Litzen verziert, und auf dem Rücken hing ihr ein kurzer Mantel. Der Kragen war in seltsame Spitzen ausgeschnitten, die dem Gespenst als Krause oder Halstuch dienten, und die Schuhe liefen an den Zehen in lange Hörner aus. Auf dem Kopf trug es einen breitkrempigen Zuckerhut mit einer einzigen Feder. Das Gespenst, ganz mit Reif überzogen, sah aus, als säße es schon ein paar Jahrhunderte lang ganz behaglich auf dem Grabstein. Es saß vollkommen still, bleckte wie zum Hohn die Zunge heraus und sah Gabriel Grub mit einem Grinsen an, wie es eben nur ein Gespenst zuwege zu bringen vermag.

„Es war nicht der Widerhall“, wiederholte das Phantom.

Gabriel Grub war wie gelähmt und konnte kein Wort hervorbringen.

„Was hast du hier am Heiligen Abend zu schaffen?“ fragte das Gespenst mit strengem Ton.

„Ich mußte ein Grab schaufeln, Sir“, stammelte Gabriel.

„Welcher Sterbliche wandelt in einer Nacht wie diese auf Gräbern und Kirchhöfen?“

„Gabriel Grub! Gabriel Grub!“ schrie ein Chor wilder Stimmen, daß der Kirchhof widerhallte. Gabriel sah sich erschrocken rings um, konnte aber nichts entdecken.

„Was hast du in der Flasche da?“ fragte das Gespenst.

„Wacholder, Sir“, erwiderte der Totengräber und zitterte noch heftiger, denn er hatte den Schnaps von Schmugglern gekauft und dachte, das Gespenst könne vielleicht Beziehungen zum Zollamt haben.

„Wer wird auch in einer Nacht, wie diese ist, allein und auf dem Kirchhof Wacholder trinken?“ fragte das Gespenst.

„Gabriel Grub! Gabriel Grub!“ riefen die wilden Stimmen wieder. Das Gespenst warf einen boshaften Blick auf den erschrockenen Totengräber und fragte weiter mit erhobener Stimme:

„Und wer ist also unser gesetzmäßiges und rechtmäßiges Eigentum?“

Auf diese Frage antwortete der unsichtbare Chor mit einem Gesang, wie von einer großen Menschenmenge bei vollem Spiel der alten Kirchenorgel – eine Weise, die wie auf Windesflügeln zu den Ohren des Totengräbers getragen wurde und wie ein leichtes vorüberschwebendes Lüftchen hinstarb. Aber der Refrain war immer der gleiche; „Gabriel Grub! Gabriel Grub!“

Noch unheimlicher als zuvor grinste das Gespenst und sagte:

„Nun, Gabriel, was meinst du dazu?“

Der Totengräber rang nach Atem.

„Was meinst du hierzu, Gabriel?“ wiederholte das Phantom, zog seine Beine an beiden Seiten des Grabsteines hinauf und betrachtete die Hörner seiner Schuhe mit einem Wohlgefallen, als hätte es das modernste Paar Wellington-Stiefel von der ganzen Bondstreet an.

„’s ist – ’s ist – ganz kurios, Sir“, stammelte der Totengräber, halbtot vor Schrecken. „Ganz kurios und sehr hübsch; aber ich denke, ich konnte wieder ans Geschäft gehen und meine Arbeit vollenden, wenn Sie erlauben.“

„Arbeit?“ sagte das Gespenst. „Was für eine Arbeit?“

„Das Grab, Sir, das Grab“, stotterte der Totengräber.

„So, so, das Grab. Wer wird auch Gräber schaufeln und eine Freude daran finden, wenn alle übrigen Menschenkinder fröhlich sind!“

Und wieder riefen die geheimnisvollen Stimmen: „Gabriel Grub! Gabriel Grub!“

„Ich fürchte, Gabriel, meine Freunde begehren dein“, sagte das Gespenst und bleckte die Zunge noch weiter heraus, und es war eine fürchterliche Zunge. „Ich fürchte, Gabriel, meine Freunde begehren dein.“

„Mit Verlaub, Sir“, erwiderte der Totengräber schreckensbleich, „das ist nicht gut möglich, Sir; sie kennen mich nicht, Sir, und ich glaube nicht, daß mich die Herren je gesehen haben, Sir.“

„Da irrst du dich aber gründlich“, versetzte der Kobold. „Man kennt den Mann mit dem grämlichen, finsteren Gesicht gar wohl, der diesen Abend die Straße heraufkam und seine boshaften Blicke auf die Kinder warf und dabei sein Grabscheit fester an sich drückte. Man kennt doch den Mann, der in der Mißgunst seines Herzens den jungen schlug, bloß weil dieser heiter sein konnte und er nicht. Man kennt ihn, man kennt ihn.“ Und das Gespenst schlug ein lautes, gellendes Gelächter an, das das Echo zwanzigfältig zurückgab, zog seine Beine hinauf, stellte sich auf dem schmalen Rand des Grabsteines auf den Kopf oder vielmehr auf die Spitze seines Zuckerhutes und schoß mit außerordentlicher Gewandtheit einen Purzelbaum, der es gerade vor die Füße des Totengräbers brachte, wo es sich dann in der Stellung niederließ, die gewöhnlich die Schneider auf ihrem Arbeitstisch einnehmen.

„Es – es – tut mir wirklich leid, daß ich Sie verlassen muß, Sir“, begann der Totengräber und machte eine Bewegung, sich zu entfernen.

„Uns verlassen?“ rief das Gespenst. „Gabriel Grub will uns verlassen! Ho! ho! ho!“

In diesem Augenblick flammten die Kirchenfenster auf, als ob das ganze Gebäude in Brand stünde, dann erloschen die Lichter, die Orgel ertönte, und ganze Trupps von Kobolden, dem ersten wie aus dem Gesicht geschnitten, wogten in den Kirchhof herein und begannen über die Grabsteine Bock zu springen, immer einer hinter dem andern, ohne Atem zu schöpfen. Das erste Gespenst war ein ausgezeichneter Springer und mit ihm konnte sich keins von den andern messen; sogar in seiner außerordentlichen Angst bemerkte der Totengräber unwillkürlich, daß es im Gegensatz zu seinen Freunden, die sich damit begnügten, über gewöhnliche Grabsteine wegzusetzen, Familiengewölbe samt eisernen Gittern und allem Dazugehörigen mit Leichtigkeit übersprang, als wären es Meilensteine.

Endlich erreichte das Spiel eine betäubende Geschwindigkeit; die Orgel spielte schneller und schneller, und die Gespenster sprangen höher und höher, ballten sich wie Kugeln zusammen, rollten über den Boden hin und schnellten gleich Federbällen über die Grabsteine weg. Dem Totengräber wirbelte der Kopf und seine Beine wankten unter ihm, da schoß plötzlich der Gespensterkönig auf ihn zu, packte ihn am Kragen und fuhr mit ihm in die Erde hinab.

Als Gabriel Grub wieder Atem schöpfen konnte, sah er sich in einer Art großer Höhle, auf allen Seiten von einer Menge häßlicher, grimmig aussehender Kobolde umringt. In der Mitte saß auf einem erhöhten Sitz sein Freund vom Kirchhof, und neben ihm stand er selbst, der Fähigkeit, sich zu bewegen, gänzlich beraubt.

„Eine kalte Nacht“, sagte der König der Gespenster. „Eine sehr kalte Nacht. Holt uns ein Gläschen Warmen.“

Sofort verschwanden ein halbes Dutzend dienstbare Geister, auf deren Gesichtern ein beständiges Lächeln lag, was Gabriel vermuten ließ, daß es Höflinge seien, und kehrten sogleich mit einem Becher flüssigen Feuers zurück, den sie dem König kredenzten.

„Ah“, sagte das Gespenst, dessen Wangen und Kehle ganz durchsichtig wurden, als es die Flamme in sich sog, „das wärmt. Reicht Mr. Grub auch einen Becher.“

Vergebens wendete der unglückliche Totengräber ein, es sei ganz gegen seine Gewohnheit, bei Nacht etwas Warmes zu sich zu nehmen. Eins von den Gespenstern hielt ihn fest und ein anderes goß ihm die lodernde Flüssigkeit in die Kehle. Die ganze Gesellschaft brach in ein schallendes Gelächter aus, als er hustete und keuchte und sich die Tränen abwischte, die der brennende Trank seinen Augen entlockt hatte.

„Und nun“, sagte der König, bohrte das spitzige Ende seines Zuckerhutes auf höchst phantastische Art dem Totengräber ins Auge und verursachte ihm dadurch die fürchterlichsten Schmerzen, „und nun zeigt dem Mann der mürrischen Sinnesart einige von den Gemälden aus unsrer großen Galerie!“

Eine dichte Wolke, die den Hintergrund der Höhle in Dunkel gehüllt hatte, wich allmählich zurück, und in weiter Ferne wurde ein ärmliches, aber reinliches Zimmer sichtbar. Eine Schar kleiner Kinder war um ein helles Feuer versammelt, zerrte die Mutter am Kleide und tanzte um ihren Stuhl herum. Von Zeit zu Zeit erhob sich die Frau und zog den Fenstervorhang zurück und schaute hinaus, als ob sie jemand erwarte. Auf dem Tisch stand ein frugales Abendessen bereit, und ein Armstuhl war an den Kamin gerückt. Dann hörte man ein Pochen an der Tür, die Mutter öffnete, und die Kinder umringten sie und klatschten vor Freude in die Hände, als ihr Vater eintrat. Er war naß und müde und schüttelte den Schnee von seinen Kleidern, und als er sich vor dem Feuer zum Mahle niedersetzte, kletterten die Kinder auf seine Knie, und die Mutter setzte sich neben ihn, und alle waren voll Lust und Freude.

Aber fast unmerklich änderte sich die Szene. Das Zimmer verwandelte sich in ein kleines Schlafgemach, in dem das hübscheste und jüngste Kind im Sterben lag. Die Rosen seiner Wangen waren verblichen und der Glanz seines Auges erstorben. Und sogar der Totengräber betrachtete es mit einer vorher nie gefühlten Teilnahme, als es verschied. Die jungen Brüder und Schwestern versammelten sich um das Bettchen und ergriffen die abgezehrte kleine Hand. Sie war so kalt und schwer, daß sie erschreckt zurückfuhren und mit Schauder in das Gesicht des Kindes sahen, das so ruhig und still dalag und friedlich zu schlummern schien. Sie fühlten daß es tot war und jetzt als Engel aus einem Himmel voll Glanz und Seligkeit auf sie herniederblickte.

Wieder zog sich die leichte Wolke über das Gemälde, und abermals änderte sich die Szene. Vater und Mutter waren jetzt alt und hilflos, und die Zahl der Ihrigen hatte sich um mehr als die Hälfte vermindert. Aber Zufriedenheit und Heiterkeit lagen auf jedem Gesicht und strahlten aus jedem Auge, als sie sich um das Feuer scharten und einander alte Geschichten aus längst vergangenen Tagen erzählten. Langsam und still sank der Vater ins Grab, und bald darauf folgte ihm die Gefährtin seiner Sorgen und Mühen an die Stätte der Ruhe und des Friedens. Die Überlebenden knieten an ihrem Grabe und benetzten den Rasen, der es bedeckte, mit ihren Tränen, standen dann auf und entfernten sich traurig und niedergeschlagen, aber nicht mit bitterem Jammer oder verzweiflungsvollem Wehklagen, denn sie wußten, daß sie sich dereinst wiederfinden würden. Sie gingen an ihr Tagwerk und erlangten wieder die frühere Zufriedenheit und Heiterkeit.

Dann senkte sich eine Wolke auf das Gemälde und entzog es den Blicken des Totengräbers.

„Was sagst du jetzt?“ fragte das Gespenst und wandte sein breites Gesicht Gabriel Grub zu.

Gabriel murmelte so etwas wie: Es sei recht hübsch, und schlug beschämt die Augen vor den feurigen Blicken des Gespenstes nieder.

„Du bist mir ein jämmerlicher Mensch!“ sagte der Kobold im Tone grenzenloser Verachtung. „Du!“ Er schien noch mehr hinzufügen zu wollen, aber der Unwille erstickte seine Stimme. Er hob eins seiner gelenkigen Beine, schwenkte es über dem Kopf hin und her, als ob er damit zielen wolle, und versetzte dann Gabriel Grub einen derben Fußtritt, worauf sogleich die ganze Gespensterschar den unglücklichen Totengräber umringte und schonungslos mit den Füßen mißhandelte, ganz wie die Höflinge auf Erden, die auch treten, wen ihr Herr tritt, und in den Himmel heben, wen ihr Herr in den Himmel hebt.

„Zeigt ihm noch einige Gemälde“, befahl der König der Kobolde.

Die Wolke verschwand, und eine reiche, schöne Landschaft wurde sichtbar. Noch heutzutage sieht man eine solche eine halbe Meile von der alten Klosterstadt entfernt. Die Sonne leuchtete am reinen blauen Himmelszelt, das Wasser funkelte unter ihren Strahlen, und die Bäume sahen grüner und die Blumen heiterer unter ihrem belebenden Einfluß aus. Die Wellen schlugen plätschernd ans Ufer, die Bäume rauschten im leichten Winde, der durch ihr Laubwerk säuselte, die Vögel sangen auf den Zweigen, und die Lerche trillerte hoch in den Lüften ihr Morgenlied. Es war Frühe, ein schöner, duftender Sommermorgen; das kleinste Blatt, der dünnste Grashalm atmete Leben, die Ameise eilte an ihr Tagewerk; der Schmetterling flatterte spielend in den wärmenden Strahlen des Lichtes; Myriaden von Insekten entfalteten ihre durchsichtigen Flügel und freuten sich ihres kurzen glücklichen Daseins, und der Mensch weidete sein Auge an der blühenden Schöpfung, und alles war voll Glanz und Herrlichkeit.

„Du bist mir ein erbärmlicher Mensch!“ sagte der König der Gespenster noch verächtlicher als zuvor. Und wieder zielte er mit seinem Fuß, und wieder ließ er ihn auf die Schultern des Totengräbers niederfallen, und wieder ahmten die untergebenen Kobolde das Beispiel ihres Oberhauptes nach. Noch viele Male verschwand und erschien die Wolke, und manche Lehre erhielt Gabriel Grub, der mit einer Teilnahme zusah, die nichts zu vermindern imstande war, so sehr ihn auch seine Schultern von den Fußtritten der Kobolde schmerzten. Er sah, daß Menschen, die durch saure Arbeit ihr spärliches Brot im Schweiße ihres Angesichts erwarben, heiter und glücklich sein konnten und daß für die Unwissendsten und Ärmsten das freundliche Gesicht der Natur ein nie versiegender Quell der Freude war. Er sah andre, die in Luxus und Reichtum erzogen worden, unter Entbehrungen heiter sein und über Leiden erhaben, die manchen aus festerem Holz niedergebeugt haben würden, denn sie trugen die Bedingungen ihres Glücks, ihrer Zufriedenheit und Ruhe in der eignen Brust. Er sah, daß Frauen, die zartesten und gebrechlichsten von allen Geschöpfen Gottes, oft mehr Kummer, Widerwärtigkeiten und Mißgeschick überwandten als stärkere, weil ihr Herz von Liebe und Hingebung überfloß. Und er erkannte, daß Menschen, wie er, die ob des Frohsinns anderer neidisch grollten, das schlechteste Unkraut auf der schönen Erde waren. Und wie er das Gute in der Welt mit dem Bösen verglich, kam er zu dem Schluß, daß es nach allem eine recht erträgliche und achtbare Welt sei. Und kaum hatte er sich dieses Urteil gebildet, als sich die Wolke, die das letzte Gemälde verhüllt hatte, auf seine Sinne niedersenkte. Ein Gespenst nach dem andern zerfloß vor seinen Augen, und als das letzte verschwunden war, sank er in tiefen Schlaf.

Der Tag war angebrochen, als Gabriel Grub erwachte und einer ganzen Länge nach auf einer Grabplatte im Kirchhof lag, und neben ihm die leere Weidenflasche und Rock, Spaten und Laterne, alles vom nächtlichen Reif überzogen. Der Stein, auf dem er das Gespenst hatte sitzen sehen, stand bolzengerade vor ihm, und nicht weit von ihm war das Grab, das er am Abend zuvor geschaufelt. Anfangs zweifelte er an der Wirklichkeit dessen, was er erlebt hatte; aber der stechende Schmerz in seinen Schultern, wenn er aufzustehen versuchte, brachte ihn zur Überzeugung, daß die Fußtritte der Gespenster keine Phantasiebilder gewesen. Er wurde zwar wieder wankend in seinem Glauben, als er keine Fußtapfen im Schnee fand, in dem die Kobolde mit den Grabsteinen Bocksprung gespielt hatten, aber schnell erinnerte er sich, daß Geister ja keine sichtbaren Eindrücke hinterlassen konnten. So erhob er sich denn, so gut es ihm seine Rückenschmerzen erlaubten, schüttelte den Reif von seinem Rock, zog sich an und wendete seine Schritte der Stadt zu.

Aber er war jetzt ein anderer Mensch und konnte den Gedanken nicht ertragen, an einen Ort zurückzukehren, wo man seiner Reue gespottet und seiner Bekehrung mißtraue hätte. Er schwankte einen Augenblick, dann aber schlug er den nächsten besten Weg ein, um sein Brot anderwärts zu suchen.

Laterne, Spaten und Weidenflasche wurden am nämlichen Tag auf dem Kirchhof gefunden. Anfangs stellte man allerlei Vermutungen über das Schicksal des Totengräbers an, aber bald setzte sich der Glaube fest, er sei von Kobolden entführt worden. Und es fehlte nicht an glaubwürdigen Zeugen, die ihn auf dem Rücken eines kastanienbraunen einäugigen Rosses mit dem Hinterteil eines Löwen und dem Schwanz eines Bären deutlich hatten durch die Luft reiten sehen. So wurde das Gerücht zur festen Annahme, und der neue Totengräber pflegte den Neugierigen gegen ein geringes Trinkgeld ein ziemlich großes Stück von dem Wetterhahn der Kirche zu zeigen, das, von dem besagten Pferde auf seiner Luftfahrt zufälligerweise abgestoßen, ein oder zwei Jahre nachher auf dem Kirchhof gefunden worden war.

Leider wurde der Glaube an diese Geschichte durch die unerwartete Erscheinung Gabriel Grubs selbst erschüttert. Er war wohl zehn Jahre älter, ein von der Gicht geplagter und heimgesuchter, aber zufriedener Greis und erzählte seine Geschichte dem Pfarrer und auch dem Bürgermeister, und im Laufe der Zeit wurde sie zur historischen Tatsache erhoben, als die sie noch bis auf den heutigen Tag gilt. Diejenigen, die zuerst an die Wetterhahngeschichte geglaubt und sich so getäuscht sahen, waren nicht so leicht wieder zu bewegen, ihren Glauben ein zweites Mal aufs Spiel zu setzen, und so taten sie denn, so weise sie konnten, zuckten die Achseln, schüttelten die Köpfe und murmelten so etwas, wie wenn Gabriel Grub den Wacholder ganz ausgetrunken hätte und dann auf der Grabplatte eingeschlafen wäre, und erklärten das, was er in der Gespensterhöhle gesehen haben wollte, dadurch, daß sie sagten, er habe inzwischen die Welt gesehen und sei durch Erfahrung klüger geworden. Aber diese Ansicht, die zu keiner Zeit viele Anhänger zählte, verlor sich allmählich, und die Sache mag sich nun so oder so abgespielt haben, da Gabriel Grub bis ans Ende seiner Tage von der Gicht heimgesucht wurde, so enthält diese Geschichte wenigstens eine Moral, und wenn sie auch nichts Besseres lehrt, so lehrt sie doch so viel: Wenn ein Mann um Weihnachten trübsinnig ist und allein trinkt, so wird dadurch sein Befinden nicht im geringsten verbessert, das Getränk mag so gut sein, wie es will, oder sogar noch um vieles besser und feuriger als das, das Gabriel Grub in der Gespensterhöhle trank oder getrunken zu haben glaubte.

Fünfzehntes Kapitel


Fünfzehntes Kapitel

Eine kurze Beschreibung der Gesellschaft im „Pfau“ und die Erzählung des Reisenden.

Wie köstlich ist es doch, von den Wirren der Politik wieder zur friedlichen Ruhe des Privatlebens zurückzukehren. Wenn auch nicht erklärter Anhänger der einen oder andern Partei, war Mr. Pickwick doch von der Begeisterung Mr. Potts so weit angesteckt, daß er seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit den Wahlvorgängen widmete. Auch Mr. Winkle ging inzwischen nicht müßig und verwandte seine ganze Zeit, auf angenehme Spaziergänge und Ausflüge in die Umgegend mit Mrs. Pott, die sich solche Gelegenheiten, sich von der langweiligen Eintönigkeit zu erholen, nie entgehen ließ. Während so die beiden Herren im Hause Mr. Potts sich vollkommen eingewöhnt hatten, waren die Herren Tupman und Snodgraß fast ganz hinsichtlich der Unterhaltung auf ihre eignen Hilfsquellen angewiesen. Ohne besonderes Interesse für öffentliche Angelegenheiten vertrieben sie sich ihre Zeit mit Ergötzlichkeiten, wie sie der „Pfau“ darbot und die auf eine Art italienisches Billard im ersten Stockwerk und eine Kegelbahn im Hinterhause beschränkt waren.

Abends hingegen war das Gastzimmer der Versammlungsort eines geselligen Kreises, dessen Leben und Treiben die beiden Freunde ungemein anzog. Wohl jedermann weiß, was man sich gewöhnlich unter einem Gastzimmer vorzustellen hat. Das im „Pfauen“ zeichnete sich nicht wesentlich vor andern aus; es war nämlich ein großes, nackt aussehendes Zimmer, dessen Ameublement ohne Zweifel besser gewesen, als es noch neu war, mit einem großen Tisch in der Mitte und einer Menge Taburetts in den Ecken, einer bedeutenden Menge verschieden geformter Stühle und einem alten türkischen Teppich, dessen Dimensionen zu der Größe des Zimmers ungefähr im selben Verhältnis standen wie etwa ein Damentaschentuch zum Fußboden eines Schilderhäuschens. Die Wände waren mit ein paar großen Landkarten verziert, und in einer Ecke hingen an einer langen Reihe großer hölzerner Nägel verschiedne regengewohnte grobe Überröcke mit doppelten Kragen. Auf dem Kamingesimse stand ein hölzernes Tintenzeug mit einem Federstümpfchen und einer halben Oblate, ein Reisehandbuch und ein Wegweiser, eine Geschichte der Grafschaft ohne Einband und eine präparierte Forelle in einem gläsernen Sarge. Die Atmosphäre war mit Tabakrauch geschwängert, der dem ganzen Zimmer und besonders den staubigen roten Fenstervorhängen seine bräunliche Färbung mitgeteilt hatte. Auf dem Schenktische lagen in malerischer Unordnung eine Menge verschiedenartiger Gerätschaften, von denen einige sehr schmutzige Fischsaucefläschchen, ein paar Reitgerten, zwei bis drei Fuhrmannspeitschen und ebenso viele Reisemäntel, ein Besteckbehälter und ein Senftopf am meisten in die Augen fielen.

Hier saßen am Abend nach Schluß der Wahl Mr. Tupman und Mr. Snodgraß, rauchend und trinkend, nebst einigen andern Gästen.

„Prosit, Gentlemen“, sagte ein stattlicher, gesund aussehender Mann in den Vierzigern mit nur einem, aber sehr glänzendem schwarzen Auge, das nur so von Schelmerei und guter Laune blitzte. „Auf unser eignes Wohl, Gentlemen. Dies ist immer mein Toast, den ich der Gesellschaft vorschlage; auf Marys Wohl trinke ich für mich allein. He, Mary!“

„Aber lassen Sie mich, Sie Schlimmer“, sagte das Schenkmädchen, offenbar durch das Kompliment nicht besonders aufgebracht.

„Lauf nur nicht gleich davon, Mary“, sagte der Schwarzäugige.

„Lassen Sie mich in Frieden, Sie impertinenter Mensch, Sie“, entgegnete die junge Dame.

„Denke nicht daran“, rief der Einäugige dem Mädchen nach, das eben das Zimmer verließ. „Gleich bin ich bei dir, Mary, nur nicht grämen, Kind!“ Er zwinkerte dabei mit seinem einen Auge, was einen ältlichen Mann mit einem schmutzigen Gesicht und einer Tonpfeife ungemein ergötzte.

„Kuriose Geschöpfe die Weibsen“, sagte der Mensch mit dem Schmutzgesicht nach einer Pause.

„Oh! Ohne Zweifel“, bestätigte ein Mann mit einer kupferroten Nase hinter seiner Zigarre hervor.

Eine zweite Pause entstand nach diesem philosophischen Aphorismus.

„’s gibt noch Seltsameres in der Welt als die Weiber, hm“, bemerkte der Mann mit dem schwarzen Auge und stopfte sich langsam seine lange holländische Pfeife.

„Sind wohl nicht verheiratet?“ fragte das Schmutzgesicht.

„Kann ich nicht behaupten.“

„Hab mir’s gleich gedacht.“ Das Schmutzgesicht lachte laut vor Freude über seinen Scharfsinn, und ein Mann mit einer sanften Stimme und einem friedlichen Gesicht, der offenbar gern jedermanns Ansicht beipflichtete, stimmte in das Lachen ein.

„Die Frauen, meine Herren“, mischte sich enthusiastisch Mr. Snodgraß ins Gespräch, „sind eben doch die Stütze und die Zierde unsres Lebens.“

„Ja, das sind sie“, sagte der friedliche Gentleman.

„Wenn sie gut aufgelegt sind“, bemerkte das Schmutzgesicht.

„Auch wahr“, gab der Friedliche zu.

„Ich muß diese Einschränkung zurückweisen“, sagte Mr. Snodgraß, dessen Gedanken ohne Zweifel bei Emilie Wardle weilten. „Ich weise sie mit Unwillen, mit Entrüstung zurück. Zeigen Sie mir den Mann, der etwas gegen die Frauen als solche hat, und ich behaupte kühn, er ist kein Mann.“ Mr. Snodgraß nahm seine Zigarre aus dem Mund und schlug mit geballter Faust auf den Tisch.

„Ein sehr begründetes Argument“, sagte der Friedliche.

„Leugne ich entschieden“, unterbrach ihn das Schmutzgesicht.

„Auch darin liegt sehr viel Wahres“, pflichtete ihm der Friedliche bei.

„Prosit, Sir“, sagte der Reisende mit dem einen Auge und nickte Mr. Snodgraß beifällig zu.

Mr. Snodgraß erhob sein Glas.

„Ich höre immer gern ein gutes Argument“, fuhr der Reisende fort. „Besonders ein so scharfsinniges wie dieses, übrigens, Weiber! Das bringt mich auf eine Geschichte, die ich meinen alten Onkel immer erzählen hörte, und deswegen sagte ich auch, es gäbe bisweilen noch Seltsameres auf der Welt als die Weiber.“

„Na, die Geschichte würde ich aber gerne hören“, sagte der mit der Kupfernase und der Zigarre.

„Möchten Sie sie hören? So?“ sagte der Reisende und rauchte mit großer Vehemenz.

„Ich auch“, meldete sich Mr. Tupman, der jetzt zum ersten Male den Mund öffnete, immer darauf bedacht, den Schatz seines Wissens zu erweitern.

„Möchten Sie? Gut, dann will ich sie erzählen. Aber nein, besser nicht. Sie würden sie ja doch nicht glauben“, erwiderte der Reisende und blinzelte wieder schelmisch.

„Wenn Sie sagen, sie ist wahr, werde ich sie natürlich glauben“, versicherte Mr. Tupman.

„Also gut, wenn Sie mir das versprechen“, erwiderte der Reisende. „Haben Sie schon mal von dem großen Handelshause Bilson und Slum gehört? Wenn nicht, tut’s nichts zur Sache, die Firma existiert heute nicht mehr. Es ist jetzt achtzig Jahre her, daß die Geschichte einem Reisenden dieses Hauses begegnet ist; er war ein spezieller Freund meines Onkels, und von dem weiß ich sie. Er nannte sie immer nur die Geschichte des Tom Smart und pflegte sie folgendermaßen zu erzählen:

An einem Winterabend, so um fünf Uhr, als es eben anfing dunkel zu werden, hätte man einen Mann in einem Gig sehen können, der sein müdes Pferd die Straße entlangtrieb, die über die Marlborough-Hügel nach Bristol führt. Ich sage: man hätte ihn sehen können, und ich zweifle auch nicht daran, daß man ihn gesehen hätte, wenn irgend jemand, der nicht blind war, zufällig dieses Wegs dahergekommen wäre; aber das Wetter war so schlecht und die Nacht so kalt und naß, daß niemand draußen war als das Wasser. So holperte denn der Reisende in seinem Wagen einsam und traurig mitten auf der Straße dahin. Wenn ein Handlungsreisender jener Tage auch nur einen Blick auf das kleine halsbrecherische Gig mit dem tonfarbenen Kasten und den roten Rädern geworfen hätte und auf die bösartige, launische, aber schnellfüßige braune Mähre davor, die wie eine Kreuzung zwischen Fleischergaul und Zweipennypost-Klepper aussah, so hätte er gleich gewußt, daß dieser Reisende niemand anders sein konnte als Tom Smart von Bilson und Slum, Cateaton Street, City. Nun war aber so und so kein Handlungsreisender zum Blickwerfen da, und deshalb wußte niemand etwas von der Sache, sondern Tom Smart und sein tonfarbenes Gig mit den roten Rädern sowie die flinke, launische Mähre zogen vereint dahin und behielten das Geheimnis für sich – niemand war auch nur einen Happen schlauer geworden.

Sogar in dieser traurigen Welt gibt es angenehmere Stellen als die Marlborough-Hügel bei scharfem Wind. Wenn man dazu noch an die schmutzige grundlose Straße nebst prasselndem Dauerregen denkt und die Wirkung mal versuchsweise an seiner eigenen werten Person ausprobiert, dann lernt man das volle Gewicht dieser Bemerkung kennen.

Der Wind blies, nicht etwa straßauf oder straßab, obgleich das auch schon schlimm genug gewesen wäre, sondern quer darüber weg; dabei fegte er den Regen ganz schräg herunter, etwa so wie die Zeilen im Heft eines kleinen Schuljungen. Einen Augenblick schien er nachlassen zu wollen, und der Reisende fing schon an, sich in Hoffnungen zu wiegen, der Wind wäre von seiner eigenen Wut so erschöpft, daß er ganz zur Ruhe kommen würde, da hörte er ihn, hui, in der Ferne rauschen und pfeifen, und schon kam er wieder, raste über die Hügel, fegte die Ebene entlang, steigerte sich, während er näher kam, an Kraft und Lautstärke, bis er sich mit einem wuchtigen Stoß auf Roß und Mann warf, ihnen den scharfen Regen in die Ohren und seinen kalten, feuchten Atem durch Mark und Bein trieb. Dann sauste er an ihnen vorbei, weit, weit weg, mit ohrenbetäubendem Gebrüll, als ob er über ihre Ohnmacht spottete und !n dem Bewußtsein seiner eigenen Macht und Gewalt triumphierte.

Die Mähre trabte durch dick und dünn mit herabhängenden Ohren, nur dann und wann den Kopf schüttelnd, als wolle sie ihr Mißfallen über dieses höchst ungebührliche Benehmen der Elemente zu erkennen geben; dabei hielt sie sich jedoch immer in flottem Trab, bis sie ein Windstoß, der alle früheren an Wucht übertraf, plötzlich veranlaßte, haltzumachen und sich mit ihren vier Beinen fest gegen den Boden zu stemmen, um nicht über den Haufen geweht zu werden. Es war ein besondres Glück, daß sie das tat, denn wäre sie umgeworfen worden – sie war leicht, das Gig nicht schwer und Tom Smarts Gewicht nur so eine An Zugabe –, so wären sie unfehlbar alle drei fortgekollert, bis sie das Ende der Erde erreicht oder die Windstöße nachgelassen hätten, und wahrscheinlich wären weder die launische Mähre noch das tonfarbene Gig mit den roten Rädern, noch Tom Smart jemals wieder diensttauglich geworden.

,Himmelherrgottsakrament‘, sagte Tom Smart, denn er hatte bisweilen die üble Gewohnheit zu fluchen. ,Hol der Teufel das Fuhrwerk samt Geschirr‘, sagte Tom. ,Und noch einmal. Und noch einmal!‘

Sie werden mich wahrscheinlich fragen, warum Tom Smart den Wunsch ausdrückte, diesem Prozeß zweimal hintereinander unterworfen zu werden. Ich kann es nicht sagen und weiß nur, daß Tom Smart es wünschte oder daß mein Onkel es immer behauptete, was schließlich auf eins herauskommt. ,Und noch einmal! Und noch einmal!‘ sagte Tom Smart, und die Mähre wieherte, als ob sie ganz seiner Ansicht war.

,Munter, altes Mädchen‘, sagte er dann und klopfte dem Gaul mit dem Peitschenstiel auf den Hals, ,im ersten Haus, an das wir kommen, kehren wir ein, und je schneller du läufst, desto schneller geht es vorüber. Brrr, Alte, öh, öh.‘

‚Ob die launische Mähre Tom verstand oder ob sie fand, daß ihr beim Stehenbleiben noch kälter würde, kann ich natürlich nicht wissen. Aber das eine ist sicher, kaum hatte Tom den Mund geschlossen, da spitzte sie die Ohren und galoppierte fort, daß ihrem Herrn Hören und Sehen verging. Erst vor einem Gasthause auf der rechten Seite der Straße, ungefähr eine halbe Viertelmeile vor dem Ende der Ebene, machte sie aus freiem Antriebe halt.

Tom warf einen schnellen Blick, während er die Zügel dem Hausknecht zuwarf und die Peitsche neben den Bock steckte, auf das Haus. Es war ein sonderbares altmodisches Gebäude, mit Schindeln gedeckt und von Querbalken durchzogen, mit Giebelfenstern, die die ganze Breite des Fußweges neben der Straße überragten, und einem niederen Tor mit dunklem Eingang. Ein paar steile Stufen führten in das Haus hinab, anstatt, wie bei modernen Gebäuden, hinauf. Und doch hatte das Ganze ein einladendes Aussehen, denn im Gastzimmer brannte ein helles, freundliches Licht, das einen hellen Schein über die Straße warf und sogar die gegenüberstehende Hecke beleuchtete. All das mit dem Blick des erfahrenen Reisenden erfassend, stieg Tom so behend ab, als es seine halberfrornen Glieder gestatteten, und trat in das Haus.

In weniger als fünf Minuten saß er in dem Zimmer gegenüber dem Schenkstübchen an einem tüchtigen Feuer, dessen Knistern und Prasseln allein schon das Herz eines Mannes von Gemüt hätte erwärmen können. Aber das war noch nicht alles, denn ein schmuckgekleidetes Mädchen mit blitzenden Augen und zierlichen Fesseln breitete ein sauberes weißes Tischtuch vor ihm aus, und als Tom so dasaß, mit seinen Füßen, die bereits in Pantoffeln staken, auf dem Kamingitter und den Rücken der offenen Tür zugekehrt, sah er im Schenkverschlag durch den Spiegel, der vor ihm hing, köstliche Reihen grüner Flaschen mit goldenen Etiketten neben Krügen mit eingemachten Früchten, Käse, abgesottne Schinken und Ochsenfleisch in der schönsten Ordnung und in der appetitlichsten Weise auf Brettern aufgestellt. Das war auch recht behaglich, aber immer noch nicht alles, denn im Schenkverschlag saß am niedlichsten aller Teetischchen vor einem Nebenkamin eine stattliche Witwe von ungefähr achtundvierzig Jahren mit einem Gesicht so freundlich wie das Zimmer selbst. Offenbar die Frau des Hauses und Gebieterin über alle diese herrlichen Besitztümer. Nur eine störende Linie war in dem ganzen schönen Gemälde, und das war ein großer Mann, ein sehr großer Mann, der neben der Witwe beim Tee saß. Er hatte einen braunen Rock mit glänzenden Knöpfen, einen schwarzen Backenbart und buschiges dunkles Haar, und es gehörte gerade kein großer Scharfblick dazu, um zu erkennen, daß er auf dem besten war, seine Nachbarin zu überreden, nicht länger Witfrau zu bleiben, sondern, auf ihn das Vorrecht zu übertragen, den ganzen Rest seines Lebens hindurch im Schenkstübchen sitzen zu dürfen. Tom Smart war keineswegs reizbar oder mißgünstig veranlagt; aber immerhin, der große Mann in dem braunen Rock mit den glänzenden Knöpfen regte das Tröpfchen Galle auf, das in seiner Konstitution lag, und machte ihn um so unwilliger, als er dann und wann von seinem Sitze vor dem Spiegel aus gewisse kleine Vertraulichkeiten zärtlicher Natur bemerkte, die sich zwischen dem großen Mann und der Witwe abspielten und hinlänglich beurkundeten, daß der große Mann sich einer Gunst erfreute, die im richtigen Verhältnis zu seiner Größe stand.

Tom trank gern heißen Punsch – ich kann es wagen zu behaupten, daß er sehr gern heißen Punsch trank –, und nachdem er sich darum gekümmert hatte, daß seine launische Mähre gut untergebracht und versorgt war und er selbst das köstliche, kleine heiße Abendessen, das die Witwe ihm eigenhändig anrichtete, bis auf den letzten Bissen verzehrt hatte, bestellte er versuchsweise ein Glas Punsch. Nun gab es im ganzen Kapitel der Haushaltungskunst nicht einen Artikel, auf den sich die Wirtin besser verstand als eben die Punschbereitung, und das erste Glas sagte Tom Smarts Gaumen so sehr zu, daß er möglichst schnell ein zweites bestellte.

Warmer Punsch ist eine gute Sache, Gentlemen, eine ausgezeichnete Sache unter allen Verhältnissen, aber in der behaglichen alten Stube, vor dem knisternden Feuer, während der Wind draußen tobte, daß alle Balken im ganzen Hause ächzten, fand ihn Tom Smart über alle Maßen köstlich. Er ließ sich noch ein Glas geben, und dann noch eins – ich weiß nicht genau, ob er nach diesem nicht noch eins trank –, aber je mehr heißen Punsch er trank, desto weniger ging ihm der große Mann aus dem Kopf.

,Verdammte ‚Unverschämtheit‘, brummte er. ,Was hat er in dem behaglichen Stübchen zu tun? So ein widerwärtiger Kerl! Wenn die Witwe nur ein bißchen Geschmack hätte, würde sie sich einen Besseren aussuchen.‘ Toms Auge wendete sich von dem Spiegel nach dem Trinkglas, und da er merkte, daß er allmählich gefühlvoll wurde, leerte er das vierte Glas Punsch und bestellte ein fünftes.

Tom Smart, Gentlemen, hatte von jeher eine große Neigung zu einer öffentlichen Stellung. Sein Sinn stand schon lange darnach, ein Schenkstübchen sein eigen nennen zu können und darin zu herrschen, angetan mit einem grauen Rock, kurzen Hosen und Stulpenstiefeln. Er legte großen Wert darauf, bei geselligen Mahlzeiten den Vorsitz zu führen, und oft dachte er daran, wie gut es ihm anstehen würde, an seinem eignen Tisch die Unterhaltung zu leiten und seinen Kunden in der Trinkstube mit trefflichem Beispiel voranzugehen. Lauter solche Gedanken schössen Tom durch den Kopf, als er vor dem knisternden Feuer beim warmen Punsch saß, und er war ganz erbost darüber, daß der Lange sichtlich auf so gutem Wege war, ein solch treffliches Haus zu erobern, während er, Tom Smart, so weit davon entfernt war wie je. Nachdem er bei seinen letzten zwei Gläsern noch gründlich mit sich zu Rate gegangen, ob er ein begründetes Recht hätte, deswegen einen Streit mit dem Langen anzufangen, kam er schließlich zu der Überzeugung, er sei eben ein geschlagener und vom Schicksal verfolgter Mann und tue wohl am besten, zu Bett zu gehen.

Das schmucke Dienstmädchen leuchtete ihm über eine breite alte Treppe voran und hielt die Hand vor das Nachtlicht, um es vor dem Wind zu schützen, der in einem solchen alten, unregelmäßig angelegten Gebäude reichlich Gelegenheit hatte, sich zu belustigen, auch ohne die Kerze auszublasen; aber diese Vorsichtsmaßregel verfehlte ihren Zweck. Er blies sie doch aus und gab dadurch Toms Feinden Gelegenheit zu der Behauptung, er und nicht der Wind habe das Licht ausgelöscht, bloß, um unter dem Vorwande, es wieder anzünden zu wollen, das Mädchen zu küssen. So oder so, es wurde ein andres Licht gebracht und Tom durch eine Menge Gemächer und ein Labyrinth von Gängen in sein Zimmer geführt. Das Mädchen wünschte ihm gute Nacht und ließ ihn allein.

Es war ein großes geräumiges Zimmer mit hohen Schränken und einem Bett, das für ein ganzes Internat Raum genug gehabt hätte – ein paar Eichentruhen nicht zu erwähnen, die das Gepäck einer kleinen Armee hätten in sich aufnehmen können –; doch was Tom am meisten auffiel, war ein sonderbarer, unheimlich aussehender Lehnstuhl mit hohem Rücken und höchst phantastischem Schnitzwerk. Er hatte einen Überzug von geblümtem Damast, und die runden Knäufe seiner Beine waren sorgfältig mit rotem Tuch umwickelt, als hätte er die Gicht in den Zehen. Von jedem andern sonderbaren Sessel würde Tom nichts andres gedacht haben als, er sei nun einmal ein sonderbarer Stuhl, und damit wäre die Sache abgemacht gewesen; aber dieses eigentümliche Möbel hatte etwas Besonderes an sich, und doch konnte Tom nicht sagen, was; so seltsam und verschieden von jedem andern hatte er noch keinen Sessel gesehen. Er schien ihn förmlich zu bezaubern. Tom setzte sich vor das Feuer und starrte ihn wohl eine halbe Stunde lang an. Hol’s der Teufel, was war das für ein seltsames altes Stück, daß man die Augen nicht davon abwenden konnte!

Nein, sagte sich Tom, kleidete sich langsam aus und starrte dabei, unentwegt, die ganze Zeit den alten Stuhl an, wie er so geheimnisvoll vor dem Bett stand. Mein Lebtag habe ich noch nie ein so seltsames Ding gesehen wie dieses. Sehr seltsam, sagte sich Tom, den der warme Punsch etwas nachdenklich gestimmt hatte. Sehr seltsam. Er schüttelte den Kopf mit einer Miene hoher Weisheit, und wieder mußte er den Stuhl ansehen. Er wußte nicht, was er daraus machen sollte, ging jedoch zu Bett, deckte sich warm zu und schlief ein.

Nach einer halben Stunde fuhr er aus dem Schlafe auf. Er hatte einen wirren Traum von großen Männern und Punschgläsern gehabt, und das erste, was sich ihm im Halbwachen darbot, war der seltsame Stuhl.

Ich will ihn nicht mehr ansehen, nahm sich Tom vor, schloß die Augen und versuchte sich einzureden, er schlafe schon wieder. Umsonst. Lauter seltsame Stühle tanzten vor seinen Augen, grätschten die Beine und schwangen sich im Bocksprung einander über den Rücken und machten allerlei tolle Kapriolen.

Lieber einen wirklichen Stuhl sehen als ein paar Dutzend eingebildete, sagte sich Tom und steckte den Kopf unter der Bettdecke hervor. Aber immer noch sah der Stuhl so herausfordernd drein wie vordem.

Starr betrachtete ihn Tom, da ging plötzlich eine außerordentliche Veränderung vor sich. Das Schnitzwerk auf der Lehne nahm allmählich die Züge und den Ausdruck eines alten gefurchten Menschengesichts an, das damastene Polster wurde eine altmodische Weste mit Schößen, die runden Knäufe verwandelten sich in ein Paar Füße, die in roten Tuchpantoffeln staken, und der ganze Stuhl glich einem häßlichen alten Mann aus dem vorigen Jahrhundert mit in die Hüften gestemmten Armen. Tom richtete sich im Bett auf und rieb sich die Augen. Vergebens. Der Stuhl war und blieb ein häßlicher alter Herr, und was noch mehr war, er zwinkerte ihm zu.

Tom war von Natur ein herzhafter, mutiger Bursche und hatte zudem fünf Gläser warmen Punsch getrunken. Sein Unwille gewann daher bald die Oberhand über seine anfängliche Bestürzung, als er sah, daß der alte Herr nicht aufhörte, ihn mit unverschämter Miene anzustarren und ihm zuzuzwinkern, und endlich entschloß er sich, das nicht länger so geduldig hinzunehmen. Und als daher das alte Gesicht wieder einmal stärker grinste, fragte Tom in höchst ärgerlichem Tone:

,Warum, zum Teufel, zwinkerst du denn fortwährend?‘

,Weil es mir so paßt, Tom Smart‘, sagte der Stuhl oder der alte Herr, wie Sie ihn nennen mögen. Er hörte zwar auf zu zwinkern, als Tom sprach, grinste ihn aber an, wie ein altersschwacher Affe.

,Woher weißt du meinen Namen, altes Nußknackergesicht?‘ fragte Tom Smart etwas betreten, obwohl er sich unbefangen stellte.

