14. Kapitel

Gelehrte Unterhaltungen – Der Harem – Französisch

14. Kapitel

Nachdem wir uns allmählich aus unserem Schlaf herausgerappelt hatten, untersuchten wir die Beute, die wir den Kerlen vom Schiff abgejagt, und fanden herrliche Dinge darunter. Stiefel, wollene Decken, Kleider, viele Bücher, ein Fernglas, zwei Kistchen Ziehgarren und sonst noch eine ganze Menge Brauchbares. So reich an derartigen schönen Sachen waren wir noch nie zuvor gewesen, keiner in seinem Leben! Die Ziehgarren besonders waren wundervoll, echte Harrwanna oder wie sie die Dinger heißen. Wir lagen den ganzen Nachmittag unter den Bäumen und dampften, und ich las dazu in den Büchern, es war ganz herrlich! Ich erzählte nun Jim alles, was ich in dem Wrack und an der Fähre erlebt hatte und wie das nun doch einmal ein ordentliches Abenteuer gewesen sei. Er aber wollte nichts von Abenteuern wissen, dankte dafür und sagte, er sei schon halb tot gewesen, als er das Floß nicht mehr habe finden können, und habe geglaubt, nun sei alles aus, so oder so. Entweder müsse er ertrinken und sei verloren oder er werde gerettet und würde ausgeliefert und verkauft, und das sei auch nicht viel besser für ihn. Darin hatte er nun recht, er hatte überhaupt beinahe immer recht; er war ein merkwürdiger alter Schlaukopf für einen Nigger.

Ich las Jim dann aus einem Buche vor. Da stand viel von Königen, Herzögen und Grafen und dergleichen drin, wie vornehm die sich anziehen und wie kostbar, und wie sie sich gegenseitig Majestät und Hoheit und Durchlaucht anreden, nicht bloß mit Herr. Jims Augen quollen förmlich aus dem Kopf heraus, so interessierte es ihn.

Sagt‘ er: »Jim gar nix wissen, daß ’s sein so viele. Jim nie nix davon hören! Jim nur wissen vom alten König Sallermon un – ja von die Kartenkönige! Wieviel so ein König denn kriegen?«

»Kriegen?« sag‘ ich, »was die kriegen? Tausend Dollars im Monat oder mehr, so viel sie wollen, kriegen sie, alles gehört ihnen ja!«

»Hui, das sein schön! Was sie haben zu tun, Huck?«

»Tun? Nichts! Könige tun gar nichts, Jim, die sitzen nur so herum!«

»Nein, warraftig?«

»Natürlich, Jim, ganz gewiß, die sitzen nur so herum. Vielleicht wenn’s Krieg gibt, müssen sie einmal aufstehen und mitgehen, aber sonst faulenzen sie nur so in allen Ecken herum oder jagen oder fi – scht, hast du nicht was gehört?«

Wir krochen vor und lauschten, es war aber nur das Geräusch einer Dampferschaufel. Ein Dampfer verschwand eben an einer Biegung des Stroms, und so zogen wir uns denn wieder zurück.

»Ja«, fuhr ich fort, »und manchmal, wenn’s ihnen gar zu langweilig wird, ärgern sie das Parlerment ein bißchen oder lassen ein paar Köpfe abhauen. Gewöhnlich aber halten sie sich im Harem auf!«

»Im – wo?«

»Im Harem!«

»Was das sein?«

»Der Ort, wo sie die Weiber halten. Was, du weißt nichts vom Harem, Jim? Sallermon hat ja auch einen gehabt, mit einer Million Frauen drin!«

»Ach – warraftig, alte Jim haben ganz vergessen, warraftig das sein so! Jim denken, Harem sein so groß wie große Wirtshaus! He, Huck? Müssen haben ganze Haus voll Kinnerstuben, nix als wie schreien, nix als wie zanken! Schreien die Kinner, zanken die Weiber! Alte Sallermon sein nix gewesen weiser Mann, wie Leute sagen. Sein gar nix gewesen weise, alter Jim sagen. Weiser Mann nix gehen un bauen ein Haus un stopfen ihr voll Weiber un Kinner, un sitzen in die Mitt von all die Lärm und Geschrei. Weiser Mann nix tun so dumme Sach, er bleiben schön allein oder bauen ganz kleine Laden un verkaufen Ziehgarren un Whiskey, un schließen den Laden, wann er wollen Ruhe haben. Un eine Weib sein ganz genug für weise Mann un keine so vielen Kinner – nein, Jim sagen, Sallermon sein gar nix weise!«

»Er war aber doch der weiseste König, der Sallermon, das hat mir schon die Witwe gesagt, und die Witwe weiß es!«

»Jim nix wollen wissen, was der Witwe sagen – Sallermon sein nix weise! Er sein halber verrückt, Jim sagen. Du hören von die Kind, die er wollen hauen entzwei?«

»Ja, das hat mir die Witwe gerade erzählt und …«

»Drum eben! Waren das nix verrückt? Du hören eine Augenblick! Dort die Baumstumpf sein eine Frau, du dort sein die anner, Jim sein Sallermon un hier Dollarschein sein Kind! Baumstumpf und du wollen haben der Schein. Jim nix gehen un fragen der Nachbarn, wem sein der Schein, dir oder anner Frau, Jim nix als nehmen Schein, reißen ihn in zwei Stücken un sagen: Hier du haben, un hier du! Sein das weise? Du nix haben, anner Frau nix haben! So Sallermon wollen tun mit der Kind! Jim dir nun fragen, was sein halbe Schein wert? Nix! Was sein halbe Kind wert? Wieder nix! Sein eine Million halber Kinner nix, gar nix wert. Nein, Sallermon nix sein weise!«

»Aber, Jim, laß dich begraben, du hast ja gerad‘ am Kernpunkt vorbeigeschossen, Gott straf mich, tausend Meter weit vorbeigeschossen, sag‘ ich dir!«

»Wer haben geschossen? Jim? Du dir lassen begraben! Du nix Jim kommen mit deine Kernpunkt. Jim wissen, was sein dumm, wann er sehen was Dummes, un alter Sallermon waren dumm mit die Kind! Über was sein der Streit angefangen, he? Über halbe Kind oder ganze Kind? Jim sagen über ganze Kind, un du da nix können machen gut mit halbe Kind, und wann Sallermon denkt das, er sein dumm Jim sagen, sein nix wert, daß Sonn ihn warm machen. Du mir nix kommen mit Sallermon, sein nix Jim seine Freund!«

»Aber, Jim, wahrhaftig, hör doch, darum handelt sich’s ja gar nicht, der Kernpunkt …«

»Kernpunkt sein verd …! Jim wissen, was er wissen. Un du, Huck, Jim dir was sagen! Deine Kernpunkt sein viel wo anders, sein ganz, ganz tief da drunten, liegen in Sallermon seine Eltern, die ’n haben falsch erzogen! Du nehmen einmal eine Mann, der nur haben zwei oder drei Kinner! Der nix sein verschwenderisch mit! Der wissen gut, was Kinner sein wert! Aber dann du nehmen eine Mann, der haben fünf Millionen Kinner in seine Haus rumstolpern, der sein ganz anners! Er nix fragen, ob sein Kind oder Katz, was er entzweihacken, sein so viele da, er können entbehren eins oder zwei! Un alter Sallermon – er nix fragen nach Dutzend mehr oder weniger, er haben Vorrat – das sein Kernpunkt, Huck, du alte Jim können glauben!«

So ein Nigger ist noch gar nicht dagewesen! Wenn der sich etwas in den Kopf setzt, so treibt’s ihm kein Kuckuck heraus! Hat ’nen harten Schädel, der alte Jim, und der Sallermon, der hat’s bei ihm verschüttet, ein für allemal. So ließ ich den Sallermon denn fallen und erzählte Jim von einem anderen König, über den ich eben las, von Ludwig dem Sechzehnten von Frankreich, dem sie dort einmal den Kopf abgeschlagen haben, und von seinem kleinen Sohn, dem Delphin, der König hätte werden sollen, als sein Vater keinen Kopf mehr hatte, um die Krone drauf zu setzen, den sie aber in den Kerker warfen, wo er dann auch gestorben sein soll – so sagen die Leute, wenigstens die meisten.

»Arme kleine Kerl!«

»Aber, denk einmal, Jim, viele sagen auch, er sei nicht gestorben, sondern durchgebrannt und hierher zu uns nach Amerika gekommen!«

»Das sein gescheit! Aber, Huck, kleine Kerl werden sein ganz allein, werden haben Heimweh, sein hier nix von Könige bei uns er sein ganz allein!«

»Ja, Könige findet er hier nicht, das ist wahr!«

»Wird nix haben zu tun, arme Kerl! Wovon er leben?«

»Ja, das weiß ich auch nicht. Er kann vielleicht bei der Polizei angestellt werden oder französische Stunden geben!«

»Was, Huck, sprechen die französische Leut nix wie wir?«

»Nein, Jim, bewahre! Man kann kein Wort verstehen, wenn sie was sagen.«

»Ei du mein Himmel! Jetzt aber Jim wissen gar nix, was er sollen denken! Woher das kommen, Huck?«

»Ja, ich weiß das nicht, aber so ist’s! Ganz gewiß! Wart einmal, ich hab‘ da etwas in meinem Buch gefunden. Jim, wenn mal einer zu dir käme und sagte: ›Pallewuhfranzä‹? was würdest du da denken?«

»Denken? Jim gar nix denken. Jim ihm hauen die Kopf voll, aber nur, wenn er nix sein Weißer; Jim sich nix lassen so schimpfen von Nigger!«

»Dummheit! Das ist doch nicht geschimpft! Der will dich nur fragen, ob du Französisch sprichst.«

»Warum er’s denn nix sagen?«

»Aber, er sagt’s ja, nur auf Französisch!«

»Das sein dumm, Jim nix wollen hören davon, sein ganz zum Lachen dumm!«

»Jim, gib mal acht: Spricht denn eine Katze wie wir?«

»Nein, warraftig, aber –«

»Tut’s ’ne Kuh?«

»Nein, auch nix, aber –«

»Spricht die Katze wie die Kuh, oder die Kuh wie die Katze?«

»Nein, gar nix, aber –«

»Und das ist ganz natürlich, daß jedes Tier anders spricht, nicht?«

»Jim sollen denken ja – aber –«

»Wart, wart, nur einen Augenblick! Ist es nicht auch ganz natürlich, daß ein Tier anders spricht wie wir, he?«

»Warum du fragen so dumm, Huck?«

»Also warum soll ein Franzose denn nicht anders reden wie wir?«

»Sein Katze ein Mensch, Huck?«

»Nein!«

»Gut, warum sollen Katze reden wie Mensch? Sein Kuh Mensch? Oder sein Kuh Katz?« »Nein, eine Kuh ist ’ne Kuh!«

»Gut, so sie brauchen nix zu reden wie Katz un Mensch! Sein Franzose Mensch?«

»Na, ob!«

»Also! Warum er denn nix reden wie Mensch? Das möcht ich wissen, Huck!«

Das war mir zuviel! Streit einer mit einem Nigger! Die Schädel sind zu hart. Ich gab’s auf.

15. Kapitel

Huck verliert das Floß aus Sicht – Im Nebel – Wiederfinden – Träume – Unrat!

15. Kapitel

In weiteren drei Nächten dachten wir mit Leichtigkeit bis nach Kairo zu kommen, ganz unten in Illinois; wo der Ohio in den Mississippi fließt, das war das eigentliche Ziel unserer Fahrt. Dort wollten wir dann das Floß verkaufen, auf ein Dampfboot gehen, den Ohio hinauffahren, bis zu den Staaten, wo die Nigger frei waren, und dann außer aller Gefahr zu sein.

In der zweiten Nacht kam ein dicker Nebel herunter; wir suchten daher nach einem Ort, um bequem anlegen zu können, denn eine Fahrt im Nebel lockte uns nicht. Ich ruderte im Boot voraus, fand aber zum Anbinden nichts als junge Bäumchen. Ich schlang die Leine um eines derselben; unglücklicherweise gerade an einer Stelle, wo das Ufer einen Vorsprung bildete und eine scharfe Strömung entstand. Von ihr erfaßt, schoß das Floß nur so dahin, und eh‘ ich mich’s versah, hatte es sich vom Boot losgerissen und war auch schon im Nebel verschwunden. Ich seh‘ noch, wie er sich hinter ihm schließt; mir wurde ganz schwarz vor den Augen, und ich konnte mich kaum rühren, viel weniger einen Laut von mir geben. Denk‘ ich, nun bist du verloren, verlassen gewiß, denn Jim ist weg auf Nimmerwiedersehen! Ich stürze ins Boot und falle über die Ruder her, aber es weicht nicht von der Stelle; ich hatte vergessen, es loszubinden. Ich probier jetzt den Knoten zu lösen, aber ich war so aufgeregt, und meine Hände zitterten so, daß ich nichts anfangen konnte.

Als ich dann endlich flott war, setzte ich hinter dem Floß her, hielt mich, solang ich konnte, in der Nähe des Ufers, um die Richtung nicht zu verlieren, kam aber doch schließlich ab und mitten in den dicken Nebel hinein und wußte nun geradeso wenig wie ein Toter, wohin ich getrieben wurde.