,Laß das, Tom‘, sagte der alte Herr, ,das ist nicht die Art, einen soliden spanischen Mahagoni anzureden. Gott straf mich, du benimmst dich ja rein, als ob ich nur furniert wäre.‘ Der alte Herr sah bei diesen Worten so zornig drein, daß Tom sich zu fürchten anfing.

,Ich wollte es Ihnen gegenüber durchaus nicht an Respekt fehlen lassen, Sir‘, entschuldigte sich Tom, viel höflicher als vorher.

,Schon gut, schon gut‘, erwiderte der Alte, ,kann ja sein, Tom.‘

,Sir …‘

,Ich kenne deine Verhältnisse, Tom! Genau. Du bist sehr arm, Tom.‘

,Leider nur zu wahr‘, versetzte Tom, ,aber woher wissen Sie das?‘

,Frag jetzt nicht. Übrigens bist du auch viel zu sehr dem Punsch zugetan, Tom!‘

Tom Smart wollte beteuern, er habe seit seinem letzten Geburtstag keinen Tropfen mehr getrunken, aber als sein Blick dem Auge des alten Herrn begegnete, sah dieser so eingeweiht drein, daß er errötete und schwieg.

,Tom‘, fuhr der alte Herr fort, ,die Witwe unten ist eine hübsche Frau, eine außerordentlich hübsche Frau, was, Tom?‘ Er riß dabei die Augen weit auf, zog eines seiner dürren kleinen Beine in die Höhe und machte ein so widerlich-verliebtes Gesicht, daß Tom förmlich ein Ekel ob dieses frivolen Benehmens überkam. – Ich bitte Sie, bei dem Alter des Herrn!

,Ich bin ihr Vormund, Tom.‘ ,Was Sie nicht sagen!‘ staunte Tom Smart. ,Ich habe ihre Mutter gekannt, Tom‘, fuhr der Alte fort, ,und ihre Großmutter. Sie war sehr verliebt in mich, machte mir diese Weste, Tom.‘

,Wahrhaftig?‘ fragte Tom Smart.

,Und diese Schuhe‘, erzählte der Alte weiter, einen seiner roten Pantoffelfüße emporhebend. ,Aber sprich nicht darüber, Tom. Ich möchte nicht, daß es bekannt würde, wie sehr sie an mir hing. Es könnte störend auf den Familienfrieden wirken.‘

Der alte Geck sah bei diesen Worten so außerordentlich unverschämt drein, daß sich Tom Smart, wie er nachher erklärte, gar kein Gewissen daraus gemacht hätte, sich auf ihn zu setzen.

,Ich war zu meiner Zeit ein großer Liebling der Damen, Tom‘, fuhr der schamlose alte Sünder fort. ,Hunderte schöner Weiber haben stundenlang auf meinem Schöße gesessen. Was sagst du dazu, Bursche, was?‘ Der alte Herr wollte noch einige galante Abenteuer aus seiner Jugendzeit zum besten geben, bekam aber einen solchen Anfall von Knarren, daß er außerstande war, fortzufahren.

Geschieht dir ganz recht, alter Schuft, dachte Tom Smart, sagte aber kein Wörtchen.

,Ach!‘ fing der Alte wieder an, ,jetzt habe ich meine liebe Not dafür. Ich werde alt, Tom, und gehe allmählich aus dem Leim. Auch habe ich eine Operation ausgestanden, man hat mir ein kleines Stück in den Rücken eingesetzt, und das war eine schwere Heimsuchung, Tom.‘

,Das glaube ich gern, Sir‘, sagte Tom Smart.

,Aber genug davon‘, fuhr der alte Herr fort. ,Kurz und gut, Tom, du mußt die Witwe heiraten.‘

,Ich, Sir?‘

,Du, jawohl‘, antwortete der alte Herr.

,Gottes Segen auf Ihr ehrwürdiges Haupt‘, sagte Tom, denn der alte Herr hatte noch ein paar Pferdehaare. .Gottes Segen; aber sie will mich doch nicht.‘ Und Tom seufzte unwillkürlich, als er an das Schenkstübchen dachte.

,Sie will nicht?‘ fragte der alte Herr in strengem Ton.

,Nein, bestimmt nicht‘, antwortete Tom, ,sie hat ein Auge auf einen andern geworfen. Ein langer Bursche – ein verdammt langer Bursche – mit einem schwarzen Backenbart.‘

,Tom‘, tröstete der alte Herr, ,sie wird ihn nicht nehmen.‘

,Nicht nehmen?‘ wiederholte Tom. ,Wären Sie im Schenkstübchen gewesen, alter Herr, würden Sie anders reden.‘

,Pah! Pah!‘ sagte der alte Herr, ,weiß doch alles.‘

,Was wissen Sie?‘

,Daß sie sich hinter der Tür küssen, und so weiter, Tom‘, antwortete der alte Herr und sah dabei wieder so frivol drein, daß Tom außerordentlich zornig wurde, denn einen Greis, der schon gescheiter sein sollte, von solchen Dingen sprechen zu hören, ist höchst widerlich, widerlicher als irgend etwas; das werden Sie zugeben, Gentlemen.

,Ich kenne mich aus‘, sagte der alte Herr. ,Zu meiner Zeit habe ich so was sehr oft gesehen, Tom, bei mehr Leuten, als ich für gut finde, dir zu nennen; aber schließlich führte es doch zu nichts.‘

,Sie müssen merkwürdige Dinge gesehen haben‘, bemerkte Tom mit einem forschenden Blick.

,Da magst du recht haben, Tom‘, erwiderte der Alte mit einem sehr bedeutungsvollen Zwinkern. ,Ich bin der Letzte meines Stammes, Tom‘, fügte er mit einem schwermütigen Seufzer hinzu.

,War sie zahlreich, Ihre Familie?‘ fragte Tom Smart.

,Wir waren unser zwölf, Tom, hübsche, schmucke steifrückige Gesellen, wie du nur welche sehen kannst. Keine von euren neumodischen Mißgeburten, alle mit Armen, und poliert, daß einem das Herz im Leibe lachte, wenn man sie nur sah.‘

,Und was wurde aus den andern, Sir?‘ fragte Tom Smart.

Der alte Herr wischte sich mit den Ellenbogen das Auge: ,Dahin, Tom, dahin. Wir hatten schweren Dienst, Tom, und sie waren nicht alle so fest wie ich. Bekamen die Gicht in den Beinen und Armen und wanderten in Küchen und andre Hospitäler; einer verlor durch den schweren Dienst und die übermäßige Anstrengung alle seine Sinne; er wurde so elend, daß man ihn verbrennen mußte. Schauerlich, was, Tom?‘

,Furchtbar!‘ bestätigte Tom Smart.

Der alte Knabe schwieg wieder einige Minuten lang, augenscheinlich tief ergriffen, und fuhr dann fort:

.Aber ich schweife von meinem Thema ab, Tom. Der lange Bursche, Tom, ist ein spitzbübischer Glücksritter. In demselben Augenblick, wo er die Witwe heiratete, würde er das ganze Mobiliar verkaufen und sich davonmachen. Was wäre die Folge davon? Sie wäre eine verlassene, zugrunde gerichtete Frau, und ich würde in irgendeiner Trödlerbude an Erkältung sterben.‘

,Gut, aber …‘

,Unterbrich mich nicht‘, sagte der alte Herr. ,Von dir, Tom, habe ich eine ganz andre Meinung; ich weiß, wenn du dich nur einmal in einem Wirtshause festgesetzt hättest, so würdest du es nie mehr verlassen, solange es noch innerhalb seiner Wände etwas zu trinken gäbe.‘

,Ich bin Ihnen für Ihre gute Meinung sehr verbunden‘, sagte Tom Smart.

,Eben deshalb‘, erklärte der alte Herr in diktatorischem Ton, ,sollst du und nicht er die Witwe haben.‘

,Wie soll ich das aber anstellen?‘ fragte Tom Smart hastig.

,Durch die Enthüllung, daß er schon verheiratet ist.‘

,Wie kann ich das beweisen?‘ fragte Tom und sprang halb aus dem Bett.

Der alte Herr hob seinen Arm in die Höhe und deutete nach einem der beiden Schränke. ,Er denkt nicht daran‘, sagte er, ,daß er in der rechten Tasche seiner Hosen, die in diesem Kasten hängen, einen Brief vergessen hat, worin er angefleht wird, zu seinem trostlosen Weibe mit ihren sechs – höre, Tom –, sechs Kindern, und alle noch unmündig, zurückzukehren.‘

Noch während der alte Herr in feierlichem Ton das verkündete, wurden seine Züge immer unbestimmter und die Umrisse seiner Gestalt schwankender. Ein Schleier fiel über Tom Smarts Augen. Der alte Mann ging nach und nach in den Stuhl über, die Damastweste verwandelte sich in eine gepolsterte Lehne, die roten Pantoffeln wurden zu kleinen roten Tuchläppchen, die die Knäufe umhüllten. Das milde Licht erlosch allmählich, und Tom Smart fiel auf sein Kissen zurück in die Arme des Schlafes.

Am andern Morgen erwachte er aus dem bleiernen Schlaf, in den er nach dem Verschwinden des alten Herrn gesunken war, setzte sich in seinem Bett auf und mühte sich einige Minuten lang vergebens ab, sich der Vorgänge der entwichenen Nacht zu entsinnen. Plötzlich tauchten sie wieder in seinem Gedächtnisse auf. Er sah auf den Stuhl. Es war ein phantastisches, grämlich aussehendes Stück Möbel, das ließ sich nicht bezweifeln; aber um zwischen ihm und einem alten Manne eine Ähnlichkeit zu entdecken, dazu gehörte denn doch eine ziemlich lebhafte und erfinderische Phantasie.

,Wie steht’s, alter Knabe?‘ fragte Tom. Er war bei Tag kühner. Wie die meisten Leute.

Der Stuhl blieb regungslos und sprach kein Wort.

,Ein heilloser Morgen‘, begann Tom eine Unterhaltung. Umsonst. Der Stuhl war gänzlich abgeneigt.

,Auf welchen Schrank hast du gedeutet? – Das kannst du mir doch wenigstens sagen‘, meinte Tom. Aber es war zum Teufelholen. Kein Wort war aus dem Stuhl herauszubringen, meine Herren.

,Nun, es wird nicht schwer sein, ihn irgendwie zu öffnen‘, sagte Tom, entschlossen aus seinem Bett springend.

Er trat an einen der Schränke. Der Schlüssel steckte; er drehte ihn um und öffnete. Wirklich hing ein Paar Hosen darin. Er fuhr mit der Hand in die rechte Tasche und zog richtig den Brief hervor, von dem der alte Herr gesprochen hatte.

,Ist doch seltsam‘, brummte Tom Smart, sah zuerst den Stuhl, dann den Schrank, dann den Brief und dann wieder den Stuhl an. ,Sehr seltsam‘, sagte Tom. Aber da sich das Geheimnis nicht erklären ließ, hielt er es für das zweckmäßigste, sich anzukleiden, die Sache mit dem Langen ein für allemal ins reine zu bringen und seinem Elend dadurch ein Ende zu machen.

Auf seinem Wege betrachtete Tom die Zimmer und Gänge mit dem prüfenden Blicke eines zukünftigen Gastwirts und dachte dabei an die Möglichkeit, daß sie samt ihrem Inhalt binnen kurzem sein Eigentum werden könnten. Der lange Bursche stand in dem hübschen Schenkstübchen, die Hände auf dem Rücken, ganz, als ob er zu Hause wäre. Er gaffte Tom mit einem nichtssagenden Blick an. Ein unbefangener Beobachter würde vermutet haben,, er habe es bloß getan, um seine weißen Zähne zu zeigen, aber Tom Smart sah darin Triumphgefühl, und zwar an einer Stelle, wo das Herz des großen Mannes gewesen wäre, wenn er eins gehabt hätte. Er lachte ihm daher höhnisch ins Gesicht und verlangte die Wirtin zu sprechen.

,Guten Morgen, Ma’am‘, sagte er, die Tür des Schenkstübchens schließend, als die Wirtin eintrat.

,Guten Morgen, Sir‘, antwortete die Witwe. ,Was befehlen Sie zum Frühstück?‘

Tom dachte darüber nach, wie er die Sache einfädeln sollte, und gab keine Antwort.

,Es gibt vortrefflichen Schinken‘, fuhr die Witwe fort, ,und ein schönes gespicktes Hühnchen kalt. Soll ich Ihnen eins hereinschicken, Sir?‘ Tom erwachte aus seinem Grübeln. Seine Bewunderung vor der Witwe wuchs, als er sie so sprechen hörte. ,Die gute Seele! Wie man da versorgt wäre!‘

,Wer ist der Herr im Nebenzimmer, Ma’am?‘ fragte er.

,Er nennt sich Jinkins, Sir‘, antwortete die Witwe, leicht errötend.

,Ein großgewachsener Mann‘, sagte Tom.

,Ein sehr stattlicher Mann‘, erwiderte die Witwe, ,und ein sehr gebildeter Herr.‘

,So. Hm‘, sagte Tom.

,Wünschen Sie sonst noch etwas, Sir?‘ fragte die Witwe, etwas verblüfft über Toms Benehmen.

,Nun ja‘, antwortete Tom. ,Liebe Frau, wollen Sie die Güte haben, einen Augenblick Platz zu nehmen.‘

Die Witwe sah ganz verdutzt aus, setzte sich aber doch, und Tom setzte sich auch, und zwar hart an ihre Seite.

Ich weiß nicht, wie es kam, meine Herren, wirklich, mein Oheim pflegte zu erzählen, daß Tom gesagt habe, er wisse es nicht, wie es gekommen sei, daß … Doch so oder so, Toms Hand senkte sich auf die Rückseite der Hand der Witwe und blieb dort liegen, während er mit ihr sprach. ,Liebe Frau‘, sagte er – er hielt immer viel darauf, den Liebenswürdigen zu spielen – , ,liebe Frau, Sie verdienen es, einen vortrefflichen Mann zu bekommen, ja, das verdienen Sie.‘

,Oh, mein Herr‘, sagte die Witwe, so unbefangen sie konnte, denn Toms Art und Weise, die Unterhaltung zu beginnen, war etwas ungewöhnlich, um nicht zu sagen, befremdend, besonders wenn man den Umstand in Betracht zog, daß er sie vor dem gestrigen Abend noch mit keinem Auge gesehen hatte. ,Oh, bitte, mein Herr.‘

,Ich bin Schmeicheleien abhold, Ma’am‘, fuhr Tom Smart fort. ,Sie verdienen einen ausgezeichneten Mann, und wer immer es auch werden mag, er wird ein sehr glücklicher Mann sein.‘

Als Tom dies sagte, wanderten seine Augen unwillkürlich von dem Gesicht der Witwe auf die behagliche Umgebung.

Die Witwe sah noch verblüffter drein und versuchte aufzustehen. Tom drückte ihr sanft die Hand, wie, um sie zurückzuhalten, und sie blieb sitzen. – Witwen, meine Herren, sind gewöhnlich nicht allzu scheu, wie mein Onkel zu sagen pflegte.

,Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden für Ihre gute Meinung‘, sagte die dralle Wirtin, halb lachend, ,und wenn ich je wieder heirate …‘ ,Wenn‘, wiederholte Tom Smart mit einem schelmischen Blick aus dem rechten Winkel seines linken Auges., Wenn,..‘

,Nun‘, sagte die Wirtin und lachte, diesmal laut. ,Wenn ich es tue, so hoffe ich, einen so guten Mann zu bekommen, wie Sie ihn schildern.‘ ,Jinkins zum Beispiel?‘ meinte Tom.

,Oh, was glauben Sie, Sir!‘ rief die Witwe aus.

,Reden Sie nicht‘, versetzte Tom, ,ich kenne ihn.‘

,Ich bin überzeugt, niemand, der ihn kennt, kann ihm etwas Schlechtes nachsagen‘, versetzte die Witwe, aufgebracht durch die geheimnisvolle Miene Toms.

,Ehüm‘, hüstelte Tom Smart.

Die Witwe hielt den Augenblick für gekommen, in Tränen auszubrechen. Sie zog ihr Taschentuch heraus und fragte, ob Tom sie kränken wolle; ob er es für ehrenhaft halte, einem Gentleman hinter dem Rücken die Ehre abzuschneiden; warum er, wenn er etwas zu sagen hätte, es ihm nicht als Mann ins Gesicht sage, anstatt ein armes, schwaches Weib so zu ängstigen, und so weiter.

,Ich werde es ihm schon derb genug sagen‘, erwiderte Tom, ,nur will ich, daß Sie es vorher hören.‘

,Was ist es denn‘, fragte die Witwe, Tom aufmerksam ins Gesicht sehend.

,Sie werden staunen‘, flüsterte Tom und steckte seine Hand in die Tasche.

,Wenn Sie vielleicht sagen wollen, daß er Geld braucht‘, wehrte die Witwe ab, ,so weiß ich das bereits, und es geht Sie nichts an.‘

,Pah, Unsinn; daran läge nichts‘, versetzte Tom Smart. ,Ich brauche auch Geld. Das ist es nicht.‘

,Ach Gott, was kann es denn sein?‘ rief die arme Witwe.

,Erschrecken Sie nicht!‘ Tom Smart zog langsam den Brief aus der Tasche und entfaltete ihn. ,Werden Sie auch nicht schreien?‘ fragte er besorgt.

,Nein, nein‘, beteuerte die Witwe, ,geben Sie her.‘

,Werden Sie nicht in Ohnmacht fallen oder ähnliche Dummheiten machen?‘

,Nein, nein‘, erwiderte die Witwe hastig.

,Oder hinauslaufen, um es ihm vorzuhalten? Ihre Einmischung ist dabei ganz unnötig, da ich die Sache auf mich zu nehmen gedenke; es wäre schon besser, wenn Sie sich gar nicht aufregen würden.‘

,Schon recht, geben Sie nur her!‘ bat die Witwe.

,Hier‘, sagte Tom Smart und reichte ihr den Brief.

Meine Herren, ich habe meinen Onkel sagen hören, daß Tom Smart behauptete, die Wehklagen der Witwe, in die sie bei der Enthüllung des Geheimnisses ausgebrochen, hätten ein Herz von Stein erweichen können. Tom hatte ohnhin ein weiches Herz, und sie drangen bis in sein Innerstes. Die Witwe wiegte sich gramzerrissen hin und her und rang die Hände.

,Oh, über die Arglist und Schlechtigkeit eines Mannes!‘ rief sie aus.

,Schrecklich, Ma’am; aber beruhigen Sie sich‘, tröstete sie Tom Smart.

,Ach, ich kann mich nicht beruhigen‘, jammerte die Witwe. ,Nie mehr werde ich einen Menschen finden, den ich so lieben kann.‘

,O doch, Sie werden es, Geliebte meines Herzens‘, versicherte Tom Smart, aus Mitleid mit dem kläglichen Geschick der Witwe einen Strom dicker Tränen vergießend.

Von Mitgefühl mit fortgerissen, hatte Tom Smart seinen Arm um die Taille der Witwe geschlungen und sie im Übermaße ihres Schmerzes seine Hand ergriffen. Dann sah sie zu Toms Gesicht auf und lächelte unter Tränen, und er blickte in ihr Gesicht hinunter und lächelte auch unter Tränen. Ich konnte nie in Erfahrung bringen, meine Herren, ob Tom in diesem entscheidenden Augenblick die Witwe küßte oder nicht. Meinem Onkel pflegte er zu versichern, er habe es nicht getan, aber ich bezweifle es fast. Unter uns gesagt, meine Herren, ich glaube, er tat es.

Jedenfalls ist das eine gewiß, daß eine halbe Stunde darauf Tom den Langen aus dem Hause warf und einen Monat später die Witwe heiratete. Oft fuhr er noch mit seinem tonfarbenen Gig mit den roten Rädern und der launenhaften Mähre mit dem stetigen Trab im Lande herum, bis er endlich nach vielen Jahren sein Geschäft aufgab und mit seinem Weib nach Frankreich ging, worauf das alte Haus niedergerissen wurde.“

„Wollen Sie mir eine Frage erlauben“, wandte sich der wißbegierige Mr. Snodgraß an den Erzähler. „Was wurde denn aus dem Stuhl?“

„Nun“, versetzte der einäugige Reisende, „man hörte ihn am Tage der Hochzeit sehr stark krachen, aber Tom Smart konnte nicht herausbekommen, ob aus Vergnügen oder aus Gebrechlichkeit. Er neigte jedoch mehr zur letzteren Ansicht, denn der Stuhl sprach nachher nie wieder.“

„Und alle haben die Geschichte geglaubt, was?“ fragte das Schmutzgesicht und stopfte sich eine Pfeife.

„Alle, mit Ausnahme der Feinde Toms. Einige von ihnen sagten, Tom habe sie nur erdacht, und andre sind der Ansicht, er sei betrunken gewesen, habe sie geträumt und den Brief infolge Verwechslung der Hosen gefunden. Aber niemand gab etwas darauf, was diese neidischen Seelen behaupteten.“

„Und Tom Smart hat gesagt, es sei alles wahr?“

„Wort für Wort.“

„Und Ihr Onkel?“

„Auch der.“

„Das müssen ’n paar merkwürdige Männer gewesen sein“, brummte das Schmutzgesicht,

„Waren sie auch.“

Sechzehntes Kapitel


Sechzehntes Kapitel

In dem ein getreues Konterfei von zwei distinguierten Personen vorkommt sowie die genaue Beschreibung eines fashionablen Frühstücks, das zur Erneuerung einer alten Bekanntschaft führt.

Mr. Pickwick hatte bereits Gewissensbisse wegen der anhaltenden Vernachlässigung seiner Freunde im Gasthaus zum „Pfauen“, und am dritten Morgen nach Beendigung der Wahl war er gerade im Begriff, sie aufzusuchen, als ihm sein getreuer Diener eine Karte überreichte, auf der zu lesen stand:

Mrs. Leo Hunter

Villa Hütte bei Eatansville

„Es wartet jemand“, meldete Sam lakonisch.

Mich will jemand sprechen, Sam?“ fragte Mr. Pickwick.

„Er will mit aller Gewalt Ihnen sprechen und sonst gar nichts, jibt’s nich billiger, wie des Deubels Privatsekretär sagte, als er den Doktor Faust holte“, antwortete Mr. Weller.

„Er? Ist’s denn ein Herr?“ fragte Mr. Pickwick.

„Wenigstens ’n täuschend ähnliches Konterfei von ’nem solchen“, versetzte Mr. Weller.

„Aber die Karte ist doch von einer Dame!“

„Mir aber von ’nem Herrn gegeben. Er sitzt im Besuchszimmer und sagt, er möchte lieber den ganzen Tag warten, als wie Ihnen nich sehen.“ Mr. Pickwick begab sich unverzüglich ins Empfangszimmer und fand dort einen würdevoll aussehenden Herrn sitzen, der bei seinem Eintritt sogleich aufstand und mit einer Miene höchster Ehrerbietung fragte:

„Mr. Pickwick, wenn ich nicht irre?“

„Der bin ich.“

„Gestatten Sie mir die Ehre, mein Herr, Ihnen die Hand schütteln zu dürfen“, sagte der würdevoll aussehende Gentleman.

„Oh, bitte sehr.“

Der Fremde schüttelte die dargebotene Rechte und fuhr fort:

„Ihr Ruhm ist bis zu uns gedrungen, Sir. Das Aufsehen, das Ihre archäologischen Entdeckungen machten, ist bis zu den Ohren Mrs. Leo Hunters gedrungen – nämlich meiner Frau, Sir. Mein Name ist Leo Hunter.“

Der Fremde schwieg, als erwarte er, Mr. Pickwick werde ob dieser Enthüllung außer sich geraten.; als er aber sah, daß dieser vollkommen ruhig blieb, fuhr er fort:

„Meine Gattin, Sir, Mrs. Leo Hunter, setzt ihren Stolz darein, alles, was einen Namen hat, zu ihrem Bekanntenkreis zählen zu dürfen. Erlauben Sie mir, Sir, die Namen Mr. Pickwicks und der Mitglieder des nach ihm benannten Klubs an die Spitze der Liste zu setzen.“

„Ich werde mich außerordentlich glücklich schätzen, die Bekanntschaft einer solchen Dame zu machen, Sir“, versetzte Mr. Pickwick.

„Zuviel der Ehre, Sir“, sagte der würdevoll aussehende Gentleman. „Wir geben morgen früh einer großen Anzahl von Zeitgenossen, die sich durch Geist und Genie ausgezeichnet haben, eine fete champetre. Darf Mrs. Leo Hunter also auf den Besuch der Herren in Villa Hütte rechnen?“ „Mit dem größten Vergnügen.“

„Mrs. Leo Hunter gibt von Zeit zu Zeit solche Feste, mein Herr. Geistesorgien und Seelenschmäuse, wie sich jemand kürzlich in einem Sonett auf Mrs. Leo Hunters Frühstücke mit ebensoviel Feingefühl wie Originalität ausdrückte.“

„Vermutlich auch ein Herr, der sich öffentlich auszeichnete?“

„So ist es, Sir“, versetzte der würdevoll aussehende Gentleman. „Das gilt von sämtlichen Bekannten Mrs. Leo Hunters. Es ist ihr höchster Ehrgeiz, nur mit solchen Leuten zu verkehren.“

„Eine edle Sinnesart, in der Tat“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Mrs. Leo Hunter wird stolz und entzückt sein, wenn ich ihr das ausrichte. Wenn ich nicht irre, hat doch einer der Herren in Ihrem Gefolge einige sehr hübsche Gedichte verfaßt. Nicht wahr?“

„Mein Freund Snodgraß hat viel Sinn für Poesie“, bestätigte Mr. Pickwick.

„Mrs. Leo Hunter ebenfalls, Sir. Dichtkunst geht ihr über alles. Sie hat ihr einen Altar errichtet; ihre ganze Seele ist ihr, sozusagen, vermählt. Sie hat selbst einige herrliche Strophen gedichtet, Sir. Vielleicht haben Sie schon von ihrer Ode an einen sterbenden Frosch gehört?“

„Ich wüßte nicht“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Das setzt, mich wahrhaft in Erstaunen, Sir“, sagte Mr. Leo Hunter. „Sie hat ungeheures Aufsehen gemacht. Sie war mit einem L und acht Sternchen unterzeichnet und erschien ursprünglich in einer Frauenzeitung. Sie beginnt:

Seh ich keuchend dich vor Schrecken
Alle viere von dir strecken,
Um hier elend zu verrecken,
Dann packt für dich Armen
Mich tiefes Erbarmen,
O Frosch, o Frosch.“

„Wunderhübsch“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Schön“, sagte Mr. Leo Hunter. „Und so einfach.“

„Außerordentlich“, bekräftigte Mr. Pickwick. „Die nächste Strophe ist noch ergreifender; wollen Sie sie hören?“

„Ich bitte darum“, versetzte Mr. Pickwick.

„Sie lautet:

Sprich, ob nicht zu schlimmer Stunde
Rohe Buben mit dem Hunde
Aus des Sumpfes kühlem Grunde
Dich jagten zum Lichte,
Dich plagten zunichte,
O Frosch, o Frosch.“

„Schön gesagt“, lobte Mr. Pickwick.

„Jede Zeile reimt sich, Sir, jede Zeile. Aber Sie sollten die Verse erst aus dem Munde Mrs. Leo Hunters selbst hören! Sie kann ihnen erst die richtige Weihe geben, mein Herr. Sie wird sie morgen früh im Kostüm deklamieren.“

„Im Kostüm?“

„Als Minerva. Ja, richtig, ich vergaß. Man erscheint in Kostüm und Maske.“

„Gott“, rief Mr. Pickwick mit einem Blick auf sein Embonpoint, „ich kann unmöglich.“

„Unmöglich? Nicht doch, mein Herr!“ sagte Mr. Leo Hunter. „Der Jude Salomon Lucas in Highstreet hat Tausende von Kostümen auf Lager.

Bedenken Sie, wie viele geeignete Masken Ihnen zur Verfügung stehen! Plato, Zeno, Epikur, Pythagoras – lauter Gründer von Klubs!“

„Allerdings“, gab Mr. Pickwick zu, „aber da ich mich mit diesen großen Männern nicht vergleichen kann, darf ich mir auch nicht, herausnehmen, in ihrer Tracht zu erscheinen.“

Der würdevolle Gentleman versank in tiefes Nachdenken und sagte dann:

„Wenn ich es mir recht überlege, mein Herr, glaube ich, es würde Mrs. Leo Hunter vielleicht eine noch größere Freude machen, ihren Gästen einen Mann von Ihrer Berühmtheit lieber in seinem eigenen Kostüm als in Ausstaffierung vorstellen zu dürfen. Ich erlaube mir, in Ihrem Falle eine Ausnahme vorzuschlagen, Sir. Und was Mrs. Leo Hunter betrifft, bin ich meiner Sache so gut wie gewiß.“

„Ja, dann“, erwiderte Mr. Pickwick, „werde ich mit größtem Vergnügen erscheinen können.“

„Aber ich beraube Sie Ihrer kostbaren Zeit, mein Herr“, sagte der feierliche Gentleman und stand plötzlich auf. „Ich will Sie nicht länger aufhalten. Ich werde also Mrs. Leo Hunter ausrichten, daß sie Sie und Ihre wertgeschätzten Freunde zuversichtlich erwarten darf. Guten Morgen, Sir; ich rechne es mir zur besonderen Ehre an, einen so hervorragenden Mann kennengelernt zu haben; bitte, sich nicht zu inkommodieren, mein Herr; nein, nein, unter keinen Umständen!“ Und ohne Mr. Pickwick Zeit zu Einwendungen zu lassen, schritt Mr. Leo Hunter würdevoll hinaus.

Mr. Pickwick setzte seinen Hut auf und begab sich unverzüglich in den „Pfau“; aber Mr. Winkle hatte bereits die Kunde von dem bevorstehenden Kostümfest dorthin gebracht.

„Mrs. Pott kommt auch“, waren die ersten Worte, mit denen er seinen Lehrer begrüßte.

„So?“

„Ja. Als Apoll. Pott hat nur noch etwas gegen die Tunika einzuwenden.“

„Mit Recht. Ganz mit Recht“, sagte Mr. Pickwick mit Nachdruck.

„Ja. Sie wird deshalb in einem weißen Atlaskleid mit Goldflitter erscheinen.“

„Wird man aber dann auch wissen, was sie vorstellt?“ fragte Mr. Snodgraß.

„Selbstverständlich“, entgegnete Mr. Winkle unwillig. „Wozu hat sie denn die Leier!?“

„Richtig, das habe ich nicht bedacht“, gab Mr. Snodgraß zu.

„Und ich gehe als Bandit“, erklärte Mr. Tupman.

„Als was?“ rief Mr. Pickwick und fuhr empört zurück.

„Als Bandit“, wiederholte Mr. Tupman schüchtern.

„Sie wollen damit doch nicht sagen“, versetzte Mr. Pickwick mit einem strengen Blick, „Sie wollen damit doch nicht sagen, Mr. Tupman, daß Sie im Sinn haben, in einer grünen Samtjacke mit kurzen Schößen zu erscheinen?“

„Allerdings, Sir“, erwiderte Mr. Tupman empfindlich. „Warum denn nicht, Sir?“

„Aus dem einfachen Grunde, Sir“, antwortete Mr. Pickwick gereizt, „weil Sie zu alt dazu sind, Sir.“

„Zu alt!?“ rief Mr. Tupman.

„Und außerdem“, fuhr Mr. Pickwick fort, „sind Sie zu fett, Sir.“

„Sir!“ rief Mr. Tupman mit glühendrotem Gesicht. „Das ist eine Beleidigung.“

„Sir!“ versetzte Mr. Pickwick in demselben Ton. „Ich beleidige Sie dadurch nicht halb sosehr, wie Sie mich beleidigen würden, wenn Sie in meiner Gegenwart in einer grünen Jacke mit kurzen Schößen erschienen.“

„Sir, Sie sind ein – Subjekt!“ sagte Mr. Tupman.

„Sir, das sind Sie!“ entgegnete Mr. Pickwick.

Mr. Tupman trat einen Schritt vor und fixierte Mr. Pickwick. Mr. Pickwick erwiderte den Blick zornbebend durch seine Brillengläser. Sein ganzes Wesen atmete Kühnheit und Trotz. Mr. Snodgraß und Mr. Winkle waren förmlich versteinert bei einem Auftritt wie diesem, zwischen zwei solchen Männern.

„Sir“, begann Mr. Tupman nach einer kurzen Pause mit dumpfer Stimme. „Sie haben mich alt genannt.“

„Jawohl“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Und fett.“

„Ich wiederhole es.“

„Und ein – Subjekt.“

„Das sind Sie auch!“

Es trat eine beängstigende Pause ein.

„Meine Anhänglichkeit an Ihre Person, Sir“, sagte Mr. Tupman mit einer Stimme, die von innerer Bewegung zitterte, und krempelte sich die Ärmel auf, „ist groß, sehr groß, aber ich muß augenblicklich Genugtuung haben.“

„Nur heran, Sir, nur heran!“ rief Mr. Pickwick.

Und im höchsten Grade durch den Wortwechsel gereizt, warf sich der heroische Gelehrte in eine paralytisch aussehende Positur, in der seine beiden Gefährten ohne Mühe eine Defensivstellung erkannten.

„Wie?“ rief Mr. Snodgraß aus, plötzlich die Sprache wiederfindend, deren er bis dahin vor grenzenlosem Erstaunen beraubt gewesen war, und trat, auf die Gefahr hin, von beiden Parteien eins an die Schläfen zu bekommen, zwischen die Streitenden. „Wie? Mr. Pickwick, auf den die Augen der ganzen Welt gerichtet sind?! Und Sie, Mr. Tupman, auf den, wie auf uns alle, der Widerschein eines unsterblichen Namens fällt!? Schämen Sie sich, meine Herren. Schämen Sie sich!“

Die ungewohnten Furchen augenblicklicher, leidenschaftlicher Erregung auf Mr. Pickwicks klarer und offener Stirn verschwanden allmählich während dieser Anrede seines jungen Freundes wie Bleistiftlinien unter dem tilgenden Einflüsse eines Radiergummis. Noch ehe Mr. Snodgraß geendet, hatte das Gesicht des Trefflichen wieder den gewohnten wohlwollenden Ausdruck angenommen.

„Ich bin zu hitzig gewesen“, sagte er. „Allzu hitzig. Mr. Tupman, Ihre Hand!“

Die finstere Wolke wich auch aus Mr. Tupmans Antlitz, und mit Wärme ergriff er die Hand seines Freundes.

„Auch ich habe mich hinreißen lassen.“

„Nein, nein“, unterbrach ihn Mr. Pickwick, „die Schuld lag an mir. Sie wollen also die grüne Jacke tragen?“

„O nein, nein“, beteuerte Mr. Tupman.

„Wenn Sie mir einen Gefallen erweisen wollen, so tun Sie es.“

„Also gut, dann natürlich“, antwortete Mr. Tupman.

Und so wurde denn beschlossen, daß Mr. Tupman, Mr. Winkle und Mr. Snodgraß sämtlich im Kostüm erscheinen sollten.

Der Festmorgen kam. Es war ein überwältigender Anblick, Mr. Tupman im Banditenkostüm prangen zu sehen, mit eng anschließender Jacke, wie ein Nadelkissen, die Schenkel in kurze Samthosen gepfropft und die Waden mit Bändern umwickelt, worauf alle Banditen bekanntlich großen Wert legen. Kühn blickte sein offenes, geistreiches Gesicht mit stattlichem Schnurrbart und Backenbart, einem Kunsterzeugnis der Korkmalerei, aus dem offenen Hemdkragen hervor. Seine zuckerhutförmige, mit vielfarbigen Bändern gezierte Kopfbedeckung mußte er auf den Knien halten, weil der Wagen nicht hoch genug war. Nicht minder prächtig nahm sich Mr. Snodgraß in blauem Atlaswams und spanischem Mantel, weißen seidenen Strümpfen, roten Schuhen und griechischem Helm aus, einem Kostüm, das erwiesenermaßen von alters her die Tracht der Troubadoure bildet. Alles das, an und für sich schon entzückend, war aber noch nichts gegen das Jubelgeschrei der Menge, als der Wagen vorfuhr und eine Halbkutsche den großen Pott als russischen Justizbeamten mit einer schrecklichen Knute in der Hand aufnahm, ein fein gewähltes Sinnbild der gewaltigen Macht der „Eatanswill-Gazette“ und der furchtbaren Art und Weise, mit der der Publizist öffentliche Beleidigungen geißelte.

„Bravo!“ riefen die Herren Tupman und Snodgraß aus dem Wagen, als sie diese wandelnde Allegorie erblickten.

„Bravo!“ hörte man Mr. Pickwick rufen.

„Hurra, hoch, Pott!“ schrie die Menge.

Umtost von solchen Begrüßungen, bestieg Mr. Pott mit einem sanften, würdevollen Lächeln die Halbkutsche, was zur Genüge bewies, wie sehr er sich seiner Macht bewußt war.

Sodann trat Mrs. Pott aus dem Hause. Sie hätte dem Gotte Apoll zum Verwechseln ähnlich gesehen, wenn nur der Damenrock nicht gewesen wäre. Mr. Winkle, in seiner hellroten Jacke ein Mittelding zwischen Fuchsjäger und königlichem Briefträger, bot ihr den Arm. Als letzter erschien Mr. Pickwick, um jubelt von der Straßenjugend, die in seinen Strümpfen und Gamaschen offenbar Hinweise auf die alten, ehrwürdigen Zeiten sahen. Mr. Weller, zur Mithilfe beim Servieren auserkoren, stieg auf den Bock des Wagens, der seinen Gebieter barg, und beide Vehikel bewegten sich Mrs. Leo Hunters Park zu.

Männer, Frauen, Knaben und Mädchen, die sich versammelt hatten, die Gäste in ihren Maskenkostümen zu bewundern, jauchzten vor Freude und Entzücken, als Mr. Pickwick, in den Banditen und den Troubadour eingehängt, feierlich dem Eingange zu schritt, und der Jubel erreichte seinen Höhepunkt, als Mr. Tupman unter mannigfachen Anstrengungen sich in der Nähe des Parktores bemühte, den Zuckerhut auf seinem Kopf zu befestigen.

Alle Festanordnungen waren aufs glänzendste gelöst, und die prophetischen Worte Potts über die Pracht des Feenreiches gingen buchstäblich in Erfüllung. Der Park, über fünf viertel Morgen groß, wimmelte von Gästen! Noch nie strahlten wohl Schönheit, Eleganz und Literatur in solchem Glänze. Die junge Dame, die die Poesie in der „Eatanswill-Gazette“ vertrat, lustwandelte, als Sultanin auf den Arm des jungen Herrn gestützt, der dem Departement der Kritik vorstand und – von den Stiefeln vielleicht abgesehen – sehr passend in die Uniform eines Feldmarschalls gekleidet war. Eine zahllose Menge Genies hatte sich eingefunden, mit denen zusammenzutreffen sich jeder vernünftige Mensch zur Ehre anrechnen mußte. Und noch nicht genug daran, waren ein halbes Dutzend „Löwen“ aus London zugegen, Autoren, wirkliche Autoren, die komplette Bücher geschrieben und sie nachher dem Druck überliefert hatten. Sie gingen herum wie gewöhnliche Menschen, lächelnd und unaufhörlich plaudernd, noch dazu eine ziemliche Portion Unsinn, vermutlich in der wohlwollenden Absicht, sich dem Publikum verständlicher zu machen. Selbstverständlich war auch eine Musikbande mit Papiermützen da und ein Quartett von Sängern aus irgendeinem Lande Dingsbums, in der Tracht ihres Landes, und ein Dutzend gemietete Aufwärter, gleichfalls in dem Kostüm ihrer Gegend, das freilich etwas schmutzig war – Mrs1. Leo Hunter als Minerva, die die Gäste empfing und vor Stolz, so hervorragende Leine um sich versammelt zu sehen, überfloß, nicht zu vergessen „Mr. Pickwick, Ma’am“, meldete ein Diener, als sich der Meister, mit dem Hute in der Hand und in den Banditen und den Troubadour eingehängt, der Göttin des Tages näherte.

„Wie, wo?“ rief Mrs. Leo Hunter in theatralischer Verzückung.

„Hier“, sagte Mr. Pickwick.

„Ist’s möglich, daß ich wirklich das Glück habe, Mr. Pickwick in eigner Person vor mir zu sehen?“

„Keinen andern, Ma’am“, erwiderte Mr. Pickwick mit einer sehr tiefen Verbeugung. „Erlauben Sie, daß ich meine Freunde – Mr. Tupman – Mr. Winkle – und Mr. Snodgraß – der Verfasserin des ,Sterbenden Frosches‘ vorstelle.“

Wohl nur Leute, die den Versuch selbst gemacht haben, wissen, wie schwer es ist, in enganliegenden grünen Samtbeinkleidern, einer zu knappen Jacke mit einem Zuckerhut auf dem Kopfe, oder in blauen Atlaseskarpins, weißen Seidenstrümpfen oder Kniehosen und Stulpenstiefeln, die ohne die entfernteste Rücksicht auf die Dimensionen der Körper angefertigt wurden, Verbeugungen zu machen. Noch nie sah man wohl solche Verdrehungen, wie sie Mr. Tupman machte, um Gelenkigkeit und Grazie an den Tag zu legen, und noch nie so sinnreiche Stellungen, wie sie seine Freunde in ihren Maskenkostümen annahmen.

„Mr. Pickwick“, flötete Mrs. Leo Hunter, „ich nehme Ihnen das Versprechen ab, daß Sie den ganzen Tag nicht von meiner Seite weichen. Es sind Hunderte von Gästen hier, denen ich Sie unbedingt vorstellen muß.“

„Sie sind sehr gütig, Ma’am“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Zuvörderst sehen Sie hier meine kleinen Töchterchen; ich hätte sie beinahe vergessen“, sagte die Minerva, nachlässig auf ein Paar erwachsene Damen von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren deutend, die beide als Babys gekleidet waren.

„Wunderschöne junge Damen“, bemerkte Mr. Pickwick, als sich die Mädchen nach der Zeremonie wieder entfernten.

„Ganz wie ihre Mama, Sir“, warf Mr. Pott in majestätischem Tone hin.

„Oh, Sie Schlimmer!“ rief Mrs. Leo Hunter und schlug dem Herausgeber scherzhaft mit ihrem Fächer auf die Schulter.

„Aber ich bitte sehr, meine teuerste Mrs. Hunter“, verteidigte sich Mr. Pott, der in der Villa den Herold zu spielen pflegte, „hat denn nicht vergangnes Jahr, als Ihr Porträt in der königlichen Akademie ausgestellt war, alle Welt gefragt, ob es Sie oder Ihre jüngste Tochter vorstelle?“

„Nun gut, und wenn es auch der Fall war, brauchen Sie es denn hier vor Fremden zu verraten?“ flötete Mrs. Leo Hunter und bedachte den schlummernden Löwen der „Eatanswill-Gazette“ mit einem zweiten Fächerschlag.

„Graf, Graf“, rief sie im selben Atem einem stark bebarteten Individuum in fremdländischer Uniform zu, das eben vorüberging.

„Ah! Sie wünschen mirr zu sprech?“ sagte der Graf und trat näher.

„Ich möchte zwei sehr geistvolle Herren miteinander bekannt machen“, erwiderte Mrs. Leo Hunter. „Mr. Pickwick, ich mache mir ein großes Vergnügen daraus, Sie dem Grafen Smorltork vorzustellen.“ – Schnell flüsterte sie Mr. Pickwick die Worte zu: „Berühmter Fremder, sammelt Materia! für sein großes Werk über England. Hem! Graf Smorltork – Mr. Pickwick.“

Mr. Pickwick verneigte sich mit der gebührenden Hochachtung. Der Graf zog sein Notizbuch heraus.

„Wie sagen Sie, Mrs. Hunt?“ fragte er mit graziösem Lächeln. „Pig wig oder Big wig? Ah, versteh. Wig ist Perücke in englisch. Große Perücke! Richter. Ah! Ich seh, das ist’s, Big wig.“

Der Graf wollte eben Mr. Pickwick als Rechtsgelehrten in sein Notizbuch eintragen, als ihn Mrs. Leo Hunter mit der Erklärung unterbrach: „Nein, nein, Graf. Pickwick.“

„Ah, ah, ich versteh. Pieg Taufname, Wix Familienname. Schön, serr schön. Pieg Wix. Wie befind Sie sich, Mr. Wix?“

„Sehr gut, ich danke Ihnen“, antwortete Mr. Pickwick mit seiner ganzen Leutseligkeit. „Sind Sie schon lange in England?“

„Lange – serr lange Zeit – vierzehn Tage – merr noch.“

„Werden Sie lange bleiben?“

„Ein Woch.“

„Da werden Sie genug zu tun haben“, meinte Mr. Pickwick lächelnd, „in dieser Zeit alles nötige Material zu sammeln.“

„Ist schon gesammelt“, erwiderte der Graf.

„Wirklich?“

„Hier ist“, erläuterte der Graf und deutete sich mit der Hand auf die Stirn. „Großer Buch su Hause – voll Notiz – Musik, Malerei, Wissenschaft, Politik. Alles.“

„Das Wörtchen Politik, Sir“, bemerkte Mr. Pickwick, „bedeutet allein schon ein schwieriges Studium von unberechenbarem Umfang.“

„Ah“, sagte der Graf und zog sein Notizbuch wieder hervor, „serr gut; schöne Wort, ein Kapitel damit zu beginn. Siebenundvierzigstes Kapitel. Poltjik. Das Wort Poltjik bedeutet allein – – –“ und Mr. Pickwicks Bemerkung wanderte in Graf Smorltorks Notizbuch, mit allen Variationen und Zusätzen, wie sie dem Herrn seine üppige Phantasie oder seine unvollkommene Kenntnis der Sprache eingaben.

„Graf!“ rief Mrs. Leo Hunter.

„Mrs. Hunt?“

„Hier Mr. Snodgraß, Mr. Pickwicks Freund, ein großer Dichter.“

„Halt“, rief der Graf und holte sein Notizbuch abermals hervor. „Gegenstand: Djichtkunst – Kapjitel, literarische Freunde – Name: Snowgraß; serr schön. Snowgraß vorgegestellt – großer Djichter, Freund Pieg Wixis – von Mrs. Hunt, Verfasserjin eines schönen Gedjichtes – wie heißt doch? – Floß? Sterbende Floß – serr schön – wirklich serr schön.“

Befriedigt steckte der Graf sein Notizbuch ein und entfernte sich unter endlosen Bücklingen, höchlichst vergnügt, seine Sammlung mit so wichtigen Dingen bereichert zu haben.

„Ein bewunderungswürdiger Mann, der Graf Smorl-tork!“ bemerkte Mrs. Leo Hunter.

„Ein tiefer Philosoph“, bestätigte Pott.

„Ein heller Kopf, ein bedeutender Geist“, fügte Mr. Snodgraß hinzu.

Die Umstehenden stimmten in die Lobeshymne auf den Grafen Smorltork ein, nickten weise und riefen einmütig: „In der Tat.“

Die Begeisterung ließ erst nach, als sich das Dingsbums-Sängerquartett in malerischer Pose vor einem kleinen Apfelbaum gruppierte und seine Nationallieder abzusingen begann – ein Unternehmen, das sich in Anbetracht des Umstandes, daß immer drei der Sänger grunzten, während der vierte dazwischenheulte, ohne Schwierigkeit abwickelte. Nachdem diese interessante Nummer mit dem lauten Beifall der Gästeschar beschlossen worden, produzierte sich sofort ein Junge damit, daß er durch die Beine eines Stuhls schlüpfte, über ihn weghüpfte, unter ihm durchkroch, mit ihm niederfiel und überhaupt alles anfing, nur das nicht, wozu ein Stuhl bestimmt ist, sodann eine Krawatte aus seinen Beinen machte, sie um seinen Hals herumschlang und damit den praktischen Beweis erbrachte, wie leicht es einem menschlichen „Wesen ist, sich einer Riesenkröte gleichzumachen – lauter Künste, die die versammelten Zuschauer höchlichst ergötzten und befriedigten.

Hierauf ließ sich Mrs. Pott mit einem schwachen Gezirp vernehmen, das übrigens durchaus klassisch war und ihrem Kostüm vollkommen entsprach, da Apoll bekanntlich selbst Komponist war und Komponisten erfahrungsgemäß weder ihre eignen noch fremde Musikstücke singen können. Sodann deklamierte Mrs. Leo Hunter ihre weltberühmte „Ode an den sterbenden Frosch“, trug sie ein zweites Mal vor und würde sie wahrscheinlich noch zweimal wiederholt haben, wenn nicht der größte Teil der Gäste, der bereits Magenknurren verspürte, auf das entschiedenste erklärt hätte, es würde höchst schamlos sein, die Güte der Hausfrau so zu mißbrauchen. Aus demselben Grunde wollten auch die besorgten und bescheidenen Freunde Madames, trotz ihrer Bereitwilligkeit, die Ode noch einmal vorzutragen, von keinem Dakapo mehr hören, und als der Speisesaal geöffnet wurde, drängte sich alles mit größter Eilfertigkeit hinein, da bekanntermaßen bei Hunters die Gewohnheit herrschte, auf hundert Einladungskarten immer nur fünfzig Kuverts aufzulegen, oder, mit andern „Worten, nur die eigentlichen Löwen zu füttern und das kleinere Geschmeiß sich selbst zu überlassen.

„Wo ist denn Mr. Pott?“ fragte Mrs. Leo Hunter, die eben damit beschäftigt war, die besagten Löwen um sich am Tisch zu versammeln.

„Hier bin ich“, rief der Herausgeber, in der entferntesten Ecke des Zimmers von aller Hoffnung auf Speise und Trank abgeschnitten, sofern die Hausfrau nicht für ihn sorgte.

„Wollen Sie nicht auch zu uns kommen?“

„Ach, bitte, lassen Sie ihn nur“, wehrte Mrs. Pott mit verbindlichem Tone, „Sie geben sich wirklich zuviel Mühe, Mrs. Hunter. Du bist doch dort ganz gut aufgehoben, nicht wahr, mein Lieber?“

„O gewiß, mein Schatz“, erwiderte der unglückliche Pott mit herbem Lächeln. Der nervige Arm, der die Knute mit Riesenkraft in der Öffentlichkeit schwang, erlahmte bei Mrs. Potts gebieterischem Blick.

Triumphierend blickte Mrs. Leo Hunter umher. Graf Smorltork war eifrig damit beschäftigt, den Inhalt der Schüsseln zu notieren, Mr. Tupman präsentierte einigen Löwinnen den Hummersalat mit einer Grazie, wie sie nie zuvor ein Bandit an den Tag gelegt, Mr. Snodgraß hatte den jungen Herrn ausgesehen, der die Abschlachtung der Autoren für die „Eatanswill-Gazette“ besorgte, und war in einem feurigen Gespräch mit der jungen Dame begriffen, die die Poesie vertrat, und Mr. Pickwick machte sich überall angenehm.

Nichts schien zu mangeln, um den auserlesnen Zirkel vollständig zu machen, als Mr. Leo Hunter, dem es bei solchen Gelegenheiten oblag, an den Eingangstüren zu stehen und minder wichtige Personen in Gespräche zu verwickeln, plötzlich ausrief:

„Meine Liebe, soeben kommt Mr. Charles Fitz-Marshall.“

„Oh, wie sehnsüchtig habe ich ihn erwartet“, entgegnete Mrs. Leo Hunter. „Darf ich bitten, Platz zu machen und Mr. Fitz-Marshall durchzulassen? Sag doch Mr. Fitz-Marshall, mein Lieber, er möge sogleich zu mir kommen, um sich wegen seines späten Erscheinens ausschelten zu lassen.“

„Komme schon, teuerste Madame“, rief eine Stimme, „so schnell ich kann – schreckliche Menge Leute – Saal ganz voll – schwieriges Stück Arbeit – sehr schwierig.“

Mr. Pickwick fiel Messer und Gabel aus der Hand, und er starrte über die Tafel Mr. Tupman an, dem es ebenso ging und der aussah, als wolle er ohne weiteres in den Boden sinken.

„Ah!“ rief Mr. Fitz-Marshall und brach sich Bahn durch die letzten fünfundzwanzig Türken, Offiziere, Ritter und die verschiedenen Exemplare Karls des Zweiten, die ihn noch von der Tafel trennten. „Die reinste Plättmangel – nicht eine Falte mehr an meinem Rock nach so einer Drückerei – hätte meine Wäsche ungebügelt anziehen können. – Haha! Kein übler Gedanke, sie auf dem Körper mangeln zu lassen. – Anstrengende Sache das – sehr anstrengend.“

Und gleich darauf präsentierte sich ein junger Mann in der Uniform eines Marineoffiziers und mit der Gestalt und den Gesichtszügen Mr. Alfred Jingles den Blicken der erstaunten Pickwidder; aber kaum hatte er Zeit, die dargebotne Hand Mrs. Leo Hunters zu ergreifen, da begegneten seine Blicke den zornfunkelnden Augen Mr. Pickwicks.

„Hallo!“ rief er sofort. „Ganz vergessen – Postillion noch keine Befehle – sogleich geben – in einer Minute wieder hier.“

„Der Bediente oder Mr. Hunter wird es im Augenblick besorgen, Mr. Fitz-Marshall“, sagte Mrs. Leo Hunter.

„Nein, nein. – Selber besorgen – dauert nicht lange – sofort wieder da“, erwiderte Jingle und verschwand in der Menge.

„Möchten Sie mir die Frage erlauben, Ma’am“, sagte Mr. Pickwick und erhob sich aufgeregt von seinem Sitze, „wer der junge Mann ist und wo er sich aufhält?“

„Es ist ein sehr vermögender Gentleman, Mr. Pickwick“, antwortete Mrs. Leo Hunter, „und ich brenne darauf, ihn Ihnen vorzustellen. Auch der Graf wird entzückt sein.“

„Ja, ja“, erwiderte Mr. Pickwick hastig. „Aber sein Aufenthalt …“

„Er wohnt gegenwärtig im ,Engel‘ in Bury.“

„In Bury?“

„In Bury St. Edmunds, wenige Meilen von hier. Aber ich bitte Sie, Mr. Pickwick, Sie werden uns doch nicht schon verlassen wollen? Oh, Sie dürfen nicht daran denken, jetzt, so früh!“

Doch schon hatte sich Mr. Pickwick ins Gedränge gestürzt. Er erreichte den Garten und traf dort Mr. Tupman, der ihm auf den Fersen gefolgt war.

„Es ist umsonst“, sagte Mr. Tupman. „Er ist fort.“

„Ich weiß“, erwiderte Mr. Pickwick. „Aber ich werde ihm folgen.“

„Ihm folgen? Wohin?“

„Nach Bury in den ,Engel‘. Wissen wir, wen er dort wieder betrügt? Einmal hat er schon einen Gentleman beschwindelt, und wir waren die unschuldige Ursache. Er soll es nicht wieder tun, wenn ich es verhindern kann. Ich werde ihn entlarven. Sam! Wo ist mein Bedienter?“

„Hiä, Sir!“ rief Mr. Weller und kam aus einem versteckten Winkel hervor, wo er eben damit beschäftigt gewesen, eine Madeiraflasche zu untersuchen, die er eine oder zwei Stunden vorher vom Frühstückstisch entlehnt hatte. „Hiä is Ihr Bedienter, Sir, stolz auf meinen Titel, wie das lebende Skelett sagte, als man ihm für Geld sehen ließ.“

„Folge mir augenblicklich“, befahl Mr. Pickwick. „Tupman, wenn ich in Bury bin, können Sie midi dort treffen, sobald ich Ihnen schreibe. Bis dahin adieu.“

Alle Vorstellungen waren nutzlos. Mr. Pickwick blieb unerschütterlich. Mr. Tupman kehrte zur Gesellschaft zurück und hatte in einer Stunde Mr. Alfred Jingle oder Charles Fitz-Marshall im Rausche der Quadrillen und des Champagners bereits vollständig vergessen.

Mr. Pickwick und Sam Weller saßen inzwischen auf dem Dach einer Postkutsche und verringerten von Minute zu Minute die Entfernung zwischen sich und der guten alten Stadt Bury Saint Edmunds.

Siebzehntes Kapitel


Siebzehntes Kapitel

Enthält zu viele Abenteuer, um sie kurz angeben zu können.

Es gibt keinen Monat im ganzen Jahre, in dem die Natur einen herrlicheren Anblick bietet als im August. Wohl hat der Lenz seine Reize, und der Mai ist heiter und blütenreich, aber das liegt an dem Kontrast mit dem Winter, der diese Jahreszeit so lieblich erscheinen läßt. Der August hingegen ist auf sich selbst beschränkt. Er kommt, wenn wir bereits verwöhnt sind von klarem Himmel, grünen Wiesen und süß duftenden Blumen und die Erinnerung an Schnee und Eis und rauhe Winde fast ganz aus unserm Gedächtnis entschwunden ist. – Und doch, welch köstliche Zeit! Baumgärten und Getreidefelder sind belebt vom Gesang fröhlicher Arbeiter, die Bäume beugen sich unter der Last reifer Früchte, und das gelbe Korn, die Landschaft vergoldend, läßt seine Ähren unter dem leisesten Lüftchen wogen und ruft nach der Sichel. Ein Geist des Friedens ist ausgegossen über der Erde, und geräuschlos schwankt der schwere Erntewagen über das Feld.

Schnell rollt die Postkutsche durch die Baumgärten dahin die Straße entlang, und die Weiber und Kinder, die die Frucht in Garben binden oder die zerstreuten Ähren sammeln, bleiben gruppenweise stehen und feiern für einen Augenblick. Der Schnitter hält in seiner Arbeit inne und sieht mit verschränkten Armen dem Gefährt nach, und die derben Ackergäule werfen einen schläfrigen Blick auf die schmucken Kutschenrosse, der so deutlich, wie es ein Pferdeblick vermag, sagt: Das ist alles recht schön anzusehen, aber langsam über ein Ackerfeld hinzugehen, ist im Grunde doch besser als eine heiße Arbeit wie diese auf der staubigen Straße. Dann nehmen die Weiber und Kinder ihre Arbeit wieder auf, der Schnitter bückt sich mit seiner Sichel, und die Gäule ziehen langsam an.

Natürlich verfehlte eine Szene wie diese nicht ihre Wirkung auf das empfängliche Gemüt Mr. Pickwicks. Mit seinem Entschlüsse beschäftigt, den schurkischen Jingle zu entlarven, saß er anfangs stumm und in Gedanken verloren da; aber nach und nach lenkte sich seine Aufmerksamkeit mehr und mehr auf die Umgebung, und schließlich gewährte ihm der Ausflug so viel Genuß, als hätte er ihn nur zum Vergnügen unternommen. „Ein entzückender Anblick, Sam“, bemerkte er.

„Is den Schornsteinen in London bedeutend über“, versetzte Mr. Weller und lüftete den Hut.

„Du hast wohl auch in deinem Leben nicht viel anderes gesehen als Schornsteine, Steinbauten und Mörtel?“ fragte Mr. Pickwick lächelnd. „Bin nich immer Hausknecht gewesen, Sir“, entgegnete Mr. Weller mit Kopfschütteln. „War früher Fuhrmannsjunge. Zuerst war ich bei ’nem Kärrner, dann bei ’nem Fuhrmann, dann hab ich’s zum Aushelfer gebracht und dann zum Hausknecht. Und jetzt bin ich Bedienter bei ’nem Schenlmän. Nächstens werd ich vielleicht selbst ’n Schenlmän, mit ’ne Feife im Mund und ’nem Sommerhaus mit Hintergarten. Kann man nie wissen.“

„Du bist ja ein Philosoph, Sam“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Erbstück, Sir“, versetzte Mr. Weller. „Mein Vater ist sehr stark in dieser Richtung. Wenn meine Stiefmutter keift, feift er. Und wenn sie vor Wut seine Feife zerbricht und Krämpfe kriegt, geht er langsam raus, holt sich ’ne andre und raucht ganz gemütlich, bis sie wieder zu sich kommt. Ich dächte, das is die wahre Philosophie, Sir.“

„Auf alle Fälle ein gutes Ersatzmittel dafür“, gab Mr. Pickwick lachend zu. „Es muß dir im Laufe deines Lebens oft gut zustatten gekommen sein, Sam?“

„Will ich meinen, Sir! Bevor ich zum Fuhrmann kam, wohnte ich in ’nem Logis ohne Möbel. Da kam sie mir gut zustatten.“

„Ohne Möbel?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja – die drei Bögen der Waterloobrücke. Hübsche Schlafstätte, nur die Lage bißchen zu luftig. Habe dort seltsame Dinge zu sehen gekriegt.“

„Das glaube ich“, versetzte Mr. Pickwick mit einer Miene, die großes Interesse verriet.

„Dinge, Sir“, fuhr Mr. Weller fort, „wo Ihr menschenfreundliches Herz durchdrungen hätten, daß se auf der andern Seite wieder rausgekommen wären. Nicht etwa ausgelernte Vagabunden wohnten dort; die wissen sich was Besseres als das. Junge Bettler und Bettlerinnen, wo noch in die Lehre gehen. Oder arme Deibel, die den Zweipfennigstrick nich erwischen konnten.“

„Zweipfennigstrick? Was ist das?“ fragte Mr. Pickwick wißbegierig.

„Zweipfennigstrick, Sir? ’ne wohlfeile Herberge, wo das Bett zwei Pence kostet.“

„Warum nennt man denn ein Bett einen Strick?“ fragte Mr. Pickwick.

„Gott segne Ihre Unschuld, Sir“, erwiderte Sam. „Als das Hotel eröffnet wurde, betteten sie zuerst auf dem Boden auf, aber das zahlte sich nich aus. Anstatt bescheiden ihre zwei Pence abzuschlagen, blieben die Gäste den halben Tag liegen. Jetzt haben sie zwei Stricke dort mit Hängematten aus Sackleinwand darauf, und wenn’s sechs Uhr läutet, binden se die Enden auf, und da fallen se dann haufenweis runter und sind bestimmt wach. – Übrigens, ist das Bury St. Edmunds?“

„Ja, ich glaube“, erwiderte Mr. Pickwick. Die Postkutsche rasselte über die wohlgepflasterten Straßen eines hübschen Städtchens von wohlhabendem und reinlichem Aussehen und hielt vor einem großen Gasthof in einer breiten, offenen Straße, beinahe gerade der alten Abtei gegenüber.

„Und dies“, sagte Mr. Pickwick und blickte auf, „ist der ,Engel‘. Wir müssen höchst vorsichtig sein, Sam. Bestelle ein Zimmer für mich, nenne aber meinen Namen nicht. Du verstehst?“

Mr. Weller blinzelte pfiffig, tat, wie ihm geheißen, besorgte die Mantelsäcke und geleitete gleich darauf Mr. Pickwick in sein Zimmer.

„Das erste, was wir jetzt zu tun haben, Sam“, sagte Mr. Pickwick, „ist …“

„Das Essen bestellen, Sir“, unterbrach ihn Mr. Weller. „Es ist schon sehr spät.“

„Hm, allerdings“, sagte Mr. Pickwick und sah auf seine Uhr.

„Und wenn ich Ihnen raten darf, Sir, so würde ich mich an Ihrer Stelle nach dem Essen zu Bett begeben und erst morgen, ausgeschlafen, ans Werk gehen, ’s is nichts so erquickend wie ’n ordentlicher Schlaf, Sir, wie das Schenkmädchen sagte, ehe sie das Glas Opium austrank.“ „Da magst du recht haben, Sam“, versetzte Mr. Pickwick. „Aber erst muß ich mich überzeugen, ob der Schurke im Hause ist und sich nicht etwa heute noch aus dem Staube macht.“

„Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Sir“, sagte Sam. „Ich bestelle unten ’n hübsches kleines Abendessen für Ihnen und werde dabei meine Nachforschungen anstellen. Ich will nich Sam Weller heißen, wenn ich nich in fünf Minuten alles aus dem Hausknecht rausgepumpt habe, was drin is.“

„Also gut, tue das“, sagte Mr. Pickwick, und Mr. Weller entfernte sich.

Nach Verlauf einer halben Stunde saß Mr. Pickwick bereits vor einem sehr ausgiebigen Mahl, und nach weiteren fünfzehn Minuten erschien Mr. Weller mit der Nachricht, Mr. Charles Fitz-Marshall habe angeordnet, man solle ihm sein Zimmer bis auf weiteres reservieren. Er sei nur ausgegangen, um den Abend in einem benachbarten Privathause zuzubringen, habe dem Hausknecht befohlen, bis zu seiner Rückkunft aufzubleiben, und sei dann mit seinem Diener weggegangen.

„Ich werde mir morgen früh den Bedienten ausborgen und schon rauskriegen, was sein Herr vorhat“, schloß Mr. Weller seinen Bericht. „Wie wollen Sie das vorher wissen?“ warf Mr. Pickwick ein.

„Du meine Güte! Aber das tun Diener doch immer, Sir“, antwortete Mr. Weller.

„Ach so, ja, daran dachte ich nicht“, sagte Mr. Pickwick, „na schön.“

„Sie können dann festlegen, was am besten zu machen is, Sir, und demzufolge geht’s dann los.“

Da dies offenbar die beste Lösung war, die sich finden ließ, wurde sie gewählt. Mr. Weller zog sich mit der Erlaubnis Mr. Pickwicks zurück, um den Abend nach Gutdünken zu verbringen; bald darauf wurde er von den Besuchern des Schankstübchens einstimmig zum Vorsitzenden gewählt. In dieser Eigenschaft machte er sich so gut und erntete so viel Zufriedenheit bei den versammelten Gentlemen, daß die Beifallsrufe und das dröhnende Gelächter bis in Mr. Pickwicks Schlafzimmer drangen und seine Nachtruhe gut und gerne um drei Stunden verkürzten.

Zeitig am folgenden Morgen vertrieb sich Mr. Weller eben die Nachwehen des verfloßnen Abends durch ein Halbpennysturzbad, das heißt, er ließ sich von einem Gentleman, der im Stalldepartement angestellt war, Wasser über Kopf und Nacken pumpen, da wurde er einen jungen Mann in maulbeerfarbener Livree gewahr, der auf einer Bank im Hofe mit einer Miene tiefen Nachsinnens in einem Gebetbuch las, aber doch von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick auf die Vorgänge bei der Pumpe warf, als ob sie sein Interesse sehr in Anspruch nähmen.

Scheinst mir ein seltsamer Bursche zu sein, deinem Aussehen nach, dachte Mr. Weller, als seine Augen zum erstenmal den Blicken des Fremden in der maulbeerfarbenen Livree begegneten, der ein breites, schmutziges, häßliches Gesicht, tiefliegende Augen und einen riesigen Kopf hatte, von dem ein Wust schlichten schwarzen Haares herabhing. Ein seltsamer Bursche, sagte sich Mr. Weller und setzte sein Bad fort, ohne sich weiter Gedanken zu machen.

Da aber der Mensch immer wieder von seinem Gebetbuch aufsah und nach ihm schielte, als ob er eine Unterhaltung anzuknüpfen wünschte, nickte er ihm schließlich, um ihm Gelegenheit dazu zu geben, vertraulich zu und sagte:

„Wie geht’s, Gouverneur?“

„Gottlob, gut, ziemlich gut, Sir“, antwortete der Mensch mit bedächtiger Langsamkeit und klappte das Buch zu. „Ich hoffe, Ihnen ebenfalls?“ „Na, wenn ich mir weniger als wandelnde Branntweinflasche fühlen würde, dann wäre ich diesen Morgen nich so flaumenweich“, antwortete Sam. „Loschieren Sie hier im Hause?“

Der Maulbeerfarbene bejahte.

„Warum haben Sie denn gestern nacht nicht mitgehalten?“ fragte Sam und trocknete sich das Gesicht mit dem Handtuch ab. Scheinst mir einer von der fidelen Sorte zu sein. Siehst so gesellig aus wie ’ne lebende Forelle in ’ner Reuse, setzte er innerlich hinzu.

„Ich war gestern abend mit meinem Herrn aus“, erwiderte der Fremde.

„Wie heißt er?“ fragte Mr. Weller, von einer plötzlichen Ahnung ergriffen.

„Fitz-Marshall“, antwortete der Maulbeerfarbene.

„Geben Sie mir die Hand“, sagte Mr. Weller und trat näher. „Sie gefallen mir, alter Bursche.“

„Nun, das ist höchst seltsam“, bemerkte der Maulbeerfarbene schlicht, „auch Sie haben mir gleich so gefallen, daß ich Sie vom ersten Augenblick an, wo ich Sie unter der Pumpe sah, am liebsten angesprochen hätte.“

„Wahrhaftig?“

„Auf mein Wort. Ist das nicht kurios?“

„Sehr sonderbar“, bestätigte Sam und beglückwünschte sich innerlich zu der Zutraulichkeit des Fremden. „Wie heißen sie eigentlich, würdiger Vater?“

„Hiob.“

„Hm, ein sehr guter Name das; der einzige meines Wissens, wo sie noch keinen Spitznamen draus gemacht haben. Und weiter?“

„Trotter“, antwortete der Fremde. „Und Sie?“

Sam gedachte der Mahnung seines Herrn und sagte:

„Mein Name ist Walker, und mein Herr heißt Wilkins. Wollen Sie nich ’n Tropfen mit mir hinter die Binde gießen, Mr. Trotter?“

Mr. Trotter ging auf diesen annehmbaren Vorschlag ein, steckte sein Buch in die Rocktasche und begleitete Mr. Weller in die Trinkstube, wo sie sich alsbald der Untersuchung einer herzstärkenden Mischung aus Wacholderbranntwein und Nelkenessenz widmeten.

„Und was für „n Posten haben Sie?“ fragte Sam, als er das Glas seines Gefährten zum zweiten Male füllte.

„’n schlechten“, antwortete Hiob, mit den Lippen schmatzend, „’n sehr schlechten.“

„Das ist doch nich Ihr Ernst?“ fragte Sam.

„Mein vollkommener Ernst. Und was noch schlimmer ist, mein Herr will heiraten.“

„Was Sie nich sagen!“

„Ja, leider. Und noch schlimmer als das, er will eine unermeßlich reiche Erbin aus einem Pensionat entführen.“

„’n nettes Scheusal, das“, äußerte Sam, seines Gefährten Glas wieder füllend. „Aus ’nem Pensionat hier in der Stadt wohl, was?“

Obgleich die Frage scheinbar in ganz unbefangnem Ton hingeworfen wurde, gab doch Mr. Hiob Trotter durch Gebärden deutlich zu erkennen, daß er die Absicht seines neuen Freundes durchschaute. Er leerte sein Glas, machte ein geheimnisvolles Gesicht, blinzelte mit seinen beiden Äuglein – zuerst mit dem rechten, dann mit dem linken – und machte schließlich eine Bewegung mit dem Arme, als ob er an einem Brunnenschwengel zöge, um dadurch anzuzeigen, daß er gar wohl wisse, Mr. Weller gedenke ihn auszupumpen.

„Nein, nein“, sagte er endlich. „Das darf ich nicht sagen; das ist ein Geheimnis, ein großes Geheimnis, Mr. Walker.“

Er stürzte dabei sein Glas um, um seinem Gefährten anzudeuten, daß nichts mehr darin sei. Sam verstand den zarten Wink und ließ, zur großen Freude des Maulbeerfarbenen, das zinnerne Gefäß nochmals füllen.

„So, so, ist’s wirklich ein Geheimnis?“ fragte er dann.

„Ich möchte denken, ja“, erwiderte Mr. Hiob Trotter und schlürfte seinen Trank mit Wohlbehagen.

„Ihr Herr ist wohl sehr reich?“

Mr. Trotter lächelte und schlug sich ausdrucksvoll viermal auf die Hosen, wie um damit anzudeuten, daß sein Herr das auch tun könnte, ohne jemand durch Geldklimpern in Unruhe zu versetzen.

„Hm“, sagte Sam, „so stehen die Sachen!“

Der Maulbeerfarbene nickte bejahend.

„Na, und daß Sie Ihren Herrn so mir nichts, dir nichts die junge Dame entführen lassen“, fing Mr. Weller wieder an, „macht Ihnen weiter keine Gewissensbisse nich, was, alter Prophet?“

„Ach, und wie“, seufzte Hiob Trotter mit einem Blick voll Seelenqual. „Ach, und wie! Es nagt wie ein Wurm an meinem Herzen. Aber was soll ich tun?“

„Tun?“ fragte Sam. „Die Sache der Vorsteherin melden und Ihren Posten aufgeben.“

„Sie würde mir nicht glauben“, erwiderte Hiob Trotter. „Die junge Dame gilt für die Unschuld und Besonnenheit selbst. Sie würde es leugnen und mein Herr auch. Wer würde mir glauben? Ich würde meinen Posten verlieren und noch wegen Verleumdung verklagt werden; das ist alles, was dabei herauskäme.“

„’s is freilich nich ohne“, gab Sam nachdenklich zu.

„Ja, wenn ich einen angesehenen Herrn wüßte, der die Sache auf sich nähme“, fuhr Mr. Trotter fort, „dann hätte ich wohl Hoffnung, die Entführung zu verhindern. Aber das ist’s ja gerade, Mr. Walker, das ist’s ja gerade. Ich kenne hier niemand, und dann, wenn ich es auch jemand sagte, wer würde mir denn die Geschichte glauben?“

„Kommen Sie mal mit“, sagte Sam, sprang plötzlich auf und faßte den Maulbeerfarbenen am Arm. „Mein Herr ist der Mann, den Sie suchen.“ Hiob Trotter sträubte sich nur schwach. Sam führte ihn in Mr. Pickwicks Zimmer, stellte ihn seinem Herrn vor und wiederholte kurz das Zwiegespräch, das sie soeben gehabt hatten.

„Es tut mir sehr weh, meinen Herrn verraten zu sollen“, sagte Hiob Trotter und drückte ein rotgewürfeltes Taschentuch von ungefähr drei Quadratzoll vor die Augen.

„Dieses Gefühl macht Ihnen nur Ehre“, versetzte Mr. Pickwick. „Aber nichtsdestoweniger, es ist Ihre Pflicht.“

„Ich weiß, es ist meine Pflicht, Sir“, erwiderte Hiob mit großer Rührung. „Wir alle sollen unsre Pflicht tun, Sir, und ich bin in Demut bemüht, die meinige zu erfüllen, Sir; aber es ist eine schwere Prüfung, seinen Herrn zu verraten, dessen Kleider man trägt und dessen Brot man ißt, selbst wenn er ein Schurke ist, Sir.“

„Sie sind ein guter Mensch“, bemerkte Mr. Pickwick ergriffen. „Ein sehr ehrenhafter Mensch.“

„Ach was“, fiel Sam ein, der Mr. Trotters Tränen voll Ungeduld mit angesehen hatte. „Geben Sie die Regnerei auf ; ’s hat doch keinen Sinn nich.“

„Sam!“ sagte Mr. Pickwick vorwurfsvoll. „Es tut mir sehr leid, daß du so wenig Achtung vor den Gefühlen dieses jungen Mannes an den Tag legst.“

„Gefühle sin recht gut und schön, Sir“, versetzte Mr. „Weller, „aber s‘ is schade, daß er sie so in Wasser umsetzen tut. Mit Tränen hat noch nie einer ’ne Uhr aufgezogen oder ’ne Dampfmaschine getrieben. Wenn Sie wieder mal in ’ne Tabakbude gehen, junger Mann, denn stopfen Sie sich die Pfeife mit diese Betrachtung. Stecken Sie sich lieber das bißchen rote Baumwolle in die Tasche, ’s ist gar nich schön, daß Sie so damit rumfuchteln tun wie ’n Seiltänzer.“

„Mein Bedienter hat nicht so unrecht“, wendete sich Mr. Pickwick zu Hiob, „wiewohl seine Art, sich auszudrücken, etwas unmanierlich und bisweilen unverständlich ist.“

„Er hat sehr recht, Sir“, seufzte Mr. Trotter, „ich will mich beherrschen.“

„Sehr wohl“, sagte Mr. Pickwick, „und wo ist das Institut?“

„Es ist ein großes altes Haus aus roten Ziegeln, gerade vor der Stadt“, erwiderte Hiob Trotter.

„Und wann soll der schändliche Plan ausgeführt werden, wann soll die Entführung stattfinden?“

„Heute abend, Sir.“

„Heute abend!“ rief Mr. Pickwick.

„Noch heute abend, Sir“, versicherte Hiob Trotter. „Das ist’s, was mich so sehr beunruhigt.“

„Es müssen augenblicklich Maßnahmen getroffen werden“, sagte Mr. Pickwick. „Ich werde sofort die Dame aufsuchen, die dem Pensionat vorsteht.“ „Bitte um Verzeihung, Sir“, wendete Hiob ein, „aber auf diese Art geht es nicht.“

„Warum nicht?“

„Mein Herr ist. äußerst gerieben.“

„Oh, das weiß ich“, sagte Mr. Pickwick.

„Und er hat die gute Dame so beschwatzt“, fuhr Hiob fort, „daß sie nichts zu seinem Nachteil glauben wird, und wenn Sie es auf den Knien beschwören; überdies haben Sie keinen andern Beweis als die Aussagen eines Bedienten, von dem man dann behaupten wird, er sei wegen irgendeines Vergehens fortgejagt worden und handle aus Rache.“

„Was wäre da also zu tun?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nichts kann die alte Dame überzeugen, außer wenn wir ihn auf der Tat ertappen“, meinte Hiob.

„Alte Katzen wollen eben mit dem Kopf durch die Wand“, bemerkte Mr. Weller in Parenthese.

„Aber dieses Auf-der-Tat-Ertappen, fürchte ich, wird ziemlich schwer auszuführen sein“, wendete Mr. Pickwick ein.

„Ich weiß nicht, Sir“, entgegnete Mr. Trotter, nachdem er einige Minuten nachgedacht hatte. „Ich dächte, es müßte sehr leicht gehen.“

„Wie?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nun, sehen Sie, mein Herr und ich sind mit den beiden Mägden im Einverständnis und werden uns um zehn Uhr in der Küche verstecken. Wenn sich die Familie zur Ruhe begeben hat, wird die junge Dame aus ihrem Schlafzimmer kommen. Eine Postkutsche wartet auf uns, und wir fahren ab.“

„Gut, und?“

„Nun, Sir, da habe ich mir gedacht, wenn Sie im Garten hinten warten würden, allein …“

„Allein?“ wiederholte Mr. Pickwick. „Und warum denn allein?“

„Ich dächte“, versetzte Hiob, „es könnte der alten Dame nicht erwünscht sein, wenn eine so peinliche Entdeckung von mehr Personen gemacht würde, als gerade unumgänglich nötig sind. Der jungen Dame ebensowenig, Sir. Bedenken Sie, Sir …“

„Sie haben vollkommen recht“, sagte Mr. Pickwick. „Diese Rücksicht ist wiederum ein Beweis von großem Zartgefühl. Fahren Sie fort. Sie haben vollkommen recht.“

„Nun, und da dachte ich, Sir, wenn Sie im rückwärtigen Garten allein warteten und ich Sie dann Punkt halb zwölf Uhr durch die Tür einließe, die aus dem Hausgang in den Garten führt, so würden Sie gerade im rechten Augenblick ankommen, um mir die Pläne dieses schlechten Menschen vereiteln zu helfen, in dessen Netz ich unglücklicherweise mit verstrickt bin.“ Mr. Trotter seufzte tief.

„Grämen Sie sich deswegen nicht“, tröstete ihn Mr. Pickwick. „Wenn er nur eine Spur von Ihrem Zartgefühl hätte, so untergeordnet Ihre Stellung auch sein mag, so würde ich selbst ihn noch nicht ganz verloren geben.“

Hiob Trotter verbeugte sich tief, und wieder traten Tränen in seine Augen.

„So ’nen Burschen hab ich mein Lebtag noch nicht gesehen“, brummte Sam. „Gott straf mich, ich glaube, er hat ’n Wasserschlauch im Kopf, den braucht er immer bloß zu drücken.“

„Sam!“ ermahnte. Mr. Pickwick mit großer Strenge. „Halte deinen Mund.“

„Sehr wohl, Sir.“

„Der Plan gefällt mir nicht besonders“, sagte Mr. Pickwick nach tiefem Nachdenken. „Warum kann ich mich eigentlich nicht mit den Verwandten der jungen Dame in Verbindung setzen?“

„Weil sie hundert Meilen von hier wohnen, Sir“, antwortete Hiob Trotter.

„Da is allerdings ’n Riegel vorgeschoben“, brummte Mr. Weller leise vor sich hin.

„Und dann dieser Garten!“ fing Mr. Pickwick wieder an. „Wie soll ich hineinkommen?“

„Die Mauer ist sehr niedrig, Sir, und Ihr Bedienter kann Sie hinaufheben.“

„Mein Bedienter kann mich hinaufheben“, wiederholte Mr. Pickwick mechanisch. „Sie sind also bestimmt an der Tür, von der Sie sprachen?“

„Sie können sie nicht verfehlen, Sir; es ist die einzige, die in den Garten führt. Klopfen Sie nur, wenn Sie die Stunde schlagen hören, und ich werde Ihnen augenblicklich öffnen.“

„Der Plan gefällt mir zwar nicht“, sagte Mr. Pickwick, „aber da ich keinen besseren weiß und das Lebensglück der jungen Dame auf dem Spiele steht, willige ich ein. Gut. Ich werde kommen.“

Zum zweiten Male verwickelte sich so Mr. Pickwick in seiner angeborenen Herzensgüte in ein Unternehmen, von dem er sich sonst ferngehalten haben würde.

„Und wie heißt das Haus?“

„Westgatehouse, Sir. Sie wenden sich ein wenig nach rechts, wenn Sie ans Ende der Stadt kommen; es liegt in geringer Entfernung von der Landstraße, und der Name steht auf einer Messingplatte am Tor.“

Mr. Trotter machte eine zweite Verbeugung und wollte sich entfernen, aber Mr. Pickwick hielt ihn zurück und drückte ihm eine Guinee in die Hand.

„Sie sind ein wackerer Bursche“, sagte er, „und ich bewundere Ihr gutes Herz. Nein, kein Wort des Dankes! Also, vergessen Sie die Stunde nicht! – Elf Uhr!“

„Seien Sie unbesorgt, Sir!“ beteuerte Hiob Trotter und verließ das Zimmer.

Sam folgte ihm.

„Hören Sie mal“, sagte er, „das Geflenne ist doch nicht so übel. Wenn das immer so wirkt, würde ich auch tropfen wie ’ne Dachrinne, wenn’s regnet. Wie machen Sie das eigentlich?“

„Es kommt aus dem Herzen, Mr. Walker“, erwiderte Hiob feierlich. „Guten Morgen, Sir.“

Du wärst mir so der Richtige! Na, macht nichts, jedenfalls haben wir alles aus dir rausgequetscht, dachte Mr. Weller, als sich Hiob entfernte. Die Gedanken, die Mr. Trotters Geist durchzogen, können wir nicht genau angeben, weil wir sie nicht kennen.

Der Tag neigte sich, der Abend kam, und kurz vor zehn Uhr berichtete Sam Weller, Mr. Jingle und Mr. Hiob seien miteinander ausgegangen, hätten ihre Sachen gepackt und eine Kutsche bestellt. Das Komplott sollte offenbar ausgeführt werden; genau, wie Mr. Trotter angegeben. Es schlug halb elf Uhr, und die Zeit rückte näher, wo sich Mr. Pickwick seiner heiklen Mission entledigen sollte. Sam brachte ihm den Überrock, aber er wies das Anerbieten zurück, um beim Überklettern der Mauer nicht behindert zu sein. Dann trat er in Begleitung seines Dieners den Weg an.

Es war Vollmond, aber Wolken, verhüllten ihn. Die Nacht war schön, doch ungewöhnlich finster. Wege, Hecken, Häuser und Bäume, alles lag in tiefe Schatten gehüllt. Die Luft war heiß und schwül, und am Horizont zitterte schwach sommerliches Wetterleuchten, der einzige Schein, der die dichte Finsternis durchbrach. Kein Laut störte die Stille; nur in weiter Ferne bellte ein wachsamer Haushund.

Mr. Pickwick und sein Diener fanden das Haus, lasen die Messingplatte, gingen um die“ Mauer herum und blieben an der Stelle, wo der Garten anstieß, stehen.

„Sam, du kehrst in den Gasthof zurück, wenn du mir hinübergeholfen hast“, befahl Mr. Pickwick.

„Sehr wohl, Sir.“

„Und bleibst auf, bis ich zurückkomme! So, und jetzt halte mir das Bein hin, damit ich daraufsteigen kann, und wenn ich sage ,über‘, so hebst du mich sacht in die Höhe.“

„Ganz recht, Sir.“

Mr. Pickwick faßte den oberen Mauerrand und gab das Signal „über“, dem Sam sozusagen buchstäblich gehorchte. Ob nun der Körper des unsterblichen Mannes an der Elastizität seines Geistes partizipierte, oder ob Mr. Weller vom Sachte-in-die-Höhe-Heben eine etwas gröbere Auffassung hatte als sein Herr, jedenfalls war die unmittelbare Folge seines Beistandes, daß Mr. Pickwick über die Mauer in das untenliegende Gartenbeet fiel und drei Stachelbeerbüsche und einen Rosenstock mitriß.

„Sie haben sich doch um alles in der Welt nicht verletzt, Sir?“ fragte Sam ziemlich laut, als er sich von der Bestürzung über das geheimnisvolle Verschwinden seines Herrn ein wenig erholt hatte.

Ich habe mich nicht verletzt, Sam, ich gewiß nicht“, antwortete Mr. Pickwick von der andern Seite der Mauer. „Ich dächte vielmehr, du hast mich verletzt.“

„Ich hoffe doch nicht, Sir“, sagte Sam.

„Mache dir weiter keine Sorgen deshalb“, versetzte Mr. Pickwick und stand auf. „Es sind nur ein paar Schrammen. Geh jetzt, man könnte uns sonst hören.“

„Guten Abend, Sir.“ „Guten Abend.“

Mit leisen Schritten entfernte sich Sam Weller und ließ Mr. Pickwick allein im Garten.

Dann und wann zeigten sich Lichter an den verschiednen Fenstern des Hauses oder schimmerten von den Treppen herüber, als die Bewohner sich zur Ruhe begaben. Mr. Pickwick wollte sich nicht vor der bestimmten Zeit an die Tür wagen und drückte sich daher einstweilen in eine Mauerecke.

Es war eine Lage, die so manchem den Mut genommen haben würde, jedoch Mr. Pickwick fühlte weder Niedergeschlagenheit noch Bangigkeit. Er wußte, daß sein Zweck in der Hauptsache ein guter war, und setzte uneingeschränktes Vertrauen in den hochherzigen Hiob. Seine Lage war zwar ermüdend, um nicht zu sagen trist, aber ein kontemplativer Geist kann sich immer mit Nachdenken beschäftigen. Mr. Pickwick meditierte sich in einen Halbschlummer hinein, aus dem er erst durch die Glockenschläge der benachbarten Kirche erweckt wurde; es schlug halb zwölf.

Die Zeit ist da, sagte er sich, schlich leise näher und sah am Hause hinauf. Die Lichter waren verschwunden und die Läden verschlossen. – Alles im Bett, ohne Zweifel. – Er ging auf den Zehen zur Tür und klopfte leise. Zwei bis drei Minuten verflossen, ohne daß eine Antwort erfolgte. Er klopfte lauter und dann noch lauter.

Endlich hörte man Fußtritte auf der Treppe, und dann schien das Licht einer Kerze durch das Schlüsselloch. Ein langes, umständliches Aufschließen und Aufriegeln, und sachte ging die Tür auf. Sie öffnete sich nach außen, und je weiter sie aufgemacht wurde, desto mehr zog sich Mr. Pickwick hinter sie zurück. Wie groß war sein Erstaunen, als er bei vorsichtigem Hervorlugen die überraschende Entdeckung machte, daß es nicht Hiob Trotter war, der öffnete, sondern ein Dienstmädchen mit einem Licht in der Hand. Mit einer Geschwindigkeit, die einem Taschenspieler Ehre gemacht haben würde, zog er seinen Kopf zurück.

„Es muß die Katze gewesen sein, Sara“, sagte das Mädchen, sich an jemand im Hause wendend. „Ws, ws, ws – zi, zi, zi.“

Aber kein Tier erschien auf ihren Lockruf. Sachte schloß das Mädchen die Tür und schob den Riegel wieder vor.

Mr. Pickwick, fest an die Mauer gedrückt, wagte kaum zu atmen.

Höchst seltsam, dachte er. Sie sind vermutlich länger als gewöhnlich aufgeblieben. Äußerst schade, daß es gerade diese Nacht sein muß. Wirklich ärgerlich. Behutsam zog er sich wieder in den Winkel zurück, in dem er sich vorher versteckt hatte, und harrte des Augenblicks, wo es rätlich sein würde, das Signal zu wiederholen.

Er war noch nicht fünf Minuten dort, als ein greller Blitzstrahl, unmittelbar gefolgt von einem furchtbaren Donnerschlag, die Finsternis zerriß. Blitz folgte auf Blitz, Krachen auf Krachen, und nieder strömte ein Platzregen mit einer Wut, die alles mit sich fortriß.

Mr. Pickwick war sich sehr wohl bewußt, daß ein Baum eine sehr gefährliche Nachbarschaft bei einem Gewitter bedeutet. Er hatte einen Baum zu seiner Rechten, einen zu seiner Linken, einen dritten vor sich und einen vierten hinter sich. Zu bleiben war nicht ratsam und höchst gefährlich, und sich mitten im Garten zu zeigen, mußte seine Anwesenheit aller Wahrscheinlichkeit nach dem Nachtwächter verraten. Ein- oder zweimal versuchte er, die Mauer zu überklettern, aber da er diesmal keine andern Beine zur Verfügung hatte als die, mit denen ihn die Natur versehen, erreichte er durch seine Anstrengungen nur so viel, daß seine Knie und Schienbeine schmerzende Schrammen davontrugen und sein ganzer Körper in kurzer Zeit in reichlichen Schweiß gebadet war.

„Welch furchtbare Situation“, seufzte Mr. Pickwick, als er nach einer solchen vergeblichen Leibesübung sich wieder die Stirn abwischte. Er sah an dem Hause hinauf. Alles war finster. Sie mußten jetzt zu Bett gegangen sein. Er wollte das Signal wiederholen.

Auf den Zehen schlich er über den nassen Sand und klopfte an die Tür. Gespannt hielt er den Atem an und lauschte am Schlüsselloch. Keine Antwort. Sehr seltsam. Er pochte noch einmal und lauschte wieder. Ein leises Geflüster wurde im Hause hörbar, dann rief eine Stimme:

„Wer ist da?“

Das ist wieder nicht Hiob, sagte sich Mr. Pickwick und drückte sich schnell an die Wand. Es ist eine Frauenstimme.