Denk‘ ich, rudern lohnt sich hier nicht, sitzt am Ende doch nur auf einer Sandbank fest, läßt dich lieber vom Wasser treiben, das ist jedenfalls sicherer. Aber still sitzen und die Hände in den Schoß legen, wenn man innerlich wie mit Dampf geladen ist, um vorwärtszukommen, ist eine mißliche Sache. Ich konnt’s kaum fertigbringen und rutschte auf meiner Bank herum, rief dann einmal und lauschte auf Antwort. Plötzlich hör‘ ich den Strom herauf einen schwachen Ruf, und da kommen mir auch die Lebensgeister und der Mut wieder. Ich drauflos, hör’s noch einmal, merk‘ aber auch, daß ich in ganz andrer Richtung bin, viel zuviel nach rechts. Dann hör‘ ich’s wieder und diesmal zu weit links, komm‘ auch nicht näher, denn mit dem Hin und Her verlier ich Zeit und das Floß treibt offenbar immer gerade fort!

Ich hoffte nun, der Narr von Jim würde einen alten Blechdeckel nehmen und ordentlich Lärm schlagen, wer’s aber nicht tat, war er, und gerade die Pausen zwischen den verschiedenen Rufen machten mich so irre. Na, ich immer voran, aber man denke sich mein Erstaunen, als ich plötzlich den Ruf hinter mir höre. Da war guter Rat teuer. Entweder kam der Ruf von jemand anderem her, oder das Boot hatte sich gedreht. Nun wußte ich nicht ein noch aus!

Ich ließ die Ruder sinken. Wieder kam der Ruf, immer noch hinter mir, aber von ganz woanders her; er kam immer näher, aber es wechselte beständig, und ich antwortete stets, bis der Ruf nach und nach wieder von vorne kam und ich merkte, daß die Strömung mein Boot wieder in das richtige Geleise stromab gebracht haben müsse. Jetzt war alles wieder gut, wenn’s nur Jim war, der da rief, und nicht sonst jemand; denn bei Nebel erkenn‘ der Kuckuck die Stimmen, im Nebel sieht alles geisterhaft aus und lautet auch so.

Das Rufen dauerte an, und nach einer Minute etwa stieß ich hart an einer Sandbank auf, von der alte Baumstümpfe wie Geister aus dem Nebel aufragten. Die Strömung packte mich und warf mich zur Linken, hart an vorstehenden Baumzweigen vorbei, die ordentlich pfiffen, so sauste das Wasser an ihnen dahin.

Im nächsten Moment war alles wieder Nebel und still. Ich hielt mich ganz ruhig und hörte nur, wie mein Herz hämmerte und klopfte, während ich kaum zu atmen wagte.

Nichts war mehr zu hören, und nun wußte ich auch genau, woran ich war. Die Sandbank, auf die ich, wie ich glaubte, aufgerannt, war eine Insel, und die Strömung hatte mich zur Linken gerissen, während Jim drüben auf der Rechten dahintrieb. Und die Insel schien nicht klein. Ab und zu konnte ich durch den Nebel hohe Bäume sehen, und das konnte stundenlang so weitergehen; wer will’s sagen, ob ich Jim und das Floß je wieder erreichen würde?

Ich hielt mich ganz still und spitzte die Ohren, soviel ich konnte. Alles umsonst. Ich wurde schnell immer weiter und weiter gerissen, denn die Strömung war stark; aber das wird einem nicht klar, man fühlt es kaum. Im Gegenteil! Man meint ganz, ganz still zu liegen auf dem Wasser, und wenn man einen Baum oder sonst was vorbeihuschen sieht, kommt es einem gar nicht in den Sinn, daß man selber so schnell fährt, sondern man hält den Atem an und denkt, ei, hat’s der Baum aber einmal eilig! Wer’s nicht glaubt, wie unheimlich und einsam es einem zumut ist, so allein im Nebel auf dem Wasser, mitten in der stillen, dunklen Nacht, der soll nur einmal hingehen und es probieren, dann wird er schon sehen.

Nach vielleicht einer halben Stunde fing ich wieder an zu rufen, denn ich dachte, nun könnte die Insel endlich ein Ende haben, und wahrhaftig, ich hörte auch einen Antwortruf, aber weit, weit weg. Ich versuchte ihm zu folgen, bracht’s aber nicht fertig. Gleich drauf kam es mir vor, als sei ich in ein ganzes Nest von Inselchen geraten, denn ein schwacher Schein davon war alle Augenblicke zu beiden Seiten sichtbar, und zuweilen war es mir, als führe ich durch einen schmalen Kanal. Manche von den Eilanden konnte ich gar nicht unterscheiden, aber daß sie vorhanden waren, merkte ich an dem Rauschen der Strömung, die sich an dem herüberhängenden Gesträuch und Laubwerk brach. Die Rufe konnte ich immer von Zeit zu Zeit wieder hören, aber der Richtung folgen zu wollen, wäre schlimmer gewesen als die Jagd auf ein Irrlicht, so sprang der Ton hin und her, von einer Richtung zur andern.

Dann mußte ich auch mit dem Ruder nachhelfen, daß ich nicht einmal irgendwo aufsaß und irgendeinen von den kleinen Landbrocken unversehens vom Platz rückte. Ich vermutete, daß auch das Floß aus demselben Grund so langsam vorwärts kam, denn nach dem Rufen zu urteilen – immer vorausgesetzt, daß es Jim war, der da rief –, trieb es jetzt kaum schneller als ich selbst dahin.

Nun schien ich wieder im freien Fahrwasser angelangt zu sein, konnte aber mit einem Male gar nichts mehr hören. Denk ich, Jim ist ganz sicher irgendwo angeprallt, und Floß und Jim sind weg und verloren! Ich war so müde und erschöpft, so traurig und mutlos, daß ich mich ruhig in mein Boot legte und mir sagte: Nun läßt du alles gehen, wie’s kommt! Schlafen wollte ich eigentlich nicht; aber allmählich fielen mir doch die Augen zu, ohne daß ich’s merkte, und ich nickte ein.

Aber es muß wohl mehr als ein bloßes Einnicken gewesen sein, denn wie ich wieder zu mir kam, war der Nebel weg, die Sterne standen klar am Himmel, und ich trieb auf einer ruhigen breiten Wasserfläche still dahin. Erst dachte ich, es sei ein Traum, wußte nicht, wo ich war, und als mir allmählich die Erinnerung an alles aufdämmerte, schien es mir, als sei’s in voriger Woche gewesen.

Der Strom war hier furchtbar breit, mit großen, alten, hohen Bäumen zu beiden Seiten, die wie dicke Mauern dastanden, soviel ich im Sternenlicht sehen konnte. Nun späh‘ ich nach vorn und entdecke einen schwarzen Punkt mitten im Wasser. – Ich drauflos; wie ich aber hinkomme, ist’s nichts als ein paar zusammengebundene Baumstämme. Wieder seh‘ ich was Schwarzes, jag‘ dem Ding nach und wieder ist’s nichts, dann aber noch ein dunkler Punkt, ich hinterdrein, und wahrhaftig, das ist’s – ist das Floß mit Jim und allem.

Wie ich hinkomme, sitzt Jim da mit dem Kopf zwischen den Knien, fest eingeschlafen, den Arm noch über das Steuerruder geworfen. Das andere Ruder war mitten durchgebrochen und das Floß selbst ganz bedeckt mit Laub, abgerissenen Baumzweigen und Schlamm. Da ist’s auch nicht sanft hergegangen, denk‘ ich.

Ich leg‘ mein Boot fest, streck mich lang und breit vor Jims Nase auf den Boden, fang an zu gähnen, mich zu recken und zu strecken und Jim anzustoßen.

Sag ich: »Herrje, Jim, ich hab‘ wohl gar geschlafen, warum hast du mich denn nicht wachgerüttelt?«

»Großer, allbarmherziger Himmel! Sein das du, Huck? Sein du nix tot? Nix vertrinkt? Sein du wieder da? Sein zu schön, zu gut für wahr zu sein. Jim gar nix können glauben, arme alte Jim denken, er träumen! Du Jim lassen sehen, lassen fühlen, ob du sein Huck! Nein, du nix sein tot, du sein wieder da, gute, alte, treue Huck – ganz die alte, treue Huck, Gott sei Lob und Dank und Preis und Ruhm!«

»Hallo – drei Schritte vom Leib, Jim! Was ist denn los, alter Kerl? Hast wohl ein Gläschen zuviel gehabt?«

»Wer – alte Jim? Gläschen zuviel? Alte Jim nix haben gehabt Zeit zu denken an Trinken!«

»Weshalb läßt du denn solchen Unsinn los?«

»Was – Unsinn?«

»Wie? Und du fragst noch, Jim? Hast du nicht von Weggehn, Ertrinken und Wiederkommen geschwatzt? – Und ich lieg‘ hier und schlaf wie ’ne Ratte!«

»Huck – Huck Finn, du sehen Jim in die Augen, sehen alte Jim in die Augen! Sein du denn nix weg gewesen?«

»Weg gewesen? – Aber Jim, was, zum Henker, willst du denn eigentlich? Weg gewesen? Wo in der Welt soll ich denn gewesen sein?«

»Alte Jim sein ganz dumm von alles! Hier etwas nix sein richtig! Sein Jim ich, oder was sein Jim? Sein Jim in die Floß oder wo? Jim wollen das wissen – alte Jim sein ganz toll!«

»Na, ich denk‘, daß du im Floß bist, Jim. Das ist ebenso klar, wie daß du ein ganz verrückter, alter Kerl bist.«

»Also Jim sein Jim? Dann du mir sagen, Huck, du mir sagen, Huck, sein du nix gegangen in Boot zu machen fest der Floß?«

»Wo denn? – Wann denn?«

»Du nix machen fest Floß und dann kommen Wasser – brr – un reißen Floß los un Floß schießen immer fort, immer fort und lassen Huck un Boot hinten in Nebel?«

»In welchem Nebel?«

»Ei – in die Nebel, dicke, weiße, große Nebel, was sein gewesen in die Nacht. Un hat nix Jim gerufen un geschreit, un Huck wieder gerufen und geschreit, bis sein gekommen die viele Insel un Huck ging verloren, und Jim beinahe verloren! Arme Jim gar nix wissen, wo sein! Un sein nix Floß gerannt, un gerannt an alle der Insel, und Jim sein fast ertrinkt un sein gewest so traurig? Sein das so, Huck, oder sein das nix so? Du Jim sagen!«

»Na, das ist mir zu hoch, Jim! Ich hab‘ keinen Nebel, keine Inseln, kein Aufrennen, gar nichts gesehen! Ich hab‘ die ganze Nacht hier gesessen und mit dir geschwatzt bis vielleicht vor zehn Minuten, und dann bist du eingenickt, und ich werd’s wohl auch so gemacht haben. Getrunken kannst du da wohl nichts haben, es muß also ein Traum gewesen sein!«

»Hol’s der un jener, Huck – das nix können sein wahr! Jim nix können träumen alle das in zehn Minuten – nix können sein wahr.«

»Na, dann glaub’s nicht, Dickkopf, aber geträumt muß es doch gewesen sein, denn passiert ist’s nicht!«

»Aber, Huck, Jim wissen alles, alles – sein so klar wie …«

»Darauf kommt’s nicht an, wie klar dir’s ist, alter Faselhans, es ist doch nichts dran! Ich werd’s doch wissen, war ja die ganze Zeit hier!«

Fünf Minuten lang sagte nun Jim nichts weiter, sondern brütete nur so vor sich hin, dann fing er an: »Also Jim haben geträumt, Huck? Du das sagen, dann müssen sein wahr! Aber Huck – sein gewesen so ganz schrecklich natürliche Traum, wie Jim nie nix haben gehört. Jim nie nix haben je geträumt, was machen so müd!«

»Ach, das ist gar kein Wunder, so geht’s oft, wenn man recht lebhaft träumt, da kann man nachher kein Glied regen. Deiner scheint aber wahrhaftig der reine Durchhautraum gewesen zu sein, so verhagelt siehst du aus – leg mal los, Jim, und erzähl!«

Nun fing Jim an und erzählte die ganze Geschichte von vorn bis hinten, nur schmückte er alles gewaltig aus. Dann meinte er, nun müsse er versuchen, den Traum auszulegen, denn er sei uns sicherlich zur Warnung gesandt von oben. Er sagte, unser erster mißglückter Versuch zum Anlegen bedeute, daß uns irgendeiner Gutes tun wolle, nun aber komme der Feind, die Strömung, und risse uns weg. Das Rufen, das er dann gehört und selbst ausgestoßen, seien Mahnungen des Schicksals, die wir versuchen müßten, recht zu verstehen, sonst brächten sie uns Unglück, statt uns davor zu behüten. Die Inseln schließlich und unsere Arbeit und Gefahr, dran vorüberzukommen, seien Streitigkeiten mit bösen Menschen, in die wir verwickelt werden würden; wir aber müßten, ohne uns viel drum zu kümmern, sehen, wie wir an den Inseln ungefährdet vorüberkämen und durch den dicken Nebel ins glatte Fahrwasser, das heißt in die freien Staaten, wo dann all unsre Not ein Ende habe. Der Himmel hat sich wieder tüchtig umwölkt gehabt, allmählich aber blitzten doch einige Sternchen hindurch.