Er hatte kaum Zeit gehabt, diesen Schluß zu ziehen, als ein Fenster über der Treppe aufgerissen wurde und drei oder vier weibliche Kehlen die Frage wiederholten: „Wer ist da?“

Mr. Pickwick rührte sich nicht. Er begriff sofort, daß er das ganze Haus alarmiert hatte, und faßte den Entschluß, zu bleiben, wo er war, bis wieder Ruhe eingetreten sein würde, um dann eine übernatürliche Anstrengung zu machen und über die Mauer zu gelangen oder bei dem Versuch umzukommen.

Gleich allen Entschlüssen Mr. Pickwicks war auch das der beste, den er unter solchen Umständen fassen konnte; nur war er unglücklicherweise auf die Voraussetzung gegründet, man würde es nicht wagen, die Tür zu öffnen. Wie groß war daher seine Bestürzung, als er Schloß und Riegel klirren hörte und den Torflügel sich immer weiter und weiter öffnen sah.

Schritt für Schritt zog er sich in die Ecke zurück, aber sosehr er sich auch zusammenquetschte, er konnte nicht verhindern, daß sein Embonpoint dem weiteren Vordringen der Tür ein Ziel setzte.

„Wer ist da?“ kreischte von der Treppe herunter ein zahlreicher Chor von weiblichen Stimmen, die der jungfräulichen Vorsteherin, den Lehrerinnen, fünf Dienstboten und dreißig Pensionärinnen angehörten, alle nur halb angekleidet und unter einem Dickicht von Haarwickeln. Natürlich sagte Mr. Pickwick nicht, wer da war, und so ging die Weise des Chores über in ein: „Ach, wie bin ich erschrocken!“

„Köchin“, rief die Dame des Hauses, die die Vorsichtsmaßregel beobachtet hatte, sich oben auf der Treppe hinter der ganzen Gruppe zu verschanzen, „Köchin, warum geht Sie nicht ein paar Schritte in den Garten hinaus?“

„Ach bitt schön, Madame, ich möcht nich“, antwortete die Köchin.

„Ach Gott, das dumme Ding!“ riefen die dreißig Pensionärinnen.

„Köchin“, rief die Institutsvorsteherin mit großer Würde, „antworte Sie mir nicht immer, wenn ich etwas befehle. Ich bestehe darauf, daß Sie sogleich im Garten nachsieht.“

Die Köchin fing augenblicklich zu weinen an, und das Stubenmädchen sagte, „es wäre eine Schande“ – eine Widersetzlichkeit, die ihr eine sofortige Kündigung zuzog.

„Hört Sie, Köchin?!“ rief die Dame des Hauses abermals und stampfte ungeduldig mit dem Fuß.

„Hört Sie denn nicht, Köchin?“ echoten die drei Lehrerinnen.

„Ein unverschämtes Ding, die Köchin!“ riefen die dreißig Pensionärinnen.

So von allen Seiten gedrängt, tat die unglückliche Köchin einen Schritt vorwärts, hielt dabei ihr Licht so, daß sie überhaupt nichts sehen konnte, und erklärte, es sei nichts da und es müsse der Wind gewesen sein. Das Tor sollte eben wieder geschlossen werden, als eine wißbegierige Pensionärin, die zwischen den Angeln durchgespäht hatte, ein furchtbares Geschrei erhob.

„Was hat denn Miß Smithers?“ rief die Institutsvorsteherin‘, als die besagte junge Dame einen hysterischen Anfall bekam, der für vier ausgewachsene Jungfern ausgereicht hätte.

„Ach, der Mann, der Mann hinter der Tür“, kreischte Miß Smithers.

Die Institutsvorsteherin hörte kaum den Schreckensruf „Mann“, als sie in ihr Schlafgemach zurückeilte, die Tür hinter sich verriegelte und in eine tiefe Ohnmacht fiel. Die Pensionärinnen, die Lehrerinnen und die Mägde stürzten übereinander die Treppe hinauf, und des Schreiens, Inohnmachtfallens und Händeringens war kein Ende. Mitten in diesem schrecklichen Tumult tauchte Mr. Pickwick aus seinem Versteck auf.

„Meine Damen, meine wertgeschätzten Damen“, rief er, so laut er konnte.

„O Gott, er nennt uns Wertgeschätzte“, kreischte die älteste und häßlichste der Lehrerinnen. „Oh, der Elende.“

„Meine Damen“, schrie Mr. Pickwick, durch das Gefährliche seiner Lage förmlich in Verzweiflung versetzt, „hören Sie mich an, ich bin doch kein Räuber. Ich muß zur Dame des Hauses.“

„Ach, welch schreckliches Ungeheuer!“ rief eine andre Lehrerin. „Er will zu Miß Tomkins!“

Jammergeschrei durchgellte die Nacht.

„Zieht die Sturmglocke“, rieten ein Dutzend Stimmen.

„Bitte, nicht, bitte, nicht!“ schrie Mr. Pickwick. „Schauen Sie mich doch nur an. Sehe ich denn wie ein Räuber aus? Meine werten Damen, Sie können mir Hände und Füße binden oder mich in eine Kammer sperren, wenn Sie wollen, nur hören Sie, was ich zu sagen habe. Hören Sie nur!“

„Wie sind Sie in unsern Garten gekommen?“ stotterte das Stubenmädchen.

„Rufen Sie die Vorsteherin, und ich will ihr alles erzählen, alles, haarklein“, schrie Mr. Pickwick. „Beruhigen Sie sich, und rufen Sie sie, und Sie sollen alles erfahren.“

Vielleicht war es Mr. Pickwicks ganze Erscheinung oder sein Benehmen, vielleicht auch die Versuchung, der ein weibliches Herz nie widerstehen kann, ein Geheimnis zu hören; kurz, der vernünftigere Teil der Hausbewohnerinnen, nämlich ungefähr vier Personen, fing an, sich verhältnismäßig zu beruhigen. Sie machten den Vorschlag, Mr. Pickwick sollte sich zum Beweise seiner aufrichtigen Gesinnung in den Verschlag, in dem die Tagesschülerinnen ihre Hüte und Butterschnitten aufzubewahren pflegten, einsperren lassen, bis Miß Tomkins käme. Da Mr. Pickwick bereitwillig darauf einging und das Gefängnis hinter ihm abgeschlossen wurde, kehrte auch der Mut der andern zurück, und als Miß Tomkins wieder zu sich und heruntergebracht worden war, nahm die Konferenz ihren Anfang.

„Was hatten Sie in meinem Garten zu tun, Mann?“ fragte Miß Tomkins mit schwacher Stimme.

„Ich wollte Sie in Kenntnis setzen, daß eine von Ihren jungen Damen diesen Abend entführt werden sollte“, antwortete Mr. Pickwick aus dem Verschlag heraus.

„Entführt?“ riefen Miß Tomkins, die drei Lehrerinnen, die dreißig Pensionärinnen und die fünf Mägde wie aus einem Munde. „Von wem?“

„Von Ihrem Freund, Mr. Charles Fitz-Marshall.“

„Meinem Freund? Ich kenne ihn doch gar nicht.“

„Gut, von Mr. Jingle also.“

„Ich habe diesen Namen in meinem Leben nie gehört.“

„Dann bin ich hintergangen und an der Nase herumgeführt worden“, jammerte Mr. Pickwick. „Ich bin das Opfer einer Verschwörung geworden, einer gemeinen und niederträchtigen Verschwörung. Schicken Sie in den .Engel‘, Ma’am, wenn Sie mir nicht glauben. Schicken Sie in den .Engel‘ nach Mr. Pickwicks Bedienten, ich beschwöre Sie, Ma’am.“

„Er muß ein respektabler Mann sein, er hält einen Bedienten“, sagte Miß Tomkins zu der Schreib- und Rechenlehrerin.

„Ich fürchte, Miß Tomkins“, warnte die Schreib- und Rechenlehrerin, „sein Bedienter hält ihn. Er ist bestimmt wahnsinnig, Miß Tomkins, und seinem Wärter entsprungen.“

„Ich glaube, Sie haben recht, Miß Gwynn“, antwortete Miß Tomkins. „Schicken Sie zwei von den Mägden in den ,Engel‘, und die übrigen sollen hierbleiben, um uns zu beschützen.“

Es wurden also zwei von den Mägden nach Mr. Samuel Weller geschickt, und drei blieben zurück, um Miß Tomkins, die drei Lehrerinnen und die dreißig Pensionärinnen zu schützen. Mr. Pickwick saß in seinem Verschlag in einem Wäldchen von Butterbrotbeuteln und harrte, philosophisch gefaßt, der Rückkehr der Gesandtinnen mit aller ihm zu Gebote stehenden Seelenstärke.

Anderthalb Stunden vergingen, da schlugen vertraute Stimmen an sein Ohr. Nicht nur die Mr. Samuel Wellers, sondern noch zwei andre, die ihm bekannt vorkamen, ohne daß er sich in der Eile entsinnen konnte, um wen es sich handelte.

Nach einer kurzen Verhandlung wurde die Tür des Verschlages geöffnet; Mr. Pickwick schlüpfte heraus und sah die ganze Bewohnerschaft von Westgatehouse, Mr. Samuel Weller und – den alten Mr. Wardle und dessen zukünftigen Schwiegersohn, Mr. Trundle, vor sich.

„Mein teurer Freund“, rief er, eilte auf Mr. Wardle zu und ergriff mit Wärme seine Hand. „Mein teurer Freund, ich bitte Sie ums Himmels willen, erklären Sie dieser Dame hier die peinliche und schreckliche Lage, in die ich geraten bin. Sie müssen es von meinem Diener gehört haben; bestätigen Sie zumindest, mein teurer Freund, daß ich weder ein Räuber noch ein Wahnsinniger bin.“

„Ich habe es bereits getan, mein lieber Freund. Ich habe es bereits getan“, versicherte Mr. Wardle und ließ die Rechte Mr. Pickwicks gar nicht wieder los.

„Und wer’s sagt oder gesagt hat“, fiel Mr. Weller ein, „der is ’n Lügner. Ganz konträr im Gegenteil. Und falls hier im Hause Männer sin, wo das gesagt haben, so werde ich mir ungemein glücklich schätzen, ihnen das in diesem Zimmer beweiskräftig vorzuführen, wenn die geschätzten Damen so gütig sein wollen, sie mir Stück für Stück reinzubringen.“

Mr. Weller schlug dabei grimmig mit der geballten Faust in die offne Hand und zwinkerte Miß Tomkins, deren Indignation bei der Zumutung, in dem Pensionat könnte sich ein Mann befinden, keine Grenzen kannte, freundlich zu.

Mr. Pickwick gab in kurzen Worten die noch nötigen Aufschlüsse. Aber weder auf dem Rückwege mit seinen Freunden, noch nachher vor einem knisternden Feuer und dem für ihn so notwendig gewordenen Nachtessen war eine Silbe aus ihm herauszubringen. Er schien förmlich der Sprache beraubt zu sein. Einmal, und nur ein einziges Mal, wandte er sich an Mr. Wardle mit der Frage:

„Wie kommen Sie eigentlich hierher?“

„Trundle und ich sind in der Absicht hierhergekommen, eine kleine Jagdpartie zu machen“, antwortete Wardle fröhlich, „und waren ganz erstaunt, von Ihrem Bedienten zu hören, daß Sie sich auch hier befänden. Jedenfalls freut es mich sehr, Sie zu treffen. Es wird eine lustige Partie sein, und wir werden Mr. Winkle Gelegenheit geben, noch einmal sein Glück zu probieren; was meinen Sie dazu, alter Schwede?“ Mr. Pickwick gab keine Antwort. Er fragte nicht einmal nach seinen Freunden in Dingley Dell, zog sich bald darauf in sein Schlafzimmer zurück und befahl Sam, das Licht zu bringen, sobald er läuten würde.

„Sam!“ sagte er unter seiner Decke hervor, als Mr. Weller mit den Kerzen eintrat.

„Sir?“

Mr. Pickwick schwieg, und Mr. Weller putzte das Licht.

„Sam!“ sagte Mr. Pickwick wieder mit äußerster Anstrengung.

„Sir?“

„Wo ist dieser Trotter?“

„Hiob, Sir?“

„Ja.“

„Fort, Sir.“

„Mit seinem Herrn vermutlich?“

„Freund oder Herr oder was er sonst sein mag, zum Geier mit ihm!“ erwiderte Mr. Weller, „’n sauberes Paar das, Sir.“

„Jingle hat mich wahrscheinlich durchschaut und seinen Bedienten angestiftet, dir diese Geschichte aufzubinden?“ sagte Mr. Pickwick, nach Atem ringend.

„‚türlich, Sir.“

„Und es war alles erlogen?“

„Von A bis Z, Sir“, antwortete Mr. Weller. „Gemeiner Schwindel!“

„Nun, das nächstemal soll er uns nicht wieder so leicht entwischen, Sam!“

„Nein, wahrhaftig nich, Sir.“

„Wann und wo ich diesen Jingle wieder treffe“, fuhr Mr. Pickwick fort, richtete sich im Bett auf und führte einen furchtbaren Hieb nach seinem Kissen, „ich werde ihn erbarmungslos an den Pranger stellen und ihm eine persönliche Züchtigung zuteil werden lassen, an die er denken wird. So wahr ich Pickwick heiße.“

„Und wenn ich den melancholischen Schuft mit dem schwarzen Gestrüpp in die Föten kriege“, sagte Sam, „werde ich ihm mal wirkliches Wasser in die Augen treiben. So wahr ich Sam Weller heiße. – Gute Nacht, Sir.“

Achtzehntes Kapitel


Achtzehntes Kapitel

Worin mit wenigen Worten zwei Punkte dargetan werden: erstens die Macht der Krämpfe, und zweitens die Gewalt der Umstände.

Zwei Tage nach dem Frühstück bei Mrs. Hunter blieben die Pickwickier noch in Eatanswill und erwarteten mit Spannung irgendwelche Nachrichten von ihrem verehrten Meister. Mr. Tupman und Mr. Snodgraß waren wieder lediglich auf ihre eigenen geselligen Talente angewiesen, wogegen Mr. Winkle auf die dringendsten Einladungen hin bei Pott wohnte, wo er seine ganze Zeit der liebenswürdigen Frau des Hauses widmete. Bisweilen wohnte Mr. Pott selbst der Unterhaltung bei, um das Glück der beiden vollständig zu machen. Stets tief in seine großartigen Pläne für die öffentliche Wohlfahrt und die gänzliche Vernichtung des „Independent“ versunken, pflegte sich der große Mann von seinem hohen geistigen Standpunkt im allgemeinen nicht in die niedrige Sphäre gewöhnlicher Geister herabzulassen, bei seltenen Gelegenheiten aber, zum Beispiel, wenn es galt, einen Pickwickier dadurch zu ehren, stieg er von seinem Piedestal herab auf die Erde und paßte dabei huldreich seine Bemerkungen dem Verständnis der großen Menge an und schien, wenn auch nicht dem Geiste nach, so doch äußerlich, ihr anzugehören.

Bei diesem Benehmen des berühmten Publizisten kann man sich leicht denken, daß gewaltige Überraschung auf dem Gesichte Mr. Winkles zu lesen war, als eines Morgens, während er allein frühstückte, Mr. Pott hastig die Tür aufriß und ebenso hastig wieder zuschlug, majestätisch auf ihn zuschritt, die dargebotne Hand zurückstieß, mit den Zähnen knirschte, um dadurch seinen Worten noch größere Schärfe zu geben, und mit grimmiger Stimme losdonnerte:

„Schlange!“

„Sir!!“ rief Mr. Winkle und sprang von seinem Stuhle auf.

„Schlange, Sir“, wiederholte Mr. Pott, erhob seine Stimme und dämpfte sie dann plötzlich wieder. „Ich sagte Schlange, Sir, nehmen Sie den Ausdruck in seiner schärfsten Bedeutung.“

Wenn man bis morgens um zwei Uhr in der vertraulichsten Kameradschaftlichkeit mit einem Manne zusammengesessen hat, und er kommt dann um halb zehn Uhr mit der ernsten Begrüßung: „Schlange!“ herein, kann man mit Fug und Recht schließen, daß sich in der Zwischenzeit irgend etwas Unangenehmes zugetragen hat. So dachte auch Mr. Winkle.

Er erwiderte Mr. Potts eisigen Blick und nahm auf Verengen des erzürnten Publizisten die „Schlange“ so stark er konnte, ohne daß ihm jedoch die Sache dadurch verständlicher wurde.

„Schlange, Sir? Schlange, Mr. Pott? Was meinen Sie damit, Sir? Sie belieben zu scherzen.“

„Scherzen, Sir?“ rief Mr. Pott mit einer Handbewegung, die ein heftiges Verlangen verriet, seinem Gast den Teetopf aus Britanniametall an den Kopf zu schleudern. „Ha – Scherzen!! Doch nein, ich will mich beherrschen; ich will mich beherrschen, Sir“, setzte er hinzu und warf sich zum Beweis, daß ihm das bereits gelungen, mit schäumendem Rachen in einen Stuhl.

„Mein lieber Herr …“, begann Mr. Winkle.

„Mein lieber Herr!?“ fuhr Pott auf. „Wie können Sie sich unterstehen, Sir, lieber Herr zu mir zu sagen? Wie können Sie es wagen, mir überhaupt noch ins Gesicht zu sehen?“

„Gut, gut, Sir“, antwortete Mr. Winkle. „Wenn Sie schon das Wort .wagen‘ gebrauchen, wie können Sie es wagen, mir ins Gesicht zu sehen und mich eine Schlange zu nennen, Sir?“

„Weil Sie eine sind.“

„Beweisen Sie mir das, Sir“, sagte Mr. Winkle, warm werdend. „Beweisen Sie mir das!“

Ein Widerschein ingrimmiger Wut flog über sein durchgeistigtes Gesicht, als der Publizist das Morgenblatt des „Independent“ aus der Tasche zog. Er wies mit dem Finger auf einen Artikel und warf dann die Zeitung Mr. Winkle über den Tisch zu.

Betroffen las Mr. Winkle, wie folgt:

„Unser obskurer und niedrig gesinnter Kollege hat die Frechheit gehabt, in einigen ekelerregenden Bemerkungen über die letzte Wahl dieser Stadt die unantastbare Heiligkeit des Privatlebens zu verletzen und auf eine Art, die nicht mißverstanden werden kann, die persönlichen Angelegenheiten unsres letzten Kandidaten, Mr. Fizkins, zu begeifern, der übrigens trotz seiner unverdienten Niederlage, wie wir mit Sicherheit voraussagen können, das nächstemal den Sieg davontragen wird. Was würde der Schurke sagen, wenn wir, gleich ihm, alle dem Publikum schuldigen Rücksichten des Anstände“ beiseite setzen und den Schleier lüften wollten, der glücklicherweise sein Privatleben vor dem allgemeinen Gelächter, um nicht zu sagen, vor der allgemeinen Entrüstung, noch schützt? Was würde er sagen, wenn wir Tatsachen und Umstände näher beleuchten wollten, die zu offenkundig sind, um nicht von jedermann gesehen zu werden, außer von unserem maulwurfäugigen Kollegen? Was würde er sagen, wenn wir nachfolgendes Gedichtchen drucken lassen wollten, das uns ein talentvoller Mitbürger und Korrespondent zugeschickt hat, als wir eben die ersten Worte dieses Artikels niederschrieben:

AN EINEN LEEREN POT

Oh, Pot! Oh, hättest du gewußt,

Wie falsch das Weib an deiner Brust,

Vergangen wäre dir der Dünkel.

Du hättest sie, ach, wie so gern,

Gelassen gleich dem süßen Herrn,

Den sie jetzt küßt und herzt, dem W…..“

„Was“, fragte Mr. Pott feierlich, „was reimt sich auf Dünkel, Sie Elender?“

„Was sich auf Dünkel reimt?“ erwiderte Mrs. Pott, die in diesem Augenblick eintrat und der Antwort zuvorkam. „Was sich auf Dünkel reimt? Nun, ich dächte, Winkle.“

Zärtlich lächelte sie dem verblüfften Pickwickier zu und streckte ihm die Hand entgegen. Der aufgeregte junge Mann wollte sie in seiner Verwirrung ergreifen, aber Mr. Pott trat zornig zwischen ihn und seine Gattin.

„Zurück, Ma’am, zurück! Wollen Sie ihm vor meinen eigenen Augen noch die Hand reichen?“

„Mr. P.“, sagte die Dame erstaunt.

„Elende“, donnerte der Publizist. „Da, sieh her! Hier, Madame, ein Gedichtchen auf einen leeren Topf. Ein leerer Topf, das bin ich, Ma’am. Das falsche Weib, Ma’am, das sind Sie.“

Mit diesem Wutausbruch, der so etwas wie ein leichtes Beben auf dem Gesicht seiner Frau hervorrief, warf er ihr die Morgennummer des „Eatanswiller Independenten“ vor die Füße.

„So wahr ich hier stehe, mein Herr“, sagte Mrs. Pott erstaunt und bückte sich, um das Blatt aufzuheben. „So wahr ich hier stehe, mein Herr!“ Es scheint so, als läge nichts Schreckliches in dem kurzen Satz: „So wahr ich hier stehe, mein Herr“ – wenn er einem gedruckt begegnet; aber der Ton, in dem er ausgesprochen, und der Blick, von dem er begleitet wurde, schienen ein Ungewitter anzukündigen, das sich über Mr. Potts Haupt zusammenzog, und machten gebührenden Eindruck auf ihn. Auch ein völlig ahnungsloser Beobachter hätte aus Potts besorgter Miene die Bereitwilligkeit ablesen können, seine Stiefeletten jedem geeigneten Stellvertreter zu überlassen, der in diesem Augenblick Neigung gezeigt hätte, in ihnen an Ort und Stelle stehenzubleiben.

Mrs. Pott durchflog den Artikel, stieß einen gellenden Schrei aus, warf sich ihrer ganzen Länge nach auf den Teppich vor dem Kamin nieder, schrie dabei und stampfte dermaßen mit den Absätzen, daß über ihren Seelenzustand kein Zweifel obwalten konnte.

„Meine Liebe“, rief Pott, der vor Schreck erstarrte, „ich sagte doch nicht, daß ich glaube, ich …“ Aber seine Stimme wurde von dem Geschrei seiner Ehehälfte übertönt.

„Meine liebe Mrs. Pott, ich bitte Sie, beruhigen Sie sich“, flehte Mr. Winkle; aber das Geschrei und Gestampfe wurde immer lauter und heftiger.

„Meine Liebe“, begann Mr. Pott von neuem, „es tut mir wirklich äußerst leid. Wenn du schon keine Rücksicht auf deine Gesundheit nehmen willst, so nimm doch Rücksicht auf mich, meine Liebe. Die Leute werden vor unserem Hause zusammenlaufen.“ Aber je inständiger er bat, desto gellender und kreischender wurde das Geschrei seiner Gemahlin.

Zum Glück befand sich nun eine Mrs. Pott sehr ergebene Leibwache im Hause, eine junge Dame, deren Amt nach außen hin in der Beaufsichtigung der Garderobe bestand. Tatsächlich machte sie sich auf vielerlei Art nützlich; ganz besonders, wenn es sich darum handelte, denjenigen Wünschen und Neigungen ihrer Herrin Vorschub zu leisten und nachzuhelfen, die den Intentionen des unseligen Pott zuwiderliefen. Das Geschrei drang natürlich zu den Ohren dieser jungen Dame und lockte sie mit einer Eile ins Zimmer, die das ausgesuchte Arrangement ihrer Haube und Frisur bedenklich zu derangieren drohte.

„Oh, meine teure, teure Mistreß“, rief die Leibwache und warf sich wie wahnsinnig neben Mrs. Pott auf die Knie, „oh, meine teuerste Mistreß, was ist geschehen?“

„Dein Herr, dieses Ungeheuer“, murmelte die Patientin.

Pott war sichtlich betreten.

„Es ist eine Schande“, sagte die Leibwache in vorwurfsvollem Tone. „Oh, er wird Sie noch zu Tode quälen, Ma’am. Oh, Sie arme, liebe Frau.“ Pott wurde immer weicher, aber die Gegenpartei schritt rücksichtslos zum Angriff.

„Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht, Goodwin“, murmelte Mrs. Pott, krampfhaft die Handgelenke besagter Goodwin umfassend. „Du bist das einzige Wesen auf der Welt, das es gut mit mir meint.“

Goodwin hielt den Augenblick für günstig, auf eigne Faust eine kleine Haustragödie zu veranstalten, und vergoß einen Strom von Tränen.

„Niemals, Ma’am, niemals“, schluchzte sie. „Oh, Sir, Sie sollten sich mehr in acht nehmen; ja, wahrhaftig, das sollten Sie; Sie wissen nicht, wie sehr es Madame schaden kann; ich weiß, Sie werden es noch einmal bitter bereuen, ich habe es immer gesagt.“

Der unglückliche Pott betrachtete angstvoll und stumm die Szene.

„Goodwin“, flüsterte Mrs. Pott mit ersterbender Stimme.

„Ma’am?“

„Ach, wenn du wüßtest, wie ich diesen Mann geliebt habe …“

„Denken Sie nicht daran! Es quält Sie, Ma’am“, sagte die Leibgarde.

Pott schnitt ein jammervoll-ängstliches Gesicht. Jetzt war es Zeit, ihm den Gnadenstoß zu geben.

„Und jetzt“, schluchzte Mrs. Pott, „jetzt muß ich mich so behandeln lassen, muß mir in Gegenwart eines Dritten, der so gut wie ein Fremder ist, Vorwürfe machen und mich beschimpfen lassen. Nein, Goodwin, ich ertrage es nicht länger“, stieß sie hervor und richtete sich in den Armen ihrer Wärterin auf. „Mein Bruder ist Leutnant. Er muß die Sache in die Hand nehmen. Ich will mich scheiden lassen, Goodwin.“

„Es würde ihm jedenfalls recht geschehen“, sagte Goodwin mit einem Blick auf den unglücklichen Publizisten.

Was für Gefühle die Androhung einer Scheidung in Mr. Potts Brust auch erregen mochte, er unterließ es, sie in Worte zu kleiden, und begnügte sich mit der de- und wehmütigen Frage: „Willst du mich nicht anhören, mein Engel?“

Ein neuerliches Schluchzen war die einzige Antwort. Die Krämpfe stellten sich wieder ein, und Mrs. Pott wollte unaufhörlich wissen, warum sie eigentlich geboren sei, und verlangte noch andere einschlägige Auskünfte.

„Mein Engel“, ließ Mr. Pott sich vernehmen, „gib doch solchen quälenden Gefühlen nicht Raum. Ich habe wirklich keinen Augenblick geglaubt, daß der Artikel auch nur die mindeste Begründung haben könnte; nein, Teuerste, das wäre ja rein unmöglich. Es ärgerte mich nur, meine Liebe; ja, ich darf wohl sagen, es machte mich wütend, daß das Independentenpack sich erfrechen konnte, ein solches Schandgedicht zu veröffentlichen. Das ist alles.“ Mr. Pott warf einen flehenden Blick auf die unschuldige Ursache des ganzen Unheils, als wolle er ihn bitten, ja nichts von der „Schlange“ zu sagen.

„Und was für Maßregeln, Sir, gedenken Sie zu ergreifen, um sich Genugtuung zu verschaffen?“ fragte Mr. Winkle, dessen Mut in eben dem Maße zunahm, als er Pott den seinigen verlieren sah.

„Ach, Goodwin“, ächzte Mrs. Pott, „wird er den Redakteur des ,Independent‘ durchpeitschen? Sag mir nur das eine, Goodwin!“

„Still, still, Ma’am; bitte, seien Sie doch/ruhig“, tröstete die Leibwache. „Ich bin überzeugt, er wird es tun, wenn Sie es wünschen, Ma’am.“

„Auf alle Fälle“, sagte Pott rasch, als er sah, daß seine Ehehälfte entschlossen schien, wieder Krämpfe zu bekommen. „Das versteht sich doch von selbst.“

„Wann, Goodwin, wann?“ fragte Mrs. Pott, immer noch schwankend, ob sie nicht doch in Ohnmacht fallen solle.

„Auf der Stelle, versteht sich“, erwiderte Mr. Pott. „Heute noch.“

„Ach, Goodwin“, fing Mrs. Pott aufs neue an, „das ist das einzige Mittel, die Beleidigung zu rächen und mich vor der Welt wieder zu rehabilitieren.“

„Ganz gewiß, Ma’am“, versicherte Goodwin. „Kein Mann, der wirklich ein Mann ist, könnte sich weigern.“

Da die Krämpfe noch immer drohend im Hinterhalt lauerten, beteuerte Mr. Pott aufs neue, er werde alles tun; aber schon der bloße Gedanke, ihre Ehre könne nur im mindesten in Zweifel gezogen werden, beunruhigte seine Gattin dermaßen, daß sie bestimmt noch ‚ein halbes dutzendmal Rückfälle bekommen haben würde, wenn nicht die unverdrossene Goodwin durch unermüdliche Anstrengungen und der arme, geschlagene Pott durch wiederholtes flehentliches Bitten um Verzeihung es verhindert hätten. Erst als der Unglückliche wieder durch Androhung von Krämpfen und Vorwürfen aller Art in seine gewohnten Schranken zurückgedrängt war, erholte sich Mrs. Pott so weit, daß man zum Frühstück gehen konnte. „Der niederträchtige Zeitungsklatsch wird Sie doch nicht etwa veranlassen, Ihren Aufenthalt bei uns abzukürzen, Mr. Winkle?“ fragte sie, durch Tränen lächelnd.

„Das will ich nicht hoffen“, fiel Mr. Pott ein, tief innerlich von dem Wunsche durchdrungen, sein Gast möge an der gerösteten Brotschnitte, die er soeben an seine Lippen führte, ersticken und dadurch seinem Aufenthalt auf immer ein Ende machen! „Das will ich nicht hoffen.“

„Sie sind wirklich zu gütig“, sagte Mr. Winkle, „aber ich habe heute früh, als ich noch in meinem Schlafzimmer war, einen Brief von Mr. Tupman erhalten, worin er mir meldet, es sei ein Schreiben von Mr. Pickwick eingetroffen mit der Bitte, noch heute zu ihm nach Bury zu kommen. Wir sind deshalb insgesamt entschlossen, mittags abzureisen.“

„Aber Sie werden doch wieder zurückkommen?“ fragte Mrs. Pott.

„Oh, gewiß“, versicherte Mr. Winkle.

„Darf ich mich darauf verlassen?“ fragte Mrs. Pott und warf ihrem Gast verstohlen einen zärtlichen Blick zu.

„Unbedingt“, antwortete Mr. Winkle.

Das Frühstück wurde schweigend beendet, denn jedes Mitglied der Gesellschaft brütete über seinen eignen persönlichen Angelegenheiten. Mrs. Pott bedauerte sehr, einen Verehrer zu verlieren; ihr Gatte bereute sein unüberlegtes Versprechen, den Redakteur des „Independent“ mit der Hetzpeitsche zu behandeln, und der Gast war ärgerlich, sich in einer so peinlichen Lage zu befinden. Der Mittag rückte heran, und nach manchem Lebewohl und vielfachen Versprechungen, bald wiederzukommen, riß sich Mr. „Winkle endlich los.

Sobald er sich wieder zeigt, vergifte ich ihn, schwor Mr. Pott innerlich, als er sich in seine Studierstube zurückzog, um seine Donnerkeile zu schmieden.

„Wenn ich je wieder zurückkomme und mich noch mal mit diesem Pack einlasse, dachte Mr. Winkle auf seinem Weg zum „Pfau“, so verdiene ich selbst die Hundepeitsche, und damit Punktum.

Seine Freunde standen bereit, Kutsche und Pferde ebenfalls, und im Verlauf von einer halben Stunde befanden sich die Herren auf derselben Straße, auf der Mr. Pickwick und Sam kürzlich ihre Reise gemacht hatten. Da wir den Weg bereits entsprechend geschildert haben, fühlen wir uns nicht berufen, Auszüge aus Mr. Snodgraß‘ herrlich-poetischer Beschreibung mitzuteilen.

Mr. Weller stand vor dem Tore des „Engel“, um sie zu empfangen, und führte sie in das Zimmer Mr. Pickwicks, wo sie zu nicht geringer Überraschung der Herren Winkle und Snodgraß und zur größten Verlegenheit Mr. Tupmans den alten Wardle und Mr. Trundle antrafen.

„Wie geht’s, wie steht’s?“ rief der alte Herr und ergriff Mr. Tupmans Hand. „Sehen Sie doch nicht so sentimental und empfindsam drein. Es läßt sich mal nicht ändern, alter Freund. Um meiner Schwester willen hätte ich gewünscht, daß Sie sie bekommen hätten, aber in Ihrem Interesse freut es mich sehr, daß es nicht so gekommen ist. Ein junger Fant wie Sie kann es heutzutage immer noch besser treffen; oder? Mit diesen Trostesworten klopfte der alte Herr Mr. Tupman auf die Schulter und lachte herzlich.

„Nun, und wie geht es denn Ihnen, meine verehrtesten Herren?“ fuhr er fort, Mr. Winkle und Mr. Snodgraß gleichzeitig die Hände schüttelnd.

„Ich habe soeben zu Pickwick gesagt, daß wir Sie über Weihnachten alle zu Gast haben müssen. Wir müssen diesmal eine Hochzeit bei uns arrangieren, und zwar eine Hochzeit im buchstäblichen Sinne des Wortes.“

„Eine Hochzeit?!“ rief Mr. Snodgraß und wurde blaß wie die Wand.

„Ja, eine Hochzeit. Erschrecken Sie nur nicht gleich; es handelt sich nur um Trundle und Bella.“

„So, so. Ah!“ sagte Mr. Snodgraß, dem ein Stein vom Herzen fiel. „Da gratuliere ich wirklich herzlich, Sir. Und was macht denn unser Joe?“

„Oh, dem geht’s immer gut“, erwiderte der alte Herr. „Schläft wie gewöhnlich.“

„Und Ihre Mutter und der geistliche Herr und die andern alle?“

„Alle wohlauf.“

„Und wo“, fragte Mr. Tupman gepreßt, „wo ist – sie, Sir?“ Er wandte den Kopf ab und bedeckte seine Augen mit der Hand.

Sie?“ wiederholte der alte Herr mit verständnisinnigem Kopfschütteln. „Sie meinen meine ledige Schwester; oder?“ Mr. Tupman nickte stumm und gramverzehrt. „Ach, die ist fort. Sie wohnt jetzt bei Verwandten, weit von hier. Sie konnte sich mit den Mädchen nicht recht vertragen, und darum ließ ich sie ziehen. Aber kommen Sie jetzt, das Essen steht auf dem Tisch. Sie müssen nach Ihrer Fahrt hungrig sein. Ich habe Appetit ohne Fahrt. Also los.“

Die Herren ließen dem Mahl alle Gerechtigkeit widerfahren, und beim Dessert erzählte Mr. Pickwick zum allgemeinen Schrecken und Unwillen seiner Zuhörer das Abenteuer, das er bestanden, und wie leider das Schicksal die Schändlichkeiten des teuflischen Jingle mit Erfolg gekrönt habe.

„Und der Rheumatismus, den ich mir in dem Garten geholt habe“, schloß Mr. Pickwick, „hält mich bis jetzt noch im Zimmer fest.“

„Ich habe auch so eine Art Abenteuer gehabt“, nahm Mr. Winkle lächelnd das Wort und erzählte sofort von dem boshaften Schmähartikel im „Eatanswiller Independenten“ und dem daraus entstandenen Familienzwist im Hause des gemeinsamen Freundes, des Redakteurs.

Mr. Pickwicks Stirn verfinsterte sich sichtlich während dieses Berichtes. Seine Freunde bemerkten es und beobachteten tiefstes Stillschweigen, als Mr. Winkle zu Ende war. Dann schlug Mr. Pickwick mit der geballten Faust heftig auf den Tisch und sprach:

„Es ist doch wirklich unglaublich, daß wir bestimmt zu sein scheinen, kein Haus zu betreten, ohne auf die eine oder andre Art Streit und Zank zu verursachen! Ich frage, beweist es nicht die Unbesonnenheit, oder noch schlimmer, die Gewissenlosigkeit meiner Freunde, so etwas aussprechen zu müssen? Unter welchem Dach man auch einquartiert sein mag, jedesmal kostet es den Seelenfrieden und das Glück irgendeines arglosen weiblichen Wesens! Ist es nicht, sage ich …“

Mr. Pickwick hätte wahrscheinlich noch geraume Zeit so weitergeredet, wäre der Fluß seiner Beredsamkeit nicht durch den Eintritt Sams, der einen Brief brachte, unterbrochen worden; er fuhr sich mit seinem Taschentuch über die Stirn, nahm seine Brille herunter, wischte die Gläser ab, und als er sie aufsetzte, hatte seine Stimme die gewohnte Sanftheit wieder.

„Was hast du da, Sam?“ fragte er.

„Dieser Brief hat schon zwei Tage auf der Post gelegen“, erwiderte Mr. Weller. „Mit ’ner Oblate versiegelt und von ’ner Geschäftsfote geschrieben.“

„Ich kenne die Hand nicht“, sagte Mr. Pickwick und erbrach den Umschlag. „Barmherziger Gott, was ist das? Es muß ein Scherz sein; es – es – kann nicht Ernst sein.“

„Was ist denn los?“ riefen alle wie aus einem Munde.

„Es ist doch niemand gestorben?“ fragte Wardle, beunruhigt durch Mr. Pickwicks sichtliche Bestürzung. Mr. Pickwick reichte den Brief über den Tisch, bat Mr. Tupman, ihn vorzulesen, und sank dann sprachlos vor Entsetzen in seinen Stuhl zurück. Mit stockender Stimme las Mr. Tupman:

„Freemans-Court, Cornhill, den 18. August 1830

In Sachen Bardell kontra Pickwick.

Sir!

Beauftragt von Mrs. Marta Bardell, eine Klage wegen Nichterfüllung eines Eheversprechens gegen Sie einzuleiten, worin die Klägerin eine Entschädigung von fünfzehnhundert Pfund fordert, erlauben wir uns, Sie zu benachrichtigen, daß wir den Prozeß bei dem zuständigen Zivilgerichtshof anhängig gemacht haben. Wir ersuchen Sie, uns gefl. mit umgehender Post Ihren Rechtsfreund in London, der Sie vertreten wird, namhaft zu machen.

Mit vorzüglicher Hochachtung
ergebenst
Dodson und Fogg

An Mr. Samuel Pickwick“

In dem stummen Erstaunen, mit dem jeder der Herren seinen Nachbarn und dann alle zusammen Mr. Pickwick anblickten, lag etwas so Ausdrucksvolles, daß lange Zeit niemand zu sprechen wagte. Endlich brach Mr. Tupman das Stillschweigen.

„Dodson und Fogg“, wiederholte er mechanisch.

„Bardell kontra Pickwick“, sagte Mr. Snodgraß sinnend.

„Seelenfrieden und Glück argloser weiblicher Wesen“, murmelte Mr. Winkle mit zerstreuter Miene.

„Es ist eine Verschwörung!“ ächzte Mr. Pickwick, als er endlich wieder sprechen konnte. „Eine niederträchtige Verschwörung von diesen beiden beutelschneiderischen Advokaten Dodson und Fogg. Mrs. Bardell würde so etwas nie eingefallen sein; sie hat das Herz nicht dazu, und auch keinen Grund. – Lächerlich, wirklich, zu lächerlich.“

„Was ihr Herz anbelangt“, sagte Mr. Wardle und schnitt „in Gesicht, „so müssen Sie das freilich am besten beurteilen können. Ich will Ihnen den Mut nicht nehmen, aber so viel kann ich wohl zuversichtlich behaupten, daß in bezug auf die Klage den Herren Dodson und Fogg ein besseres Urteil zustehen dürfte als uns allen zusammen.“

„Es ist ein niederträchtiger Versuch, Geld zu erpressen“, rief Mr. Pickwick.

„Hoffentlich nichts Schlimmeres“, meinte Mr. Wardle mit einem kurzen, trocknen Husten.

„Wer hat mich je anders mit ihr sprechen sehen als wie als Mieter mit seiner Hauswirtin?“ fuhr Mr. Pickwick mit großer Heftigkeit fort. „Wer hat mich jemals mit ihr allein gesehen? Nicht einmal meine Freunde hier …“

„Ein einziges Mal ausgenommen“, warf Mr. Tupman bescheiden ein.

Mr. Pickwick wechselte die Farbe.

„Hm, hm“, sagte Mr. Wardle. „Das ist aber von großer Wichtigkeit. Es ist doch hoffentlich dabei nichts Verdächtiges vorgefallen?“

Mr. Tupman warf seinem Meister einen schüchternen Blick zu. „N – nein“, sagte er, „nicht gerade etwas Verdächtiges. Aber, ich weiß nicht, wie es zuging, sie lag in seinen Armen.“

„Grundgütiger Himmel!“ stöhnte Mr. Pickwick, dem sich plötzlich die volle Erinnerung an die damalige schreckliche Szene aufdrängte. „Welch furchtbares Beispiel für die Macht der Umstände! Ja, es war so, es war so.“

„Und Sie gaben sich alle Mühe, sie zu beschwichtigen“, warf Mr. Winkle etwas boshaft hin.

„Ja, ja, ja“, nickte Mr. Pickwick kummervoll. „Ich leugne es nicht. Es war so.“

„Hallo! Für einen Fall, an dem nichts Verdächtiges ist, klingt das aber doch ein bißchen wunderlich, meinen Sie nicht auch, Mr. Pickwick; ha? Oh, Sie alter Schlaufuchs!“ Mr. Wardle lachte, daß die Gläser auf dem Kredenztisch klirrten.

„Ein schreckliches Zusammentreffen von Verdachtsmomenten!“ jammerte Mr. Pickwick und griff sich an die Stirn. „Winkle – Tupman – ich bitte Sie wegen meiner Bemerkung von vorhin um Verzeihung. Wir sind samt und sonders Opfer der Umstände, und ich bin das beklagenswerteste.“

Sinnend begrub er das Haupt in den Händen, und Mr. Wardle warf den übrigen Herren bedeutungsvolle Blicke zu.

„Die Sache muß sich aufklären, so oder so“, sagte Mr. Pickwick nach einer Weile, erhob das Haupt und schlug auf den Tisch. „Ich muß diese Dodson und Fogg persönlich sprechen. Morgen fahre ich nach London.“

„Morgen noch nicht“, riet Mr. Wardle. „Sie sind noch zu lahm.“

„Nun gut, dann übermorgen.“

„Übermorgen ist der erste September, und Sie haben uns doch zugesagt, unter allen Umständen den Jagdausflug auf Sir Geoffrey Mannings Besitz mitzumachen!“

„Also gut, dann Donnerstag. Sam!“

„Sir?!“ erwiderte Mr. Weller.

„Bestelle auf Donnerstag früh für uns beide zwei Plätze nach London.“

„Sehr woll, Sir.“ Mr. Weller verließ das Zimmer und schlenderte, die Hände in den Taschen und die Augen sinnend zu Boden geschlagen, langsam auf die Post.

„Ein lockerer Zeisig das, der Alte“, brummte er vor sich hin. „Macht sich da an die Bardell ran, die noch obendrein einen Jungen hat. Jaja, so treiben’s diese alten Wüstlinge, trotz ihres ehrbaren Aussehens. Hätt’s ihm, weiß Gott, nicht zugetraut.“

Und in diesem Tone weiter moralisierend, lenkte Mr. Samuel Weller seine Schritte nach dem Einschreibebüro.

Neunzehntes Kapitel


Neunzehntes Kapitel

Ein angenehmer Tag mit einem unerfreulichen Schluß.

Die gefiederten Bewohner der Stoppelfelder begrüßten in seliger Unkenntnis der zu ihrem Verderben getroffenen Vorbereitungen den Morgen des ersten September als einen der schönsten, die sie in dieser Jahreszeit gesehen hatten. Manches junge Rebhuhn stolzierte mit der ganzen Hoffart der Jugend selbstgefällig einher, und manches alte schaute aus runden Augen mit der Miene eines weisen, abgeklärten Vogels dem törichten Treiben zu und badete sich, das drohende Verhängnis nicht ahnend, wonnetrunken in der frischen Morgenluft. Und doch lagen sie bereits wenige Stunden später leblos am Boden.

Es war also, um in Prosa zu sprechen, ein schöner Morgen, so schön, daß man kaum hätte glauben können, die wenigen Monate eines englischen Sommers seien bereits vorüber. Hecken, Felder und Bäume, Hügel und Moorland boten dem Auge die wechselreichen Schattierungen eines vollen, saftigen Grüns; kaum war ein Blatt gefallen, kaum mischte sich ein gelbes Pünktchen in die Farbe des Sommers und verriet das Herannahen des Herbstes. Wolkenlos breitete sich der Himmel aus, die Sonne schien hell und warm, das Gezwitscher der Vögel und das Summen von Myriaden Sommerinsekten erfüllten die Luft. Die Gärten prangten mit bunten Blumen in reicher Schönheit und funkelten im Morgentau gleich Beeten blitzender Juwelen. Alles trug den Stempel des Sommers, und noch war nicht eine seiner schönen Farben verblichen.

So war der Morgen, an dem ein offner Wagen mit drei Pickwickiern und den Herren Wardle und Trundle (Mr. Snodgraß hatte es vorgezogen, zu Hause zu bleiben) und Mr. Sam Weller, der neben dem Kutscher auf dem Bocke saß, vor einem Tor an der Landstraße hielt, hinter dem ein baumlanger Wildhüter und ein Junge in Halbstiefeln und Lederhosen, jeder mit einer Jagdtasche von bedeutendem Umfang und einem Paar Hühnerhunden versehen, bereits warteten.

„Hm, warum haben die so große Taschen?“ flüsterte Mr. Winkle Mr. Wardle zu, als man den Wagentritt niederließ.

„Zum Füllen!“ rief der alte Wardle. „Wozu denn sonst. Sie sollen die eine füllen und ich die andre, und wenn wir damit fertig sind, geht’s erst noch an die Taschen unsrer Jagdwämser.“

Mr. Winkle stieg aus, ohne auf diese Bemerkung etwas zu erwidern, dachte aber in seinem Herzen, wenn die Gesellschaft so lange im Freien bleiben würde, bis er eine von den Jagdtaschen gefüllt hätte, so würde sie sich wohl einen bedenklichen Schnupfen holen.

„Herein, Juno! Schön, Alte! Leg dich, Daphne, leg dich“, liebkoste Wardle die Hunde. „Sir Geoffrey ist natürlich noch in Schottland, Martin?“

Der baumlange Heger bejahte und sah verwundert auf Mr. Winkle, der seine Flinte so hielt, als beabsichtige er, mit seiner Rocktaschenklappe den Hahn zu spannen, und dann auf Mr. Tupman, der sie so trug, als ob er sich vor ihr fürchtete; übrigens ist kaum daran zu zweifeln, daß er sich wirklich fürchtete.

„Meine Freunde sind in derlei Dingen noch unbewandert, Martin“, erklärte Wardle, der den Blick bemerkte. „Da heißt’s: ,Leben und Lernen.‘ Aber sie werden schon noch tüchtige Schützen werden. Bitte übrigens um Verzeihung, Mr. Winkle, Sie haben ja bereits Erfahrung.“

Mr. Winkle lächelte schwach aus seiner blauen Halsbinde hervor, stolperte dabei über seine Flinte und hätte sich in seiner Verwirrung unfehlbar erschossen, wenn die Läufe geladen gewesen wären.

„Sie müssen das Dings da anders halten, wenn’s mal geladen is“, sagte der baumlange Wildhüter mürrisch, „oder ich will verdammt sein, wenn Sie nicht einen von uns kalt machen.“

Mr. Winkle veränderte auf diese Ermahnung so plötzlich seine Stellung, daß sein Flintenlauf in ziemlich kräftige Berührung mit Mr. Wellers Kopf kam.

„Hallo“, rief Sam, hob seinen Hut auf und rieb sich die Schläfe. „Hallo, Sir, auf die Art können Sie mit einem Schlag eine von diesen Taschen füllen, daß auf beiden Seiten noch was rausschaut.“

Das erheiterte den Jungen mit den Lederhosen derart, daß er aus vollem Halse heraus lachte, was wiederum Mr. Winkle veranlaßte, majestätisch die Stirn zu runzeln.

„Wohin haben Sie den Jungen mit unserer Atzung bestellt, Martin?“ fragte Mr. Wardle.

„Zum Baumhügel, um zwölf Uhr, Sir.“

„Der gehört doch nicht zu Sir Geoffreys Jagdgebiet – oder?“

„Nein, Sir, is aber dicht dabei. Gehört dem Kapitän Boldwig; ’s wird uns aber niemand stören, ’s ist ein feiner Rasen dort.“

„Schön“, versetzte der alte Wardle. „Aber jetzt wird’s langsam Zeit. Je früher wir dran sind, um so besser! Wollen Sie also bis dahin hier auf uns warten, Pickwick?“

Mr. Pickwick hätte ums Leben gern der Jagd beigewohnt, nicht nur, weil ihm um Mr. Winkles Leib und Leben bang“ war, sondern es auch an einem so einladenden Morgen eine wahre Tantalusqual bedeutet hätte, allein zu bleiben, während sich die andern amüsierten, und erwiderte deshalb mit trübseliger Miene:

„Ich muß wohl; leider.“

„Ist denn der Herr nicht Jäger, Sir?“ fragte der lange Heger.

„Nein“, antwortete Wardle. „Und außerdem kommt er mit seinen Beinen nicht recht fort.“

„Ich würde sehr gern mitgehen“, seufzte Mr. Pickwick. „Wirklich, sehr gern.“

Eine kleine Pause allgemeinen Bedauerns.

„Hinter der Hecke steht ein Schiebkarren“, meldete sich der Junge. „Vielleicht könnt sich der Herr von seinem Bedienten nachschieben lassen. Über die Zäun‘ könnten mer ’n schon ’nüberheben.“

„Famos!“ rief Mr. Weller, der selbst ein brennendes Verlangen verspürte, die Jagd mit anzusehen, erfreut aus. „Famos! Bravo, Milchbart! Gleich werden wir die Karre haben.“

Das ging aber nicht so ohne weiteres. Der baumlange Wildhüter protestierte nämlich feierlich dagegen, daß ein Gentleman auf einem Schubkarren eine Jagd mitmache, und nannte es eine grobe Verletzung aller weidmännischen Regeln und Gebräuche.

Das war zwar ein bedeutendes Hindernis, aber doch kein unüberwindliches. Der Heger wurde durch Geld und gute Worte andern Sinnes gemacht und begnügte sich damit, dem erfinderischen Jungen, der die Maschine in Vorschlag gebracht, wortlos eins hinter die Ohren zu geben. Mr. Pickwick wurde also in dem Karren verstaut, und die Jagdgesellschaft brach auf, wobei Wardle und der lange Heger den Zug anführten und Mr. Pickwick, von Sam geschoben, die Nachhut bildete.

„Halt, halt, Sam!“ rief Mr. Pickwick, als sie mitten in dem ersten Stoppelfeld angekommen waren.

„Was gibt’s?“ fragte Wardle.

„Ich lasse mich keinen Schritt weiterschieben“, erklärte der Gelehrte entschlossen, „wenn nicht Mr. Winkle sofort seine Flinte anders hält.“ „Wie soll ich sie denn halten?“ fragte der unglückliche Winkle.

„Die Mündung nach abwärts!“

„Das ist ja ganz unweidmännisch“, wendete Mr. Winkle ein.

„Mir vollständig gleichgültig“, erwiderte Mr. Pickwick, „ob es weidmännisch ist oder nicht; ich lasse mich nicht, bloßer Formalitäten wegen, auf einem Schubkarren erschießen.“

„Ich wette, der Herr wird die Ladung noch jemand in die Wampe pfeffern, ehe er sich’s versieht“, brummte der Lange.

„Also gut, meinetwegen“, seufzte der arme Mr. Winkle und drehte sein Gewehr um. „So!“

„’s geht doch nichts über ein geruhiges Leben!“ sagte Mr. Weller, und der Zug bewegte sich wieder vorwärts.

„Halt!“ rief Mr. Pickwick nach kaum hundert Schritten abermals.

„Was gibt’s denn schon wieder?“ fragte Wardle.

„Tupmans Flinte ist nicht sicher; ich seh es, sie ist nicht sicher.“

„Wie? Was? Nicht sicher?“ fragte Mr. Tupman im Tone höchster Angst.

„Ich meine, so, wie Sie sie tragen“, sagte Mr. Pickwick. „Es rat mir leid, wieder eine Störung zu veranlassen, aber ich muß darauf bestehen, daß Sie Ihr Gewehr halten wie Mr. Winkle.“

Mr. Tupman gab bereitwilligst und mit größter Hast seinem Gewehr die gewünschte Richtung, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung, die beiden Amateure die Läufe nach abwärts gekehrt, wie ein paar Soldaten bei einem militärischen Leichenbegängnis.

Plötzlich standen die Hunde. Die Gesellschaft stahl sich noch einen Schritt weiter und blieb gleichfalls stehen.

„Was machen denn die Hunde mit ihren Beinen?“ flüsterte Mr. „Winkle. „Sie stehen so wunderlich da.“

„Pst! Sehen Sie denn nicht?“ verwies ihn „Wardle leise. „Sie stellen etwas.“

„Stellen etwas?“ fragte Mr. Winkle, umherschauend. als hoffe er, den reizvollen Punkt in der Landschaft zu entdecken, dem die scharfsinnigen Tiere offenbar ihre Aufmerksamkeit widmeten. „Stellen etwas? Und was stellen sie denn?“

„Aufpassen!“ rief Wardle, in der Aufregung des Augenblicks die Frage überhörend. „Da! Da! – Feuer!“

Ein scharfes, schwirrendes Geräusch! Mr. Winkle bebte entsetzt zurück. Piff, Paff erscholl es, und schon verzog sich das Rauchwölkchen, das einen Augenblick über den Jägern geschwebt, in den Lüften.

„Wo sind sie?“ fragte Mr. Winkle, in höchster Aufregung wild um sich blickend. „Wo sind sie? Sagen Sie mir, wann ich schießen soll. Wo sind sie, wo sind sie?“

„Wo sie sind?“ entgegnete Wardle und hob ein paar Hühner auf, die die Hunde zu seinen Füßen niedergelegt hatten. „Wo sie sind? Nun, hier sind sie.“

„Nein, nein, ich meine die andern“, sagte Mr. Winkle verwirrt.

„Für diesmal weit genug weg“, erwiderte Wardle und lud kaltblütig sein Gewehr wieder.

„In fünf Minuten werden wir wahrscheinlich eine zweite Kette antreffen“, sagte der lange Heger. „Wenn der Herr jetzt anlegt, kann der Schuß vielleicht gerade in dem Augenblick losgehen, wo sie auffliegen.“

„Hahaha!“ johlte Mr. Weller.

„Sam!“ verwies Mr. Pickwick voll Mitgefühl für die Verlegenheit seines Freundes.

„Sir?“

„Lache nicht!“

„Zu Befehl, Sir!“ antwortete Mr. Weller und entschädigte sich mit Gesichterschneiden hinter dem Schubkarren zur großen Belustigung des Jungen mit den Lederhosen, der darüber in ein wieherndes Gelächter ausbrach und sich deshalb von dem langen Wildhüter ein paar Püffe zuzog.

„Bravo, alter Kamerad“, ermunterte Wardle Mr. Tupman. „Sie feuerten doch wenigstens.“

„Allerdings“, erwiderte Mr. Tupman stolz, „ich schoß.“

„Gut so; Sie werden das nächstemal schon was treffen, wenn Sie gut zielen. Es ist ganz leicht; nöch?“

„Ja, es ist sehr leicht“, sagte Mr. Tupman. „Nur daß es einen gräßlich in die Schulter stößt. Es hat mich fast umgerissen. Ich hätte nie gedacht, daß die kleinen Dinger so ausschlagen können.“

„Sie werden sich an das mit der Zeit schon gewöhnen“, tröstete der alte Herr lächelnd. „Also weiter. – Alles bereit? Alles in Ordnung mit dem Schubkarren da hinten?“

„Alles in Ordnung, Sir“, erwiderte Mr. Weller.

„Also flott, flott.“

„Festgehalten, Sir“, sagte Sam und hob den Schubkarren wieder auf.

„Gut, gut“, rief Mr. Pickwick, und vorwärts ging’s.

„Bleiben Sie jetzt mit dem Schubkarren stehen“, rief Wardle, als das Vehikel über eine Hecke in das nächste Feld gehoben und Mr. Pickwick wieder hineingesetzt worden war.

„Schon recht, Sir“, versetzte Mr. Weller und hielt.

„Und Sie gehen mir langsam nach, Winkle“, sagte der alte Herr, „und kommen Sie diesmal nicht zu spät.“

„Unbesorgt“, antwortete Mr. Winkle. „Stehen die Hunde?“

„Nein, noch nicht; ruhig jetzt, ruhig.“

Die Herren schlichen vorwärts und würden unbemerkt an den gewünschten Platz gekommen sein, hätte nicht Mr. Winkle bei Ausführung einer sehr schwierigen Evolution mit seiner Flinte in dem entscheidenden Augenblick zufälligerweise den Drücker berührt. Der Schuß ging über den Kopf des Jungen weg und gerade auf die Stelle, wo sich eine Sekunde früher die Hirnschale des langen Hegers befunden hatte.

„Warum, zum Teufel, haben Sie denn abgedrückt?“ fragte der alte Wardle, während die Hühner lustig davonflogen.

„Ein solches Gewehr habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen“, stotterte der arme Winkle, das Schloß betrachtend, als ob das noch irgend etwas helfen könnte. „Es geht von selbst los.“

„Ach was, geht von selbst los!“ versetzte Wardle ein wenig gereizt. „Ich wollte, es würde auch von selbst etwas treffen.“

„Hm, kann ja noch werden, Sir“, bemerkte der Heger mit dumpfer, prophetischer Stimme.

„Was wollen Sie mit dieser Bemerkung sagen, Sir?“ fragte Mr. Winkle ärgerlich.

„Nichts, Sir, nichts“, entschuldigte sich der Wildhüter. „Ich selbst habe keine Familie, Sir. Und die Mutter von dem Jungen da bekäme was Hübsches von Sir Geoffrey, wenn er auf seinem Gute erschossen würde. Laden Sie nur wieder, Sir, laden Sie nur wieder.“

„Nehmt ihm die Flinte ab!“ rief Mr. Pickwick aus dem Schubkarren heraus, von Entsetzen über die schwarzen Ahnungen des Langen geschüttelt. „Nehmt ihm die Flinte ab! Hört mich denn niemand?“ Aber niemand wollte dem Befehl Folge leisten.

Mr. Winkle schoß einen rebellischen Blick auf Mr. Pickwick, lud sein Gewehr aufs neue und ging mit der übrigen Gesellschaft weiter.

Wir fühlen uns verpflichtet, unter Berufung auf Mr. Pickwicks Zeugnis ausdrücklich zu bemerken, daß Mr. Tupman in seiner Handlungsweise weit mehr Klugheit und Besonnenheit bekundete als Mr. Winkle. Nicht, daß wir damit etwa dem Rufe des letztgenannten Herrn in allen Fächern des Jagdsportes irgendwie zu nahe treten wollten! Wie Mr. Pickwick treffend bemerkt, so hat sich, worin auch immer der Grund liegen mag, schon seit undenklichen Zeiten der Fall ereignet, daß oft gerade die besten und größten Philosophen, die bis in die tiefsten Tiefen der Erkenntnis eingedrungen waren, nicht die Fähigkeiten besaßen, die Theorie in die Praxis zu übertragen.

Mr. Tupmans Vorgehen war, wie dies bei großen Entdeckungen gewöhnlich der Fall ist, äußerst einfach. Mit dem schnellen Blick des Genies hatte er die beiden Hauptpunkte, auf die es ankam, sofort erfaßt: erstens, sein Gewehr abzuschießen, ohne sich selbst zu verletzen, und zweitens, es abzuschießen ohne Gefahr für die Umstehenden. Nachdem er damit die Schwierigkeit, überhaupt zu schießen, gelöst hatte, war das, was übrigblieb, nämlich die Augen zu schließen und abzudrücken, ein rein mechanischer Prozeß.

Einmal, als Mr. Tupman diese Regel abermals mit Glück befolgt hatte und befriedigt die Augen wieder aufschlug, sah er ein dickes Rebhuhn verwundet zu Boden fallen. Er war eben im Begriff, Mr. Wardle zu seinem unwandelbaren Glück zu gratulieren, als dieser auf ihn zutrat und ihm warm die Hand drückte.

„Tupman“, fragte der alte Herr, „hatten Sie es gerade auf dieses Huhn abgesehen?“

„Nein“, sagte Mr. Tupman schlicht. „Nein.“

„Doch, doch!“ erwiderte Wardle. „Ich habe es genau gesehen. Sie haben es direkt herausgeschossen. Ich habe Sie doch darauf zielen sehen und kann Ihnen nur sagen, der beste Schütze auf der Welt hätte es nickt feiner herunterholen können. Sie sind geschickter, als ich geglaubt habe, Mr. Tupman. Gestehen Sie es nur, Sie sind schon öfter auf der Jagd gewesen!“

Vergeblich versicherte Mr. Tupman mit bescheidnem Lächeln, Mr. Wardle irre sich; aber gerade dieses Lächeln wurde für einen Beweis des Gegenteils angesehen, und von dem Augenblick an war sein Ruf fest begründet. Leider steht dieser so leicht erworbne Ruhm nicht vereinzelt in der Weltgeschichte da, denn Erfolg ist nicht auf die Hühnerjagd allein beschränkt.

Mr. Winkle feuerte und knallte inzwischen unentwegt drauflos, ohne weitere bemerkenswerte Ergebnisse herbeizuführen; bald schoß er so hoch in die Luft, wie sich das Rebhuhn nie zu erheben liebt, bald so nahe am Boden hin, daß sich die Aussicht auf eine lange Lebensdauer der Hunde Wesentlich verringerte. Im Lichte des Phantasieknallens gesehen, boten seine Schüsse viel Abwechslung und Kunstgenuß; waren sie jedoch wirklich auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, so mußten seine Bestrebungen als im Grunde gänzlich verfehlt bezeichnet werden. Es ist ein anerkannter Grundsatz: Jede Kugel hat ihr Ziel. Aber auf Mr. Winkles Schrotkörner angewendet, stempelte er sie zu unglücklichen Findelkindern, die, ihrer natürlichen Rechte beraubt, planlos im Weltenraum umherirrten.

„Verdammt schwüler Tag, wie?“ sagte Wardle, ging auf den Schubkarren zu und wischte sich den Schweiß von der glühend roten Stirn.

„In der Tat“, erwiderte Mr. Pickwick. „Die Sonne brennt fürchterlich, sogar für mich. „Wie müssen Sie es erst empfinden!“

„Ja“, sagte der alte Herr. „Scheußlich. Aber es ist jetzt zwölf Uhr durch. Sehen Sie dort den grünen Hügel?“

„Gewiß.“

„Dort werden wir frühstücken. Und, beim Zeus, da ist auch der Junge schon mit dem Korb, so pünktlich wie eine Uhr.“

„Wahrhaftig“, rief Mr. Pickwick fröhlich. „Ein guter Junge das. Ich werde ihm einen Schilling schenken. Vorwärts, Sam, schieb mich.“

„Festgehalten, Sir!“ sagte Mr. Weiler, neubelebt durch die Aussicht auf einen guten Imbiß. „Weg da, junges Lederbein! Wenn du mein kostbares Leben schätzest, wirfst du mir den Wagen nich um, wie der Schenlmän zum Kutscher sagte, als man ihn nach dem Galgen fuhr.“

Und seinen Schritt in einen munteren Trab verwandelnd, schob Mr. Weller seinen Herrn schnell auf den grünen Hügel, leerte ihn gewandt neben dem Korb aus und fing mit der größten Eile an, auszupacken.

„Eine Kalbspastete“, begann er einen Monolog, als er die Speisen auf den Rasen legte. „Eine feine Sache das, wenn man die Dame kennt, wo ihr gebacken hat, und man sicher ist, daß nich ’ne Katze der Vater is. Schließlich Wurst, wenn sie beide einander so ähnlich sin, daß sie selbst die Pastetenbäcker nich zu unterscheiden vermögen.“

„Vermögen sie das in der Tat nicht, Sam?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ausgeschlossen, Sir“, erwiderte Mr. Weller und lüftete den Hut. „Loschierte mal im nämlichen Hause mit ’nem solchen Pastetenbäcker. War ein durchtriebener Kunde, und ’s gab nichts, aus dem er nich Pasteten machen konnte, ,’ne Unzahl Katzen halten Sie da, Mr. Brooks‘, sagte ich mal im Vertrauen zu ihm. – ,O ja‘, meinte er, ,es sin deren ziemlich viele.‘ – ,Sie müssen ’n großer Katzenfreund sein‘, sagte ich. – ,Die andern sind’s‘, sagte er und zwinkerte dabei, ,sie haben aber jetzt ihre Zeit nich, erst bis der Winter kommt.‘ – ,Sie haben ihre Zeit nich?‘ fragte ich. – ,Nö‘, sagte er, ,Früchte haben ihre Zeit im Sommer, Katzen im Winter.‘ – ,Was meinen Sie eigentlich damit?‘ fragte ich. – ,Meinen?‘ sagte er. ,Na, ich meine, daß ich mir mit die Schlächterzunft n nich einlassen will, wo die Fleischpreise immer in die Höhe schraubt. – Mr. Weller‘, sagte er und drückte mir die Hand, ,sagen Sie’s nich weiter, es liegt nur an die Zubereitung. Meine Fabrikate werden aus lauter Hochwild gemacht‘, sagte er und deutete auf ein sehr hübsches gestreiftes Kätzchen, ,und ich verwandle ihnen in Ochsenfleisch, Kalbfleisch oder Nieren, wie’s grade verlangt wird, je nachdem die Preise stehen und die Mode wechselt.'“

„Das muß ein sehr erfinderischer junger Mann gewesen sein“, sagte Mr. Pickwick mit einem leichten Schauder.

„War er auch, Sir, und die Pasteten waren wunderschön. – Zunge! ’s is was Gutes um ’ne Zunge, wenn’s keine Weiberzunge is. – Brot! – Schinken! – Man könnte ihn nich schöner malen. – Kaltes Rindfleisch in Schnitten, sehr gut. Was is in den steinernen Krügen dort, verehrter Jüngling?“

„In diesen hier Bier“, antwortete der Bursche und nahm ein paar große steinerne Flaschen, die mit einem ledernen Riemen zusammengebunden waren, von der Schulter. „Hier drin kalter Punsch und da Knickebein.“

„’n fesselnder Anblick, wenn man’s so im Ganzen beisammen hat“, sagte Mr. Weller, seine Anordnungen mit Befriedigung betrachtend. „Nun, meine Herren, bedienen Sie sich, wie die Engländer zu den Franzosen sagten, als sie die Bajonette aufsteckten.“

Es bedurfte keiner zweiten Einladung für die Gesellschaft, dem Mahle seine volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und ebensowenig waren dringende Bitten erforderlich, Mr. Weller, den baumlangen Wildhüter und die beiden Jungen zu veranlassen, sich in einiger Entfernung ins Gras zu strecken und ihren Anteil an dem Frühstück entgegenzunehmen.

Eine alte Eiche spendete der Gruppe freundlich Schatten, und reiches Ackerland und Wiesen, von üppigen Hecken durchschnitten und anmutig mit Gehölz umsäumt, lagen ausgebreitet zu ihren Füßen.

„Es ist entzückend, wirklich, entzückend!“ rief Mr. Pickwick, von dessen ausdrucksvollem Gesicht sich die Haut durch die Wirkung der Sonnenstrahlen in Fetzen ablöste.

„Wirklich und wahrhaftig, das ist’s, alter Freund“, versetzte Wardle. „Kommen Sie. Ein Glas Punsch.“

„Mit größtem Vergnügen“, sagte Mr. Pickwick, und die Heiterkeit seines Gesichtes, nachdem er getrunken, zeugte von der Aufrichtigkeit seiner Erwiderung. „Ausgezeichnet“, bemerkte er, mit den Lippen schmatzend. „Vortrefflich. Ich will gleich noch eins trinken. Kühlend, sehr kühlend. Meine Herren, unsre Freunde zu Dingley Dell, sie leben hoch!“

Mit lautem Beifall wurde der Toast aufgenommen.

„Ich will Ihnen sagen, was ich tun will, um meine Geschicklichkeit im Schießen wiederzugewinnen“, sagte Mr. Winkle, Brot und Hammelfleisch mit seinem Taschenmesser zerlegend. „Ich werde ein ausgestopftes Rebhuhn auf eine Stange stecken und mich daran üben, indem ich mich zuerst in geringer Entfernung davon aufstelle und allmählich immer weiter zurücktrete. Ich glaube, das muß eine treffliche Übung sein.“

„Ich kenne einen Schenlmän, Sir“, sagte Mr. Weller, „wo es auch so machte und mit zwei Ellen anfing. Aber er versuchte es nicht zum zweitenmal, denn er blies den Vogel auf den ersten Schuß so rein herunter, daß niemand mehr ’ne Feder von ihm finden konnte.“

„Sam!“ rief Mr. Pickwick.

„Sir?“

„Sei so gut und behalte deine Anekdoten für dich, bis man dich auffordert.“

„Sehr wohl, Sir.“ Mr. Weiler blinzelte mit dem Auge, das nicht durch die eben an die Lippen geführte Bierkanne verdeckt war, so spaßhaft, daß die beiden Jungen sich vor Lachen gar nicht mehr helfen konnten und sogar der baumlange Heger sich zu einem Grinsen herabließ.

„Wirklich, ein vorzüglicher kalter Punsch“, bemerkte Mr. Pickwick, mit dem steinernen Krug liebäugelnd, „’s ist aber auch ein warmer Tag. Tupman, lieber Freund, ein Glas Punsch?“

„Mit dem größten Vergnügen“, erwiderte Mr. Tupman.

Nachdem Mr. Pickwick sein Glas geleert hatte, trank er schnell noch eins, um sich zu überzeugen, ob nicht etwa Pomeranzenschalen darin seien, die ihm im Tod zuwider waren, und als er seine Befürchtung unbegründet sah, leerte er noch ein weiteres auf die Gesundheit des gemeinsamen Freundes Snodgraß und fühlte sich dann gebieterisch genötigt, noch eins zu Ehren des unbekannten Punschbrauers vorzuschlagen.

Diese schnelle Aufeinanderfolge von Gläsern äußerte eine beträchtliche Wirkung auf den Gelehrten. Sein Gesicht erstrahlte in sonnigstem Lächeln; Fröhlichkeit umspielte seine Lippen, und rosige Laune glänzte in seinem Auge. Allmählich dem Einflüsse des Getränks unterliegend, dessen aufregende Eigenschaft durch die Hitze noch erhöht wurde, gab er einem starken Verlangen, ein Lied vorzutragen, das er in seiner Kindheit gehört, nach, und da der Versuch fehlschlug, suchte er seinem Gedächtnis durch eine weitere Anzahl von Gläsern Punsch und Knickebein nachzuhelfen, was insofern eine unerwünschte Wirkung hervorzubringen schien, als er plötzlich vergaß, so, wie er vorhin die Strophen des Liedes vergessen, überhaupt in artikulierten Lauten zu sprechen, und endlich, nachdem er sich auf seine Beine gestellt, um eine feurige Rede zu halten, in den Schubkarren fiel und augenblicklich einschlief.

Nachdem der Korb wieder gepackt und jeder Erweckungsversuch an Mr. Pickwicks tiefem Schlummer gescheitert war, fand eine Beratung statt, ob es besser wäre, wenn Mr. Weller seinen Herrn wieder zurückführe, oder ob man ihn liegenlassen sollte, wo er lag, bis sich alles wieder auf den Rückweg begeben würde. Endlich entschied man sich für das letztere, und da eine neuerliche Expedition nicht über eine Stunde dauern sollte und Mr. Weller inständig bat, die Gesellschaft begleiten zu dürfen, wurde beschlossen, Mr. Pickwick in dem Karren zu belassen und ihn erst auf dem Rückweg wieder mitzunehmen. Die Jagdpartie machte sich also wieder auf, und Mr. Pickwick schnarchte behaglich im Schäften fort. Daß Mr. Pickwick im Schatten fortgeschnarcht hätte, bis seine Freunde zurückgekommen wären, oder, in Ermangelung dessen, bis sich die Schatten des Abends herniedergesenkt haben würden, unterliegt wohl keinem Zweifel, vorausgesetzt natürlich, daß man ihn in Frieden gelassen hätte. Dies war nun aber leider nicht der Fall.

Kapitän Boldwig war ein kleiner hochfahrender Mann mit steifer schwarzer Halsbinde und einem blauen Überrock, und ließ er sich einmal herab, auf seinem Gute herumzugehen, vergaß er nie, außer einem dicken spanischen Rohr mit Messingzwinge einen Ober- und einen Untergärtner mit äußerst demütigen Gesichtern mitzunehmen, denen er bei solchen Gelegenheiten mit gebührender Würde und Barschheit seine Befehle erteilte. Denn Kapitän Boldwigs Schwägerin hatte einen Marquis geheiratet, sein Wohnsitz war eine Villa, sein Garten ein Park, und alles um ihn pompös und vornehm.

Mr. Pickwick hatte noch keine halbe Stunde geschlafen, als der kleine Kapitän Boldwig, von seinen beiden Gärtnern begleitet, so schnell daherschritt, wie es seine Wichtigkeit und Würde nur irgend erlaubte, an die Eiche kam, stehenblieb, tief Atem holte, sich in der Gegend mit einer Miene umsah, als ob sie sich hochgeehrt fühlen müßte, von ihm in Augenschein genommen zu werden, dann mit seinem Stock kräftig auf den Boden stieß und sich an seinen Obergärtner wandte.

„Hunt!“

„Ja, Sir“, sagte der Gärtner.

„Walze diesen Platz morgen früh. Verstanden, Hunt?“

„Ja, Sir.“

„Und sorge dafür, daß er überhaupt in ordentlichem Stand erhalten wird. Hörst du, Hunt?“

„Ja, Sir.“

„Und erinnere mich daran, daß ich anschlagen lasse, daß niemand ungestraft meinen Grund und Boden betreten darf. Auch Selbstschüsse muß ich anbringen und dergleichen, um das gemeine Pack fernzuhalten. Verstanden, Hunt?“

„Ich werde bestimmt nichts vergessen, Sir.“

„Ich bitte um Verzeihung, Sir“, sagte der andre Gärtner und griff mit der Hand an seinen Hut.

„Na, Wilkins, was willst denn du?“ fragte Kapitän Boldwig.

„Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber ich glaube, es müssen heute Leute den Rasen betreten haben.“

„Ha!“ rief der Kapitän und sah sich überall um.

„Sir, sie haben, glaube ich, hier gezecht.“

„Die Pest über die Bande, wenn sie das wirklich getan haben“, sagte Kapitän Boldwig. Da fiel sein Blick auf die Überbleibsel, die auf dem Rasen umherlagen. „Bei Gott, sie haben hier wirklich ein Gelage gehalten. Ich wollte, ich hätte die Landstreicher hier“, knirschte er und schwang seinen Stock. „Ich wollte, ich hätte die Landstreicher hier.“

„Ich bitte um Verzeihung, Sir“, begann Wilkins wieder, „aber …“

„Aber was? He?“ brüllte der Kapitän. Seine Augen folgten den furchtsamen Blicken Wilkins, und er bemerkte Mr. Pickwick in dem Schubkarren. „Wer bist du, du Schlingel?“ rief er und versetzte Mr. Pickwick mit seinem Stock einige unsanfte Stöße. „Wie heißt du?“

„Knickebein“, murmelte der Unsterbliche aus dem Schlaf.

„Wie?“ fragte Kapitän Boldwig.

Keine Antwort.

„Wie sagte er, daß er heiße?“ fragte der Kapitän wieder.

„Knickebein, glaube ich, Sir“, erwiderte Wilkins.

„Das ist eine Unverschämtheit, eine bodenlose Unverschämtheit“, raste Kapitän Boldwig. „Jetzt stellt er sich, als ob er schliefe. Es ist „in Betrunkener, ein betrunkener Plebejer. Fahre ihn weg, Wilkins, auf der Stelle.“

„Wohin soll ich ihn fahren, Sir?“ fragte Wilkins demütig.

„Fahre ihn zum Teufel.“

„Sehr wohl, Sir“, antwortete Wilkins.

„Halt!“

Wilkins hielt.

„Fahre ihn“, sagte der Kapitän, „fahre ihn in den Pfandstall. Wollen mal sehen, ob er sich immer noch Knickebein nennt, wenn er zu sich kommt. Er soll mich nicht zum Narren halten; nein, er soll mich nicht zum Narren halten. Fahr ihn weg.“

Auf diesen diktatorischen Befehl wurde also Mr. Pickwick weggefahren, und der große Kapitän Boldwig setzte voll Zorn seinen Spaziergang fort. Unbeschreiblich war das Erstaunen der kleinen Jagdgesellschaft, als sie bei ihrer Rückkehr fand, daß Mr. Pickwick samt dem Schubkarren verschwunden war. Es war das rätselhafteste, unerklärlichste Ereignis, von dem man jemals gehört hatte. Wenn sich ein Lahmer ohne weiteres auf die Beine gemacht und das Weite gesucht hätte, so würde dies schon ein außerordentliches Begebnis gewesen sein, aber wenn noch dazu das Verschwinden eines schweren Karrens die Sache komplizierte, so verlängerte das das Phänomen sozusagen bis ins Metaphysische. Sie durchsuchten jeden Winkel im ganzen Umkreis, sowohl miteinander als auch einzeln, schrien, pfiffen, lachten, riefen – alles mit gleich schlechtem Erfolg; Mr. Pickwick war spurlos verschwunden, und nach einigen Stunden fruchtlosen Suchens gelangte man zu dem unerfreulichen Schluß, daß man ohne ihn nach Hause zurückkehren müßte.

Mittlerweile war Mr. Pickwick nach dem Pfandstall gefahren und dort samt Vehikel eingestellt worden. Zur unermeßlichen Freude und Belustigung nicht nur für alle Jungen des Dorfes, sondern für drei Viertel der Bevölkerung, die sich ringsum versammelt hatten, um sein Erwachen abzuwarten, schlief er noch immer auf seinem Schubkarren. Hatte es den Leuten schon hohen Genuß gewährt, ihn hereinführen zu sehen, wieviel größer erst war ihr Entzücken, als er sich nach einigen schlaftrunknen Rufen nach Sam in dem Schubkarren halb erhob und mit unbeschreiblichem Erstaunen umherblickte.

Natürlich wurde sein Erwachen mit allgemeinem Geschrei begrüßt, und seine unwillkürliche Frage: „Was gibt’s?“ veranlaßte einen zweiten Jubelsturm, der womöglich noch lauter war als der erste.

„Das is ein Mordsspaß“, johlte der Pöbel.

„Wo bin ich?“ rief Mr. Pickwick.

„Im Pfandstall“, höhnte die Menge.

„Wie bin ich denn hierhergekommen? Weshalb denn? Wer hat mich hergebracht?“

„Boldwig – Kapitän Boldwig“, war die einzige Antwort.

„Laßt midi hinaus“, rief Mr. Pickwick. „Wo ist mein Diener? Wo sind meine Freunde?“

Erst kam eine Rübe geflogen, dann eine Kartoffel, ein Ei und andre kleine greifbare Beweise der Volkslaune.

Wie lange dieser Auftritt gedauert oder wieviel. Mr. Pickwick noch zu leiden gehabt haben würde, läßt sich nicht annähernd bestimmen, wäre nicht plötzlich ein Wagen angefahren, dem der alte Wardle und Sam Weller entstiegen, von denen der erstere in kürzerer Zeit, als man es lesen, geschweige denn schreiben kann, an Mr. Pickwicks Seite trat und ihm im selben Augenblick in den Wagen half, als letzterer mit dem Amtsbüttel einen kurzen entscheidenden Boxgang erfolggekrönt zu Ende geführt hatte.

„Holt die Polizei“, schrie ein Dutzend Stimmen.

„Jaja, aber nur recht schnell“, sagte Mr. Weller und schwang sich auf den Bock. „Mein Kompliment – Mr. Wellers Kompliment – an den Amtmann, und ich laß ihm sagen, ich hab ihm seinen Büttel lahmgedroschen, und wenn er noch einen hat, komm ich morgen wieder und werd mir ’n auch ausborgen! Fahr zu, Kutscher!“

„Ich werde augenblicklich in London eine Klageschrift gegen diesen Kapitän Boldwig wegen grundloser Verhaftung einreichen“, sagte Mr. Pickwick, als die Kutsche aus dem Marktflecken draußen war.

„Wir haben uns leider eine Überschreitung der Grenzen zuschulden kommen lassen“, gab Wardle zu bedenken.

„Mir vollständig gleichgültig“, erwiderte Mr. Pickwick. „Ich strenge die Klage an.“

„Das lassen Sie wohl besser bleiben“, meinte Wardle.

„Warum denn?“

„Weil“, antwortete der alte Wardle, vor Lachen beinahe berstend, „weil man den Spieß umdrehen und sagen könnte, wir hätten zuviel kalten Punsch getrunken.“

Mr. Pickwicks Mienen verzogen sich zu einem Lächeln, er mochte sich sträuben, wie er wollte; das Lächeln wurde‘ zum Lachen, das Lachen zum Wiehern, das Wiehern wurde allgemein, und um sich die gute Laune zu erhalten, stiegen die Herren am ersten Wirtshaus an der Straße ab und befahlen eine Runde Grog und ein Glas noch extra für Mr. Samuel Weller.

Zwanzigstes Kapitel


Zwanzigstes Kapitel

Zeigt, was für tüchtige Geschäftsleute Dodson und Fogg sind und wie gut sich ihre Schreiber unterhalten. Ein rührendes Wiedersehen zwischen Mr. Weller und seinem Vater und eine Schilderung, welch auserlesene Geister in der „Elster“ zusammenkommen.

In einem schmutzigen Hause am entferntesten Ende von Freemans Court Cornhill saßen in einem Vorderzimmer zu ebener Erde die vier Schreiber der Herren Dodson und Fogg, zweier Anwälte Seiner Majestät bei den Gerichtshöfen von Kings Bench und Common Pleas zu Westminster und Prokuratoren beim Oberkanzleigericht.

Das Büro der Herren Dodson und Fogg war ein dunkles, dumpfes, muffiges Zimmer mit einer Nebenabteilung, die die Schreiber durch eine hohe spanische „Wand vor den Blicken der Klienten verbarg, ein paar alten hölzernen Stühlen, einer sehr laut tickenden Uhr, einem Kalender, einem Regenschirmständer, einer Reihe von hölzernen Hutnägeln, einigen Wandbrettern, worauf verschiedene schmutzige Aktenfaszikel lagen, mehreren alten hölzernen Schubkästen mit Aufschriften und allerlei steinernen‘ Tintenkrugruinen von verschiedener Gestalt und Größe. Eine Glastür führte in das Vorzimmer der Kanzlei, und auf der andern Seite dieser Glastür zeigte sich am nächsten Freitagmorgen nach dem eben berichteten Ereignis Mr. Pickwick, gefolgt von Mr. Weller.

„Könnt ihr nicht reinkommen?“ rief eine Stimme aus dem Verschlag auf Mr. Pickwicks schüchternes Klopfen.

„Ist Mr. Dodson oder Mr. Fogg zu Hause?“ fragte Mr. Pickwick bescheiden und näherte sich mit dem Hut in der Hand dem Verschlage.

„Mr. Dodson ist nicht zu Hause und Mr. Fogg hat dringende Geschäfte“, antwortete die Stimme, und zugleich sah der dazugehörige Kopf, mit einer Feder hinter dem Ohr, über die spanische Wand nach Mr. Pickwick hinüber.

Es war ein unförmiger Kopf; das fuchsrote Haar, sorgfältig nach der einen Seite gescheitelt und mit Pomade angeklebt, umrahmte in kleinen halbkreisförmigen Locken ein glattes, mit kleinen Äuglein geziertes und von einem schmutzigen Hemdkragen und einer schwarzen, strickartigen Halsbinde abgeschloßnes Gesicht.

„Mr. Dodson ist nicht zu Hause, und Mr. Fogg hat dringende Geschäfte“, sagte der Mann, dem der Kopf angehörte.

„Wann wird Mr. Dodson zurückkommen, Sir?“ fragte Mr. Pickwick.

„Kann’s nicht sagen.“

„Wird Mr. Fogg lange beschäftigt sein, Sir?“

„Weiß nicht.“

Mit großer Sorgfalt begann der Mann seine Feder zu schneiden, während ein andrer Schreiber, sich ein Seidlitzpulver mischend, hinter seinem Pultdeckel beifällig lachte.

„So will ich warten“, sagte Mr. Pickwick.

Da keine Antwort erfolgte, setzte er sich unaufgefordert und lauschte auf die laut tickende Uhr und auf die halblaut geführte Unterhaltung der Schreiber.

„Das war ein Spaß, was?“ sagte einer der Herren in einem braunen Rock mit Messingknöpfen und tintenfarbenen Tuchhosen am Schluß einer unverständlich leisen Erzählung seiner Abenteuer vom verfloßnen Abend.

„Mordsmäßig“, sagte der Seidlitzpulvermann.

„Tom Cummins hatte den Vorsitz“, fuhr der Schreiber mit dem braunen Rock fort. „Es war halb fünf Uhr, als ich nach Somers Town kam, und ich hatte einen Derartigen weg, daß ich das Schlüsselloch nicht finden konnte und die Alte herausklopfen mußte. Möchte nur wissen, was der alte Fogg sagen würde, wenn er das erführe. Ich glaube, ich bekäme meine vierzehn Tage.“

Die humoristische Bemerkung wurde allgemein belacht.

„Mit Fogg war’s diesen Morgen wieder mal ein Riesen-Jux“, sagte der Mann in dem braunen Rock, „während Jack oben die Akten sortierte und ihr beide auf dem Stempelamt wart. Fogg war hier und las gerade die Korrespondenz durch, da kam der Kerl aus Camberwell herein, den wir verklagt haben … „Wie heißt er doch schnell?“

„Ramsey“, antwortete der Schreiber, der mit Mr. Pickwick gesprochen hatte.

„Ja, richtig, Ramsey. Ein komischer Kerl mit seinem Hungerleidergesicht. ,Nun, Sir‘, sagte der alte Fogg mit einem grimmigen Blick‘ – Ihr wißt doch, wie er ist – ,nun, Sir, Sie kommen wohl, um die Sache zu begleichen?‘ – Ja, Sir‘, sagte Ramsey und griff in die Tasche, ,die Schuld macht zwei Pfund zehn Schilling und die Kosten drei Pfund fünf Schilling; da ist es.‘ – Er ächzte wie eine Wetterfahne, als er das Geld aus seinem Löschpapier herauswickelte. Der Alte sah zuerst auf das Geld, dann auf ihn und räusperte sich trocken, daß ich gleich merkte, wo er hinauswollte. ,Sie wissen vermutlich nicht, daß wir eine Deklaration eingereicht haben, wodurch sich die Kosten bedeutend erhöhen?‘ sagte er. – ,Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Sir‘, sagte Ramsey und fuhr vor Schreck zusammen, ,die Zeit ist doch erst gestern abend abgelaufen, Sir.‘ – .Natürlich ist es mein Ernst‘, erwiderte Fogg, ,mein Schreiber hat sie soeben eingereicht. Mr. Wicks, ist nicht Mr. Jackson mit der Deklaration, in Sachen Bullman kontra Ramsey, bereits fort?‘ Natürlicherweise sagte ich ja, und dann hustete Fogg wieder. ,Mein Gott‘, sagte Ramsey, ,und ich habe mich beinahe zu Tode gemartert, um das Geld zusammenzukratzen und rechtzeitig abzuzahlen, und jetzt soll alles umsonst sein?‘ – ,Keineswegs‘, versetzte Fogg kaltblütig. ,Sie brauchen nur wieder umzukehren, etwas mehr aufzutreiben und es zur rechten Zeit zu bringen.‘ – ,Aber, bei Gott, es ist mir unmöglich‘, sagte Ramsey und schlug mit der Faust auf den Tisch. – .Beleidigen Sie mich nicht, Sir‘, schrie der Alte und spielte sich auf den Zornigen. – ,Ich beleidige Sie doch nicht, Sir‘, entschuldigte sich Ramsey. – ,Sie entfernen sich auf der Stelle, Sir‘, sagte Fogg, ,und kommen erst wieder, Sir, wenn Sie sich zu betragen gelernt haben.‘ Ramsey wollte noch etwas erwidern, aber der Alte ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er steckte daher sein Geld in die Tasche und schlich hinaus. Die Tür war kaum zu, da wandte sich der alte Fogg mit einem süßen Lächeln zu mir und zog die Deklaration aus seiner Rocktasche. ,Wicks‘, sagte er, .nehmen Sie eine Droschke, fahren Sie so schnell wie möglich ins Eingabeprotokoll und geben Sie das ab. Die Kosten stehen ganz sicher, denn er ist ein zuverlässiger Mann mit einer großen Familie und einem wöchentlichen Einkommen von fünfundzwanzig Schilling. Wenn’s schließlich zum Verhaftsbefehl kommt, wird ihn sein Prinzipal schon auslösen. Abzwacken, wo’s nur geht, Mr. Wicks, das ist Christenpflicht. Bei seiner großen Familie und seinem schmalen Einkommen kann ihm eine solche Lektion nur eine heilsame Warnung sein, und er wird sich das Schuldenmachen abgewöhnen; was meinen Sie, Mr. Wicks?‘ – Und er lächelte beim Hinausgehen so gutmütig, daß es eine Lust war, ihn anzusehen. Er ist wirklich ein vortrefflicher Geschäftsmann“, fügte Wicks im Tone der höchsten Bewunderung hinzu.

„Nette Bande das, Sir“, flüsterte Mr. Weller seinem Herrn zu. „Haben kuriose Begriffe von ’nem Spaß, Sir.“

Mr. Pickwick nickte bekümmert und hustete laut, um die Aufmerksamkeit der jungen Gentlemen hinter dem Verschlag auf sich zu lenken, die sich daraufhin endlich herabließen, Notiz zu nehmen.

„Ob Fogg wohl jetzt zu sprechen ist?“ sagte Jackson. „Was meinst du?“

„Will nachsehen“, erwiderte Wicks und stand gemächlich von seinem Stuhl auf. „Wen soll ich Mr. Fogg melden?“

„Pickwick“, antwortete der Gelehrte.

Mr. Jackson ging die Treppe hinauf, kehrte gleich darauf mit der Meldung zurück, Mr. Fogg würde in fünf Minuten für Mr. Pickwick zu sprechen sein, und setzte sich wieder hinter sein Pult.