»Das ist alles recht schön und gut, Jim, du hast deine Sache brav gemacht, aber – was bedeutet denn das da?«

Dabei deutete ich auf die Blätter, die abgerissenen Baumzweige und den Schlamm, womit das Floß ganz übersät war. Man sah es deutlich beim Licht der Sterne.

Jim starrte drauf hin, dann mir ins Gesicht, dann wieder auf all das Zeug, ohne eine Silbe zu erwidern. Der Traum schien sich in seinem Hirn so eingenistet zu haben, daß es ihm schwer wurde, die Idee davon fahren zu lassen und sich mit der Wirklichkeit vertraut zu machen. Dann, als ihm das Ding doch wirklich endlich klar wurde, sah er mich an, lange, starr, ohne eine Spur von Lächeln, beinah traurig und sagte zuletzt: »Was das bedeuten, Jim dir sagen. Wenn alte Jim ganz müde waren von Rufen un Rudern un Kummer, dann er denken, Huck sein ganz fort, Huck sein verloren, alte Jim seine Herz sein beinah gebrochen, un er wollen schlafen un nix mehr hören, nix mehr sehen von der Welt un Elend. Wenn er dann wach werden, er sehen Huck gesund un heil un ganz vor sich, er müssen weinen heiße Tränen un wollen küssen deine Fuß, so Jim sein froh un dankbar. Du aber, Huck, nur denken, wie können machen Narr aus arme alte Jim un schwindeln un lügen. Das Zeug da sein Unrat – un Unrat es sein, was Leute setzen arme alte Freund in Kopf, zu haben seinen Spaß daran, wenn arme alte Freund sein betrogen un angeführt!«

Langsam erhob er sich und ging zur Hütte. Ich fühlte mich ganz furchtbar beschämt und hätte nun selbst am liebsten seine alten, schwarzen Hufe geküßt, um ihm meine Reue zu zeigen und die Sache wieder gutzumachen.

Fünfzehn Minuten brauchte ich aber doch, ehe ich mich selbst soweit gebracht hatte, daß ich einen Nigger um Verzeihung bitten konnte. Getan hab‘ ich’s dann und hab’s auch nie bereut nachher. Streiche spielte ich ihm keine mehr und hätte auch den nicht losgelassen, wenn ich vorher gewußt hätte, daß es dem armen, alten Kerl so leid tun würde.

16. Kapitel

Erwartung – »Gute, alte Kairo!« – Eine Notlüge – Kairo verfehlt! – Wir schwimmen ans Ufer!

16. Kapitel

Den ganzen nächsten Tag über schliefen wir bombenfest, die nächtlichen Abenteuer lagen uns wie Blei in den Gliedern. Am Abend machten wir uns dann wieder auf, immer hinter einem kolossal langen Floß her, das feierlich wie eine Prozession vor uns dahinzog. An Bord waren vier große Hütten, hohe Flaggenmasten an beiden Enden und in der Mitte ein freies lustig flackerndes Feuer, um das viele Männer rauchend, trinkend und Karten spielend lagerten. Es mochten wohl etwa dreißig Leute Bemannung darauf sein. Ja, das lohnte der Mühe, Steuermann an Bord eines solchen Ungeheuers zu werden, das war doch etwas! Unser kleines Ding kam mir dagegen vor wie eine Wasserfliege, die sich an den Schwanz einer Seeschlange klammert.

Wir kamen an eine starke Krümmung des Flusses, und allmählich bewölkte sich der Himmel, und es wurde sehr heiß. Der Strom war hier sehr breit, und dichte, hohe Wälder zogen sich an beiden Ufern hin, wie dicke schwarze Linien ohne jede Unterbrechung, ohne jeden Lichtstrahl. Wir sprachen über Kairo, unser nächstes Ziel, und meinten, ob wir es wohl erkennen würden, wenn wir dran kämen. Ich sagte nein, vielleicht nicht, denn ich hatte gehört, es seien überhaupt nur ein Dutzend Häuser da, und wenn sie die nicht ganz extra hell erleuchteten, wie sollten wir wissen, daß es eine Stadt war. Jim meinte, wo die beiden Ströme (der Mississippi und der Ohio), zusammenkämen, das müsse man doch gewiß sehen. Das schien mir gar nicht so sicher, denn wir konnten uns leicht einbilden, die Spitze einer Insel zu passieren und im Fahrwasser des alten Stromes zu sein. Dieser Gedanke beunruhigte Jim – und mich nicht minder. Was also tun? Ich schlug vor, daß ich ans Ufer fahre, sobald sich ein Licht zeigt, und sage, mein Alter käme nach mit seinem Warenschiff, wisse aber nicht recht Bescheid hier in der Gegend und wie weit’s wohl noch nach Kairo sein könne. Jim hielt die Idee für ausgezeichnet; wir rauchten drauf noch eine Pfeife und hielten dabei Ausschau.

Etwas anderes, als ordentlich die Augen offen zu halten, konnten wir im Moment nicht tun. Es galt, die Stadt zu sehen und nicht blind an ihr vorüberzufahren. Jim meinte, er sehe sie ganz sicher, denn im Augenblick, wo er sie sehe, sei er ein freier Mann, ein freier Nigger! Vorbeifahren hieße wieder in die Sklaverei gehen, nur über den Ohio könne er zur Freiheit gelangen, sonst sei’s aus und vorbei. Alle paar Augenblicke schnellte er auf: »Da sie sein!«

Aber niemals war’s wirklich so. Einmal war’s ein Irrlicht, dann ein paar Leuchtkäfer, die er für Lichter der Stadt hielt. Seufzend setzte ersieh wieder hin, um geduldig weiter auszuschauen. Es mache ihn ganz zitterig und fieberig, sagte der arme Kerl, der Freiheit nun so nahe zu sein. Mich machte es auch zitterig und fieberig, aber ganz was andres. Mir kam’s plötzlich durch den Kopf, daß Jim jetzt ja schon so gut wie frei sei – und wer war daran schuld? – Ich! Ich, ich – Huck Finn – verhalf einem Nigger dazu, seinem Herrn durchzubrennen! Zur Zeit der Sklaverei war das ein höchst strafbarer Frevel. Zum allererstenmal in der ganzen langen Zeit, die ich mit Jim zusammengewesen, wurde mir so recht klar, was ich eigentlich tat. Mir wurde siedend heiß bei dem Gedanken. Ich suchte mich bei mir selbst zu entschuldigen, ich war ja eigentlich gar nicht zu tadeln, ich hatte ja Jim nicht davonlaufen heißen von seiner rechtmäßigen Besitzerin! Das half mir aber nichts. Allemal regte sich wieder das Gewissen und sagte: Aber du hast ihm geholfen auf der Flucht und härtest doch nur ans Ufer zu rudern und jemandem davon zu sagen brauchen. Wahrhaftig, so war’s – da half keine Ausrede. Das gab mir einen Stich. Und weiter bohrt das Gewissen: Was hat dir denn Miss Watson getan, Huck Finn, daß du mit ansehen kannst, wie ihr einziger Nigger ihr sozusagen unter der Nase durchgeht, ohne daß du ein Sterbenswörtchen sagst? Was hat dir das arme, alte Ding getan, daß du ihr den Streich spielst, was? Sie wollte dich doch lesen lehren, wollte dir Anstand beibringen, wollte dein Bestes, so gut sie’s verstand! Das ist’s, was sie dir getan hat, Huck – Huck Finn!

Mir war so erbärmlich, so elend zumute, daß ich wünschte, ich wäre tot. Ich rannte hin und her und machte mich immerzu in Gedanken vor mir selber schlecht, und Jim rannte mit, immer an mir vorbei. Keiner konnte ruhig bleiben. Jedesmal, wenn er wieder auffuhr: »Das sein Kairo!« ging es mir wie ein Schuß durchs Herz, und ich dachte, wenn’s wahr wäre, würde ich sterben vor Schreck. Jim sprach immer laut vor sich hin, während ich’s mit mir selber leise abmachte. Wenn er erst frei wäre – sagte er –, wolle er schaffen wie ein Pferd und sparen, sparen, bis er sein Weib loskaufen könne, das zu einer Farm in der Nähe von Miss Watson gehörte. Dann wollten sie beide für die Kinder sparen, und wenn ihr Herr diese nicht gegen Geld und gute Worte an sie abtreten wolle, so werde er irgendeinen Ablitionisten bitten, sie zu stehlen.

Mir gefror das Mark in den Knochen, als ich das Zeug hörte. Vorher hätte er nie, nie gewagt, so etwas je zu äußern. Wie doch der Gedanke, jeden Augenblick frei sein zu können, sein ganzes Wesen verändert hatte! Das alte Sprichwort hatte eben recht: ›Gib ’nem Nigger den kleinen Finger, und er nimmt die ganze Hand!‹ Denk‘ ich, das kommt davon! Hast du einem Nigger geholfen davonzulaufen, und, kaum am Ziel, sagt er dir ganz naiv und unverfroren, er wolle seine Kinder stehlen – Kinder, die einem Mann gehören, den ich nicht einmal kenne, der mir nie was zuleid getan hat!

Ich bedauerte, daß Jim dergleichen sagen konnte, es setzte ihn so tief herab in meinen Augen. Mein Gewissen rumorte in mir toller als je, bis ich ihm zuletzt zuflüstre: »Sei still, es ist ja noch nicht zu spät, sowie ich das erste Licht sehe, gehe ich ans Ufer und zeig’s an.« Danach war ich ruhig und zufrieden und fühlte mich so leicht wie eine Feder. Alles, was mich gequält, war mit einemmal verschwunden und wie weggeblasen. Ich spähe nach einem Licht aus und sing‘ mir dabei was vor.

Da zeigt sich eins und Jim schreit: »Sein gerettet, Huck, sein gerettet! Spring un sei froh, das sein gute, alte Kairo, endlich, endlich! Jim weiß ’s, Jim fühlt’s! Müssen sein Kairo! Gute, alte Kairo!«

Sag‘ ich: »Will doch lieber das Boot nehmen, Jim, und nachsehen, es könnt‘ am Ende doch nicht wahr sein!«

Er springt nach dem Boot, hat’s im Nu flott gemacht, legt mir noch seinen alten Rock auf die Bank, um den Sitz bequem zu machen, drückt mir das Ruder in die Hand und jauchst, indem ich abstoße: »Alte Jim bald wird singen vor Freud! Wird er sagen: Alles, alles danken Huck! Jim sein freie Mann, wären nie nix gewesen freie Mann ohne Huck, gute, alte, treue Huck! Jim nix vergessen das, Huck! Huck Finn sein arme, alte schwarze Nigger seine beste Freund, sein alte Jim seine einzigste Freund!«

Und ich war eben im vollen Begriff, ihn zu verraten, um mein Gewissen zu beruhigen! Als er so zu mir redete, wurde ich weich wie ein Waschlappen, das Ruder schien mir wie Blei so schwer, und ich wußte nicht, soll ich mich freuen, daß ich abgefahren bin, oder nicht. Wie ich eine kleine Strecke weit entfernt bin, ruft Jim mir noch nach: »Da du gehen hin, alte, treue Huck! Einzigste weiße Mann, was hat nix gelogen mit arme, alte Jim! Gute, treue Huck!«

Mir war ganz elend zumut, ich sagte mir aber: Du mußt’s und mußt’s tun, da gibt’s keinen Ausweg, kannst dich nicht drum herumdrücken! Gerade in dem Moment kommt ein Nachen daher mit zwei Männern drin; sie halten an und ich auch.

Sagt der eine: »Was ist das dort?«

»Ein Stück Floß«, sag‘ ich.

»Gehörst du drauf?«

»Ja!«

»Sonst noch wer drauf?«

»Noch einer!«

»Es sind fünf Nigger durchgebrannt, da drüben von der Farm gerade an der Flußbiegung da hinten – dort! Ist euer Mann auf dem Floß weiß oder schwarz?«

Ich konnte nicht gleich antworten. Die Worte schienen mir in der Kehle kleben zu bleiben. Ein oder zwei Sekunden lang wollte ich Mut fassen und alles gestehen, war aber nicht Manns genug dazu – mir war nicht für einen Cent Courage geblieben! Als ich fühlte, wie ich weich wurde, gab ich denn auch gleich nach, wehrte mich nicht lang und fahre nur so heraus: »Weiß ist er!«

»Na, wollen doch lieber selber nachsehen!«

»Das war‘ mir sehr recht«, sag‘ ich, »denn der dort ist mein Alter. Ihr könntet mir vielleicht dann gleich helfen das Floß ans Ufer zu bringen. Er ist nicht ganz wohl, der Alte, und Mutter auch nicht und Annemarie!«

»Oh, geh zum Kuckuck, Junge, wir haben Eile. Doch – na schneid nur kein Gesicht, werden’s wohl tun müssen, soll ja doch immer ein Christenmensch dem andern helfen! Na, denn mal los, komm, vorwärts, schnell! Haben keine Zeit zu verlieren!«

Sie griffen nach den Rudern und ich auch, und als wir ein paarmal ausgezogen hatten, sag‘ ich: »Vater wird euch so dankbar sein! Jeder, den ich bis jetzt gebeten habe, mir zu helfen, ist davongelaufen, und allein kann ich das Floß nicht ans Land bringen.«

»Na, das ist aber recht scheußlich! Merkwürdig auch! Sag, Junge, was ist denn eigentlich los mit deinem Vater?«

»Nichts – nicht viel – er hat nur – ach – eigentlich gar nicht viel gar nichts!«

Sie hielten plötzlich an; wir waren nicht mehr weit vom Floß entfernt.