„Wie, sagte er, heißt er?“ flüsterte Wicks.

„Pickwick. Es ist der Beklagte in Sachen Bardell kontra Pickwick“, erwiderte Jackson, und sofort ließ sich ein Scharren und unterdrücktes Lachen hinter dem Verschlag vernehmen.

„Sie beobachten Ihnen, Sir“, flüsterte Mr. Weller.

„Sie beobachten midi, Sam?“ fragte Mr. Pickwick. „Wieso? Wer?“

Mr. Weller deutete mit dem Daumen über seine Schulter, und als Mr. Pickwick aufblickte, gewahrte er zu seinem Mißvergnügen, daß sämtliche Schreiber mit dem Ausdruck größter Heiterkeit über die spanische Wand herüberspähten, offenbar, um sich den Zerstörer weiblichen Seelenfriedens genauer anzusehen. Sofort fuhren die vier Köpfe zurück, und im nächsten Augenblick hörte man Schreibfedern hastig über Papier hinrauschen.

Gleich darauf ertönte die Glocke, die in der Kanzlei hing, und Mr. Jackson sagte, Mr. Fogg sei jetzt bereit, Mr. Pickwick zu empfangen. Daraufhin ging Mr. Pickwick mit dem Schreiber die Treppe hinauf und ließ Sam Weller unten. Jackson klopfte und geleitete auf das „Herein“ Mr. Pickwick ins Zimmer.

„Ist Mr. Dodson schon zurück?“ fragte Mr. Fogg.

„Soeben gekommen, Sir.“

„Sagen Sie ihm, er möchte sich heraufbemühen.“

„Ja, Sir“, antwortete Jackson und entfernte sich.

„Nehmen Sie Platz, Sir“, sagte Fogg. „Hier ist der Akt. Mein Kollege wird sogleich hier sein. Wir können dann über die Sache sprechen.“

Pickwick nahm einen Stuhl und das Dokument; aber anstatt es zu lesen, schielte er darüber weg und faßte den Advokaten näher ins Auge. Es war ein ältlicher Herr mit einem finnigen Gesicht, wie ein Vegetarier, in einem schwarzen Rock, dunkel melierten Beinkleidern und kurzen schwarzen Gamaschen, eine Art von Wesen, das mit dem Pulte, an dem es schrieb, verwachsen und ungefähr ebenso gefühlvoll zu sein schien. Nach einigen Minuten Stillschweigen erschien Mr. Dodson, ein plumper, stämmig gebauter Mann, mit einem strengen Blick und einer lauten Stimme, und die Unterhaltung nahm ihren Anfang.

„Dies ist Mr. Pickwick“, sagte Fogg.

„Aha, Sie sind der Beklagte in Sachen Bardell kontra Pickwick?“ fragte Dodson.

„So ist es, Sir“, versetzte Mr. Pickwick.

„Nun, Sir“, fuhr Dodson fort, „was haben Sie uns vorzuschlagen?“

„Ja“, wiederholte Fogg, steckte die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich gemächlich in seinen Armstuhl zurück. „Was haben Sie uns vorzuschlagen, Mr. Pickwick?“

„Pst, Fogg“, sagte Dodson, „lassen Sie mich hören, was Mr. Pickwick zu sagen hat.“

„Ich komme, meine Herren“, begann Mr. Pickwick mit einem friedlichen Blick auf die beiden Partner, „ich komme, meine Herren, um Ihnen mein Erstaunen über Ihr gestriges Schreiben auszudrücken und Sie zu fragen, auf was für Gründe Sie Ihre Klage stützen?“

„Auf Gründe …“, begann Fogg, aber Mr. Dodson unterbrach ihn:

„Mr. Fogg, lassen Sie mich sprechen.“

„Bitte sehr, Mr. Dodson.“

„Was die Gründe der Klage betrifft, Sir“, fuhr Dodson abweisend und mit Würde fort, „so müssen Sie schon Ihr eignes Gewissen und Ihre eignen Gefühle befragen. Wir lassen uns lediglich durch die Angaben unsrer Klienten leiten, mögen dieselben nun wahr oder falsch, glaubwürdig oder unglaubwürdig sein. Jedenfalls muß ich Ihnen gestehen, daß ich als Geschworener unumwunden sagen würde, es könne hinsichtlich Ihres Vorgehens nur eine Ansicht herrschen.“

Mr. Dodson warf, mit der Miene eines in seinem Moral –gefühl schwer verletzten Mannes, den Kopf zurück und sah auf Fogg, der die Hände noch tiefer in seine Hosentaschen versenkte und mit weisem Kopfnicken im Brustton der Überzeugung bestätigte: „Nur eine Ansicht.“

„Die Klageschrift, Sir“, fuhr Mr. Dodson fort, „ist ordnungsgemäß abgefaßt. Mr. Fogg, wo ist das Eintragungsbuch?“

„Hier“, antwortete Fogg und reichte einen Quartband in Pergament herüber.

„Hier steht unter dem achtundzwanzigsten August achtzehnhundertunddreißig“, las Dodson laut vor, „Middlessex, Klagschrift von Marta Bardell, Witwe, gegen Samuel Pickwick. Schadenersatz, fünfzehnhundert Pfund. Dodson und Fogg für die Klägerin. Alles ganz ordnungsgemäß, Sir, vollkommen ordnungsgemäß.“

Dodson hustete und sah auf Fogg, der in sein „vollkommen ordnungsgemäß“ einstimmte.

„Ich habe Sie also dahin zu verstehen“, bemerkte Mr. Pickwick, „daß Sie auf der Klage beharren?“

„Sehr richtig.“

„Und die Entschädigung soll sich also wirklich auf fünfzehnhundert Pfund belaufen?“

„Zu dem, daß Sie uns recht verstehen“, erwiderte Dodson, „kann ich noch die Versicherung hinzufügen, daß sie sich auf den dreifachen Betrag belaufen würde, wenn sich unsre Klientin hätte von uns raten lassen.“

„Ich glaube, Mrs. Bardell hat noch ausdrücklich bemerkt“, fügte Fogg mit einem Blick auf Dodson hinzu, „sie würde von dieser Summe keinen Penny nachlassen.“

„Selbstverständlich nicht“, erwiderte Dodson ernst. Denn die Klage war eben erst eingeleitet worden, und es wäre Mr. Pickwick nicht einmal gestattet worden, sich gleich anfangs zu vergleichen, selbst wenn er Lust dazu gehabt hätte.

„Da Sie keine Vorschläge machen, Sir“, setzte Dodson hinzu, Mr. Pickwick ein Dokument hinhaltend, „so tue ich wohl am besten, Ihnen eine Abschrift der Klage zu überreichen.“

„Also gut, meine Herren“, sagte Mr. Pickwick und stand voll Ingrimm auf. „Das „Weitere werden Sie von meinem Rechtsanwalt hören.“ „Es wird uns ein Vergnügen sein“, erwiderte Fogg, sich die Hände reibend.

„Ein außerordentliches“, bestätigte Dodson und öffnete die Tür.

„Und ehe ich gehe, meine Herren“, bemerkte Mr. Pickwick und drehte sich an der Treppe noch einmal empört um, „erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß von allen schändlichen und schuftigen Machinationen …“

„Einen Augenblick, Sir, einen Augenblick“, unterbrach ihn Mr. Dodson mit großer Höflichkeit. „Mr. Jackson – Mr. Wicks …“

Die beiden Schreiber erschienen sofort am Fuß der Treppe.

„Ich möchte nur, daß Sie mit anhören, was dieser Herr sagt“, rief ihnen Dodson hinunter. „Bitte, fahren Sie fort, Sir. ,Schändliche und niederträchtige Machinationen‘ haben Sie, glaube ich, gesagt?“

„Jawohl“, antwortete Mr. Pickwick wutentbrannt. „Ich habe gesagt, Sir, daß von allen schändlichen und schuftigen Machinationen, die jemals ausgeheckt wurden, diese die schuftigste ist. Und ich wiederhole es, Sir.“

„Sie haben es gehört, Mr. Wicks?“ rief Dodson.

„Vergessen Sie den Wortlaut nicht, Mr. Jackson!“ sagte Fogg.

„Vielleicht beliebt es Ihnen, uns auch noch Betrüger zu nennen, Sir?“ fragte Dodson. „Bitte, Sir, tun Sie sich keinen Zwang an.“

„Ich tue es auch nicht“, sagte Mr. Pickwick. „Ja, Sie sind Betrüger.“

„Sehr schön“, versetzte Dodson. „Sie können doch unten alles hören, Mr. Wicks?“

„Gewiß, Sir“, antwortete Mr. Wicks.

„Kommen Sie lieber ein paar Stufen weiter herauf, wenn Sie es nicht verstehen“, fügte Mr. Fogg hinzu.

„Fahren Sie fort, Sir, fahren Sie fort. Nennen Sie uns auch noch Diebe, Sir! Oder belieben vielleicht, einen von uns tätlich zu insultieren? Bitte, nur zu, Sir! Wir werden nicht den geringsten Widerstand leisten. Bitte, nur zu!“

Da sich Fogg verführerischerweise in das Bereich von Mr. Pickwicks geballter Faust begab, so ist kaum daran zu zweifeln, daß seiner nachdrücklichen Bitte willfahrt worden wäre, hätte sich nicht Sam, der von Anfang an Zeuge des Streites gewesen, ins Mittel gelegt, indem er schnell aus der Schreibstube die Treppe heraufrannte und seinen Herrn beim Arm ergriff.

„Gleich kommen Sie mit fort“, sagte er. „Katz und Maus ’s ’n hübsches Spiel, wenn nich Sie die Maus und zwei Rechtsgelehrte die Katzen sin, in welchem Falle es erhitzend is, aber nich lustig. Kommen Sie mit, Sir. Wenn Sie schon jemand durchbleuen müssen, dann kommen Sie raus auf den Hof und nehmen Sie mir vor; ’s is weniger kostspielig.“

Und ohne das geringste Zeremoniell zog Mr. Weller seinen Herrn die Treppe hinunter über den Hof hinweg, und nachdem er ihn sicher bis nach Cornhill gebracht hatte, trat er hinter ihn, bereit, ihm zu folgen, wohin es auch sei.

Mr. Pickwick ging zerstreut weiter, bis „r dem Rathaus gegenüber stand, und wandte dann seine Schritte Cheapside zu. Sam war bereits neugierig, wohin es jetzt gehen sollte, als sich sein Herr mit den Worten umwandte: „Sam, ich muß sogleich zu Mr. Perker.“

„Da hätten Sie gestern abend schon hingehen sollen, Sir“, versetzte Mr. Weller.

„Ich glaube das auch“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Und ich weiß es“, erwiderte Mr. Weller.

„Ich hätte nur vorher gern noch ein Glas Brandy mit Wasser getrunken, um mich zu beruhigen. Wo kann man hier wohl eins bekommen, Sam?“

Mr. Wellers Lokalkenntnisse in London waren unbegrenzt, speziell in dieser Hinsicht. Er antwortete, ohne sich im geringsten besinnen zu müssen:

„Zweiter Hof rechts, das vorletzte Haus gleich hier auf dieser Seite. Setzen Sie sich in die Box neben dem Kamin, weil da nämlich das Tischbein nich in der Mitte von der Tischplatte is, wie bei die andern; das is nämlich störend.“

Mr. Pickwick hielt sich genau an seines Dieners Angaben und trat, von diesem gefolgt, in die bezeichnete Schenke, wo ihm der warme Grog alsbald vorgesetzt wurde, während sich Mr. Weller in respektvoller Entfernung, wiewohl an demselben Tisch, niederließ und sich eine Pinte Porter bringen ließ.

Das Zimmer war recht gewöhnlicher Art und wurde augenscheinlich mit Vorliebe von Droschkenkutschern frequentiert. Verschiedne Gentlemen dieses Standes tranken und rauchten an den verschiednen Wandtischen. Unter ihnen fiel besonders ein stämmiger ältlicher Herr mit einem roten Gesicht auf und erregte Mr. Pickwicks Aufmerksamkeit. Er saß am gegenüberstehenden Wandtisch und rauchte mit großer Vehemenz; aber jedesmal nach einem halben Dutzend Zügen nahm er seine Pfeife aus dem Mund, sah abwechselnd Mr. Weller und Mr. Pickwick an und begrub dann in einem Maßkrug so viel von seinem Gesicht, als die Dimensionen des Gefäßes zu fassen vermochten, um dann abermals seine Blicke auf Sam und Mr. Pickwick zu richten und Wolken aus seiner Pfeife zu blasen. Endlich legte er seine Beine auf die Bank, lehnte sich rückwärts an die Wand, paffte dabei rastlos und ließ die beiden überhaupt nicht mehr aus den Augen.

Anfangs war das Benehmen des stämmigen Gentlemans der Beobachtung Mr. Wellers entgangen; als ihm jedoch auffiel, daß sich Mr. Pickwicks Brille immer von neuem nach dieser Richtung wandte, folgte er seinen Blicken und legte sofort die Hand über die Augen, als ob ihm der erblickte Gegenstand auffalle und er sich nur noch seiner Identität versichern wolle. Seine Zweifel waren jedoch im Augenblick behoben, denn nachdem der stämmige Gentleman wieder eine dichte Rauchwolke von sich geblasen hatte, kam eine rauhe Stimme, befremdlich wie die Töne eines Bauchredners, hinter dem großen Tuch heraus, das seinen Hals verhüllte, und langsam quollen die Worte hervor: „Hei, Sammy!“

„Wer ist das, Sam?“ fragte Mr. Pickwick.

„Hei, na das hätt ich nicht gedacht, Sir“, antwortete Mr. Weller mit erstaunten Augen. „Das ist doch der Alte.“

„Der Alte?“ sagte Mr. Pickwick. „Was für ein Alter?“

„Mein Vater, Sir“, erwiderte Mr. Weller. „Wie geht’s dir, mein gutes altes Stück?“ Nach diesem rührenden Erguß kindlicher Zärtlichkeit machte Mr. Weller neben sich Platz, und der stämmige Mann kam, mit der Pfeife im Mund und dem Krug in der Hand, herüber, um ihn zu begrüßen.

„Na, Sammy“, sagte der Vater, „da hab ich dich doch, warte mal, das sind ja schon zwei Jahre und mehr, nich gesehen.“

„Noch viel länger hast du das nich, alte Haut“, antwortete der Sohn. „Wie geht’s der Stiefmutter?“

„Ach, ich will dir mal was sagen, Sammy“, sagte Mr. Weller senior mit sehr feierlicher Miene, „da gab’s keine niedlichere Frau, ich meine so als Witwe; ich bin nämlich ihr Erlebnis. Sammy, sie war eine süße Krabbe; aber jetzt kann ich von ihr bloß sagen, wo sie doch so eine ungewöhnlich nette Witwe war, da ist es jammerschade, daß sie ihren Zustand verändert hat. Sie benimmt sich nicht wie ein Eheweib, Sammy.“ „Macht sie nicht?“ fragte Mr. Weller junior.

Der ältere Mr. Weller schüttelte sein Haupt und antwortete mit einem Seufzer: „Ich hab einmal zu oft geheiratet, ich hab’s einmal zu oft getan. Nimm dir ein Beispiel an deinem Vater, mein Junge, und sei furchtbar vorsichtig mit Witwen; das ganze Leben lang; besonders wenn sie ein Wirtshaus gehabt haben, Sammy.“

Nachdem Mr. Weller senior seinem Sohne diesen väterlichen Rat mit großem Pathos erteilt hatte, stopfte er sich eine neue Pfeife aus einer zinnernen Tabaksdose, die er in der Tasche bei sich trug, und begann wieder wie ein Schlot zu rauchen.

„Verzeihung, Sir“, sagte er, auf sein Thema zurückkommend, nach einer gewichtigen Pause zu Mr. Pickwick, „bin doch hoffentlich nich persönlich geworden; Sie haben doch nich womöglich auch ’n Wittweib geheiratet?“

„Nein“, erwiderte Mr. Pickwick lachend, und Sam Weller flüsterte schnell seinem Vater zu, in welchem Verhältnis er zu dem Herrn stand. „Bitte um Verzeihung, Sir“, sagte Mr. Weller senior und zog dabei den Hut, „ich hoffe doch, Sie haben, keinen Kummer mit Sammy, Sir?“

„Nicht im geringsten“, sagte Mr. Pickwick.

„Sehr erfreut, dies zu hören, Sir. Habe mir nämlich alle erdenkliche Mühe mit seiner Erziehung gegeben; ließ ihn schon als Gassenjunge rumstrolchen, wie er noch ganz klein war. Das einzige Mittel, ’nen Jungen fiffig zu machen.“

„Ist das Verfahren nicht etwas gefährlich? Ich könnte es mir jedenfalls denken“, meinte Mr. Pickwick lächelnd.

„Is auch nich immer zuverlässig“, fügte Mr. Weller junior hinzu. „Ich habe es erst in diesen Tagen wieder erfahren.“

„Was du nich sagst“, brummte sein Vater.

„Doch!“ erwiderte Sam und erzählte in kurzen Worten, wie ihn Hiob Trotter arglistig an der Nase herumgeführt hatte.

Mr. Weller senior hörte gespannt bis zu Ende zu und fragte dann:

„War nicht einer von den Kerls dürr und hoch aufgeschossen und hatte langes Haar, und die Schnauze ging immer im Galopp?“

Mr. Pickwick verstand den letzten Teil der Beschreibung nicht ganz, aber da er den ersten begriff, sagte er auf gut Glück: „Ja.“

„Und war nich der andere ’n schwarzhaariger Kerl mit ’ner maulbeerfarbenen Livree und ’nem großen Schädel?“

„Jaja, der ist es“, fielen Mr. Pickwick und Sam hastig ein.

„Dann weiß ich, wo sie sind und was mit ihnen los is. Die sind beide ganz gemütlich in Ipswich.“

„Was Sie nicht sagen!“ rief Mr. Pickwick.

„Tatsache“, erwiderte Mr. Weller, „und ich will Ihnen auch sagen, woher ich es weiß. Ich fahre dann und wann für ’nen Freund ’ne Ipswicher Droschke. Gerade an dem Tag, wo Sie sich die Nacht vorher den Reißmantüchtig geholt haben, da war ich nämlich im ,Mohrenknaben‘ in Chelmsford, und die beiden auch, und von da habe ich sie schnurstracks nach Ipswich gefahren, und da wollen sie sich wohl ziemlich lange aufhalten, meinte der mit die Maulbirnen-Livree.“

„Ich muß ihnen nach“, rief Mr. Pickwick. „Wir können Ipswich genausogut besuchen wie jeden anderen Ort. Ich muß ihm unbedingt nach.“ „Sag mal, irrst du dich auch nich, Gouverneur?“ fragte Mr. Weller junior.

„Ach woher, Sammy, die sehen, doch ganz auffällig aus, und denn wunderte ich mich auch, daß sich der Herr mit seinem Diener so gemein machte, und denn hörte ich auch noch, wie sie lachten und sagten, daß sie dem alten Feuerfrosch eins ausgewischt hatten.“

„Alten … was?“ fragte Mr. Pickwick.

„Alten Feuerfrosch, Sir; womit sie zweifelsohne Ihnen meinten, Sir.“

Es liegt zwar nichts Niederträchtiges oder Beschimpfendes in. der Bezeichnung „alter Feuerfrosch“, aber sie ist auch Keineswegs ausgesprochen ehrerbietig oder gar schmeichelhaft. Die Erinnerung an alle jene Widerwärtigkeiten, die Jingle verschuldet hatte, waren in Mr. Pickwick lebendig geworden, sobald Mr. Weller mit seiner Erzählung begonnen hatte: es bedurfte nur noch eines Tropfens, um das Maß überlaufen zu lassen, und der „alte Feuerfrosch“ war dieser Tropfen.

„Ich muß ihm nach“, rief Mr. Pickwick und schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Ich werde so wie übermorgen vom ,Ochsen‘ in Whitechapel aus nach Ipswich runtergondeln“, sagte Mr. Weller senior, „und wenn Sie wirklich hinwollen, fahren Sie am besten mit mir.“

„Da haben Sie recht“, sagte Mr. Pickwick. „Sehr gut; ich kann nach Bury schreiben, daß ich in Ipswich zu treffen sein werde. Wir fahren also mit Ihnen. Aber haben Sie es denn so eilig, Mr. Weller? Wollen Sie nicht noch einen Schluck trinken?“

„Sie sind sehr gütig, Sir“, antwortete Mr. Weller stockend, „so ’n Gläschen Branntwein auf Ihre Gesundheit und Sammys Glück würde vielleicht nichts schaden.“

„Sicher nicht“, versetzte Mr. Pickwick. „Ein Glas Brandy hierher!“

Das Getränk wurde gebracht, Mr. Weller schüttelte sein Haar gegen Mr. Pickwick, nickte Sam zu und stürzte das Glas in seine geräumige Kehle hinab, als wäre es nur ein Fingerhütchen voll.

„Bravo, Vater“, sagte Sam. „Aber nimm dir in acht, alter Knabe, daß dir die Gicht nich wieder besuchen kommt.“

„Ich hab ’n Universalmittel dagegen gefunden, Sammy.“

„Ein Universalmittel gegen die Gicht?“ rief Mr. Pickwick und zog hastig sein Notizbuch hervor. „Und was wäre das?“

„Die Gicht, Sir“, erklärte Mr. Weller, „die Gicht ist ’n Leiden, wo vom allzu bequemen und behaglichen Leben herrühren tut. Wenn Sie mal die Gicht kriegen, Sir, dann heiraten Sie ’n Wittweib, das „ne laute Stimme hat und sie auch zu gebrauchen versteht: Sie werden nie wieder die Gicht bekommen. Ein Kapitalrezept, Sir. Ich habe es gründlich eingenommen und garantiere Ihnen, es vertreibt jede Krankheit, wo von zu großem Wohlbehagen herrühren tut.

Nachdem Mr. Weller dieses unschätzbare Geheimnis preisgegeben hatte, sog er die letzten Tropfen aus seinem Glas, blinzelte wehmütig, seufzte tief auf und entfernte sich langsam.

„Nun, was denkst du von dem, was dein Vater sagt, Sam?“ fragte Mr. Pickwick lächelnd.

„Was ich denke, Sir?“ erwiderte Sam. „Nun, ich denke, er ist das Opfer von die Ehe, wie Blaubarts Hauskaplan mit „ner Träne des Mitleids sagte, als er ihm begrub.“

Mr. Pickwick antwortete nichts auf diesen sehr passend angebrachten Schluß, bezahlte und machte sich auf den Weg nach Grays Inn.

Als er dies entlegene Viertel erreicht hatte, war es bereits acht Uhr vorüber, und der ununterbrochene Strom von Herren in bespritzten Stiefeln, schmutzigen weißen Hüten und abgetragnen Kleidern, der zu den verschiednen Ausgängen herausquoll, sagte ihm, daß die Mehrzahl der Kanzleien für diesen Tag geschlossen sei.

Nachdem er zwei steile und schmutzige Treppen erstiegen hatte, fand er seine Ahnung erfüllt. Mr. Perkers Außentür war verschlossen und die Grabesstille, die auf Mr. Wellers wiederholtes Anklopfen folgte, verriet, daß die Schreiber Feierabend gemacht hatten.

„Das ist eine schöne Geschichte, Sam“, sagte Mr. Pickwick. „Ich hätte keine Stunde verlieren sollen, ihn aufzusuchen. Ich weiß, ich werde jetzt die ganze Nacht kein Auge schließen vor Unruhe, die Sache nicht rechtzeitig einem Manne vom Fach übergeben zu haben.“

„Hier kommt ’n altes Weib die Treppe rauf, Sir“, bemerkte Mr. Weller. „Vielleicht weiß sie, wo wir jemand finden können. Holla, Frau Gräfin, wo sind Mr. Perkers Leute?“

„Perkers Leute?“ sagte ein dürres, elend aussehendes altes Weib, oben an der Treppe stehenbleibend, um Atem zu schöpfen. „Mr. Perkers Leute sind fort, und ich will eben die Schreibstube auskehren.“

„Sind Sie Mr. Perkers Magd?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nö, Scheuerfrau“, antwortete das alte Weib.

„Hm“, sagte Mr. Pickwick halblaut zu Sam. „Es ist doch sonderbar, Sam, daß man die alten Weiber in diesem Viertel immer Scheuerfrauen nennt. Möchte doch wissen, warum eigentlich?“

„Es kommt, glaube ich, daher, daß ihnen das Scheuern auf den Tod zuwider ist.“

„Sollte mich nicht wundern“, gab Mr. Pickwick mit einem Blick auf die Alte zu, deren Äußeres sowohl wie der Zustand der Schreibstube, die sie jetzt geöffnet hatte, einen tief eingewurzelten Widerwillen gegen die Anwendung von Seife und Wasser verrieten. „Wissen Sie vielleicht, wo ich Mr. Perker finden kann?“

„Nö, weiß nicht“, antwortete die Alte mürrisch. „Er is verreist.“

„Das ist mißlich“, meinte Mr. Pickwick. „Können Sie mir nicht sagen, wo sein Schreiber ist?“

„O ja. Weiß schon, wo er is, aber ’s wird ihm gar nicht passen, wenn ich’s Ihnen sag.“

„Es ist etwas sehr Wichtiges“, fuhr Mr. Pickwick fort.

„Hat’s nicht Zeit bis morgen früh?“

„Nicht gut.“

„Na, wenn’s gar so was Besonderes is“, brummte die Alte, „will ich Ihnen sagen, wo er is. Hoffentlich krieg ich’s nicht. Wenn Sie jetzt grade in die ,Elster‘ gehen und in der Bar nach Mr. Lowten fragen, können S‘ ’n finden. So heißt der Schreiber von Mr. Perker.“

Nachdem Mr. Pickwick sich noch darüber hatte belehren lassen, das fragliche Gasthaus stehe in einem Hofe und habe den doppelten Vorteil, in der Nähe von Clare Market zu liegen und an die Rückseite von New-Inn zu stoßen, kletterte er mit Sam glücklich die gefährliche Treppe wieder hinunter und suchte die „Elster“ auf.

Diese beliebte Schenke, den Bacchanalien Mr. Lowtens und Konsorten geweiht, war, was gewöhnliche Leute mit dem Namen Schanklokal bezeichnet haben würden. Der Wirt war ein Mann, der sich aufs Geldmachen verstand, was sich durch den Umstand, daß ein Verschlag unter dem Schenkzimmerfenster, an Gestalt und Größe einer Sänfte nicht unähnlich, an einen Schuhflicker vermietet war, hinlänglich verriet; daß er zugleich auch Philanthrop war, ging aus dem Schütze hervor, den er einem Pastetenbäcker angedeihen ließ, der seine Leckerbissen ungestört an der Türschwelle verkaufen durfte. Hinter den niederen Fenstern, die mit Vorhängen von Safranfarbe geziert waren, staken zwei bis drei gedruckte Anpreisungen von Devonshire-Apfelwein und Danziger Sprossenbier, während eine große schwarze Tafel mit weißen Buchstaben einem verehrlichen Publikum anzeigte, daß 500000 Fässer Doppelbräu in den Kellern des Etablissements lägen, wobei sie den Geist in einer kitzelnden Ungewißheit hinsichtlich der Richtung ließ, nach der sich diese ungeheuren Gewölbe ins Innere der Erde erstrecken möchten. Fügt man noch hinzu, daß ein verwittertes Schild das halbblinde Konterfei einer Elster darstellte, die eine krumme Linie von brauner Farbe aufmerksam betrachtete, ein Gekleckse, das man den Nachbarn von Jugend auf als einen Baumstumpf bezeichnet hatte, so ist alles Erwähnenswerte über das Äußere des Gebäudes gesagt.

Als sich Mr. Pickwick vor dem Schenkverschlag blicken ließ, tauchte eine ältliche Frau hinter einem Wandschirm auf und vertrat ihm den Weg. „Ist Mr. Lowten hier, Ma’am?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja, Sir. – Charley, führe den Herrn zu Mr. Lowten.“

„Der Herr kann jetzt nicht hinein“, erwiderte ein schlenkriger Pikkolo mit einem roten Kopf. „Mr. Lowten singt eben was Komisches, und es könnt ihn rausbringen, ’s wird gleich aus sein, Sir.“

Ein allgemeines Hämmern auf. die Tische und ein lebhaftes Klingeln der Gläser kündigten im selben Augenblick an, daß der Gesang soeben beendigt worden war.

Mr. Pickwick überließ es Sam, es sich im Schenkzimmer gütlich zu tun, und wurde zu Mr. Lowten geführt.

Auf die Ankündigung: „Es will Sie jemand sprechen, Sir“, richtete ein junger Mann mit aufgedunsenem Gesicht, der den Stuhl am oberen Ende der Tafel innehatte, seine Blicke erstaunt nach der Richtung, aus der die Stimme kam, und sein Erstaunen schien sich keineswegs zu vermindern, als seine Augen auf einer Person haftenblieben, die er nie zuvor gesehen hatte.

„Ich bitte um Entschuldigung, Sir“, begann Mr. Pickwick, „und auch der andern Herren wegen tut es mir leid, daß ich störe, aber ich komme in einer sehr dringenden Angelegenheit, und wenn Sie mir in einer Ecke dieses Zimmers fünf Minuten lang Gehör schenken wollten, würden Sie mich sehr verbinden.“

Der junge Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht stand auf, zog einen Stuhl in einen dunklen Winkel zu Mr. Pickwick und lauschte aufmerksam auf dessen Leidensgeschichte.

„Ja“, sagte er, als Mr. Pickwick geendet hatte. „Dodson und Fogg – scharfe Praktiker das. – Vortreffliche Geschäftsleute, Dodson und Fogg, Sir. Perker ist verreist und wird vor Ende der nächsten Woche nicht zurückkommen. Aber wenn Sie eine Replik wünschen und mir die Abschrift der Klage mitteilen wollen, so kann ich alle Schritte einleiten, die bis zu seiner Rückkunft nötig sind.“

„Eben deswegen bin ich hier“, sagte Mr. Pickwick und händigte Mr. Lowten sein Dokument ein. „Wenn etwas Besonderes vorfallen sollte, so können Sie mir nach Ipswich schreiben.“

„Sehr wohl“, erwiderte Mr. Perkers Schreiber und fügte, da er Mr. Pickwick neugierige Blicke nach dem Tisch hinüberwerfen sah, hinzu: „Wollen Sie sich nicht ein halbes Stündchen zu uns setzen, Sir? Wir haben heute abend eine exquisite Gesellschaft beisammen. Dort den Sekretär von Samkins und Greens und Smithers und Prices Substituten, der Erste Schreiber von Pimkins und Tomas – singt großartig – und Jack Bamber und noch viele andre. Sie kommen vermutlich vom Lande. Wollen Sie nicht mithalten?“

Mr. Pickwick konnte einer so verlockenden Gelegenheit, die menschliche Natur zu studieren, unmöglich widerstehen. Er ließ sich der Gesellschaft in aller Form vorstellen, erhielt den Ehrenplatz neben dem Präsidenten angewiesen und bestellte sich ein Glas von seinem Lieblingsgetränk.

Ganz gegen seine Erwartung trat tiefe Stille ein.

„Stört Sie doch nicht, wenn ich rauche, Sir?“ fragte endlich sein Nachbar zur Rechten, ein Gentleman in einem gestreiften Hemd mit Mosaikknöpfen, mit einer Zigarre im Mund.

„Nicht im geringsten“, erwiderte Mr. Pickwick. „Ich habe es sehr gern, wenn ich auch selbst Nichtraucher bin.“

„Letzteres kann ich von mir nicht sagen“, fiel ein andrer Herr an der gegenüberliegenden Seite des Tisches ein. „Rauchen ersetzt mir Wohnung, Speise und Trank.“

Mr. Pickwick sah den Sprecher von der Seite an und dachte: Wenn es ihm auch die weiße Wäsche ersetzen würde, wäre es noch besser.

Abermals trat eine Pause ein. Mr. Pickwick störte offenbar als Fremder mit seiner Gegenwart die Gesellschaft.

„Mr. Grundy wird uns mit einem Liedchen erfreuen“, brach der Präsident das Schweigen.

„Nein, wird er nicht“, sagte Mr. Grundy.

„Warum nicht?“ fragte Mr. Lowten.

„Weil ich nicht kann“, versetzte Mr. Grundy.

„Sagen Sie lieber, weil Sie nicht wollen.“

„Also gut, weil ich nicht will.“

Mr. Grundys so bestimmte Weigerung, die Gesellschaft zu unterhalten, veranlaßte ein abermaliges Stillschweigen.

„Will denn niemand etwas zur Unterhaltung beitragen?“ fragte der Präsident entmutigt.

„Warum tragen denn Sie selbst nichts dazu bei, Herr Präsident?“ fragte ein junger Mann mit einem Backenbart, Schielaugen und einem schmutzigen offenen Hemdkragen am untern Ende des Tisches.

„Hört, hört!“ rief der Gentleman mit den Mosaikknöpfen.

„Weil ich nur ein einziges Lied kann und es bereits gesungen habe“, erwiderte der Präsident. „Es kostet ja eine Strafrunde, wenn man an einem Abend dasselbe Lied zweimal singt.“

Gegen diese Erwiderung ließ sich nichts einwenden, und das Gespräch stockte abermals.

„Ich war heute abend“, sagte Mr. Pickwick, in der Hoffnung, ein Thema zur Sprache zu bringen, an dem sich die ganze Gesellschaft beteiligen könnte, „ich war heute abend an einem Ort, den Sie alle ohne Zweifel sehr gut kennen, den ich aber seit vielen Jahren nicht mehr besucht habe und der mir eigentlich fast fremd ist. Ich meine Grays Inn, meine Herren. Merkwürdiges Winkelwerk für eine so große Stadt wie London, diese alten Inns.“

„Bei Gott“, flüsterte der Präsident Mr. Pickwick über den Tisch zu, „Sie haben damit etwas berührt, worüber wenigstens einer von uns in einem fort sprechen könnte. Der alte Jack Bamber wird gleich damit herausrücken. Man hat ihn noch nie über etwas anderes sprechen hören, als über die Inns, und er hat fast sein ganzes Leben einsam drin gehaust, bis er halb verrückt drüber geworden ist.“

Die Person, auf die Lowten anspielte, war ein kleiner, gelber, hochschulteriger Mann, der jetzt plötzlich sein helles graues Auge mit einem forschenden, durchdringenden Blick auf Mr. Pickwick richtete. Auf seinen markanten Zügen lag beständig ein unveränderliches bitteres Lächeln, sein Kinn war auf eine lange fleischlose Hand mit Nägeln von außerordentlicher Länge gestützt, und als er jetzt den Kopf auf die Seite neigte und unter den buschigen grauen Augenbrauen hervorschaute, lauerte in seinem durchdringenden Blick ein seltsamer Ausdruck grollender Schlauheit, vor dem sich das Auge des Beschauers unwillkürlich abwandte.

So sah der Mann aus, der jetzt sein Gesicht der Gesellschaft zukehrte und, plötzlich ganz Feuer und Leben, zu erzählen begann.

Drittes Kapitel


Drittes Kapitel

Eine neue Bekanntschaft. Die Erzählung des wandernden Schauspielers. Eine unangenehme Störung und ein unerfreuliches Zusammentreffen.

Mr. Pickwick war in. Sorgen wegen des ungewöhnlich langen Ausbleibens seiner zwei Freunde, und ihr geheimnisvolles Benehmen während des ganzen Morgens trug keineswegs dazu bei, sie zu vermindern. Um so größer war seine Freude, als er sie wieder ins Zimmer treten sah; und nun ging es an ein Fragen, was ihn so lange ihrer Gesellschaft beraubt hatte. Mr. Snodgraß schickte sich eben an, eine getreue, umständliche Erzählung der Begebnisse des Tages zu beginnen, als er plötzlich innehielt, weil er bemerkte, daß außer Mr. Tupman auch noch ihr Reisegefährte von gestern und ein zweiter Fremder von gleich wunderlichem äußern zugegen waren – ein Mann, dessen fahles Gesicht und eingesunkene Augen von Leid und Kummer erzählten, während das straffe schwarze Haar, das ihm wirr über die Stirne herunterhing, die von Natur schon genug markierten Züge nur noch auffallender erscheinen ließen. Seine stechenden Augen hatten einen fast unnatürlichen Glanz, seine Backenknochen traten stark hervor, und sein Unterkiefer war so lang und hager, daß man hätte glauben können, seine Wangen waren für einen Augenblick verkrampft und eingesaugt, wenn nicht der halb geöffnete Mund und der unbewegliche Ausdruck bewiesen hätten, daß der Mann sich nicht verstellte. Um den Hals trug er einen grünen Schal geschlungen, dessen breite Enden über die Brust herunterhingen und sogar noch durch die Knopflöcher seiner alten Weste hervorsahen. Außerdem trug er einen langen schwarzen Überrock, weite braune Beinkleider, und große schadhafte Stiefel.

Mr. Winkles Blick haftete noch auf dieser nicht sehr einladenden Erscheinung, als Mr. Pickwick mit ausgestreckter Hand auf ihn zuging und ihm den Fremden mit den Worten „Ein Freund unsres Freundes hier“ vorstellte.

„Wir haben diesen Morgen in Erfahrung gebracht“, fuhr er fort, „daß unser Freund mit dem hiesigen Theater in Verbindung steht, obgleich er nicht wünscht, daß es allgemein bekannt werde, und gegenwärtiger Herr ist gleichfalls Schauspieler. Er war eben im Begriff, uns mit einer kleinen Erzählung zu erfreuen, als Sie eintraten.“

„Ein wahres Anekdotenbuch“, erklärte der Grünrock von gestern in leisem, vertraulichem Ton zu Mr. Winkle. „Possierlicher Bursche – bloß Statist – kein eigentlicher Schauspieler – wunderlicher Mensch – Unglück aller Art gehabt – allgemein unter dem Namen ,der Trübsal-Jemmy‘ bekannt.“

Mr. Winkle und Mr. Snodgraß bewillkommneten den ihnen als „Trübsal-Jemmy“ bezeichneten Herrn höflich, bestellten Brandy mit Wasser, um es der übrigen Gesellschaft gleichzutun, und setzten sich an den Tisch.

„Nun, Sir, würden Sie uns jetzt das Vergnügen machen, mit Ihrer Erzählung fortzufahren?“ fragte Mr. Pickwick.

Der Trübsinnige zog eine schmutzige Papierrolle aus der Tasche und wandte sich mit einer Grabesstimme, die mit seiner äußeren Erscheinung gut harmonierte, an Mr. Snodgraß, der eben sein Notizbuch zur Hand genommen hatte:

„Sind Sie Dichter?“

„Ich – ich versuche mich bisweilen in poetischen Leistungen“, antwortete Mr. Snodgraß, etwas verblüfft über diese plötzliche Frage.

„Ach, Poesie ist für das Leben, was Licht und Musik für die Bühne. Nimmt man dem einen seinen falschen Glanz und der ändern ihre Illusionen – bleibt dann in Wirklichkeit noch etwas, was des Lebens und der Sorge wert wäre?“

„Sehr wahr, Sir“, seufzte Mr. Snodgraß.

„Vor den Lampen des Proszeniums sitzen“, fuhr der Trübsinnige fort, „heißt soviel, wie ein großartiges Hofgepränge schauen und die seidnen Gewänder der prachtliebenden Menge bewundern – hinter ihnen sein, bedeutet die Drähte all dieser Puppen ziehen, unbeachtet bleiben und unbekannt, wo niemand sich kümmert, ob die armen Unglücklichen schwimmen oder sinken, leben oder Hungers sterben, wie es gerade das Schicksal fügt.“

„Mag sein“, entgegnete Mr. Snodgraß, denn das eingesunkene Auge des Trübsinnigen ruhte auf ihm, und er fühlte die Notwendigkeit, etwas zu sagen.

„Weiter, Jemmy!“ sagte der spanische Reisende. „Nicht alles ins Tragische – kein Gejammer – frisch – munter!“

„Wollen Sie sich nicht ein Glas einschenken, ehe Sie anfangen, Sir?“ fragte Mr. Pickwick.

Der Trübsinnige nahm die Einladung an, mischte sich ein Glas Brandy, schluckte langsam die Hälfte hinunter, öffnete dann seine Papierrolle und begann folgende Geschichte, die sich in den Klubakten mit der Aufschrift „Erzählung des wandernden Schauspielers“ vorfindet, halb lesend, halb aus dem Gedächtnis vorzutragen.

Einundzwanzigstes Kapitel


Einundzwanzigstes Kapitel

In dem der alte Mann sich über sein Lieblingsthema verbreitet und eine Geschichte von einem merkwürdigen Klienten erzählt.

„Hallo, wer hat da etwas von den Inns gesagt?“ fragte der alte Mann.

„Ich, mein Herr“, entgegnete Mr. Pickwick. „Ich meinte nur, was für sonderbare alte Plätze das seien.“

„Sie?“ sagte der Alte verächtlich. „Was wissen Sie von der Zeit, wo sich junge Leute dort in diesen einsamen Räumen einschlössen und lasen und nichts als lasen, Stunde für Stunde und Nacht für Nacht, bis ihr Verstand unter dem Druck ihrer mitternächtlichen Studien fast erlag, bis ihre Geisteskräfte erschöpft waren und ihnen das Morgenlicht keine Erquickung, keine Gesundheit mehr brachte und sie unter der unnatürlichen Anstrengung, die trockenen alten Bücher zu bewältigen, zusammenbrachen? Und um davon zu reden, was dann folgte. Was wissen Sie von dem allmählichen Dahinsiechen unter den verzehrenden Fiebern der Schwindsucht – von den Folgen des flotten Lebens und der Ausschweifung, denen so viele in denselben Räumen zum Opfer gefallen sind? Wie viele Unglückliche haben vergebens um Gnade gefleht, was glauben Sie wohl, und sind mit gebrochnem Herzen aus den Kanzleien der Gerichtsanwälte hinausgewankt, um eine Ruhestätte in der Themse oder eine Zuflucht im Gefängnis zu finden? Das sind keine gewöhnlichen Häuser! Da ist nicht ein Brett in dem alten Getäfel, das, wenn es die Gabe der Sprache und der Erinnerung hätte, nicht aus der Wand hervorspringen und seine Schreckensgeschichte, den Roman eines Lebens, Sir – den Roman eines Lebens –, erzählen könnte! So alltäglich sie auch jetzt aussehen mögen, so sage ich Ihnen, es sind seltsame alte Gebäude, und ich möchte lieber so manche grauenhafte Sage als ihre alten Zimmerreihen wahre Geschichten erzählen hören.“

Es lag etwas so Sonderbares in der plötzlichen Aufregung und der Redeweise des Alten, daß Mr. Pickwick kein Wort der Erwiderung fand. Der Alte beruhigte sich, und sein Gesicht nahm den lauernden Seitenblick wieder an, der während seiner Aufregung verschwunden war.

„Und in einem andern Lichte – dem alltäglichen und am wenigsten romantischen – gesehen, welch kostbare Stätten für ein langsames Martyrium sie sind! Denken Sie sich die vielen Bedürftigen, die ihr Alles zugesetzt, sich an den Bettelstab gebracht und ihre letzten Hilfsquellen erschöpft haben, um sich einen Erwerb zu verschaffen, der ihnen dann nicht einen Bissen Brot abwarf. Erwartung – Hoffnung – Verzweiflung – Furcht – Elend – Armut – Vernichtung aller Aussichten – und das Ende der Laufbahn? Vielleicht der Selbstmord oder, noch schlimmer, das grauenhafte Dasein eines zerlumpten Trunkenboldes. Habe ich nicht recht, he?“

Der alte Mann rieb sich die Hände und spähte mit lauerndem Blick verzückt umher, als ob er sich freue, einen neuen Gesichtspunkt gefunden zu haben, von dem aus er seine Lieblingsbetrachtrungen anstellen könne.

Mr. Pickwick war ganz Auge und Ohr, und die übrigen Mitglieder der Gesellschaft lächelten stumm vor sich hin.

„Sprecht mir nicht von euren deutschen Universitäten“, fuhr der kleine alte Mann fort. „Pah, pah! Wir haben hierzulande Romantik genug; man braucht keine halbe Meile weit zu gehen. Die Leute denken nur nicht daran.“

„Ich wenigstens habe noch nie an die Romantik dieses Ortes gedacht“, gab Mr. Pickwick lächelnd zu.

„Das glaube ich gern“, erwiderte der Alte. „Auch einer meiner Freunde pflegte immer zu fragen: ,Was ist denn Besonderes an diesen Zimmern?‘ – .Seltsam alte Räume sind’s‘, antwortete ich. – Lächerlich‘, meinte er. – ,Sie sind einsam‘, bemerkte ich. – Aber ganz und gar nicht‘, erwiderte er. – Eines Morgens wurde er vom Schlage gerührt, als er eben seine Tür öffnen wollte. Er fiel mit dem Kopf in seinen Briefkasten, und dort lag er anderthalb Jahre lang. Alle glaubten, er wäre aufs Land gezogen.“

„Und wie fand man ihn endlich?“ fragte Mr. Pickwick.

„Das Gericht beschloß, die Tür aufbrechen zu lassen, da er seit zwei Jahren keine Miete bezahlt hatte. Es geschah. Das Schloß wurde erbrochen, und dem Hausmeister, der die Tür öffnete, fiel ein staubiges Gerippe in einem blauen Rock, kurzen schwarzen Beinkleidern und seidenen Strümpfen nach vorn in die Arme. Seltsam das, recht seltsam, nicht wahr?“ Und dar kleine Alte neigte seinen Kopf noch mehr auf die Seite und rieb sich die Hände mit unaussprechlichem Behagen.

„Ich kenne noch einen andern Fall, der sich in Cliffords Inn zutrug. Der Bewohner einer Mansarde – ein arger Taugenichts – schloß sich eines Tages in einen Verschlag in seiner Schlafkammer ein und nahm eine Dosis Arsenik. Der Hausmeister dachte, er sei mit dem Zins durchgegangen, öffnete und nahm ein Verzeichnis seiner Habseligkeiten auf. Ein andrer Mieter kam, nahm die Zimmer, möblierte sie und zog ein. Aber sonderbar, er konnte nicht schlafen. Es war ihm überall unruhig und beklommen zumute. Seltsam, dachte er, ich will das andre Zimmer zu meinem Schlafraum und dies zu meiner Wohnstube machen. Gesagt, getan. Er schlief in der Nacht sehr gut, aber bald fand er, daß er des Abends nicht lesen konnte. Es wurde ihm ängstlich und unbehaglich, er putzte unaufhörlich seine Kerze und starrte im Zimmer umher. – Ich weiß nicht, was das ist, sagte er sich, als er eines Abends spät nach Hause kam und, den Rücken gegen die Wand gekehrt, um sich nicht einbilden zu können, daß jemand hinter ihm stehe, ein Glas kalten Grog trank. Ich weiß nicht, was das ist – und in demselben Augenblick fiel sein Blick auf den Verschlag, der bisher immer verschlossen gewesen war, und ein Schauder überlief ihn vom Kopf bis zu den Füßen. Ich habe dieses seltsame Gefühl schon früher gehabt, sagte er sich, es muß mit diesem Verschlag etwas nicht richtig sein. Er nahm all seinen Mut zusammen, zerschmetterte das Schloß mit dem Schüreisen, öffnete die Tür …, entsetzlich, da stand aufrecht und kerzengerade in der Ecke der letzte Mieter, ein Fläschchen fest in der Hand und das Gesicht … Na!“

Jack Bamber schwieg und sah die aufmerksamen Gesichter seiner erstaunten Zuhörer mit einem Lächeln grimmiger Freude an. „Was für seltsame Dinge erzählen Sie uns da?“ sagte Mr. Pickwick und studierte aufmerksam durch seine Brillengläser die markanten Züge des alten Mannes.

„Seltsam? Unsinn! Sie halten sie nur für seltsam, weil sie Ihnen neu sind. Sie sind spaßhaft, aber nicht außergewöhnlich.“

„Spaßhaft!?“ rief Mr. Pickwick unwillkürlich.

„Ja, spaßhaft. Oder sind sie’s etwa nicht?“ versetzte der kleine Alte mit einem satanischen Seitenblick und fuhr, ohne eine Antwort zu erwarten, fort. „Ich kannte noch einen andern – warten Sie mal, ja, es mögen jetzt vierzig Jahre sein –, der mietete eine alte, dumpfe Reihe von Zimmern in einem der ältesten Inns, die seit Jahren verschlossen und leer gestanden hatten. Man erzählte sich eine Menge Altweibergeschichten über die Wohnung, und in der Tat gehörte sie auch keineswegs zu den freundlichsten. Aber er war arm, und die Zimmer kosteten wenig – Grund genug für ihn, sie zu mieten, wenn sie auch noch zehnmal greulicher gewesen wären. Er mußte einige alte wurmstichige Hausgeräte mit in Kauf nehmen, darunter einen riesigen Kloben von Aktenschrank mit großen Glastüren und einem grünen Vorhang dahinter; ein ziemlich unnützes Ding für ihn, da er weder Dokumente noch Bücher besaß, um sie hineinzutun, und was seine Garderobe anbelangte, sie so ziemlich vollständig am Leibe trug, ohne sich sonderlich dadurch beschwert zu fühlen. Er hatte seine ganze Habe herbeischaffen lassen – es war nicht ganz ein Karren voll – und sie im Zimmer auf eine Art verteilt, daß seine vier Stühle womöglich den Eindruck von einem Dutzend machen sollten. Eines Abends saß er vor dem Fenster und trank das erste Glas von zwei Gallonen Whisky, die er einstweilen auf Kredit genommen hatte, und stellte dabei Betrachtungen an, ob er sie jemals werde bezahlen können, und wenn, nach wieviel Jahren bestenfalls – als seine Augen auf die Glastüren des Aktenschranks fielen. Ja‘, seufzte er, ,wenn ich nicht genötigt gewesen wäre, dieses häßliche Ding da nach der Schätzung des alten Maklers anzunehmen, so hätte ich mir für das Geld etwas Ordentliches anschaffen können. Ich will dir was sagen, alter Bursche‘, sagte er laut zu dem Schrank, bloß weil er sonst niemand hatte, mit dem er sprechen konnte, ,wie wär’s, wenn wir mit deinem morschen Gerippe vielleicht einheizen würden?‘

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als aus dem Innern des Kastens ein Laut hervorkam, der einem schwachen Ächzen glich. Es erschreckte ihn anfangs; aber nachdem er einen Moment nachgedacht hatte, meinte er, es müßte von irgendeinem jungen Manne im anstoßenden Zimmer herrühren, der vielleicht beim Mittagessen seinen Magen überladen hatte, setzte seinen Fuß auf das Kamingitter und nahm das Schüreisen zur Hand, um die Kohlen aufzurühren. In diesem Augenblick wiederholte sich der Laut. Eine von den Glastüren öffnete sich ganz langsam, und eine blasse, abgemagerte Gestalt in einem schmutzigen, abgetragenen Anzüge wurde sichtbar, aufrecht im Schranke stehend. Sie war groß und hager, und das Gesicht drückte Gram und Betrübnis aus, aber es lag etwas in der Farbe und dem fleischlosen, unirdischen Aussehen der ganzen Erscheinung, was keinem Bewohner dieser Welt angehören konnte. ,Wer sind Sie?‘ fragte der neue Mieter, totenblaß vor Entsetzen, hob das Schüreisen auf und zielte nach dem Gesicht der Gestalt. ,Wer sind Sie?‘ – Wirf das Eisen nicht nach mir‘, erwiderte das Phantom. ,Wenn du auch noch so richtig zieltest, es würde durch mich hindurch in die Wand hinter mir fahren. Ich bin ein Geist.‘ – ,Und was wollen Sie denn hier?‘ stammelte der Mieter. – ,In diesem Zimmer‘, antwortete die Erscheinung, ,wurde mein irdisches Glück vernichtet und ich und meine Kinder zu Bettlern gemacht. In diesem Schranke wuchsen die Akten eines langen, langen Prozesses mit den Jahren zu hohen Stößen. In diesem Zimmer teilten, als ich vor Gram über meine fehlgeschlagenen Hoffnungen gestorben war, zwei listige Harpyen das Vermögen unter sich, um das ich während eines ganzen elenden Lebens gekämpft und gestritten hatte und von dem zuletzt nicht ein Penny für meine unglücklichen Nachkommen übrigblieb. Ich schreckte sie von diesem Platze weg und besuche nun seit jenem Tage jede Nacht – denn dies ist die einzige Zeit, in der es mir gestattet ist, auf die Erde zurückzukehren – den Schauplatz meines langen Elends. Dieses Zimmer gehört mir; überlaß es mir.‘ – ,Wenn Sie sich’s durchaus in den Kopf gesetzt haben, hier umzugehen‘, erwiderte der Mieter, der während dieser prosaischen Erzählung des Geistes Zeit gehabt hatte, sich zu sammeln, ,so will ich mit dem größten Vergnügen Ihren Wünschen entsprechen. Würden Sie aber vielleicht so freundlich sein, mir eine Frage zu gestatten?‘ – Sprich‘, sagte die Erscheinung ernst. – ,Ich beziehe meine Bemerkung nicht persönlich auf Sie‘, begann der Mieter, ,weil sie auf alle Geister, von denen ich je gehört habe, gleich anwendbar ist; aber es kommt mir wirklich etwas sonderbar vor, daß sie immer gerade auf diejenigen Plätze zurückkehren, wo sie am unglücklichsten gewesen sind, wo Ihnen doch „wahrscheinlich die schönsten Plätze der Erde leichter als uns zugänglich sind.‘ – ,Wahrhaftig, du hast ganz recht, an das habe ich noch gar nicht gedacht‘, versetzte der Geist. – ,Sie sehen‘, fuhr der Mieter fort, ,das ist ein sehr unwohnliches Zimmer. Dem äußeren Anschein nach zu urteilen, möchte ich fast behaupten, dieser Schrank ist nicht ganz frei von Wanzen, und ich glaube wirklich, Sie könnten weit wohnlichere Aufenthaltsorte finden. Vom Londoner Klima gar nicht zu sprechen, das bekanntlich durchaus nicht das angenehmste ist.‘ – ,Sie haben vollkommen recht, Sir‘, sagte das Phantom höflich. ,Das ist mir bis jetzt noch nicht eingefallen, aber ich will sogleich eine Luftveränderung vornehmen‘, und wirklich begann seine Gestalt, während es noch sprach, zu verschwinden, und bald waren seine Beine unsichtbar geworden. – ,Und wenn Sie‘, rief ihm der Mieter nach, ,wenn Sie die Güte haben wollen, auch die übrigen Damen und Herren, die in alten leeren Häusern spuken, darauf aufmerksam zu machen, daß sie sich anderswo weit besser befinden dürften, so würden Sie der menschlichen Gesellschaft einen sehr großen Dienst erweisen.‘ – ,Das will ich tun‘, erwiderte der Geist. ,Wir müssen wirklich ganz dumme Tröpfe sein, daß uns das nicht schon früher eingefallen ist; ich begreife gar nicht, wie man nur so borniert sein kann.‘ Mit diesen Worten verschwand er. Und was noch merkwürdiger ist“, fügte der Alte mit einem schlauen Blick auf die Gesellschaft hinzu, „er kam nicht wieder.“

„Gar nicht übel, wenn’s wahr ist“, bemerkte der Mann mit den Mosaikknöpfen und zündete sich eine frische Zigarre an.

„Wenn ?“ rief der Alte mit tiefster Verachtung. „Ich glaube“, wandte er sich an Lowten, „er wäre imstande, zu behaupten, daß auch meine Geschichte von dem seltsamen Klienten, den wir hatten, als ich noch Schreiber war, erfunden sei. Es sollte mich gar nicht wundern.“

„Ich erlaube mir gewiß nicht, etwas darüber zu sagen, denn ich habe die Geschichte noch nie gehört“, bemerkte der Besitzer der Mosaikverzierungen.

„Erzählen Sie sie doch, Sir“, drängte Mr. Pickwick.

„O ja, tun Sie es“, bat Lowten. „Ich bin der einzige hier, der sie kennt, und habe sie auch schon fast ganz vergessen.“

Der Alte sah sich rings an der Tafel um, und der lauernde Ausdruck in seinem Blick war noch viel stärker als vorher. Es war, als erfülle ihn die Spannung, die auf allen Gesichtern lag, mit einem wilden Entzücken. Dann begann er, strich sich mit der Hand das Kinn und blickte zur Decke empor wie, um die Begebenheiten in sein Gedächtnis zurückzurufen:

„Es kommt wenig darauf an, wo oder auf welche Weise ich zur Kenntnis folgender kurzer Geschichte gelangte. Wenn ich sie übrigens in der Reihenfolge erzählen wollte, in der ich sie erfuhr, so müßte ich in der Mitte beginnen und über den Schluß auf den Anfang zurückgehen. Es genügt, wenn ich bemerke, daß sie sich zum Teil vor meinen eignen Augen zugetragen hat und noch mehrere Personen am Leben sind, die sich ihrer noch gut zu erinnern wissen.

In der Borough High-Street bei der Saint-Georges-Kirche, und auch auf derselben Seite, steht, wie Sie wohl alle wissen, das kleinste unsrer Schuldgefängnisse, Marshalsea. Wenn es auch seit neuerer Zeit bei weitem nicht mehr der schmutzige Winkel ist, der es früher war, so hat es doch auch in seinem jetzigen verbesserten Zustand wenig Verführerisches für den Verschwender und nicht besonders Tröstliches für den unbesonnenen Schuldenmacher. Der zum Tod verurteilte Verbrecher in Newgate hat vielleicht einen geräumigeren Hofraum, um sich Bewegung zu machen und frische Luft zu schöpfen als der zahlungsunfähige Schuldner im Marshalsea-Gefängnis.

Es kann Einbildung von mir sein, oder vielleicht vermag ich den Ort nicht von den alten Erinnerungen zu trennen, die sich daran knüpfen, aber dieser Teil von London ist mir in der Seele zuwider. Die Straße ist breit, die Läden sind geräumig, das Geräusch der vorüberrasselnden Fuhrwerke, die Fußtritte eines ununterbrochenen Menschenstromes, kurz, das ganze laute geschäftige Treiben des Verkehrs ertönt in ihr vom Morgen bis Mitternacht, aber die Nebenstraßen sind schlecht und eng und erwecken die Vorstellung von Armut und Ausschweifung; Jammer und Elend sind in dem engen Gefängnis zusammengesperrt, und die ganze Umgebung macht, wenigstens auf mich, einen finstern, abschreckenden Eindruck.

So manche Augen, die sich seitdem längst für immer geschlossen haben, sind achtlos über diese Szenerie geschweift, wenn sich ihnen zum ersten Male das Tor des alten Marshalsea-Gefängnisses geöffnet hat, denn die Verzweiflung kommt selten mit dem ersten schweren Schicksalsschlag. Der Mensch baut gern auf unerprobte Freunde, erinnert sich der Liebesdienste, die sie ihm so freigebig anboten in Zeiten des Wohlergehens. Er hat Hoffnung – die Hoffnung der glücklichen Unerfahrenheit –, und wenn er auch vom ersten Schlage niedergebeugt wird, so keimt sie doch in seiner Brust und blüht für eine kurze Zeit, bis sie unter dem zerstörenden Einfluß der Enttäuschung und Verlassenheit dahinschwindet. Bald blickten dieselben Augen tief eingesunken und glanzlos aus Gesichtern, von Hunger abgezehrt und von der Haft welk geworden, in Tagen, wo es nicht bloß Redensart war, wenn man sagt, die Schuldner vermodern im Gefängnis ohne Hoffnung auf Erlösung und ohne Aussicht auf Freiheit! Solche Abscheulichkeiten kommen in ihrer vollen Härte heute wohl nicht mehr vor, aber es spielt sich immer noch genug ab, daß es einem das Herz zerreißen könnte.

Es sind jetzt zwanzig Jahre her, daß eine Mutter mit ihrem Kind, so gewiß, wie der Morgen kam, sich Tag für Tag an dem Gefängnistor zeigte. Oft kamen die beiden nach einer schlaflosen Nacht voll Jammer und Qual eine ganze Stunde zu früh, und dann ging die junge Mutter traurig wieder weg, führte das Kind nach der alten Brücke und nahm es auf den Arm, um ihm das im Licht der Morgensonne erglühende Wasser zu zeigen und es durch den Anblick des auf dem Strome erwachenden, munteren Lebens für eine kurze Spanne Zeit zu zerstreuen. Doch bald setzte sie immer wieder das Kleine nieder, verbarg das Gesicht in ihrem Tuch und ließ den Tränen freien Lauf, denn kein Ausdruck von Interesse oder Freude leuchtete aus dem abgemagerten Gesichtchen. Erinnerungen hatte das Kind nicht viele, aber sie waren sämtlich von derselben Art – alle mit der Armut und dem Elend seiner Eltern verknüpft. Stundenweise saß es auf den Knien seiner Mutter und beobachtete mit kindlichem Mitgefühl die Tränen, die sich über ihre Wangen stahlen, schlich dann still in einen dunklen Winkel und schluchzte sich in Schlaf. Die rauhe Wirklichkeit des Lebens mit so vielen von seinen traurigsten Entbehrungen – Hunger und Durst, Kälte und Mangel – hatte es seit dem ersten Aufdämmern seiner Vernunft erfahren.

Und wenn es auch den Jahren nach ein kleines Kind war, so fehlte ihm doch der leichte Sinn und das fröhliche Lachen.

Vater und Mutter sahen das alles gar wohl, aber sie wagten dem keine Worte zu geben, was sie tief innerlich befürchteten. Der gesunde, starke Mann, der sonst beinahe jede Anstrengung hätte ertragen können, schwand unter dem lastenden Druck der Haft und der ungesunden Luft eines vollgepfropften Gefängnisses sichtlich dahin. Die zarte Frau wankte unter dem Zusammenwirken körperlicher und geistiger Leiden dem Grabe entgegen, und an des Kindes Herzen nagte der Tod.

Der Winter kam, und mit ihm die kalte, regnerische Witterung, die so viele Wochen lang anhält. Das unglückliche Weib hatte sich in ein armseliges Zimmer in der Nähe des Ortes, wo ihr Gatte gefangen saß, eingemietet; und wenn auch diese Veränderung eine Folge ihrer unaufhaltsam wachsenden Armut war, so fühlte sie sich doch jetzt glücklicher, denn sie war ihm näher. Zwei Monate lang warteten sie und ihr Kind regelmäßig alle Morgen auf das öffnen des Tores. Eines Tages erschien sie zum ersten Male nicht. Am andern Morgen kam sie, allein. Das Kind war tot.

Die da mit kalten Herzen sagen, wenn der Tod den Armen der Seinigen beraubt, es sei eine glückliche Erlösung für die Hingeschiedenen und eine segensreiche Erleichterung für die Hinterbliebenen, sie wissen wenig von dem Schmerz um solche Verluste. Ein stiller Blick der Liebe und Anhänglichkeit, wenn sich alle andern Augen kalt abwenden – das Bewußtsein, noch die Liebe wenigstens eines menschlichen Wesens zu besitzen, ist ein Halt, eine Stütze, ein Trost in der tiefsten Betrübnis, die kein Reichtum erkaufen, keine irdische Macht ersetzen kann.

Stundenlang war das Kind zu seiner Eltern Füßen gesessen, hatte die kleinen Händchen geduldig gefaltet und mit seinem abgezehrten, bleichen Gesicht zu ihnen aufgeschaut. Von Tag zu Tag hatten sie es dahinwelken sehen, und wenn sein kurzes Dasein auch ein freudenloses gewesen und es jetzt den Frieden und die Ruhe gefunden, die ihm, so jung es noch war, in dieser Welt versagt gewesen, so war es doch ihr Kind, und der Verlust schnitt ihnen tief ins Herz.

Wer das veränderte Gesicht der Mutter sah, der wußte deutlich, daß der Tod ihrem Jammer und ihrem Elend bald ein Ende machen mußte. Die Mitgefangenen ihres Gatten wollten sich ihm in seinem Gram und Leid nicht aufdrängen und überließen ihm freiwillig das kleine Zimmer, das er bisher mit zwei von ihnen geteilt hatte. Seine Gattin bewohnte es mit ihm, und ohne Schmerz, aber auch ohne Hoffnung welkte sie langsam dem Grabe zu.

Eines Abends war sie in seinen Armen ohnmächtig geworden. Er hatte sie ans offene Fenster getragen, um sie durch frischere Luft wieder zu sich zu bringen, und das Mondlicht fiel auf ihr Gesicht. Die Veränderung in ihren Zügen ergriff ihn so sehr, daß er wie ein hilfloses Kind unter ihrer leichten Last wankte.

,Setze mich nieder, Georg‘, bat sie mit matter Stimme. Er setzte sich neben sie, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und brach in Tränen aus.

,Es ist so hart, Georg, dich zu verlassen‘, flüsterte sie, ,aber es ist der Wille Gottes, und du mußt dich um meinetwillen darein ergeben. Wie danke ich ihm, daß er unser Kind zu sich genommen hat. Es ist jetzt glücklicher. Was würde es angefangen haben ohne seine Mutter?‘ ,Du darfst nicht sterben, Marie, du darfst nicht sterben‘, stöhnte der Unglückliche. Er ging hastig auf und nieder und schlug sich mit der geballten Faust vor den Kopf, dann setzte er sich wieder neben sie, nahm sie in seine Arme und sagte ruhiger: ,Ich bitte dich, laß den Mut nicht sinken, mein Alles. Du wirst dich wieder erholen.‘

,Nein, Georg, nein‘, flüsterte die Sterbende. ,Laß mich begraben sein neben meinem armen Kind. Versprich mir, wenn du je diesen traurigen Ort verlassen und reich werden wirst, uns in einem stillen Friedhof, weit, weit von hier – draußen, auf dem grünen Lande, bestatten zu lassen, wo wir in Frieden ruhen können. Willst du mir das versprechen, lieber Georg?‘

,Jaja‘, sagte der Unglückliche und warf sich leidenschaftlich vor ihr auf die Knie. ,Sage mir nur ein Wort, Marie; sieh mich an; einen Blick, nur einen …‘

Er stockte, denn der Arm, der seinen Nacken umschlungen hielt, wurde steif und schwer. Ein tiefer Seufzer rang sich aus der Brust der abgezehrten Gestalt, ihre Lippen bewegten sich und ein Lächeln spielte auf ihrem Gesicht, aber die Lippen waren weiß, und das Lächeln verzog sich zu einem furchtbaren Starrblick.

Er war allein auf der Welt.

In der Stille und Einsamkeit seiner elenden Zelle kniete er die ganze lange Nacht vor der Leiche seines Weibes und rief Gott zum Zeugen eines schrecklichen Schwures an, daß er von Stunde an an nichts mehr denken wolle, als ihren und seines Kindes Tod zu rächen, und von nun an bis zum letzten Augenblick seines Lebens alle seine Kräfte nur diesem einen Zwecke widmen und mit unauslöschlichem Haß den Urheber alles dieses Leidens bis ans Ende der Welt verfolgen wolle.

Die tiefste Verzweiflung und eine übermenschliche Leidenschaft hatten in dieser einen Nacht sein Gesicht und seine ganze Gestalt so furchtbar verändert, daß seine Leidensgefährten vor ihm zurückbebten, als er an ihnen vorüberkam. Seine Augen waren mit Blut unterlaufen und starr, sein Gesicht weiß und sein Körper wie unter der Last der Jahre gebeugt. In der Heftigkeit seines Seelenschmerzes hatte er seine Unterlippe beinahe ganz durchbissen. Das Blut war am Kinn niedergeflossen und hatte sein Hemd und sein Halstuch befleckt. Keine Träne, kein Klagelaut, nur der unstete Blick und die wilde Hast, mit der er im Hof auf und ab rannte, verrieten das Fieber, das ihn verzehrte.

Ohne Verzug mußte die Leiche aus dem Gefängnis entfernt werden. Er nahm die Mitteilung mit vollkommener Ruhe hin und wehrte sich nicht. Beinahe sämtliche Gefangene hatten sich versammelt, um der Wegschaffung der Toten beizuwohnen. Sie wichen auf beiden Seiten zurück, als er kam, rasch vorbeischritt und am Gefängnistor stehenblieb. Der grobe Sarg wurde langsam herausgetragen, und eine Totenstille herrschte unter den Anwesenden, die nur durch lautes Schluchzen der Frauen und die hallenden Tritte der Träger auf dem Steinpflaster unterbrochen wurde. Sie erreichten den Ort, wo der Arme stand, und machten halt. Er legte seine Hand auf den Sarg, ordnete mechanisch die Falten des Tuches, womit er bedeckt war, und winkte den Trägern, weiterzugehen. Die Schließer am Eingang des Gefängnisses nahmen ihre Hüte ab, als die Leiche vorübergetragen wurde, und im nächsten Augenblick schloß sich das schwere Tor. Der Unglückliche sah mit einem gläsernen Blick um sich und fiel schwer zu Boden.

Viele „Wochen lang lag er Tag und Nacht in den wildesten Fieberträumen, aber das Bewußtsein seines Verlustes und die Erinnerung an sein Gelübde verließen ihn keinen Augenblick. Unaufhörlich wechselten die Szenen vor seinen Augen; Schauplatz folgte auf Schauplatz und Ereignis auf Ereignis mit der Blitzesschnelle des Wahnwitzes, aber alle auf die eine oder andre Weise an das einzige Ziel geknüpft, das seinen Geist gefangenhielt. Er segelte über den grenzenlosen Ozean dahin. Die Wolken über ihm waren blutigrot, und die wilden Wasser kochten und schäumten in furchtbarer Wut auf allen Seiten. Ein anderes Schiff fuhr vor ihm her und kämpfte gegen den heulenden Sturm mit aller Kraft; die Segel flatterten zerrissen vom Mast, und das Verdeck war voll von Gestalten, die hin und her geworfen wurden. Ungeheure Wellen brachen jeden Augenblick über Bord und rissen ihre Opfer in die tobende See. Sie fuhren dem Schiff durch die brüllenden Wogen nach, mit einer Geschwindigkeit, der nichts widerstehen konnte, und bohrten es in den Grund. Aus dem furchtbaren Wirbel, der das sinkende Wrack umschäumte, stieg ein Todesschrei so laut und durchdringend empor – der furchtbare Todesschrei hundert Unglücklicher, die in den Wellen versanken –, daß es das Wutgebrüll der Elemente übertäubte und hallte und widerhallte, bis die Luft und das Firmament und der ganze Ozean damit erfüllt schien. Doch wer war der alte Graukopf, der da aus dem Wasser emportauchte und mit dem Blick namenloser Todesangst, gellend um Hilfe rufend, mit den Wellen kämpfte! Es waren seine Züge! Er sprang über Bord; der Alte sah ihn kommen und suchte ihm vergeblich zu entrinnen, er faßte ihn fest um den Leib und zog ihn in die Tiefe nieder. Hinunter, hinunter, fünfzig Klafter tief; bis das Sträuben des Erstickenden schwächer und schwächer wurde und endlich ganz aufhörte. Er hatte ihn getötet und seinen Schwur erfüllt.

Dann wieder ging er barfuß und allein über eine glühende ungeheure Wüste. Der heiße Staub benahm ihm den Atem und blendete ihn; die feinen Körnchen drangen ihm in alle Poren der Haut und reizten ihn beinahe bis zum Wahnsinn. Riesenhafte Sandmassen schritten, vom Winde getragen und von der brennenden Sonne durchglüht, in der Ferne, gleich Säulen lebendigen Feuers, dahin. Die Gebeine von Menschen, die in der Wüste umgekommen, lagen zerstreut um ihn her; ein furchtbarer Glanz beleuchtete alles, was ihn umgab, und so weit sein Auge reichte, sah er nur Bilder des Schreckens und Entsetzens. Vergeblich strengte er sich an, einen Hilferuf auszustoßen – die Zunge klebte ihm am Gaumen. Wie wahnsinnig lief er weiter. Er watete durch den Sand, bis er, von Ermattung und Durst erschöpft, bewußtlos zu Boden sank. Eine erfrischende Kühle belebte ihn wieder; was für ein murmelnder Laut war das? Wasser! Es war wirklich ein Quell, und der klare, frische Strom ergoß sich zu seinen Füßen. Er trank in langen Zügen, streckte seine schmerzhaften Glieder auf dem Rasen aus und sank in einen erquickenden Schlummer. Der Laut näher kommender Fußtritte weckte ihn. Ein alter Mann mit grauen Haaren wankte heran, seinen brennenden Durst zu löschen. Wieder war er es! Er schlang seine Arme um den Leib des Alten und hielt ihn zurück, bis er sich krümmte, in furchtbarer Qual nach Wasser schreiend. Aber er hielt den Alten fest und weidete sich mit gierigem Auge an seinem Todeskampf, und als der Kopf leblos auf die Brust sank, da stieß er den Leichnam mit den Füßen von sich.

Als ihn das Fieber verließ und sein Bewußtsein wiederkehrte, war er reich und frei. Sein Vater, der ihn im Gefängnis hatte verschmachten lassen wollen, der die, die ihm teurer gewesen als sein eignes Leben, ruhig hatte sterben lassen, war tot in seinem Daunenbett gefunden worden. Wohl war der Alte fest entschlossen gewesen, seinen Sohn als Bettler auf der Welt zurückzulassen, aber im Vollgefühl seiner Gesundheit und Kraft hatte er die Enterbung hinausgeschoben, bis es zu spät war. Das war das erste, was der Genesende erfuhr. Der Gedanke, daß er sich jetzt an seinem letzten Feind, seines eignen Weibes Vater, dem Manne, der ihn ins Gefängnis geworfen und seiner eignen Tochter und ihrem Kind, als sie zu seinen Füßen um Erbarmen gefleht, die Tür gewiesen hatte, grausam rächen müsse, verließ ihn nicht mehr. Er verwünschte die Schwäche, die ihn noch hinderte, sich aufzumachen und seine Rachepläne auszuführen. Er ließ sich von dem Schauplatz seines Elends wegführen und wählte sich einen ruhigen Wohnsitz an der Meeresküste – nicht in der Hoffnung, seinen inneren Frieden wiederzufinden, denn der war für immer vernichtet, sondern wieder zu Kräften zu kommen und seinem Lieblingsplan nachzuhängen. Und hier gab ihm auch ein böser Geist die erste Gelegenheit zu einer furchtbaren Rache.

Es war Sommer. In seine finstern Gedanken vertieft, verließ er früh am Nachmittag seine einsame Wohnung und verfolgte einen schmalen Pfad zwischen den Klippen nach einem wilden und einsamen Ort, der auf seinen Streifereien seine Einbildungskraft besonders erregt hatte. Dort pflegte er auf verwitterten Felstrümmern stundenlang, das Gesicht in den Händen vergraben, zu sitzen – oft, bis die Nacht hereingebrochen war und die langen Schatten der zürnenden Klippen alles um ihn her in dichte Finsternis gehüllt hatten.

Hier saß er wieder, nur bisweilen den Kopf erhebend, um den Flug einer Möwe zu betrachten oder mit den Blicken den schimmernden Streifen zu verfolgen, der in der Mitte des Ozeans anfing und sich am Horizont verlief, wo die Sonne eben unterging, als die tiefe Stille ringsum von einem lauten Hilferuf unterbrochen wurde. Er horchte auf und zweifelte, ob er richtig gehört hatte, da ertönte abermals der Schrei, noch lauter als zuvor. Sofort sprang er auf und lief nach der Richtung, aus welcher der Schrei herkam.

Ein einziger Blick offenbarte ihm, was geschehen war: Einige Kleidungsstücke lagen über den Strand verstreut; unweit des Ufers war der Kopf eines Menschen gerade noch über den Wellen sichtbar, und ein alter Mann lief, in Todesangst die Hände ringend, hin und her und schrie um Hilfe. Der Wiedergenesene, dessen Kräfte nun wieder so ziemlich hergestellt waren, warf seinen Rock ab und eilte zu den Klippen, um sich ins Meer zu stürzen und den Ertrinkenden ans Ufer zu ziehen.

,Schnell, um Gottes willen, schnell! Helfen Sie, helfen Sie! Es ist mein Sohn‘, rief der Greis, halb wahnsinnig vor Angst, und lief auf ihn zu. ,Mein einziger Sohn ertrinkt dort vor meinen Augen.‘

Bei den ersten Worten, die der alte Mann vorbrachte, stoppte der Fremde seinen raschen Lauf, schlug die Arme übereinander und blieb dann regungslos stehen.

,Barmherziger Gott‘, rief der Alte plötzlich und fuhr entsetzt zurück, Heyling!‘

Der andre lächelte nur und schwieg.

,Heyling‘, jammerte der Alte, ,mein Kind, Heyling, mein liebes Kind, dort, dort!‘ Nach Atem ringend, deutete der unglückliche Vater auf die Stelle, wo der junge Mann um sein Leben kämpfte.

,Hören Sie, er ruft wieder. Er lebt noch. Retten Sie ihn, retten Sie ihn!‘

Heyling lächelte wieder und rührte sich nicht.

,Ich habe unrecht an Ihnen gehandelt‘, rief der Alte, fiel auf die Knie und hob flehend die Hände empor, ,rächen Sie sich; nehmen Sie mir alles, mein Leben – stoßen Sie mich mit dem Fuß ins Wasser, und ich will sterben, ohne mich zu wehren, ohne eine Hand oder einen Fuß zu rühren. Tun Sie es, Heyling, tun Sie es, aber retten Sie meinen Sohn. Er ist doch so jung, Heyling! So jung, Heyling! Er darf nicht sterben.‘ ,Hören Sie‘, sagte Heyling und faßte den Alten fest beim Handgelenk, ,ich will Leben haben für Leben, und hier ist eins. Mein Kind starb vor den Augen seines Vaters einen weit qualvolleren Tod, als der junge Verschwender des Vermögens seiner Schwester dort jetzt stirbt. Sie – Sie haben Ihrer Tochter ins Gesicht gelacht, als der Tod schon seine Hand auf sie gelegt hatte – und unsrer Leiden gespottet. Wie denken Sie jetzt darüber? Schauen Sie hin, schauen Sie dorthin.‘ – Heyling deutete auf die See hinaus. Ein schwacher Schrei drang von dort herüber; der Todeskampf des Ertrinkenden bewegte die spielenden Wellen auf wenige Sekunden, dann war die Stelle, wo es ihn hinabgezogen, nicht mehr zu unterscheiden.

Drei Jahre waren verflossen, als an der Haustür eines Londoner Anwalts, der damals als nicht sehr bedenklich in Rechtsgeschäften allgemein bekannt war, eine Equipage hielt und ein Herr ausstieg. Er war offenbar noch in den besten Jahren, hatte aber ein blasses, eingefallenes und gramverzehrtes Gesicht, und es bedurfte keines besonderen Scharfsinnes, um auf den ersten Blick zu bemerken, daß Krankheit oder Kummer mehr zur Veränderung seines Äußeren beigetragen haben mußten, als die Zeit in doppelt soviel Jahren vermocht hätte.

,Ich möchte, daß Sie eine Rechtsangelegenheit für mich übernehmen‘, sagte der Fremde.

Der Anwalt verbeugte sich und warf einen Blick auf ein großes Paket, das der Herr in der Hand hielt.

,Es ist keine gewöhnliche Sache!‘ – Der Fremde löste die Schnur, die die Akten zusammenhielt, und legte eine beträchtliche Menge Wechsel, Schuldscheine und andre Dokumente dem Advokaten vor.

,Wie diese Papiere besagen, schuldet der Mann, dessen Unterschrift sie tragen, seit einer Reihe von Jahren große Summen. Es bestand eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihm und seinem Gläubiger, von dem ich nach und nach das Ganze um das Drei- und Vierfache des Nominalwertes gekauft habe, daß diese Schuldscheine immer wieder prolongiert werden sollten, bis eine bestimmte Reihe von Jahren verflossen wäre. Der Schuldner hat nun in neuerer Zeit große Verluste erlitten, und wenn diese Forderungen alle auf einmal geltend gemacht würden, müßte es ihn unfehlbar zugrunde richten.‘

,Das Ganze belauft sich auf etliche tausend Pfund‘, sagte der Anwalt, nachdem er einen Blick auf die Papiere geworfen.

,Ja.‘

,Was soll ich also eigentlich tun?‘

,Was Sie tun sollen?‘ erwiderte der Klient mit plötzlicher Heftigkeit. ,Sie sollen jeden Kunstgriff des Gesetzes anwenden, der Ihnen zur Verfügung steht, jeden Kniff gebrauchen, den Scharfsinn auszudenken und Bosheit durchzuführen vermag, gute und schlechte Mittel; das Gesetz in seiner ganzen Härte wirken lassen und, wo es zu versagen droht, die ganze Schlauheit eines scharfsinnigen Praktikers in Anwendung bringen. Ich will ihn einen qualvollen, langsamen Tod sterben lassen, ihn zugrunde richten und von Haus und Hof vertreiben, daß er seine alten Tage im schmutzigen Kerker beschließen muß.‘

,Aber die Kosten, bester Herr! – Wer wird die Kosten von all dem bezahlen?‘ wendete der Anwalt ein, als er sich von seinem ersten Erstaunen erholt hatte. ,Wenn der Beklagte ein ruinierter Mann ist, wer wird die –Kosten bezahlen, Sir?‘

,Nennen Sie irgendeine Summe‘, sagte der Fremde, dessen Hand vor innerer Aufregung zitterte, daß er kaum die Feder halten konnte, .irgendeine Summe, und Sie sollen sie haben. Rechnen Sie nicht lange, kein Betrag ist mir zu hoch, wenn ich nur meinen Zweck erreiche.‘

Der Anwalt nannte aufs Geratewohl eine bedeutende Summe, die er als Vorschuß nötig haben würde, um sich gegen die Möglichkeit eines Verlustes zu decken, aber mehr in der Absicht, sich zu überzeugen, wie weit sein Klient wirklich zu gehen gesonnen sei, als in der Hoffnung, seine Forderung bewilligt zu sehen.

Der Fremde schrieb für den ganzen Betrag eine Anweisung an seinen Bankier und ging. Die Anweisung wurde ordnungsgemäß ausgezahlt, und der Anwalt, der nun wußte, daß er es mit einem zuverlässigen Klienten zu tun hatte, machte sich ernstlich an seine Arbeit.

Mehr als zwei Jahre lang saß Mr. Heyling tagelang über den sich immer mehr und mehr anhäufenden Akten in der Kanzlei des Advokaten und weidete sich an den Bitten des Schuldners um einen kleinen Aufschub, da er sonst unvermeidlich dem Untergang entgegengehen müßte – Briefe, die immer häufiger wurden, als Forderung auf Forderung angeklagt wurde. Auf alle Gesuche um eine Wartefrist erfolgte stets dieselbe Antwort – das Geld müsse augenblicklich bezahlt werden. Haus und Hof, samt allem, was dazugehörte, wurden nach und nach exequiert und versteigert, und der Schuldner hätte unfehlbar ins Gefängnis wandern müssen, wenn er sich nicht der Wachsamkeit des Sheriffs durch die Flucht entzogen hätte. Der unversöhnliche Haß Heylings wurde durch den Erfolg seiner Rachepläne aber nicht nur nicht befriedigt, sondern noch mehr gesteigert. Als er die Flucht des alten Mannes erfuhr, kannte seine Wut keine Grenzen. Er knirschte mit den Zähnen vor Ingrimm, zerraufte sich das Haar und stieß schreckliche Flüche gegen die Leute aus, die mit der Verhaftung betraut worden waren. Nur die wiederholte Versicherung, daß man des Flüchtlings gewiß habhaft werden würde, beruhigte ihn einigermaßen. Nach allen Richtungen wurden Detektive ausgesendet; jede List wurde aufgeboten, um seinen Zufluchtsort zu entdecken, aber es war alles vergeblich. Ein halbes Jahr verfloß, und er war immer noch nicht gefunden. Endlich erschien eines Abends spät Heyling, nachdem man wochenlang nichts mehr von ihm gesehen und gehört hatte, in der Privatwohnung des Anwalts und ließ ihm sagen, er wünsche ihn augenblicklich zu sprechen. Noch ehe der Anwalt seinem Bedienten befehlen konnte, ihn heraufzuführen, war er schon oben an der Treppe und drang blaß und atemlos ins Besuchszimmer. Er schloß sorgfältig die Tür, um von niemand gehört zu werden, warf sich in einen Armstuhl und sagte mit leiser Stimme: ,Ich habe ihn endlich gefunden.‘

,Was Sie nicht sagen‘, rief der Anwalt. ,Das ist ja ausgezeichnet.‘

,Er hält sich in einer erbärmlichen Wohnung in Lamden-Town versteckt‘, fuhr Heyling fort. ,Es war eigentlich ganz gut, daß wir ihn aus den Augen verloren haben, denn er hat dort die ganze Zeit über im größten Elend gelebt; er ist bettelarm.‘

,Sehr gut‘, erwiderte der Anwalt. ,Sie wünschen natürlich, daß die Verhaftung morgen früh vorgenommen wird.‘

,Ja‘, versetzte Heyling. ,Doch halt! Nein, erst übermorgen. Sie wundern sich, daß ich es noch hinausschiebe‘, setzte er mit einem gräßlichen Lächeln hinzu, ,aber ich hatte etwas vergessen: übermorgen ist ein Jahrestag für ihn; wollen wir es doch auf diesen Termin verlegen!‘

,Also gut‘, antwortete der Anwalt. ,Wollen Sie gleich die Instruktionen für den Sheriff zu Papier bringen?‘

,Nein, er soll herkommen. Um acht Uhr. Ich will ihn begleiten.‘

Sie trafen sich also am bestimmten Abend, nahmen eine Droschke und ließen an der Eck“ der alten Pancras-Street halten, wo das Arbeitshaus des Kirchspiels steht. Es war schon ganz dunkel geworden, als sie ausstiegen und in eine kleine Nebenstraße einbogen, die damals Little College Street hieß und in jenen Tagen noch an die Moore und Sümpfe in der Umgebung stieß.

Heyling zog sich eine Kapuze halb über das Gesicht, hüllte sich in seinen Mantel, blieb vor der erbärmlichsten Hütte der ganzen Straße stehen und klopfte leise an die Tür. Sie wurde augenblicklich von einer alten Frau geöffnet, die sich höflich vor ihm verbeugte und ihn offenbar bereits kannte. Heyling flüsterte dem Gerichtsdiener zu, er möge unten warten, schlich sich leise die Treppe hinauf und trat rasch in die Stube.

Der Gegenstand seines unversöhnlichen Hasses, jetzt ein gebrochener Greis, saß vor einem groben Tisch aus Tannenholz, auf dem ein elendes Talglicht brannte. Er schrak beim Eintritt des Fremden zusammen und stand zitternd auf.

,Was gibt es denn wieder?‘ rief er entsetzt, ,was für ein neues Elend kommt über mich? Was wünschen Sie von mir?‘

,Ein Wörtchen mit Ihnen reden‘, erwiderte Heyling, setzte sich an das andre Ende des Tisches und schlug seine Kapuze zurück. Der alte Mann fiel sprachlos vor Grauen und Entsetzen in seinen Stuhl zurück und starrte ihn an.

,Heute sind es sechs Jahre‘, sagte Heyling, ,daß ich Ansprüche habe auf das Leben, das Sie mir für das meines Kindes schulden. An der Leiche Ihrer Tochter, alter Mann, habe ich geschworen, nur mehr der Rache zu leben. Nie habe ich auch nur eine Minute mein Ziel aus den Augen verloren, und wenn es der Fall gewesen wäre, hätte mir ein einziger Gedanke an ihr Gesicht, als sie dahinwelkte, oder an die müden, traurigen Augen unsres unschuldigen Kindes meinen Schwur wieder ins Gedächtnis rufen müssen. An den Beginn der Vergeltung werden Sie sich wohl noch erinnern, jetzt sind wir am Ende.‘

Der alte Mann schauderte zusammen, und seine Hände fielen ihm kraftlos am Leibe herunter.

,Morgen verlasse ich England‘, fuhr Heyling nach einer kurzen Pause Fort, ,heute nacht noch übergebe ich Sie dem lebendigen Tode, dem Sie sie geopfert haben, einem hoffnungslosen Gefängnis.‘

Er sah den alten Mann an und schwieg; dann hielt er ihm das Licht vors Gesicht, stellte es sacht wieder nieder und verließ das Zimmer. ,Es wäre gut, wenn Sie nach ihm sehen würden‘, sagte er zu der Frau, als er die Tür öffnete und dem Gerichtsdiener winkte, ihm auf die Straße zu folgen. ,Ich glaube, es ist ihm nicht wohl.‘

Die Frau verriegelte die Tür, eilte hastig die Treppe hinauf und fand den Alten tot. Der Schlag hatte ihn gerührt.

Unter einem einfachen Grabstein auf einem der stillsten und abgelegensten Kirchhöfe in Kent, wo wilde Blumen durch das Gras schimmern und die liebliche Landschaft der Umgebung die schönste Stelle im Garten Englands bildet, ruhen die Gebeine der jungen Mutter und ihres kleinen Kindes. Aber die Asche des Vaters mischt sich nicht mit der ihrigen; und von jener Nacht an erhielt der Anwalt auch nicht mehr den entferntesten Aufschluß über das weitere Schicksal seines seltsamen Klienten.“

Der Alte hatte seine Erzählung beendet, stand auf, nahm seinen Hut und Überrock und schritt, ohne weiter ein Wort zu sagen, langsam hinaus. Der Herr mit den Mosaikknöpfen war eingeschlafen, und der größere Teil der Gesellschaft, in das unterhaltende Geschäft vertieft, geschmolzenen Talg in den Grog träufeln zu lassen. Unbemerkt verließ Mr. Pickwick das Zimmer, beglich seine und Mr. Wellers Zeche und ging mit ihm zur Haustür der „Elster“ hinaus.

Vierzehntes Kapitel


Vierzehntes Kapitel

Einiges über die Wahlen in Eatanswill.

Es scheint, als ob die Bewohner von Eatanswill, wie die so mancher andern Kleinstädte, eine außerordentlich hohe Meinung von ihrer Wichtigkeit hatten. Jedermann daselbst schien sich für verpflichtet zu halten, mit Leib und Seele zu einer der beiden großen Parteien des Städtchens, den Blauen und den Gelben, zu gehören. Die Blauen ließen keine Gelegenheit vorübergehen, wo sie den Gelben entgegentreten konnten, wie auch die Gelben jede Gelegenheit ergriffen, mit den Blauen Händel anzufangen. Die Folge davon war, daß es jedesmal zu skandalösen Auftritten kam, wenn die Gelben und Blauen auf dem Rathaus, dem Markte oder bei Versammlungen auf öffentlichen Plätzen zusammentrafen. Bei diesem Mangel an Harmonie wurde jede Angelegenheit in Eatanswill zur Parteifrage. Wenn die Gelben den Vorschlag machten, den Marktplatz mit neuen Laternen zu versehen, so riefen die Blauen zu öffentlichen Versammlungen auf und brachen den Stab über den wahnsinnigen Plan. Wenn die Blauen noch einen Brunnen in der Hauptstraße anlegen wollten, so schrien die Gelben, einer für alle und alle für einen, über Verrücktheit. Es gab blaue Läden und gelbe Läden, blaue Wirtshäuser und gelbe Wirtshäuser; es gab sogar einen blauen Flügel und einen gelben Flügel in den Kirchen.