Sagt der eine: »Junge, du lügst! Was ist los mit deinem Vater? Schnell heraus damit, ohne Flunkern, es ist besser für dich!«

»Ich will’s ja gestehen, wahrhaftig, ich will’s, ihr Leute, aber laßt uns nicht stecken, bitte, bitte! Es sind die – die – ach, wenn ihr nur vorrudern wolltet, dann könnte ich euch die Leine zuwerfen und ihr müßtet gar nicht nahe kommen!«

»Halt an, John, zurück!« schreit der eine, und sie wenden in plötzlicher Hast. »Halt dich weg, Junge, dort nach rechts! Hol’s der Henker, ich glaub‘ der Wind bläst gerade vom Floß auf uns her! Dein Vater, Junge, hat gewiß die Blattern, und du weißt’s auch ganz gut! Warum hast du’s nicht ehrlich und offen gesagt, sondern fährst da herum und bringst andre ehrsame Leute in Gefahr?«

»Ach«, stotter‘ ich und fang‘ an zu schluchzen, »ich hab’s ja vorher immer gesagt, und da ist jeder weggelaufen!«

»Armer Tropf! Du hast so unrecht nicht. Ja, siehst du, du tust uns leid, aber die Blattern – weißt du, das ist so eine Sache! Ich will dir mal sagen, wie du’s anfängst. Das Landen mußt du nicht probieren, das bringst du allein nicht fertig, ohne daß alles zuschanden geht. Treib also nur ruhig weiter, noch so ein paar Stunden, bis du zu einer Stadt kommst am linken Ufer. Bis dorthin ist dann die Sonne schon lang herauf, und wenn du Hilfe holst, sagst du, deine Leute hätten das Fieber. Sei nicht wieder solch‘ ein Narr und laß dir’s anmerken, was eigentlich los ist. Es würde dir auch gar nichts helfen, da drüben bei dem Licht anzulegen, das ist nur ein Zimmerplatz. Sag einmal, gelt, dein Vater ist recht arm und jetzt recht schlimm dran? Da – ich leg dir ein Zwanzigdollarstück auf das Brett, das fängst du dann auf, wenn’s an dir vorbeitreibt. Mir kommt’s scheußlich vor, daß wir dich so stecken lassen, armer Kerl, aber die Blattern, siehst du, das ist keine Kleinigkeit!«

»Wart mal, Parker«, ruft der andre, »da sind auch zwanzig Dollar von mir. Leg’s dazu auf’s Brett. Na, leb wohl, Junge, mach’s nur, wie der Parker dir’s gesagt hat, dann wird schon alles recht werden!«

»Das denk‘ ich auch, mein Junge, na, leb wohl, leb wohl! Wenn du was von den Niggern siehst, mach, daß du Hilfe kriegst und faß sie ab, da ist Geld dabei zu verdienen, viel Geld!«

»Schönen Dank, ihr Herren, schönen Dank! Wenn ich die Nigger kriegen kann, soll’s mir lieb sein, wollt‘, ’s wär‘ so, könnt’s brauchen und Vater auch!«

Fort waren sie, und ich ruderte zum Floß zurück, fühlte mich elend und erbärmlich, wußte wohl, wie unrecht ich getan, aber bei mir lohnt’s sich schon nicht mehr der Mühe, probieren zu wollen, anders und besser zu werden. Das muß man von Kind auf gewöhnt sein, sonst ist man nicht fest genug drin, und wenn man einmal in der Klemme sitzt, so ist man nicht stark genug sich herauszuziehen, sondern bleibt allemal drin hängen. Ich hatte eben wieder nicht einmal den Mut gehabt, das Rechte zu tun, wie andere ehrliche, brave Menschen! Dann denk‘ ich aber wieder, wenn du nun recht gehandelt hättest und den alten Jim verraten, wär‘ dir dann wohl jetzt besser zumut? Nein, sag‘ ich, nein, dann wär’s geradeso schlimm. Und, denk‘ ich, wozu besser werden und recht tun, wenn man davon nur Mühe hat, vom Unrechten aber keine, und der Lohn derselbe ist? Da saß ich fest! Eine Antwort konnte ich mir hierauf nicht geben. Wollt‘ mich auch nicht weiter damit plagen, sondern beschloß, in Zukunft immer das zu tun, was mir gerade am besten paßte – Recht oder Unrecht, einerlei!

Ich ging in die Hütte, Jim war nicht drin, ich stöberte jeden Winkel durch, er war nirgends.

Ruf ich: »Jim!«

»Hier sein Jim, Huck! Sein Männer ganz weg? Du nix reden laut!«

Er war im Wasser unter dem Steuerruder und guckte nur mit der Nase hervor. Als ich ihm sagte, sie seien schon weit weg, kroch er heraus und kam an Bord.

Sagt er: »Jim alles hören, Huck, alles, un Jim springen in die Wasser, um zu schwimmen an die Land, wenn Männer kommen. Dann Jim wollen schwimmen zurück, wenn Männer sein weg. Aber, Huck, du sie haben wundervoll angeführt! Sein gewesen die beste Streich, die Jim haben gehört all seine Leben! Ach, herrjemine, Huck, du haben Jim gerettet, Jim das wohl wissen, du haben Jim wieder gerettet, Jim das nie nix vergessen!«

Dann berieten wir uns über das Geld. Zwanzig Dollar für jeden von uns war nicht schlecht! Jim meinte, damit könnten wir, Gott weiß wie weit, Passage nehmen auf einem Ohio-Boot und behielten gewiß noch ein gutes Teilchen übrig, um drüben in den freien Staaten ein neues Leben zu beginnen. Noch ein paar Stunden weiter auf dem Floß zu bleiben, sagte er, sei nicht lang, aber er wollte doch, sie wären vorüber.

Gegen Tagesanbruch legten wir an, und Jim war diesmal ganz besonders drauf bedacht, das Floß gut zu verbergen. Dann beschäftigte er sich den ganzen Tag über damit, unsre Sachen in Bündel zu packen, um zum Verlassen des Bootes fertig zu sein.

Gegen zehn Uhr am andern Abend kamen endlich die Lichter einer Stadt am linken Ufer in Sicht.

Ich stieß im Boot ab, um Erkundigungen einzuziehen. Bald fand ich auch einen Mann in einem Nachen, der eine Leine auswarf.

»Ist das Kairo dort?« frag‘ ich.

»Kairo? Nein. Ich glaub‘, du bist nicht recht gescheit!«

»Wie heißt denn die Stadt?«

»Wenn du’s wissen willst, geh hin und frag! Wenn du noch eine Minute lang mir hier die Fische verjagst mit deinem dummen Gefrag, geb‘ ich dir was, nach dem du nicht verlangt hast!«

Ich also wieder zum Floß zurück. Jim war schrecklich enttäuscht, ich aber tröstete ihn und meinte, Kairo käme gewiß jetzt erst.

Vor Tagesanbruch noch kamen wir an einer andern Stadt vorbei, und ich wollte eben hin und fragen. Da sagte Jim, die Ufer seien zu steil, Kairo liege flach, das wisse er; so blieb ich denn. Wieder bargen wir unser Floß für den Tag. Allmählich dämmerte mir eine Ahnung, Jim desgleichen. Sag ich: »Jim, ich glaub‘, wir sind am Ende letzte Nacht im Nebel an Kairo vorübergefahren!«

Antwortet er: »Wir nix wollen reden mehr davon. Arme Nigger können nix haben Glück! Jim immer denken, Schlangenhaut von Insel hören noch nix auf zu bringen Unglück!«

»Wollt‘, ich hätt‘ die verd- Haut nie gesehen, Jim!«

»Sein nix deine Schuld, Huck, du nix konnten wissen von Schlangenhaut-Unglück!«

Als es Morgen wurde, sahen wir deutlich, wie sich das klare Ohio-Wasser mit dem schmutzigen Gelb des Mississippi mengte. Nun war’s also aus und vorbei, war verpaßt, soviel war sicher! An ein Zurückgehen, an ein Stromaufwärtsfahren mit dem Floß war nicht zu denken, es blieb uns nur übrig, unser Heil im Boot zu probieren. Im Augenblick ließ sich nichts anderes tun, als die Nacht abzuwarten. So schliefen wir denn den ganzen Tag im Weidendickicht, um uns fürs Kommende zu stärken, und als wir gegen Abend zum Floß gingen, war das Boot, unsre letzte Hoffnung – fort! Losgerissen, fortgeschwemmt von der Strömung!

Lange, lange sagten wir kein Wort, wir wußten, daß die Schlangenhaut nochmals dabei im Spiel gewesen war. Was ließ sich da also sagen? Das hätte am Ende nur noch mehr Unglück heraufbeschworen; es war daher das beste, geduldig stillzuhalten! –

Dann berieten wir uns, was wir nun anfangen wollten, und fanden, daß es ratsam sei, ruhig im Floß weiterzutreiben, bis wir uns einmal irgendwo ein Boot verschaffen, das heißt kaufen könnten. Auf meines Alten Art eins zu leihen, kam uns nicht in den Sinn, man hätte uns am Ende dabei fassen können.

Also vorwärts auf dem Floß und gute Miene zum bösen Spiel gemacht! Nach Einbruch der Dunkelheit setzten wir denn auch unsern Weg fort.

Wer bis jetzt vielleicht noch nicht fest an das Unglück geglaubt hat, das das Anfassen einer Schlangenhaut bringt, der wird’s nun unfehlbar tun, wenn er hört, wie es uns weiter ergangen!

Nirgends konnten wir eine Gelegenheit entdecken, uns ein Boot zu verschaffen, soviel wir auch ausspähten. Sonst begegnet man doch immer Flößen oder dergleichen, die ein übriges Boot haben und es gerne abgeben, aber nein, wir sollten kein Glück haben! Die Nacht wurde schwärzer und schwärzer, es war beinahe so schlimm wie Nebel, man konnte die Hand kaum vor den Augen sehen, geschweige denn den Strom überblicken. Allmählich war’s spät geworden und sehr still, und da hören wir ein Dampfboot in der Entfernung heranbrausen. Wir zündeten unsere Laterne an, damit man uns sehen könne. Wir hörten das Schnauben und Keuchen der Maschine näher und näher, konnten aber erst etwas entdecken, als das Ungetüm schon ganz dicht bei uns war und wir merkten, daß es direkt auf uns lossteuerte. Das tun die großen Dampfer manchmal, um zu zeigen, wie geschickt sie im Lenken des Kolosses sind. Wenn sie nun so dicht an einem vorbeistreifen und das Rad ein Ruder faßt und abknackst, da streckt dann wohl der Steuermann lachend den Kopf heraus und meint wunder welche Heldentat er vollbracht hat. Wir dachten, sie wollten das auch bei uns probieren und waren selbst voller Erwartung, wie es gelingen würde. Das Ungetüm kam aber näher und näher, furchtbar schnell, und sah aus wie eine dicke, pechschwarze Wolke mit kleinen Glühwürmchen gespickt. Und ehe wir uns nur besinnen konnten, glühten schon dicht über uns die weitoffenen Luken des Maschinenraums wie feurige Schlünde, bereit, uns zu verschlingen. Man schrie uns zu, gellendes Pfeifen ertönte, Dampf zischte und qualmte, Jim wälzte sich von der einen, ich von der anderen Seite über Bord, und im selben Moment krachten und splitterten die Planken unseres Floßes, in Fetzen gerissen, auseinander.

Ich tauchte unter und suchte möglichst auf den Grund zu kommen, um das Rad des Dampfers, das über mich wegrauschte, nicht zu genieren. Eine Minute hab‘ ich’s immer unter Wasser aushalten können, diesmal blieb ich wohl anderthalb, aber dann schoß ich auch nur so nach oben, sonst wäre ich im nächsten Moment geborsten. Als ich bis an die Schultern wieder an der Luft war, blies ich erst das Wasser aus den Nüstern und prustete und keuchte mich zurecht. Vom Dampfer konnte ich nichts mehr sehen in der argen Finsternis, hörte nur noch das Schnauben und Stampfen und fühlte die wilden Wellen. Man hatte nach ein paar Sekunden Aufenthalt die Maschine wieder in Gang gesetzt und dampfte nun davon, ohne sich weiter um das elende kleine Floß zu kümmern.

Ich rief nach Jim, wieder und wieder, aber vergebens. Weiß Gott, was aus dem armen Kerl geworden war! Eine Planke trieb auf mich zu, ich faßte sie und ließ mich eine Weile treiben, um zu ruhen und nach Jim auszuspähen. Ich konnte aber nichts entdecken, vielleicht war er doch dem Ufer zugeschwommen. Die Strömung trieb nach der linken Seite, so überließ ich mich ihr, in der Hoffnung, daß Jim es ebenso machte, und so erreichte ich denn auch nach einiger Anstrengung sicher das Ufer.

Hier lief ich hin und her und schrie: »Jim, Jim!« Aber kein Jim war zu hören und zu sehen, und endlich fiel ich todmüde und elend an einem Baum zu Boden und weinte mich in Schlaf – mir war gar so einsam und allein zumute! So öde – so verlassen von aller Welt!