Natürlich war es ein wesentliches und notwendiges Erfordernis, daß jede dieser gewaltigen Parteien ihr besonderes Organ hatte. Demzufolge gab es in der Stadt zwei Blätter – die „Eatanswill-Gazette“ und den „Eatanswill-Independent“. Erstere vertrat die Grundsätze der Blauen, der letztere war ausgesprochen gelb. Beides waren vorzüglich geleitete Blätter. – „Unsere unwürdige Nebenbuhlerin, die ,Gazette'“ – „das gemeine und niederträchtige Schmierblatt, der ,Independent'“ – „das erbärmliche Machwerk, die ,Gazette'“ – solche und andre geistsprühende Ausfälle waren in jeder Nummer zu Dutzenden anzutreffen und riefen bei der einen Hälfte der Bevölkerung die unbändigste Freude, bei der andern die höchste Erbitterung hervor.

Mr. Pickwick hatte vermöge seines gewohnten Scharfsinns und Seherblickes einen besonders günstigen Moment zu seiner Reise nach Eatanswill gewählt. Einen solchen Parteikampf hatte es seit Menschengedenken nicht gegeben. Samuel Slumkey Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall war der blaue Kandidat, und Horatio Fizkin Esq. von Fizkin-Lodge bei Eatanswill war von seinen Freunden dazu ausersehen, das Interesse der Gelben zu vertreten. Die „Gazette“ stellte den Wählern von Eatanswill vor, daß nicht nur die Augen Englands, sondern der ganzen zivilisierten Welt auf sie gerichtet seien, und der „Independent“ verlangte gebieterisch zu wissen, ob die Bürger von Eatanswill wirklich die großen Männer wären, für die sie von jeher gegolten, oder elende sklavische Werkzeuge, die weder den Namen Engländer noch die Segnungen der Freiheit verdienten. Noch nie zuvor fieberte die Stadt in einer solchen Erregung.

Es war spätabends, als Mr. Pickwick und seine Freunde mit Sams Beistand vom Dach der Eatanswiller Postkutsche herabstiegen. Große blaue Seidenfahnen flatterten an den Wänden des Gasthauses „Zum Stadtwappen“, und an jedem Fenster waren ungeheure Papierbogen angeklebt, auf denen mit riesigen Buchstaben geschrieben stand, daß hier das Komitee Samuel Slumkeys Hochwohlgeboren täglich seine Sitzungen abhielt. Eine Menge Gaffer war auf der Straße versammelt und betrachtete einen Mann auf dem Balkon, der sich zugunsten Slumkeys kirschrot und heiser schrie, obgleich die Gewalt seiner Beweisgründe von dem beständigen Gerassel einer großen Trommel, die das Komitee Mr. Fizkins an der Straßenecke aufgestellt hatte, einigermaßen geschwächt wurde. An seiner Seite stand ein geschäftiges kleines Männchen, das von Zeit zu Zeit den Hut abnahm und die Menge zu einem Beifallsgeschrei aufforderte, das dann auch jedesmal mit der größten Begeisterung ertönte, und als der kirschrote Herr sich violett geschrien, schien er seinen Zweck ebensogut erreicht zu haben, als hätte ihn jedermann verstanden.

Die Pickwickier waren kaum abgestiegen, als sie von einem Haufen der „Unabhängigen“ umringt und mit dreimaligem donnerndem Hurra empfangen wurden, in das sofort die ganze Volksmenge mit einem furchtbaren Triumphgebrüll einstimmte.

„Noch ein Hurra!“ kreischte das Männchen auf dem Balkon, und wieder brüllte die Menge, als wären ihre Lungen aus Gußeisen.

„Slumkey, hoch!“ schrien die Unabhängigen.

„Slumkey, hoch!“ wiederholte Mr. Pickwick und schwang seinen Hut.

„Nieder mit Fizkin“, schrie der Haufe.

„Nieder mit Fizkin“, rief auch Mr. Pickwick.

Und abermals erhob sich ein Gebrüll wie von einer ganzen Menagerie, wenn der Elefant die Glocke zur kalten Küche gezogen hat.

„Wer ist Slumkey?“ flüsterte Mr. Tupman.

„Weiß nicht“, versetzte Mr. Pickwick ebenso leise. „Pst! Fragen Sie nicht. Es ist immer das beste, bei solchen Gelegenheiten zu tun, was der große Haufe tut.“

„Aber angenommen, es sind zwei Haufen“, warf Mr. Snodgraß ein.

„Dann hält man mit dem größeren“, entgegnete Mr. Pickwick.

Ganze Bände hätten nicht mehr sagen können.

Die Herren traten ins Haus. Die Menge bildete Spalier und brüllte. Die erste Frage galt einem Nachtlager.

„Können wir hier Betten haben?“ fragte Mr. Pickwick den Kellner.

„Weiß nicht, Sir“, war die Antwort, „fürchte, es ist alles besetzt, Sir; will nachfragen, Sir.“

Der Kellner entfernte sich, kehrte aber augenblicklich wieder zurück und fragte, ob die Herren „Blaue“ wären.

Da weder Mr. Pickwick noch seine Gefährten ein besonderes Interesse an dem einen oder dem andern Kandidaten hatten, war die Frage etwas schwer zu beantworten. In diesem Dilemma erinnerte sich Mr. Pickwick an seinen neuen Freund Mr. Perker.

„Kennen Sie einen Herrn namens Perker?“ forschte er.

„Allerdings, Sir; Agent für Samuel Slumkey, Hochwohlgeboren.“

„Blau, nicht wahr?“

„Jawohl, Sir.“

„Dann sind wir auch Blaue“, sagte Mr. Pickwick; aber da er bemerkte, daß der Kellner ein mißtrauisches Gesicht machte, gab er ihm seine Karte mit dem Auftrag, sie Mr. Perker sogleich zu überbringen.

Der Kellner entfernte sich und kehrte im Augenblick zurück, bat Mr. Pickwick, ihm zu folgen, und führte ihn in ein großes Zimmer im ersten Stock, wo Mr. Perker an einem langen, mit Büchern und Papieren bedeckten Tische saß.

„Ah, ah, mein werter Herr“, rief der kleine Mann und stand auf. „Sehr erfreut, mein werter Herr, sehr erfreut. Bitte, nehmen Sie Platz. So haben Sie also Ihren Plan ausgeführt? Sie sind hergefahren, um einer Wahl beizuwohnen, nicht wahr?“

Mr. Pickwick bejahte.

„Ein heißer Kampf, mein werter Herr!“

„Ich bin entzückt, das zu hören“, versetzte Mr. Pickwick und rieb sich die Hände. „Ich sehe nichts lieber als Betätigung des Patriotismus, gleichviel, bei welcher Partei! – Ein heißer Kampf also?“

„Freilich, freilich“, antwortete der kleine Anwalt. „Sehr heiß. Wir haben alle Gasthäuser für unsere Partei mit Beschlag belegt und unsern Gegnern nichts als die Bierschenken gelassen, ein vorzüglicher Staatsstreich, mein werter Herr, nicht wahr?“ Der Kleine lächelte selbstgefällig und nahm eine tüchtige Prise.

„Und was wird wohl das Ergebnis des Kampfes sein?“ fragte Mr. Pickwick.

„Noch zweifelhaft, mein werter Herr; ziemlich zweifelhaft bis jetzt. Fizkins Leute halten dreiunddreißig Wähler im ,Weißen Hirsch‘ im Wagenschuppen eingeschlossen.“

„Im Wagenschuppen?“ fragte Mr. Pickwick erstaunt.

„Sie haben sie dort eingesperrt, bis sie sie nötig haben. Der Zweck ist, wie Sie sehen, daß wir ihnen nicht beikommen sollen, und selbst wenn wir es könnten, würde es nichts helfen, denn sie haben sie absichtlich betrunken gemacht. Ein tüchtiger Mensch, Fizkins Agent, sehr tüchtig!“ Mr. Pickwick schwieg betroffen.

„Und doch haben wir ziemliche Hoffnung“, fuhr Mr. Perker fort und dämpfte seine Stimme bis zum Geflüster. „Wir haben eine kleine Teegesellschaft hier gehabt, gestern abend. – Fünfundvierzig Frauen, mein werter Herr, und wir haben jeder einen grünen Sonnenschirm zum Andenken geschenkt, als sie nach Hause gingen.“

„Einen Sonnenschirm?“ fragte Mr. Pickwick.

„Tatsache, mein werter Herr, Tatsache. Fünfundvierzig grüne Sonnenschirme zu sieben Schillingen und sechs Pence das Stück. Alle Frauen lieben den Putz außerordentlich. Sicherte uns ihre Männer, alle, und die Hälfte ihrer Brüder; Strümpfe, Flanell und all das Zeug haben gar keine Wirkung. Meine Idee, mein teurer Herr, ganz allein meine Idee. Ob’s hagelt, regnet oder vor Hitze glüht. Sie können keine zwanzig Schritte auf der Straße gehen, ohne nicht wenigstens einem halben Dutzend grüner Sonnenschirme zu begegnen.“

Der kleine Mann wollte sich ausschütten vor Lachen, als ein schmächtiger Herr mit rotem Haar, das hin und wieder lichte Stellen zeigte, und einer Miene voll feierlicher Wichtigkeit und unergründlicher Gelehrsamkeit eintrat. Er trug einen langen braunen Oberrock, eine schwarze Tuchweste und modefarbige Beinkleider. Ein Augenglas baumelte an seiner Brust, und auf seinem Kopfe balancierte er einen niedrigen Hut mit breiter Krempe. Der neue Ankömmling wurde Mr. Pickwick als Mr. Pott, Herausgeber der „Eatanswill-Gazette“, vorgestellt.

Nach einigen wenigen einleitenden Bemerkungen wandte sich Mr. Pott an Mr. Pickwick und fragte mit feierlichem Tone:

„Der Wahlkampf erregt wohl großes Interesse in der Hauptstadt, Sir?“

„Ich glaube, ja“, antwortete Mr. Pickwick.

„Ich habe Grund zu vermuten“, sagte Mr. Pott und sah Mr. Perker mit Bejahung heischendem Blick an, „ich habe Grund zu vermuten, daß mein Artikel im letzten Samstagblatt einigermaßen dazu beigetragen hat.“

„Ohne Zweifel“, bestätigte der kleine Anwalt.

„Die Presse ist ein gar mächtiger Hebel!“ sagte Pott.

Mr. Pickwick war vollständig derselben Ansicht.

„Ich schmeichle mir, Sir“, fuhr Pott fort, „daß ich die ungeheure Gewalt, die mir anvertraut ist, nie mißbraucht habe. Nie habe ich die Waffe, die in meine Hände gelegt ist, gegen den heiligen Busen des Privatlebens oder die persönliche Ehre gekehrt; ich schmeichle mir, mein Herr, daß ich meine Kräfte, so schwach sie auch sein mögen, stets den Prinzipien des – des …“

Der Herausgeber der „Eatanswill-Gazette“ schien sich ein wenig verrannt zu haben, und Mr. Pickwick kam ihm zu Hilfe und sagte: „Ohne Zweifel.“

„Und wie, mein Herr“, sagte Pott, „wie, mein Herr, erlauben Sie mir, die Frage an Sie als einen Unparteiischen zu richten, wie ist die öffentliche Meinung in London über meinen Kampf mit dem ,Independent‘?“

„Man ist ohne Zweifel sehr aufgeregt“, fiel Mr. Perker mit einem schlauen Blick ein.

„Der Kampf“, fuhr Pott fort, „soll so lange dauern, als ich Kraft und Leben habe und das bißchen Talent, das mir beschieden, mir innewohnt. Ich will nicht ablassen von dem Kampfe, und mag er die Gemüter so aufregen, daß sie die gewöhnlichen Geschäfte des alltäglichen Lebens darüber vergessen; von diesem Kampfe, sage ich, will ich nicht ablassen, bis ich meine Ferse auf den ,Independent‘ von Eatanswill gesetzt habe. Die Bewohnerschaft von London und das ganze englische Volk sollen wissen, daß es auf mich rechnen kann, daß ich sie nicht verlassen werde, daß ich entschlossen bin, ihre Sache zu verfechten bis ans Ende.“

„Das nenne ich Mut, in der Tat, mein Herr“, rief Mr. Pickwick und schüttelte Mr. Pott warm die Hand.

„Sie, mein Herr, sind ein Mann von Scharfsinn und Begabung, das spür ich wohl“, sagte Mr. Pott; er war noch fast atemlos von der Wucht seiner patriotischen Erklärung.

„Und ich“, sagte Mr. Pickwick, „fühle mich durch Ihre Meinungsäußerung hoch geehrt. Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Reisegefährten vorstelle, einige Mitglieder des Klubs, den ich – mit Stolz sage ich es – gegründet habe?“

„Es wird mich unendlich freuen“, antwortete Mr. Pott.

Mr. Pickwick verließ das Zimmer, holte seine drei Freunde und stellte sie in aller Form dem Herausgeber der „Eatanswill-Gazette“ vor.

„Nun, mein lieber Pott“, fragte der kleine Mr. Perker, „was machen wir mit unsern Freunden?“

„Wir könnten, dächte ich, hier im Hause bleiben“, meinte Mr. Pickwick.

„Nicht ein Bett mehr, mein werter Herr, nicht ein Bett mehr frei.“

„Sehr ärgerlich“, brummte Mr. Pickwick.

„Außerordentlich“, meinten auch seine Reisegefährten.

„Warten Sie mal“ sagte Mr. Pott, „im ,Pfau‘ wären noch zwei Betten, und was Mrs. Pott betrifft, so wird es sie gewiß außerordentlich freuen, Mr. Pickwick und einen seiner Freunde bei sich zu beherbergen, wenn die beiden andern Herren und ihr Diener sich, so gut es geht, im ,Pfau‘ behelfen wollen.“

Die Einladung wurde dankend angenommen,‘ und nach einem gemeinschaftlichen Mahl im „Stadtwappen“ schieden die Freunde. Mr. Tupman und Mr. Snodgraß verfügten sich in den „Pfau“, und Mr. Pickwick und Mr. Winkle begaben sich in die Wohnung Mr. Potts, nachdem sie zuvor ausgemacht hatten, sich am nächsten Morgen wieder im „Stadtwappen“ zu treffen und den Zug Samuel Slumkeys Hochwohlgeboren auf den Wahlplatz zu begleiten.

Mr. Potts Familie bestand nur aus dem Herausgeber und seiner Ehehälfte.

„Meine Liebe!“ stellte Mr. Pott vor. „Meine Frau – Mr. Pickwick aus London.“

Mrs. Pott erwiderte den väterlichen Händedruck des Gelehrten mit bezaubernder Anmut, und Mr. Winkle, der vergessen worden war, machte unbeachtet in einem dunkeln Winkel Kratzfüße auf Kratzfüße.

„P., mein Schatz!“ sagte Mrs. Pott.

„Mein Leben?“

„Bitte, stelle mir doch auch den andern Herrn vor.“

„Bitte tausendmal um Verzeihung“, rief Mr. Pott. „Mrs. Pott – Mr. – Mr. –“

„Winkle“, ergänzte Mr. Pickwick.

„Winkle“, wiederholte Mr. Pott, und die Zeremonie war vorüber.

„Wir müssen vielmals um Entschuldigung bitten, Ma’am“, nahm Mr. Pickwick das Wort, „daß wir schon nach einer so kurzen Bekanntschaft eine solche Störung in Ihrem Hauswesen verursachen.“

„Aber ich bitte Sie, meine Herren, ich bitte Sie“, erwiderte der weibliche Pott mit Lebhaftigkeit. „Es ist ein unendlicher Genuß für mich, ich versichere Ihnen, wenn ich wieder neue Gesichter sehe. Ich lebe so von einem Tag zum andern, von einer Woche zur andern in diesem Nest und bekomme niemand zu Gesicht.“

„Niemand, meine Liebe?“ fiel Mr. Pott schalkhaft ein.

„Niemand als dich“, entgegnete Mrs. Pott mit Bitterkeit.

„Sie müssen wissen, Mr. Pickwick“, erläuterte der Wirt, „wir sind von einer Menge Vergnügungen ausgeschlossen, an denen wir unter andern Verhältnissen teilnehmen könnten. Meine öffentliche Stellung als Herausgeber der ,Eatanswill-Gazette‘, der Ruf, in dem dieses Blatt in der ganzen Gegend steht, mein bewegtes Leben im Strudel der Politik…“

„P., mein Schatz!“ unterbrach ihn Mrs. Pott.

„Mein Leben?“

„Du solltest lieber ein Thema zur Sprache bringen, an dem diese Herren auch ein Interesse haben können.“

„Aber, meine Liebe“, entschuldigte sich der Publizist demütig, „Mr. Pickwick nimmt Interesse daran.“

„Desto besser für ihn, wenn er kann“, versetzte Mrs. Pott mit Nachdruck. „Ich meinerseits habe deine ewige Politik herzlich satt, und die Zänkereien mit dem ,Independenten‘, und was dergleichen Unsinn mehr ist, widern mich förmlich an. Ich begreife nicht, P., wie du nur deine Albernheiten so auskramen magst.“

„Aber, meine Liebe“, sagte Mr. Pott.

„Ach! Unsinn! Laß mich!“ unterbrach ihn Mrs. Pott. „Spielen Sie Ecarte, mein Herr?“

„Ich wäre unendlich glücklich, es unter Ihrer Anweisung zu lernen“, erwiderte Mr. Winkle.

„Pott, stelle das Tischchen hier ans Fenster, damit ich von deiner langweiligen Politik nichts mehr höre!“

„Jane“, rief Mr. Pott dem Mädchen zu, das eben die Lichter brachte, „geh hinunter in mein Studierzimmer und hole mir den Jahrgang von achtzehnhundertachtundzwanzig der ,Gazette‘. Ich will Ihnen vorlesen“, wandte er sich an Mr. Pickwick, „was ich damals über den unglaublichen Einfall der Gelben, einen neuen Schlagbaumwärter anzustellen, schrieb. Ich denke, es wird Ihnen gefallen.“

„Ich bin wirklich sehr gespannt“, sagte Mr. Pickwick.

Der Jahrgang wurde gebracht, der Publizist setzte sich, und Mr. Pickwick nahm an seiner Seite Platz.

Wir haben das Tagebuch Mr. Pickwicks vergebens durchblättert, in der Hoffnung, einen Auszug aus jenem Aufsatz zu finden. Wir haben allen Grund zu glauben, daß Mr. Pickwick von dem Feuer und der Frische der Darstellung ganz bezaubert war, und Mr. Winkle erinnerte sich auch, daß des Meisters Augen während der ganzen Dauer der Vorlesung, wahrscheinlich im Übermaße des Genusses, geschlossen waren.

Die Ankündigung, daß das Essen aufgetragen sei, machte sowohl dem Ecarte wie der Rekapitulation der stilistischen Feinheiten der „Eatanswill-Gazette“ ein Ende. Mrs. Pott war eitel Entzücken und rosenfarbener Laune. Mr. Winkle hatte reißende Fortschritte in ihrer Gunst gemacht, und sie trug kein Bedenken, ihm im Vertrauen zuzuflüstern, daß Mr. Pickwick ein „charmanter alter Herr“ sei, ein Ausdruck, der einen Grad von Familiarität verriet, den sich nur wenige erlaubt haben würden, die mit dem Riesengeiste des Mannes näher bekannt waren. Nichtsdestoweniger haben wir es aufgezeichnet, um dadurch zugleich einen rührenden und überzeugenden Beweis zu geben, wie leicht Mr. Pickwick jedermanns Herz und Neigung zu gewinnen imstande war.

Es war spät in der Nacht, lange, nachdem sich Mr. Tupman und Mr. Snodgraß im hintersten Trakt des „Pfauen“ dem Schlafe überlassen hatten, als sich die beiden Freunde zur Ruhe begaben. Mr. Winkle verfiel bald in tiefen Schlaf, aber seine Gefühle und seine Bewunderung waren mächtig erregt, und manche Stunde noch, nachdem ihm der Schlaf die Außenwelt unzugänglich gemacht hatte, umgaukelten ihn das Angesicht und die Gestalt der reizenden Mrs. Pott.

Das Getöse und der Lärm am folgenden Morgen waren hinreichend, um jeden Gedanken, der nicht unmittelbar mit der bevorstehenden Wahl in Verbindung stand, auch dem verzücktesten Träumer aus dem Kopfe zu treiben. Das Rasseln der Trommeln, das Blasen der Hörner und Trompeten, das Schreien der Menschen und das Getrappel der Pferde dröhnten vom ersten Anbruch des Tages durch die Straßen, und Scharmützel zwischen den Plänklern beider Parteien belebten gelegentlich die Szene.

„Nun, Sam“, sagte Mr. Pickwick, als sein Bedienter in das Schlafzimmer trat, „heute ist alles lebendig, denke ich?“

„Reguläres Wettrennen, Sir“, antwortete Mr. Weller. „Unsre Leute halten heute Versammlung drunten im ,Stadtwappen‘ und haben sich bereits heiser gejohlt.“

„So?“ sagte Mr. Pickwick. „Sie sind wohl ihrer Partei sehr ergeben?“

„Tag meines Lebens, noch keine solche Ergebenheit gesehen, Sir.“

„Jeder stellt seinen Mann. Nicht wahr?“

„Ungemein“, erwiderte Sam. „Hab mein Leben Menschen noch nich so viel essen und trinken sehen. Nimmt mich wunder, daß sie nich platzen.“

„Vermutlich eine übelangebrachte Freigebigkeit der hiesigen Honoratiorenschaft“, meinte Mr. Pickwick.

„Sehr möglich“, erwiderte Sam kurz.

„Frische Gesellen scheinen es zu sein“, bemerkte Mr. Pickwick, einen Blick aus dem Fenster werfend.

„Ungemein frisch“, erwiderte Sam. „Ich und die zwei Kellner im ,Pfau‘ hatten die Independenten, wo gestern dort zu Nacht speisten, unter der Pumpe.“

„Die Independentenwähler unter der Pumpe?“

„Tja. Jeder schlief, wo er grade hingefallen war. Wir haben se heute morgen aus dem Dreck gezogen, einen nach dem andern, und sie unter den Brunnen gestellt, alle in schönster Ordnung. Das Komitee hat ’n Schilling pro Stück gezahlt.“

„Ist es denn möglich!“ rief Mr. Pickwick ganz erstaunt.

„Mein Gott, Sir“, sagte Sam, „wo sind Sie denn auf die Welt gekommen, daß Sie so was nich wissen? Das is doch noch gar nischt.“

„Nichts?“ fragte Mr. Pickwick.

„Noch gar nichts! Den Abend vor der letzten Wahl haben se das Schenkmädchen im ,Stadtwappen‘ bestochen, und die hat ’n Hokuspokus mit dem Brandy gemacht, wo sie den vierzehn Wählern einschenkte, wo im Hause über Nacht waren und noch nich abgestimmt hatten.“

„Was soll das heißen, einen Hokuspokus mit dem Brandy?“ fragte Mr. Pickwick.

„Hat ’n Schlaftränkchen reingegossen. Hol mich dieser und jener, wenn se nich alle wie die Ratzen schliefen, bis die Wahl schon zwölf Stunden vorüber war. Einen davon haben se auf ’n Schubkarren geladen und ins Stimmhaus gebracht, aber se konnten ’n nich hoch kriegen und mußten ’n wieder ins Bett bringen.“

„Seltsame Kniffe das“, sagte Mr. Pickwick, halb zu sich selbst, halb zu Sam.

„Noch nich halb so seltsam, Sir, wie die kuriose Geschichte, wo mal bei ’nem Wahlkampf hier meinem Alten passierte“, versetzte Sam.

„Wieso das?“

„Na, er führte mal jemand her; die Wahlzeit war vor der Tür, und er wurde von der einen Partei bestellt, Wahlmänner von London abzuholen. Den Abend vorher läßt ’n das Komitee der andern Partei heimlich rufen, und er kommt in ’ne große Stube, vollgepfropft mit Herren, Haufen von Papier, Tinte, Federn und so weiter. ,Ah, Mr. Weller‘, sagte der Präsident, ,freue mir, Ihnen zu sehen, Sir; wie befinden Sie sich, Sir?‘ – ,Sehr gut, danke Ihnen, Sir‘, sagt mein Alter, ,hoffe, Sie sind auch wohlauf.‘ – .Recht wohl, danke Ihnen‘, sagt der Herr, ,setzen Sie sich, Mr. Weller, bitte setzen Sie sich.‘ – Mein Vater setzt sich, und die beiden – er und der alte Herr – glotzen sich an. Rennen Sie mir nicht mehr?‘ fragt der Herr – .Wüßte nicht‘, meint mein Alter. – .Aber ich kenne Ihnen‘, sagt der Herr, ,ich kannte Ihnen schon, wie Sie noch ganz klein waren.‘ – .Möglich, aber ich erinnere mir nicht mehr‘, sagt mein Vater. – ,Merkwürdig‘, sagt der Herr, .Sie müssen ein kurzes Gedächtnis haben, Mr. .‘ – ,So besonders ist es freilich nicht‘, sagt mein Vater. – ,Glaube ich Ihnen‘, sagt der Herr. – Na und dann schenkten sie ihm ’n Glas Wein ein, redeten mit ihm über sein Fuhrwerk, brachten ihn in gute Laune und zuletzt drückten sie ihn ’ne Zwanzigfundnote in die Hand. – ,Is kein schöner Weg von hier nach London‘, sagt der Herr. – ,Lausig!‘ sagt mein Alter. – .Besonders am Kanal, glaube ich‘, sagt der Herr. – ,Die Strecke ist freilich mehr als mulmig‘, sagt mein Vater. – ,Nun, Mr. Weller‘, sagt der Herr, ,Sie führen ja doch ’ne gute Peitsche und können mit ihren Pferden machen, was Sie wollen. Wir halten große Stücke auf Ihnen, Mr. Weller, und wenn Ihnen auf Ihrer Fahrt mit den Wahlmännern ’n kleiner Unfall zustoßen möchte, wenn Sie sie zum Beispiel in den Kanal schmeißen würden, ohne daß einer dabei zu Schaden käme, da würde das Geld Ihnen gehören‘, sagt er doch. – ,Meine Herren, Sie sind sehr gütig‘, sagt mein Vater ,und ich will mit noch ein Glas Wein Ihre Gesundheit betrinken‘, sagt er und tut es auch; dann schaufelt er das Geld ein und macht seinen Kratzfuß. – Sie werden es kaum glauben“, fuhr Sam mit einem unverschämten Blick fort, „daß der Wagen, wie er am andern Tag mit den Wählern da längs kam, an derselben Stelle umschmiß und die Passagiere samt und sonders in den Kanal flogen.“

„Sie kamen aber doch wieder heraus?“ fragte Mr. Pickwick hastig.

„N – na“, versetzte Sam gedehnt, „ich glaube, ein alter Herr ist vermißt worden; ich weiß nur, sein Hut kam wieder zum Vorschein, aber ob sein Kopf drin war oder nich, kann ich nich genau sagen. Aber was mir bei dem sonderbaren Zufall am meisten wundert, ist, daß der Herr voraussagte, daß mein Vater am selben Platz und am selben Tag umwerfen würde.“

„Es ist ohne Zweifel ein ganz außerordentlicher Zufall. Aber bürsten Sie meinen Hut aus, Sam, ich höre Mr. Winkle zum Frühstück rufen.“ Mr. Pickwick eilte ins Wohnzimmer hinab, wo er das Frühstück aufgetragen und die Familie bereits vollzählig versammelt fand. Das Mahl wurde hastig eingenommen und die Hüte der Herren von den schönen Händen Mrs. Potts mit einem Ungeheuern blauen Bande geziert. Da Mr. Winkle es übernommen hatte, die Dame Pott zu einem Hausgiebel unweit der Rednertribüne zu geleiten, begaben sich Mr. Pickwick und Mr. Pott allein nach dem „Stadtwappen“, zu dessen Hinterfenster hinaus jemand vom Slumkey-Komitee eine Ansprache an sechs kleine Jungen und ein Mädchen hielt, die er bei jedem zweiten Satz mit der imposanten Anrede: „Männer von Eatanswill“ beehrte, worauf die erwähnten sechs kleinen Knaben in Beifallsstürme ausbrachen.

Der Hofraum wies unverwechselbare Merkmale des Glanzes und der Macht der Blauen von Eatanswill auf. Eine Armee von Fahnen war da zu sehen, manche nur an einer Stange, manche sogar an zweien; alle trugen passende Losungen in vier Fuß hohen goldenen Buchstaben von entsprechender Breite. Auch für ein großes Orchester war gesorgt; Trompeter, Fagottisten und Trommler, vier Mann hoch, verdienten ihr Geld im Schweiße ihres Angesichts. Besonders die Trommler, die wahre Muskelpakete darstellten. Ein Korps von Schutzleuten mit blauen Knüppeln, zwanzig Komiteemitglieder mit blauen Schärpen sowie ein wüster Haufen von Stimmberechtigten mit blauen Kokarden nebst Wahlmännern zu Fuß und hoch zu Roß waren aufmarschiert; ein offner Wagen mit vier Pferden für Samuel Slumkey Hochwohlgeboren und vier Zweispänner für seine Freunde und Gönner standen bereit. Die Fahnen flatterten, Und das Musikkorps spielte, die Schutzleute fluchten, die zwanzig Komiteemitglieder zankten sich, und die Menge brüllte, die Pferde bäumten sich, und die Postillions schwitzten; kurz, alles war zu Nutz, Frommen, Ehren und Ruhm Samuel Slumkeys Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall, des einen Bewerbers um die Vertretung des Fleckens Eatanswill im Unterhaus, auf den Beinen. Laut und lang ertönte das Jubelgeschrei, und gewaltig war das Rauschen einer der blauen Fahnen mit der Inschrift: „Freiheit der Presse“, als die Menge das rothaarige Haupt Mr. Potts am Fenster erblickte, und über alle Beschreibung steigerte sich der Enthusiasmus, als Samuel Slumkey Hochwohlgeboren selbst in Stulpenstiefeln und mit einer blauen Halsbinde sich zeigte, besagten Pott am Henkel faßte und durch melodramatische Pantomimen seine überschwenglichen Dankesgefühle gegenüber der „Eatanswill-Gazette“ vor der Menge an den Tag legte. „Ist alles bereit?“ fragte Samuel Slumkey Hochwohlgeboren Mr. Perker.

„Alles, mein werter Herr“, war die Antwort des kleinen Mannes.

„Es ist hoffentlich nichts vergessen worden?“

„Nichts, nichts, mein werter Herr, durchaus nichts. Am Hoftor stehen zwanzig Kerle mit frischgewaschnen Fäusten zum Händeschütteln, und sechs Kinder sind bereits auf den Armen ihrer Mütter, um sich auf die Wangen tätscheln und um ihr Alter fragen zu lassen. Geben Sie sich besonders mit den Kindern ab, mein werter Herr; so etwas hat immer eine große Wirkung!“

„Ja, ja, werde ich machen“, erwiderte der hochachtbare Samuel Slumkey.

„Und wenn Sie vielleicht, mein wertgeschätzter Herr“, fuhr der umsichtige kleine Mann fort, „wenn Sie es vielleicht so einrichten können – ich will nicht sagen, daß es unerläßlich ist –, aber wenn Sie es so einrichten könnten, daß Sie eins von den Kindern küssen würden – das würde sicher einen sehr vorteilhaften Eindruck auf die Menge machen.“

„Würde es nicht genausogut wirken, wenn jemand vom Komitee das tun würde?“ fragte der hochehrenwerte Samuel Slumkey.

„Ich fürchte, nein“, sagte der Agent. „Wenn Sie selbst es tun würden, mein wertgeschätzter Herr, dann würde Sie das ausgesprochen populär machen, denke ich.“

„Na schön“, sagte der hochehrenwerte Samuel Slumkey mit niedergeschlagener Miene, „dann muß es eben überstanden werden. Nichts zu machen.“ Unter dem Jubelgeschrei der versammelten Menge stellten sich das Musikkorps, die Wachleute, das Komitee und die Wahlmänner und die Berittenen und die Wagen in Reih und Glied, und jeder von den Zweispännern wurde mit so viel Herren vollgepfropft, als aufrecht darin Platz hatten; der für Mr. Perker bestimmte war mit Mr. Pickwick, Mr. Tupman, Mr. Snodgraß und ungefähr einem halben Dutzend Komiteemitgliedern bepackt. Es war ein Augenblick ungeheurer Spannung, als der Zug auf Samuel Slumkey Hochwohlgeboren wartete. Plötzlich erscholl ein gewaltiges Jubelgeschrei.

„Er kommt“, rief der kleine Mr. Perker mit einer Aufregung, die um so stärker wirken mußte, als der Zug nicht sehen konnte, was vorging.

Ein zweites, noch stärkeres Jubelgeschrei.

„Er hat den Männern die Hände geschüttelt!“

Ein drittes brausendes Hurra.

„Er hat die Kleinen getätschelt“, rief Mr. Perker, bebend vor Erregung.

Abermaliger Sturm.

„Er hat eins von ihnen geküßt“, schrie das Männchen entzückt.

Wieder ein Gebrüll.

„Er hat noch eins geküßt!“

Ein drittes Gebrüll.

„Er küßt sie alle der Reihe nach!“ schrie Mr. Perker begeistert, und unter dem betäubenden Jubelgeschrei der Menge setzte sich der Zug in Bewegung.

Wieso oder auf welche Weise er sich mit dem Zuge der Gegenpartei verwickelte und wie er sich aus der darauf folgenden Verwirrung wieder herausarbeitete, läßt sich nicht . feststellen, da Mr. Pickwick gleich anfangs von einer gelben Fahnenstange der Hut bis ans Kinn über das Gesicht geschlagen wurde. Als der Gelehrte wieder einen Ausblick auf seine Umgebung gewinnen konnte, sah er sich, wie er erzählt, mitten in einer ungeheuren Staubwolke, von grimmigen Gesichtern und wild geballten Fäusten, umringt. Er wurde wie von einer unsichtbaren Gewalt aus dem Wagen gerissen und persönlich in den Kampf verwickelt; aber mit wem oder wie oder wo, ist er nicht imstande zu bestimmen. Schließlich fühlte er sich von der andrängenden Menge auf eine hölzerne Treppe hinaufgeschoben, und als er seinen Hut vom Haupte löste, sah er sich von seinen Freunden umgeben und stand ganz vorn auf der linken Seite der Wahltribüne; die rechte war von den Gelben besetzt und das Zentrum für den Bürgermeister und seine Funktionäre reserviert. Einer der letzteren, der wohlbeleibte Ausrufer von Eatanswill, gebot mit einer ungeheuren Glocke Stillschweigen, während sich Horatio Fizkin Esq. und Samuel Slumkey Hochwohlgeboren, beide die Hand auf dem Herzen, mit äußerster Leutseligkeit gegen die brausende See von Köpfen verbeugten, die vor dem Gerüste wogte und mit Schreien, Jauchzen, Jubeln und Brüllen ein Getöse hervorbrachte, das einem Erdbeben Ehre gemacht haben würde.

„Dort ist Winkle“, sagte Mr. Tupman und zupfte seinen Freund am Ärmel.

„Wo?“ fragte Mr. Pickwick, seine Brille hervorziehend, die er glücklicherweise bis dahin in der Tasche behalten hatte.

„Dort“, antwortete Mr. Tupman, „auf dem Dachgiebel drüben.“

Und wirklich saß Mr. Winkle neben Mrs. Pott in der wuchtigen Hohlkehle eines Ziegeldaches ganz behaglich auf einem Stuhl. Sie winkten zum Zeichen des Erkennens mit ihren Taschentüchern, und Mr. Pickwick warf der Dame eine Kußhand zu.

Die Feierlichkeit hatte noch nicht begonnen, und da eine untätige Menge immer zu Spaßen aufgelegt ist, so war diese höchst unschuldige Handlung hinreichend, Anlaß zu rohen Scherzen zu geben.

„Ist das ein alter Sünder!“ rief eine Stimme. „Schielt noch nach den Weibern.“

„Ehrwürden Ziegenbock!“ meckerte ein anderer.

„Setzt sich noch extra die Brille auf, um nach einer Ehefrau zu schielen.“

„Gib auf deine Frau acht, Pott“, kreischte jemand in hohen Tönen, und ein schallendes Gelächter brach los.

Da diese Spottrufe außerdem von hämischen Vergleichen mit einem alten Bock und andern Witzeleien ähnlicher Art begleitet waren, die ganz dazu angetan schienen, die Ehre einer unschuldigen Dame anzutasten, kannte die Entrüstung des großen Mannes keine Grenzen; da aber im selben Augenblick Stillschweigen geboten wurde, begnügte er sich damit, auf die Menge einen sengenden Blick des Mitleids wegen ihrer mißleiteten Sinnesart zu werfen, was jedoch leider abermals ein furchtbares Gelächter zur Folge hatte.

„Ruhe!“ brüllten die Funktionäre.

„Whiffin, gebieten Sie Ruhe“, sagte der Bürgermeister mit der Würde, die seine hohe Stellung erforderte.

Der Ausrufer gab ein zweites Konzert mit seiner Glocke, und ein Mann in der Menge rief: „Frische Semmeln!“, was wiederum ein großes Gelächter erregte.

„Gentlemen“, schrie der Bürgermeister so laut, als es nur immer die Kraft seiner Stimme gestattete. „Gentlemen, Brüder, Wahlmänner der Stadt Eatanswill, wir sind heute hier versammelt, um einen Abgeordneten an Stelle unseres letzten …“

Abermals gellte eine vorlaute Stimme und rief:

„Hoch der Nagelschmied!“

Diese Anspielung auf das bürgerliche Gewerbe des Sprechers wurde mit einem ungeheuren Beifallsgeschrei aufgenommen, das unter Begleitung der Glockenmusik des öffentlichen Ausrufers den übrigen Teil der Rede, mit Ausnahme des Schlußsatzes, unverständlich machte. In diesem dankte der Bürgermeister der Versammlung für die gespannte Aufmerksamkeit, mit der sie ihn von Anfang bis zu Ende angehört hätte, eine Dankbezeugung, die ein zweites Jubelgeschrei erzeugte, das ungefähr eine Viertelstunde dauerte.

Hierauf bat ein großer hagerer Mann mit einer sehr steifen weißen Halsbinde, nachdem er wiederholt von der Menge aufgefordert worden war, einen Jungen nach Hause zu schicken und fragen zu lassen, ob er seinen Stimmzettel nicht unter dem Kopfkissen habe liegenlassen, die Versammlung um die Erlaubnis, eine taugliche und geeignete Person vorschlagen zu dürfen, die die Volksinteressen im Parlamente zu vertreten hätte, und als er sodann Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge bei Eatanswill, genannt hatte, erhoben die Fizkinisten ein beifälliges und die Slumkeyisten ein mißbilligendes Geschrei, das so lange anhielt und so laut war, daß er und sein Adjunkt, statt zu sprechen, ebensogut lustige Lieder hätten singen können, ohne daß es aufgefallen wäre.

Nachdem die Freunde Horatio Fizkins Esq. in ihrem Triumph genügend geschwelgt hatten, trat ein gallsüchtiges Männchen mit einem rötlichgelben Gesicht vor, um eine andre taugliche und geeignete Person vorzuschlagen, die die Wahlbürger von Eatanswill im Unterhaus vertreten könnte. Leider besaß er kein Organ für die heitere Summung der Menge. So kam es, daß er nach ein paar sehr kurzen Proben seiner bilderreichen Beredsamkeit zunächst diejenigen Störenfriede beschimpfte, die in der Menge standen, und dann dazu überging, mit den Herren auf der Tribüne Flegeleien auszutauschen. Dabei entstand ein solcher Lärm, daß er genötigt wurde, seine Gefühle nur noch in bitterernsten Gebärden auszudrücken. Das tat er denn auch und überließ anschließend seinem Assistenten die Szene. Dieser ließ sich nicht weiter beirren, sondern las eine Rede von halbstündiger Dauer bis zum letzten Wort herunter.

Als dann Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge bei Eatanswill in höchsteigener Person auftrat, um die Wahlversammlung anzureden und kaum zu sprechen angefangen hatte, fiel die Musikbande, die von Samuel Slumkey Hochwohlgeboren aufgestellt war, mit einer Heftigkeit ein, gegen die ihre Leistungen am Morgen das reinste Kinderspiel waren.

Zur Vergeltung bearbeitete die Partei der Gelben die Köpfe und Rücken der Blauen in einer Weise, die die Blauen zu dem Versuch nötigte, sich von dieser lästigen Nachbarschaft zu befreien. Eine Prügelszene entwickelte sich, die der Bürgermeister nicht billigen zu können glaubte, weshalb er zwölf Schutzleute mit dem strikten Befehl entsandte, die Rädelsführer zu umzingeln, deren Anzahl sich ungefähr auf zweihunderundfünfzig Mann belief. Diese Auftritte versetzten Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge und seine Anhänger so in Zorn und Wut, daß schließlich Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge in eigner Person um die Erlaubnis bat, seinen Gegner, Samuel Slumkey Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall, zu fragen, ob die Musikbande mit seiner Bewilligung spiele – eine Frage, deren Beantwortung Samuel Slumkey Hochwohlgeboren mit einer Entschiedenheit ablehnte, die Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge veranlaßte, seinem Gegner mit der Faust zu drohen, was diesen derart reizte, daß er Horatio Fizkin Esq. zum Kampf auf Leben und Tod herausforderte. Auf diese Verletzung aller bekannten Gesetze und jedes Herkommens ordnete der Bürgermeister ein neuerliches Glockenkonzert an und erklärte, er werde sowohl Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge als auch Samuel Slumkey Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall vor sich bescheiden und den Frieden beschwören lassen. Auf diese furchtbare Androhung legten sich die Rechtsbeistände der beiden Kandidaten ins Mittel, und nachdem sich die Anhänger der zwei Parteien drei Viertelstunden lang herumgezankt hatten, lüftete Horatio Fizkin Esq. seinen Hut gegen Samuel Slumkey Hochwohlgeboren und Samuel Slumkey Hochwohlgeboren den seinigen gegen Horatio Fizkin Esq. Das klingende Spiel hörte auf, die Menge war verhältnismäßig still, und Horatio Fizkin Esq. konnte fortfahren.

Die Reden der beiden Kandidaten, so verschieden sie in jeder Rücksicht waren, ließen den großen Vorzügen und Verdiensten der Wahlbürger von Eatanswill volle Gerechtigkeit widerfahren. Jeder sprach sich dahin aus, daß die Welt noch nie freiere, aufgeklärtere, patriotischere, hochherzigere, uneigennützigere Männer gesehen habe als die Wähler der eignen Partei. Jeder spielte fein darauf an, daß die gegnerischen Wahlmänner an Gehirnerweichung und ähnlichen Schwächen litten, die sie unfähig machten, den wichtigen Pflichten nachzukommen, die ihnen oblägen. Beide sagten, der Handel, die Industrie und der Wohlstand von Eatanswill lägen ihnen mehr am Herzen als irgend etwas auf der Welt, und jeder meinte, mit Zuversicht behaupten zu dürfen, daß er der Erwählte des Tages werden würde.

Hierauf wurde durch Handaufheben auf der Tribüne abgestimmt. Der Bürgermeister entschied zugunsten Samuel Slumkeys Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall. Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge bestand auf Gegenprobe, die jedoch das Resultat bestätigte. Sodann wurde dem Bürgermeister eine Dankadresse dotiert für sein würdevoll“ Benehmen als Vorsitzender.

Die Züge reihten sich wieder aneinander, die Wagen arbeiteten sich langsam durch das Gedränge, und die Menge fluchte und jauchzte ihnen nach, je nachdem es Sinnesart oder Laune eingaben.

Während der ganzen Zeit der Stimmenzählung war die Stadt in fieberischer Aufregung. Alles wurde auf die entgegenkommendste und nobelste Art betrieben. Konsumartikel waren in allen Wirtshäusern merkwürdig wohlfeil, und Sänften standen in allen Straßen für Wähler bereit, die von einem vorübergehenden Schwindel befallen wurden, eine Epidemie, die während des Wahlkampfes unter der sämtlichen stimmfähigen Bürgerschaft in einem höchst beunruhigenden Maße grassierte und unter deren Einwirkung ganze Massen von Menschen besinnungslos auf dem Pflaster umherlagen. Eine kleine Anzahl von Wahlmännern hielt ihre Stimme bis auf den letzten Tag zurück. Es waren das spekulative Köpfe, die sich noch von keiner Partei durch Argumente irgendwelcher Art hatten überzeugen lassen, so häufig sie auch den Zusammenkünften beigewohnt hatten.

Eine Stunde vor Schluß der Zählung bat Mr. Perker um die Ehre einer geheimen Unterredung mit diesen einsichtsvollen, edelgesinnten und patriotischen Männern. Es wurde ihm willfahrt. Seine Argumente waren kurz, aber überzeugend. Die Herren begaben sich in hellen Haufen in den Stimmsaal, und, als sie ihre Namen eingetragen hatten, wurde auch Samuel Slumkey Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall als Abgeordneter für Eatanswill eingetragen.