17. Kapitel

Jim findet sich wieder – Floß zurückgewonnen – Neue Kameraden! – Der Herzog von Somerset – Königliches Schicksal – Eine Gebetsversammlung – Der Wolf unter den Schafen

17. Kapitel

Als ich am andern Morgen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Ich brauchte ein paar Augenblicke, bis ich mich auf die Abenteuer der letzten Nacht besinnen konnte. Ich richtete mich auf und sah mich um, meinte, ich müsse Jims altes, treues, breites Gesicht irgendwo aus dem hohen Ufergras auftauchen sehen, aber nichts regte sich – ich rief, ein-, zweimal – alles blieb still. Da erhob ich mich mühsam und schlich mich, elend, zerschlagen und ganz mutlos, flußabwärts dem Ufer entlang. Das Wasser behielt ich scharf im Auge, vielleicht konnte ich doch wenigstens seine Leiche – ich meine Jims Leiche – entdecken und so Gewißheit darüber erlangen, was aus dem armen Kerl geworden war. Da ich nichts zu essen hatte, rebellierte mein Magen sehr gegen die weitere Entdeckungsreise am einsamen Fluß. Der Hunger hätte mich weit lieber landeinwärts, bewohnten Gegenden zu getrieben; ich aber konnte Jim nicht ohne weiteres aufgeben. Lange, lange schlenderte ich so hin, ohne das geringste zu entdecken. Ziemlich weit vor mir sah ich den Wald in scharfem Bogen bis zum Wasser hin reichen. Denk‘ ich, bis dahin gehst du noch, und ist Jim dort auch nicht, so hat ihn richtig die Schlangenhaut ins Unglück gebracht. Entweder ist er dann ertrunken oder aber am Ufer Leuten in die Hände gefallen, die ihn für einen der durchgebrannten Nigger gehalten und ihn festgenommen haben. So schlepp‘ ich mich denn noch weiter, immer auf den Wald zu. Das Ufer griff dort landzungenartig in den Fluß hinein, so daß man einen freien Ausblick auf das Wasser haben mußte. Endlich bin ich dort und schau mich um und – was seh‘ ich? Von Jim nichts, aber – einen Teil von unsrem Floß, dem guten, alten Floß, und zwar den größeren, mit der Hütte drauf. Die war nun freilich etwas zusammengerissen, der Dampfer war haarscharf daran hingestreift:, aber sie stand doch noch. Ich wußte gar nicht, wie mir war! Ich sank fast in die Knie vor freudiger Erregung und mußte auf allen vieren drauf zukriechen. Wie ich näher komm‘, seh‘ ich, daß das Ding sogar mit einem Seil am Ufer festgemacht ist und nicht, wie ich dachte, zufällig dort hängengeblieben war. Das macht mich stutzig! Vorsichtig kriech‘ ich näher und schiel‘ erst einmal durch einen Spalt in die Hütte hinein. Und richtig – leer war sie nicht. In der einen dunklen Ecke liegt’s wie ein großer Klumpen zusammengeballt, und jetzt regt es sich – Arme und Beine und ein schwarzer Wollkopf hebt sich und – weiß Gott, ich glaub, ich hab‘ laut aufgeschrien, und dann muß ich geweint haben wie ein kleines Kind, denn als ich dann wieder zu mir kam, hielt mich Jim in den Armen, und mein Gesicht war ganz naß von Tränen und seines auch. Wer von uns beiden sie aber geweint hat, weiß ich nicht recht. – Dann setzten wir uns zusammen, und ich sprudelte und stammelte alle meine Angst, meinen Kummer und meine Verzweiflung hervor, die mich diesen Morgen beim Aufwachen gepackt hatte.

Dann erzählte Jim: »Huck, Herzensjung‘, weißt du, wie sein kommen Dampfer und sein kommen so ganz schrecklich nah, Jim denken, das beste wäre, sich ins Wasser zu rollen. Jim ’s tun un bleiben lang unten, kommen dann mal rauf, hören noch Schiff un gehen gleich wieder nunter. So noch mal un noch mal. Denken, wollen nix gleich fortschwimmen, wollen erst mal sehen nach gute alte Floß. Un wie Jim dann wieder rauf kommen, Jim sehen dicke schwarze Schiffsklumpen schon weit weg un kleine schwarze Klumpen hinter sich. Er schwimmen auf kleine schwarze Klumpen zu, weil er denken, holla, sein am Ende Floß, un richtig, wie er kommen hin, sein warraftig diese Stück Floß, un sein alte gute Hütte noch da un gar nix viel fort. Jim also rein in Hütte.«

»Hast du mich denn gar nicht rufen hören, Jim?« frag‘ ich, habda drüben am Ufer so schrecklich nach dir gebrüllt!«

»Jim gar nix hören, sein zuviel weit weg! Jim immer denken, Huck sein gewiß am Ufer mit Strömung, un die sein links; so Jim auch kommen links mit Floß un finden Huck dann am Morgen. Un so sein’s dann auch gewesen!«

Ja, so war’s gewesen, Gott sei Dank! Da waren wir drei denn wieder beisammen. Jim und das Floß und ich. Keine Schlangenhaut hatte uns was anhaben können; aber viel drüber reden taten wir lieber nicht! Jim machte mir ein Frühstück zurecht, und ich ließ mir’s köstlich schmecken. Danach machten wir uns an die Ausbesserung unsres Floßes, das fast um die Hälfte kleiner geworden war, aber doch immerhin noch reichlich Raum bot. Vor Abend waren wir fertig damit, und nun konnte das alte Leben wieder losgehen. Als es Nacht wurde, stießen wir vom Ufer; sobald wir weit genug waren, ließen wir das Floß treiben, wie es die Strömung wollte. Dann steckten wir unsere Pfeifchen an, ließen unsere Füße ins Wasser hängen und schwatzten über allerlei. Manchmal hatten wir für längere Zeit den Strom ganz für uns. Drüben waren Ufer und Inseln sichtbar, zuweilen auch ein Licht, gleich einem Fünkchen, das durchs Fenster einer Blockhütte schien – dann und wann auch ein ähnlicher Lichtpunkt auf dem Wasser, von einem Floß oder ähnlichen Fahrzeug herrührend, von denen auch mitunter der Ton einer Geige oder ein Liedchen herüberschallte. Es ist lieblich, so auf einem Floß zu leben. Über uns hatten wir den Himmel voller Sterne. Wir lagen oft auf dem Rücken und schauten zu ihnen empor. Dann sprachen wir darüber, ob sie gemacht worden wären oder nur durch Zufall da seien. Jim meinte das erstere, wogegen ich einwendete, daß es zu lange gedauert hätte, so viele zu machen. Er meinte dann, der Mond könnte sie gelegt haben. Das ließ sich eher hören, und so widersprach ich ihm auch nicht, hatte ich doch gesehen, daß ein bloßer Frosch mindestens so viele Eier legen kann. Besonders beobachteten wir die herabfallenden Sterne, und Jim behauptete, es seien die faulen, die aus dem Nest geschmissen würden.

Nach Mitternacht gingen die Uferbewohner zu Bett, und für zwei bis drei Stunden waren die Ufer schwarz – kein Fünkchen mehr in den Blockhausfenstern. Diese Lichtpunkte waren unsere Uhr. Die ersten, die sich wieder zeigten, bedeuteten die Ankunft des Morgens, dann suchten wir einen Schlupfwinkel auf einer kleinen Insel und legten an, wo’s am besten ging.

Eines Morgens bei Tagesanbruch fand ich ein Kanu und fuhr damit von der Insel zum Ufer, dann etwa eine Meile unter Zypressen einen kleinen Fluß hinauf, um zu sehen, ob ich nicht einige Beeren pflücken könnte. Als ich an einem Ort vorüberkam, wo ein Kuhpfad den Fluß berührte, rannten zwei Männer herbei. Ich dachte schon, daß mir’s nun an den Kragen gehen würde, denn ich fürchtete, sie wären hinter mir und Jim her. Ich wollte schon umkehren, sie waren aber ganz nahe und baten mich, ihnen das Leben zu retten; sie hätten nichts getan, würden trotzdem verfolgt und Männer mit Hunden wären hinter ihnen her. Sie wollten gleich zu mir in den Nachen springen, aber ich sagte: »Tut’s ja nicht. Ich höre weder Pferde noch Hunde. Ihr habt Zeit, durchs Gebüsch etwas stromauf zu gehen, dann watet durchs Wasser zu mir – das lenkt die Hunde von der Fährte ab.«

Sie taten’s, und als ich sie im Kanu hatte, ging’s rasch nach unserm Floß. Nach ungefähr fünf Minuten hörten wir Hunde und Männer in der Ferne lärmen. Sie schienen an den Fluß zu kommen – sehen konnten wir sie nicht – und dort eine Zeitlang herumzulungern. Wir machten uns aus dem Staube, bis wir sie zuletzt nicht mehr hörten. Als wir aus dem Fluß in den Strom liefen, war alles still. Wir erreichten das Floß und versteckten uns für den Tag.

Einer der Kerle war siebzig Jahre alt oder mehr, hatte einen kahlen Kopf und grauen Vollbart. Er trug einen zerknitterten alten Filz, ein schmutziges baumwollenes Hemd, zerfetzte blaue Hosen in seine Stiefel gestopft und gestrickte Hosenträger – oder vielmehr nur einen. Er trug auf dem Arm einen alten blauen Rock mit Messingknöpfen, und beide Kerle hatten große vollgepfropfte Reisesäcke.

Der andere war etwa dreißig Jahre alt und war etwas besser gekleidet.

Nach dem Frühstück machten wir’s uns bequem und plauderten; dabei stellte es sich gleich heraus, daß die beiden einander fremd waren.

»Was hat dich in die Klemme gebracht?« fragte der Kahlkopf den andern Patron.

»Nun, ich verkaufte einen Stoff, der den Weinstein von den Zähnen nimmt, und die Zahnglasur gewöhnlich auch. Ich blieb eine Nacht länger in dem Städtchen, als mir zuträglich war, und machte mich eben davon, als ich dir über den Weg lief und du mir sagtest, man sei hinter dir her und ich möchte dir helfen. Da sagte ich dir, daß mir’s ähnlich ginge und wir zusammenhalten könnten – das ist die ganze Geschichte – was ist deine?«

»Nun ja, ich hielt eben dort Versammlungen zur Förderung der Mäßigkeit, etwa eine Woche lang, und war der Liebling des schönen Geschlechts: jung und alt, und verdiente nebenbei fünf bis sechs Dollar den Abend; zehn Cents die Person, Kinder und Neger frei. Das Geschäft ging täglich besser. Da verbreitete sich gestern abend irgendwie das Gerücht, daß ich eine Privatflasche bei mir trüge, der ich insgeheim fleißig zuspräche. Ein Neger weckte mich heute früh und sagte mir, daß sich die Leute in aller Stille sammelten und vorhätten, mich mit Hunden und Pferden zu hetzen, nachdem sie mir eine halbe Stunde Vorsprung gegeben, und, wenn meiner habhaft, mich mit Teer und Federn zu überziehen und auf einem Zaunpfahl reiten zu lassen. Ich wartete nicht aufs Frühstück – der Hunger war mir vergangen.«

»Alter«, sagte der Jüngere, »wir geben ein gutes Doppelgespann ab; was meinst du dazu?«

»Ich bin nicht abgeneigt. Was ist dein Geschäft – hauptsächlich?«

»Bin von Haus Buchdrucker; mache etwas in Patentmedizinen; bin Schauspieler, besonders im Trauerspiel; tue auch gelegentlich etwas in Mesmerismus und Phrenologie; zur Abwechslung halte ich Schule, besonders Singen und Geographie; lasse wohl auch einmal einen Vortrag vom Stapel. Oh, ich verstehe mich auf vielerlei – fast auf alles, was mir unter die Hand kommt, nur darf es keine schwere Arbeit sein. Wie steht’s mit dir?«

»Am meisten hab‘ ich in meinem Leben wohl gedoktert. Das Händeauflegen gelingt mir am besten, bei Krebs, Lähmung und dergleichen; auch versteh‘ ich mich ziemlich gut aufs Wahrsagen, wenn ich jemand finde, der mich vorher mit den nötigen Tatsachen versorgt. Predigen schlägt auch in mein Fach, besonders bei Bekehrungs-Versammlungen im Freien. Ich kann überhaupt gut herum missionärieren

Für eine Weile sprach keiner, dann seufzte der Jüngere tief auf und schloß mit einem: »Ach!«

»Na, worüber lachst du?« rief der Kahlkopf.

»Oh, daß ich solches Leben führen muß und zu solcher Gesellschaft heruntergekommen bin!« Und er wischte sich einen seiner Augenwinkel mit einem Fetzen.

»Ist dir etwa die Gesellschaft nicht gut genug?« fuhr der Kahlkopf etwas scharf und ärgerlich heraus.

»Ja, sie ist gut genug für mich, so gut wie ich’s verdiene. Wer hat mich so heruntergebracht, nachdem ich so hoch stand? Ich selbst. Ich werfe euch nichts vor, meine Herren – weit entfernt –, niemandem werfe ich etwas vor. Ich bin ganz allein schuld. Mag die kalte Welt ihr Schlimmstes tun, mag das Schicksal ferner mich verfolgen und mir alles entreißen – Freunde, Eigentum, alles –, eines weiß ich: Irgendwo finde ich ein Grab, das kann die Welt mir nicht entreißen, eines Tages werde ich mich niederlegen und alles vergessen, und mein armes gebrochenes Herz wird Ruhe haben.« Und er wischte sich wieder an den Augen herum.

»Potz armes gebrochenes Herz! Warum läßt du es vor uns hier überlaufen? Was können wir dafür?«

»Nein, ihr allerdings nicht. Euch beschuldige ich auch nicht, meine Herren. Ich habe mich selbst heruntergebracht – ja, ich selbst. Es geschieht mir recht, wenn ich leide, ganz recht; ich grolle niemand.«

»Heruntergebracht von wo? Von wo bist du heruntergebracht worden?«

»Ach, ihr würdet mir’s nicht glauben; die Welt glaubt nie. Laßt mich! Es kann euch einerlei sein. Das Geheimnis meiner Geburt –« »Das Geheimnis deiner Geburt? Willst du behaupten …«

»Meine Herren«, sagte der junge Mann feierlich, »ich will es euch enthüllen, denn ich fühle, daß ich euch vertrauen darf. Von Rechts wegen bin ich ein Herzog!«

Jims Augen starrten vor Erstaunen, und ich glaube, die meinigen auch. Der Kahlkopf aber sagte: »Unmöglich! Ist das dein Ernst?«

»Ja. Mein Urgroßvater, der älteste Sohn des Herzogs von Somerset, flüchtete in dieses Land gegen Ende des letzten Jahrhunderts, um die reine Luft der Freiheit zu atmen. Er heiratete hier und starb und hinterließ einen Sohn; sein eigener Vater starb fast zur selben Zeit. Dessen zweiter Sohn bemächtigte sich des Titels und der Güter; der wirkliche Erbprinz wurde ignoriert und dessen Nachkomme in gerader Linie bin ich – ich bin der rechtmäßige Herzog von Somerset; und nun bin ich verstoßen, meiner hohen Stellung beraubt, von Menschen gehetzt, zerlumpt, elend, und herabgewürdigt zu einer Gesellschaft Entlaufener auf einem Floß!«

Jim bedauerte ihn sehr, ich auch. Wir versuchten ihn zu trösten, aber er sagte, es wäre nutzlos, denn er sei untröstlich; doch wenn wir ihn als Herzog anerkennen wollten, so wäre das für ihn eine kleine Entschädigung. Wir wollten ihm den Gefallen gern tun, wenn er uns nur sagte wie. Er meinte, wir sollten uns verbeugen, wenn wir ihn anredeten, und zwar mit den Worten Ihro Gnaden oder Hoheit oder auch Mylord und er hätte auch nichts dagegen, wenn wir ihn einfach Somerset nennen, denn das wäre eigentlich mehr ein Titel als ein Name; und einer von uns solle ihn bei Tische bedienen und ihm überhaupt kleine Dienstleistungen erweisen.

Nun, das hatte ja nichts auf sich, und wir waren willens. Während der Mahlzeit bediente Jim ihn mit: ›Ihro Gnaden wünschen dies oder das?‹ und so weiter, und man konnte sehen, daß es ihm gefiel.

Aber der Alte wurde allmählich schweigsam, hatte wenig zu sagen und sah aus, als ob ihm dieser Herzogkultus nicht recht gefiele. Ihn schien innerlich etwas zu wurmen. Am Nachmittag fing er folgendermaßen an:

»Hör mal, Sommerfett«, sagte er, »du tust mir verdammt leid, aber du bist nicht der einzige, der so etwas durchgemacht hat.«

»Nicht?«

»Nein, du bist nicht die einzige Person, die ungerechter Weise aus ihrer Höhe herabgerissen worden ist.«

»Ach!«

»Nein, du bist nicht die einzige Person, die ein Geburtsgeheimnis hat.« – Und der Alte fing zu weinen an.

»Halt, was meinst du damit?«

»Sommerfett, darf ich mich dir vertrauen?« sagte der Alte noch schluchzend.

»Bis zum bittren Tode!« Der Herzog ergriff bei diesen Worten des Alten Hand, drückte sie und sprach: »Vertrau mir das Geheimnis deines Daseins, wie ich dir das meinige vertraute. Rede!«

»Sommerfett – ich bin der Dauphin!«

Jim und ich starrten vor Erstaunen. Dann rief der Herzog: »Du bist was?«

»Ja, mein Freund, es ist nur zu wahr – deine Augen schauen in diesem Moment auf den armen verschollenen Dauphin: Louis XVII., Sohn Ludwigs XVI. und Marie Antoinettens.«

»Du? In deinem Alter? Nein! Du meinst wohl, du bist Karl der Große; du mußt doch mindestens sechs- bis siebenhundert Jahre alt sein.«

»Kummer hat’s getan, Sommerfett, Kummer hat’s getan. Sorgen haben mir das Haupthaar vor der Zeit geraubt und den Bart gebleicht. Ja, meine Herren, ihr seht vor euch, in abgetragenem Zeug und in Elend versunken, den wandernden, verbannten, niedergebeugten und leidenden rechtmäßigen König von Frankreich!«

Er weinte und gebärdete sich so, daß Jim und ich gar nicht wußten, was tun, so leid tat er uns, und zugleich waren wir so froh und stolz, ihn bei uns zu haben. Wir taten denn auch für ihn, wie erst für den Herzog, alles was wir konnten. Aber er sagte, es sei umsonst, nichts als der Tod könne ihn glücklich machen. Und doch meinte er, sei das Leben etwas erträglicher, wenn Menschen ihn nach seinem Rechte behandelten, ein Knie beugten, wenn sie mit ihm sprächen, ihn mit Majestät anredeten, ihm bei der Mahlzeit aufwarteten und sich nicht setzten, bis er es ihnen erlaubte. So schickten Jim und ich uns an, ihn zu bemajestäten, dies und das und jenes für ihn zu tun und zu stehen, bis er uns zum Sitzen aufforderte. Das tat ihm wohl, und er machte sich’s bequem. Aber dem Herzog schien das nicht zu gefallen, er schien mit der Sachlage sehr unzufrieden. Doch der König behandelte ihn recht freundlich und sagte, des Herzogs Urgroßvater und alle andern Herzoge von Sommerfett wären von seinem Vater stets hochgeschätzt und in seinem Palast recht willkommen gewesen; doch der Herzog blieb lange brummig, bis der König sagte: »Wir werden wahrscheinlich eine verdammt lange Zeit auf diesem Floß zusammen sein müssen, Sommerfett, und was nützt es, so traurig zu sein? Man macht sich’s dadurch nur ungemütlich. Es ist nicht meine Schuld, daß ich nicht als Herzog, und nicht deine, daß du nicht als König geboren bist – also warum darüber grübeln? Machen wir das beste aus der Lage, in der wir uns befinden, sag‘ ich: Das ist mein Motto. Und genau betrachtet, ist das hier so schlimm nicht – genug zu essen und ein leichtes Leben. Komm, gib mir deine Hand, Herzog, und laß uns Freunde sein.«

Der Herzog tat’s, und Jim und ich waren darüber froh.

Es dauerte nicht lange, und ich war überzeugt, daß diese Kerle weder König noch Herzog, sondern ganz erbärmliche Schufte und Betrüger waren. Aber ich ließ mir nichts merken, sondern behielt’s für mich; es gab dann keinen Streit und Verdruß. Wenn sie wünschten, König und Herzog genannt zu werden, warum nicht? – Wenn es nur Frieden in der Familie gab. Da es nichts nützte, Jim darüber aufzuklären, sagte ich ihm auch nichts davon.

Sie fragten uns nach vielerlei und wollten wissen, warum wir am Tage das Floß versteckten, anstatt weiterzufahren.

»Meine Angehörigen«, erklärte ich, »lebten in Pike County in Missouri, wo ich geboren bin, und sie starben alle außer meinem Papa und meinem Bruder Ike. Papa gab den Haushalt auf, um zu Onkel Ben zu ziehen, der ein kleines Besitztum am Fluß, vierundzwanzig Meilen unterhalb Orleans, hat. Papa war arm und hatte Schulden. Als er alles verkauft und sie bezahlt hatte, war nichts übrig als sechzehn Dollar und unser Neger Jim. Das war nicht genug, uns vierzehnhundert Meilen reisen zu lassen, selbst nicht Zwischendeck. Als der Fluß stieg, hatte Papa eines Tages das Glück, ein Stück von einem Floß aufzufischen; so beschlossen wir, darauf nach Orleans zu fahren. Papas Glück war nicht von Dauer; eines Nachts stieß ein Dampfboot auf die vordere Ecke des Floßes, und wir alle stürzten ins Wasser und tauchten unter das Rad. Jim und ich kamen wieder zum Vorschein; aber Papa war betrunken und Ike nur vier Jahre alt – beide blieben für immer unten. Einige Tage hatten wir viel Ungemach, denn Leute kamen und wollten mir Jim wegnehmen. Sie meinten, er sei ein entlaufener Sklave. So fahren wir jetzt nicht mehr am Tage, nachts lassen sie uns in Ruhe.«

Da sagte der Herzog: »Überlasse es mir, einen Plan auszudenken, der es uns möglich macht, auch bei Tageslicht zu fahren. Ich will mir die Sache überlegen. Heute wollen wir jedoch das Städtchen dort drüben nicht am Tag passieren – es dürfte uns nicht gut bekommen.«

Gegen Abend wurde es früh dunkel, und es sah nach Regen aus; das Wetterleuchten zuckte ringsum, die Blätter begannen zu zittern – man konnte sehen, daß es eine schlimme Nacht geben würde. Der König und der Herzog durchstöberten unser kleines Zelt, um das Bettzeug zu untersuchen. Meins war ein Strohsack, besser als Jim seins, das nur ein mit Maishülsen gefüllter Sack war, und in denen stecken oft Kolben, die einem in die Rippen drücken, und wenn man sich umdreht, rauscht das Zeug wie dürre Blätter und weckt einen auf.

Nun der Herzog meinte, er wolle mein Bett nehmen, doch der König meinte anders und sagte: »Ich sollte meinen, daß der Unterschied in unserm Rang genügt, dir begreiflich zu machen, daß der Maishülsensack nicht geeignet ist, mir als Bett zu dienen. Ihro Gnaden werden ihn für sich selbst nehmen.«

Jim und ich fürchteten jetzt Streit zwischen den beiden und waren recht froh, als der Herzog sagte: »Es ist immer mein Schicksal gewesen, von dem eisernen Absatz der Bedrückung in den Grund getreten zu werden. Unglück hat meinen einst stolzen Sinn gebrochen; ich gebe nach, ich gehorche, es ist mein Schicksal. Ich stehe allein in der Welt – laßt mich leiden; ich kann’s ertragen.«

Wir stießen ab, sobald es dunkel genug war. Der König gebot uns, die Mitte des Stromes zu gewinnen und kein Licht zu zeigen, bis wir das Städtchen weit hinter uns hätten. Bald sahen wir ein kleines Häufchen Lichter – das war das Städtchen – und glitten, eine halbe Meile davon, ganz gut vorbei. Als wir etwa eine Meile unterhalb waren, hißten wir unsere Signallaterne auf; und um etwa zehn Uhr gings los: Regen, Wind, Donner, Blitz – hast du was kannst du! Der König gebot uns beiden Wacht zu halten, bis das Wetter sich aufgeklärt hätte; er und der Herzog krochen ins Zelt und lagerten sich für die Nacht. Meine Wacht dauerte bis zwölf; doch ich hätte mich auch sonst nicht zur Ruhe gelegt, selbst wenn ich ein Bett gehabt hätte, denn solch ein Gewitter sieht man nicht jeden Tag, wahrhaftig nicht. Meiner Seel! Wie der Wind dahinkreischte! Und alle Augenblicke kam ein Lichtstrahl, der den weißen Wellenschaum auf eine halbe Meile ringsum erglänzen ließ. Dann sahen die Inseln wie staubig durch den Regen aus, und die Bäume hieben mit ihren Ästen wild um sich in den Wind; dann kam’s Sch – Krach! – Bum – bum – bumlerumbumbum – und der Donner grollte und rollte und schwieg. Dann fing dieselbe Geschichte wieder von vorn an und so weiter. Zuweilen spülten mich die Wellen fast vom Floß.

Endlich ließ der Sturm nach, und sobald ich das erste Licht am Land erblickte, weckte ich Jim, und wir steuerten zu einem guten Versteckplatz für den Tag.

Nach dem Frühstück holte der König ein altes dreckiges Spiel Karten hervor, und er und der Herzog spielten Sieben auf, zu fünf Cents das Spiel. Als sie dessen müde waren, steckte der Herzog seinen Arm in seinen Reisesack, holte daraus eine Anzahl kleiner gedruckter Anschlagzettel und las laut vor. Auf einem stand: ›Der berühmte Dr. Armand de Montalban aus Paris wird einen Vortrag über Phrenologie halten in … am …‹ (Ort und Datum waren freigelassen) ›Eintritt 10 Cents; Untersuchungen pro Person 25 Cents.‹ Der Herzog sagte: »Das bin ich selbst.« In einem andern Zettel war er ›der weltberühmte Shakespeare-Tragöde, Garrick der Jüngere vom Drury-Lane-Theater, London.‹ In anderen Zetteln hatte er eine Menge anderer Namen und tat andere Wunderdinge, wie zum Beispiel Wasser und Gold mit der Wünschelrute finden, Behexungen besprechen und dergleichen mehr. Nach einer Weile sagte er:

»Aber die histrionische Muse ist meine Wonne. Hast du je die Bretter betreten, Majestät?«

»Nein«, sprach der König.

»Dann, o gefallene Größe, sollst du es tun, eh‘ du drei Tage älter bist«, rief der Herzog. »In dem ersten besten Städtchen, wo wir hinkommen, mieten wir eine Halle und produzieren das Schwertgefecht aus Richard III. und die Balkonszene aus Romeo und Julia. Was sagst du dazu?«

»Ich bin dabei, bis an den Hals hinein, bei allem, wenn sich’s nur bezahlt macht; aber viel verstehe ich nicht vom Schauspielern, hab‘ auch nicht viel davon gesehen. Ich war zu klein, als mein Papa dergleichen in seinem Palaste hatte. Meinst du, daß du mir’s beibringen kannst?«

»Leicht genug!«

»Wohl denn. Ich lechze schon nach was Frischem. Fangen wir nur gleich an!«

So erzählte ihm nun der Herzog ausführlich, wer Romeo war und wer Julia war, und da er selbst immer Romeo gespielt hätte, könnte der König Julia darstellen.

»Aber«, entgegnete der, »wenn Julia ein so junges Mädchen war, so würde mein abgeschälter Kopf und mein weißer Bart bei ihr doch wohl etwas altertümlich erscheinen.«

»Nein, sei unbesorgt; diesen Landkaffern wird das nicht auffallen. Und dann wirst du ja auch verkleidet, das macht einen großen Unterschied. Julia auf dem Balkon freut sich des Mondscheins vor dem Schlafengehen, sie hat ihr Nachtgewand und eine faltenreiche Nachthaube auf. Hier sind die Kostüme.«

Er holte zwei oder drei Kalikodinger hervor und sagte, das seien die mittelalterlichen Rüstungen für Richard III. und den andern Burschen – dann auch ein langes, weißes Nachthemd und eine faltige Nachthaube. Der König war’s zufrieden; dann nahm der Herzog sein Buch und las die Rollen in großartigem Stil vor, wobei er herumsprang und wunderliche Gebärden machte, um zu zeigen, wie gespielt werden müsse; dann gab er das Buch dem König zum Auswendiglernen.

Etwa drei Meilen stromab war ein kleines Städtchen, und nach Mittag sagte der Herzog, es sei ihm eine Idee gekommen, wie man auch bei Tage ohne Gefahr für Jim fahren könne. Er wolle sich erlauben, in das Städtchen zu gehen und alles besorgen. Der König erteilte sich selbst die gleiche Erlaubnis, um zu sehen, ob er dort nicht etwas Profitables ausrichten könne. Wir hatten keinen Kaffee mehr, Jim schlug daher vor, daß ich im Kanu mitginge und welchen besorgte.

Als wir hinkamen, schien alles ausgestorben, als ob es Sonntag wäre. Wir fanden einen kranken Neger, der sich in einem Hof sonnte. Er sagte uns, daß alle, die nicht zu jung, zu krank oder zu alt seien, bei einer öffentlichen Bußfeier wären, etwa zwei Meilen entfernt im Wald. Der König ließ sich die Richtung angeben und beschloß hinzugehen, um aus der Gelegenheit zu machen, was sich machen ließ. Ich durfte mit.

Der Herzog aber sagte, er müsse eine Druckerei ausfindig machen. Wir hatten bald eine entdeckt. Es war ein kleiner Raum über einer Schreinerwerkstatt – Schreiner und Drucker waren alle fort, bei der Versammlung, doch nichts war verschlossen. Der Herzog zog den Rock aus und sagte, er sei jetzt in seinem Element; so schoben denn ich und der König ab und gingen zur Versammlung.

In etwa einer halben Stunde kamen wir schweißtriefend dort an, es war ein schrecklich heißer Tag. Es mochten etwa tausend Menschen aus einem Umkreis von zwanzig Meilen beisammen sein. Der Wald war voller Wagen und Gespanne; die Pferde waren überall angebunden, fraßen aus den Wagentrögen und stampften mit den Hufen, um die Fliegen abzuwehren. Dazwischen hatte man Zelte aufgeschlagen, aus Stangen mit Zweigen bedeckt, unter denen Limonade und Pfefferkuchen, Haufen von Wassermelonen, junger Mais und dergleichen zum Verkauf waren.

Unter ähnlichen Zelten fand auch das Predigen statt, Mark Twain beschreibt hier ein sog. campmeeting, wie diese im Freien abgehaltenen Bußfeiern genannt werden. nur waren sie größer und faßten viele Menschen. Die Prediger standen auf hohen Brettergerüsten an einem Ende des Zeltes. Die Frauen hatten Hauben auf und waren in selbstgesponnene Stoffe gekleidet, einige in Gingham, die Jugend in Kaliko. Mehrere der Jünglinge waren barfuß, und von den Kindern trugen viele nichts als ein gewöhnliches Hemd. Die alten Frauen strickten, und das junge Volk machte einander den Hof.

Im ersten Zelt, das wir besuchten, las der Prediger einen Choral vor. Er las immer zwei Zeilen, und dann stimmte die Versammlung an und sang sie. Jeder sang mit, und es tönte ordentlich ergreifend. Das Volk wurde immer wärmer und wärmer und sang lauter und lauter – gegen Ende des Liedes schluchzten einige, andere jauchzten. Dann begann der Prediger seine Predigt, und was für eine; er wandelte von einem Ende des Gerüsts zum andern, beugte sich weit vornüber – Körper und Arme waren in steter Bewegung – und brüllte die Worte mit aller Gewalt heraus. Von Zeit zu Zeit hielt er die geöffnete Bibel hoch empor und schwenkte sie hin und her, wobei er ausrief: ›Das ist die eherne Schlange in der Wüste! Schauet her und lebet!‹ Und das Volk rief: ›Hosiannah – A – a – men!‹ In dieser Weise ging es fort, unter unaufhörlichem Geplärre der Menge. Zum Schluß forderte er die Anwesenden auf, sich auf die Bank der Bußfertigen zu begeben.

›Ihr reumütigen Kinder, tretet heraus und setzet euch auf die Bank der Bußfertigen (Amen!), kommet ihr Mühseligen und Beladenen (Amen!), kommet ihr Armen und Bedürftigen, in Schmach und Leid Verzehrten (A – a – men!); kommet, die ihr gebrochenen Herzens, die ihr verzagten Geistes seid! Kommet, die ihr in Sünde und Schmutz gewandelt seid; das reinigende Wasser quillt für euch, die Tür zum Himmel steht euch offen – oh, tretet ein und seid selig!‹

In diesem Ton gings weiter. Allenthalben erhoben sich nun Leute aus der Menge und drängten sich mit aller Gewalt hindurch bis zu der Bank der Bußfertigen, während ihnen die Tränen über die Backen liefen. Nachdem alle Büßer hier versammelt waren, sangen und jubilierten sie, daß ihnen schier der Atem ausging; manche gebärdeten sich ganz wahnsinnig und warfen sich in wilder Verzückung auf den mit Stroh bedeckten Boden.

Auf einmal packte es auch den König, und er sprang auf das Gerüst. Der Prediger bat ihn, zum Volk zu reden, und er tat es mit einer gewaltigen Stimme. Er sagte ihnen, er sei ein Pirat, sei seit dreißig Jahren einer gewesen, fern im Indischen Ozean. Seine Mannschaft sei im Frühling bei einem Kampf sehr zusammengeschmolzen und er sei heimgekommen, um Rekruten zu sammeln; doch – dem Himmel sei Dank! – letzte Nacht sei er beraubt und ohne einen Cent vom Dampfboot ans Land gesetzt worden; er freue sich aber darüber, etwas Besseres hätte ihm gar nicht widerfahren können, denn er sei dadurch zu einem anderen Menschen geworden, und zum erstenmal in seinem Leben fühle er sich glücklich. Arm, wie er sei, wolle er sich jetzt zurück zum Indischen Ozean durchschlagen und den Rest seines Lebens dazu verwenden, die Piraten auf den wahren Weg zu führen; er könne es besser als irgendein anderer, da er mit allen Piratenmannschaften jenes Ozeans bekannt sei. Wohl würde er lange Zeit brauchen, ohne Geld dorthin zu kommen, aber hin komme er sicher, und jedesmal, wenn er einen Piraten bekehrt hätte, würde er ihm sagen: »Mir danke nicht, mir gebührt die Ehre nicht; nein, wohl aber den guten Menschen der Pokville-Buß-Versammlung, den wahren Brüdern und Wohltätern der Menschheit – und dem teuren Prediger dort, dem treuesten Freund, den ein Pirat je hatte!«

Hier brach der König in Tränen aus, und ebenso alle anderen. Dann rief einer: »Sammelt für ihn!« Ein halbes Dutzend sprangen auf und schickten sich dazu an, aber jemand rief: »Laßt ihn selbst den Hut herumreichen!« Alle riefen es nach, der Prediger auch.

So schritt der König durch die Massen, indem er den Hut herumreichte und sich die Augen wischte, das Volk segnend und preisend und ihm dankend, weil es mit den Piraten in der Ferne es so gut meine; und sie luden ihn ein, eine Woche zu bleiben; jeder wollte sich’s zur Ehre anrechnen, ihn in seinem Hause zu beherbergen. Doch er sagte, da das der letzte Tag der Versammlung sei, habe er hier nichts mehr zu tun, und er habe Eile, zum Indischen Ozean zurückzukehren, um schnell an seine Arbeit bei den Piraten zu gehen.

Als er wieder auf dem Floß ankam und das Geld zählte, fand er, daß er siebenundachtzig Dollar und fünfundsiebzig Cents gesammelt hatte. Außerdem hatte er einen Dreigallonenkrug Branntwein erwischt, den er unter einem Wagen sah, als wir durch den Wald zurückgingen. Da sagte der König, daß er im Missionsgeschäft kaum jemals einen besseren Tag gehabt habe als heute. »Heiden«, rief er, »sind doch nichts im Vergleich mit Piraten, wenn’s gilt, aus einer Bußversammlung Kapital zu schlagen.«

Indessen war der Herzog auch nicht faul gewesen und freute sich schon im stillen, erzählen zu können, was er eingeheimst. Als aber der König kam und loslegte, da fühlte er sich doch etwas klein. In der Druckerei hatte er zuerst zwei kleine Aufträge für ein paar Farmer ausgeführt – Rechnungsformulare – und dafür vier Dollar eingesteckt. Dann hatte er für zehn Dollar Zeitungsanzeigen angenommen, was er gegen augenblickliche Vorausbezahlung um vier Dollar tat. Der Preis der Zeitung war zwei Dollar pro Jahr, doch hatte er drei Abonnements, jedes zu einem halben Dollar, verkauft, unter der Bedingung augenblicklicher Vorausbezahlung. Sie wollten in Brennholz und Zwiebeln bezahlen, aber er sagte ihnen, er hätte das Geschäft eben erstanden und die Preise so niedrig wie möglich herabgesetzt, um auf Barzahlung bestehen zu können. Außerdem hat er ein Gedichtchen in Typen gesetzt; das hatte er aus seinem eigenen Kopf gemacht. Drei Verse, zart und melancholisch. Es hieß: ›Ja, kalte Welt, erdrück dies brechend‘ Herz usw.‹ – er hatte es fix und fertig dagelassen zum Druck in der nächsten Nummer der Zeitung und nichts dafür gerechnet. So hatte er denn im ganzen neun und einen halben Dollar eingenommen und meinte, er hätte eine gute Tagesarbeit dafür geleistet.

Dann zeigte er uns noch eine kleine Arbeit, die er besorgt, doch nicht berechnet habe, denn sie sei für uns. Es war das Bild eines entlaufenen Negers, der ein Bündel auf einem Stock über der Schulter trug, und darunter stand geschrieben: ›200 Dollar Belohnung.‹ Das übrige auf dem Zettel gab eine genaue Beschreibung von Jim und besagte, dieser sei von der St. Jakobs-Plantage vierzig Meilen unterhalb New Orleans letzten Winter – wahrscheinlich nordwärts – entlaufen, und wer ihn fange und wiederbringe, würde die Belohnung und die Unkosten bezahlt erhalten.

»Von jetzt an«, sagte der Herzog, »können wir auch am Tage drauflosfahren. Wenn wir jemand kommen sehen, binden wir Jims Hände und Füße, legen ihn ins Zelt, verweisen auf die Anzeige, sagen, wir hätten ihn gefangen, seien zu arm, mit dem Dampfboot zu fahren, hätten von Freunden dies Floß auf Kredit gekauft und wollten uns jetzt unsere Belohnung holen. Handschellen und Ketten würden sich zwar noch besser ausnehmen, das stimmt aber nicht recht mit unserer Armutsgeschichte. Stricke sind das rechte. Wir müssen die Einheit wahren, wie wir auf den Brettern sagen.«

Wir stimmten alle darin überein, daß der Herzog ein findiger Kopf sei und das Reisen bei Tage uns jetzt keine Ungelegenheit mehr bringen würde. Wir hofften, diese Nacht noch weit genug zu kommen, um aus dem Bereich des Skandals zu sein, den des Herzogs Arbeit in der Druckerei jenes Städtchens verursachen würde – im übrigen konnten wir unbehelligt reisen.

Wir blieben versteckt und hielten uns still und wagten uns nicht hinaus bis etwa zehn Uhr; dann glitten wir ziemlich entfernt vom Stadtufer dahin und hißten unsere Laterne erst auf, als das Städtchen schon längst außer Sicht war.

Als Jim mich weckte, um die Wacht um vier Uhr morgens zu übernehmen, sagte er: »Huck, du denken, wir noch mehr Könige werden treffen auf Reise?«

»Glaub’s nicht, Jim«, entgegnete ich.

»Nun, das gut sein, ein oder zwei Jim wollen haben ganz gern, wenn müssen, aber das sein auch genug. Sein ganz mächtig betrunken unser König – un Herzog nix viel weniger!«

18. Kapitel

Shakespeares Wiederaufleben – Das Kgl. Nonplusultra – Aus der Schlinge gezogen

18. Kapitel

Die Sonne war längst aufgegangen, als der König und der Herzog hervorkrochen. Sie sahen recht verschlafen aus; aber nachdem sie über Bord gesprungen waren und etwas geschwommen hatten, wurden sie bedeutend frischer. Nach dem Frühstück setzte sich der König auf eine Ecke des Floßes, zog die Stiefel aus, rollte die Hosen auf, ließ die Beine bequem ins Wasser hängen, zündete die Pfeife an und begann seinen Teil in Romeo und Julia auswendig zu lernen. Als er es ziemlich gut innehatte, übten er und der Herzog zusammen. Der Herzog ließ ihn seufzen und die Hand aufs Herz legen, nach einiger Zeit sagte er, es ginge ziemlich gut; »nur«, meinte er, »mußt du Romeo nicht so herausbrüllen wie ein Stier, du mußt’s liebeskrank, sanft und schmelzend sprechen: – R-o-o-meo! denn Julia ist ein liebes süßes Mädchen, fast ein Kind, weißt du, und schreit nicht wie ein Esel.«

Nun holten sie ein paar lange Schwerter hervor, die der Herzog, der Richard III. vorstellte, aus Eichenstöcken gemacht hatte, und übten ihr Schwertgefecht. Es war wirklich großartig anzusehen, wie sie drauflos hieben und umhersprangen. Nach einiger Zeit glitt der König aus und fiel über Bord; danach rasteten sie und plauderten von allen möglichen Abenteuern, die sie früher längs des Stromes erlebt hatten.

Sobald sich eine Gelegenheit bot, ließ der Herzog einige Anschlagzettel drucken. Auf dem Floß aber ging es in den darauffolgenden Tagen, während wir stromab trieben, sehr lebhaft zu; es gab nichts als Schwertgefechte und Generalproben, wie der Herzog es nannte. Eines Morgens, als wir schon ziemlich weit drunten im Staate Arkansas waren, sahen wir ein kleines Städtchen in einer großen Bucht. Wir legten etwa dreiviertel Meile oberhalb an, in der Mündung eines Baches, der, von Zypressen überragt, wie ein Tunnel aussah; und wir alle, außer Jim, nahmen das Kanu und fuhren hinunter, um zu sehen, was für Gelegenheit in dem Städtchen für unsere Vorstellung wäre.

Wir trafen es gut; am Nachmittag sollte dort ein Kunstreiterzirkus Vorstellung geben, und das Landvolk fing schon an, in allerlei alten Rumpelkasten von Wagen und auch zu Pferde herbeizuströmen. Die Kunstreiter wollten vor Abend noch weiterreisen, und so war für unsere Vorstellung gute Gelegenheit. Der Herzog mietete die Rathaushalle, und wir gingen umher und klebten unsere Zettel an. Die lauteten:

Shakespeares Auferstehung!!!

Wunderbare Attraktion!!

Nur für einen Abend!

Die weltberühmten Tragöden

David Garrick der Jüngere vom Drury-Gasse-Theater London

und

Edmund Kean der Ältere vom königlichen Heumarkt-Theater, Piccadilly-London

wie auch der königlichen Kontinental-Theater in ihrem erhabenen Schau-Stück:

Die Balkon-Szene

aus

Romeo und Julia!

Romeo …… Herr Garrick

Julia ……. Herr Kean

Unterstützt von allen Kräften der Gesellschaft!

Neue Kostüme, neue Dekorationen, alles neu!

Ferner:

Der erschütternde, meisterhafte, bluterstarrende Schwertkampf aus Richard III.!!!

Richard III. ….. Herr Garrick

Richmond ….. Herr Kean

Ferner:

(auf besonderen Wunsch)

Hamlets unsterblicher Monolog!

Gegeben von dem berühmten Kean, der ihn an 300 aufeinanderfolgenden Abenden in Paris gespielt hat!

Nur einen Abend wegen unversäumbarer europäischer Engagements!

Eintritt 25 Cents; Kinder und Dienstboten 10 Cents.

Dann trieben wir uns etwas im Städtchen umher. Die Häuser waren meistens alte hölzerne Rumpelkasten, die nie einen Anstrich gehabt hatten; sie ruhten drei bis vier Fuß über der Erde auf Pfählen, damit sie vor dem Strom geschützt waren, wenn er austrat.

Die Kaufläden befanden sich alle an einer Straße. Davor waren weiße Segeltuchdächer über die Seitenwege gespannt, und an die Pfosten, die diese Dächer stützten, band das Landvolk die Pferde. Unter diesen Zeltdächern standen leere Kisten, auf denen sich den Tag über Faulenzer räkelten und mit ihren großen Messern daran herumschnitzten. Es war ein tabakkauendes, gähnendes, faulenzendes und Maulaffen feilhaltendes Gesindel.

Am Flußufer standen mehrere Häuser, die so unterwaschen waren, daß man meinte, sie müßten jeden Augenblick ins Wasser stürzen. Die Leute waren bereits ausgezogen. Bei ein paar anderen Häusern hatte der Fluß die Erde unter einer Ecke weggespült, so daß sie sich vornüber neigten. Trotzdem wohnten noch Menschen drin, aber es war gefährlich, denn zuweilen versinkt ein Stück Land, so breit wie ein Haus, mit einem Male. Solch ein Städtchen muß sich immer weiter zurückziehen, denn der Strom nagt beständig daran.

Je näher der Mittag herankam, desto dichter drängten sich Wagen und Pferde in den Straßen, und es kamen immer noch mehr. Familien vom Lande brachten ihr Mittagessen mit und verzehrten es in ihren Wagen. Es wurde viel Branntwein getrunken, auch sah ich drei Prügeleien.

Also am Abend hatten wir unsere Vorstellung; es waren aber kaum ein Dutzend Leute dabei, gerade genug, um die Unkosten zu decken. Sie lachten fortwährend, und das machte den Herzog ärgerlich. Noch vor dem Ende der Aufführung waren alle wieder fortgegangen, mit Ausnahme eines Jungen, der eingeschlafen war. Da sagte der Herzog: »Diese Arkansas-Kaffern stehen zu tief für Shakespeare; was sie wollen, ist niedrige Komödie – und vielleicht gar noch Schlimmeres als das. Ich kann mir schon denken, was die wollen.«

Am nächsten Morgen nahm er große Bogen Packpapier nebst schwarzer Farbe, malte Anzeigen darauf und klebte sie überall an. Die Ankündigung lautete: Im Rathaus! Nur drei Abende!

David Garrick der Jüngere

und

Edmund Kean der Ältere!

vom London- und den Kontinental-Theatern

in dem ergreifenden Trauerspiel:

Des Königs Kamelopard

oder

Das königliche Nunplusultra!!!

Eintritt 50 Cents

Ganz unten war in fetter Schrift zu lesen:

Frauen und Kinder sind ausgeschlossen.

»Wenn das nicht zieht«, sagte der Herzog, »dann kenne ich Arkansas schlecht.«

Den ganzen Tag waren König und Herzog damit beschäftigt, die Bühne, den Vorhang und eine Reihe Talglichter für die Rampe zurechtzumachen. Am Abend war in kurzer Zeit die Halle gesteckt voll Männer. Als keiner mehr hineinging, verließ der Herzog seinen Posten am Eingang, ging hinten herum auf die Bühne und trat vor den Vorhang. Er hielt eine kleine Rede, worin er das angekündigte Trauerspiel pries; es sei das ergreifendste, das überhaupt existiere, und so fuhr er fort zu prahlen mit dem Trauerspiel und mit Edmund Kean dem Älteren, der die Hauptrolle spielen würde. Endlich, als jedermanns Erwartung aufs höchste gespannt war, zog er den Vorhang auf, und im nächsten Augenblick kam der König auf allen vieren und fast völlig nackt hereingesprungen. Er war ganz bemalt mit Ringen und Streifen aller Farben, prächtig wie ein Regenbogen. Das Volk fiel fast um vor Lachen, und als der König sich müde gesprungen hatte und hinter die Szene kroch, da klatschte, trampelte und stürmte die Menge, bis er wiederkam und alles wiederholte, und er mußte es dann noch einmal machen, denn sie riefen ihn wieder heraus. Der Unsinn, den der alte Kerl machte, war toll genug, um sogar eine Kuh zum Lachen zu bringen.

Dann ließ der Herzog den Vorhang herunter, verbeugte sich und sagte, das Trauerspiel würde nur noch zwei Abende gegeben werden wegen dringender Engagements in London, wo die Plätze im Drury-Gassen-Theater bereits alle verkauft seien. Dann machte er noch eine Verbeugung und sagte: »Wenn es uns gelungen ist, Sie zu amüsieren und zu belehren, werden wir Ihnen dankbar sein, wenn Sie es Ihren Freunden sagen, damit sie auch kommen.«

Etwa zwanzig Stimmen riefen: »Was? Schon vorüber? Ist das alles?«

Der Herzog sagte ja. Dann wurde es lebhaft. Alles schrie »Oho!« sprang wild auf und nach der Bühne zu. Aber ein großer, fein aussehender Mann sprang auf eine Bank und rief: »Ruhe! Ein Wort, meine Herren.«

Sie schwiegen wirklich und horchten. »Wir sind zum besten gehalten worden – ziemlich arg zum besten. Aber wir wollen uns doch nicht von der ganzen Stadt auslachen lassen. Nein. Wir wollen hübsch stille fortgehen und über die Vorstellung prahlen, damit der Rest der Stadt ebenso genarrt werde; dann wissen alle, wie es ist, und keiner kann den andern auslachen. Ist das nicht vernünftig?«

»Das ist wahr! – Der Richter hat recht!« riefen alle.

»Wohl denn, also kein übles Wort mehr! – Geht heim und ratet jedem, das Trauerspiel zu besuchen.«

Am nächsten Tag war nur noch von dem herrlichen Trauerspiel die Rede. Am Abend war das Haus wieder überfüllt, und auch diese Versammlung war genarrt.

Als ich und der König und der Herzog wieder auf das Floß zurückkamen, aßen wir zusammen zu Abend. Nachher, etwa um Mitternacht, ließen sie Jim und mich das Floß in die Mitte des Stromes steuern und etwa zwei Meilen unterhalb der Stadt anlegen.

Am dritten Abend war das Haus wieder gepackt voll – es waren diesmal keine neuen Gesichter, sondern Leute, die schon an den vorigen Abenden dagewesen waren. Ich stand beim Herzog und sah, daß jeder, der hineinging, etwas in seinen Taschen oder unter seinem Rock versteckt trug, und ich konnte sehen, daß es keine Parfümflaschen waren – nein, gewiß nicht! Es hatte einen widerlichen Geruch, der an schlechte Eier, verfaulte Kohlköpfe und dergleichen erinnerte. Als niemand mehr hinein konnte, gab der Herzog einem in der Nähe Stehenden einen Viertel-Dollar und bat ihn, für eine Minute Türwächter zu sein. Dann ging er hinten herum zur Bühnentür, ich hinter ihm her; doch kaum waren wir um die Ecke gebogen und im Dunkeln, da sprach er: »Jetzt geh rasch, bis du von den Häusern weg bist, und dann mach, daß du so schnell zum Floß kommst, als sei der Böse hinter dir!« Ich tat’s, und er gleichfalls. Wir kamen zur gleichen Zeit dort an, und im Nu glitten wir stromab – niemand sprach ein Wort. Ich dachte an den armen König, wie es dem wohl mit seiner Audienz gehen würde; der aber kam lustig aus dem Zelt hervorgekrochen und sagte: »Nun, Herzog, wie hat sich die Geschichte diesmal gelohnt?«

Er war nämlich gar nicht in die Stadt gegangen.

Erst als wir zehn Meilen stromab waren, machten wir Licht und nahmen unser Abendessen. König und Herzog hielten sich den Bauch vor Lachen über die Art, wie sie das Volk überlistet hatten.

Der Herzog sagte: »Grünschnäbel, Dummköpfe! Ich wußte wohl, daß das erste Publikum ’s Maul halten würde, damit die übrigen auch in die Falle gingen; ich wußte, daß sie den dritten Abend denken würden, nun sei die Reihe an ihnen. Ja, jetzt haben sie ihre Revanche. Ich gäbe was drum, wenn ich sehen könnte, was sie für ein Gesicht dabei machen.«

Diese Halunken hatten wirklich 465 Dollar an diesen drei Abenden eingenommen. Ich habe früher nie einen solchen Berg von Kleingeld beisammen gesehen.

Bald schliefen und schnarchten die beiden, da sagte Jim zu mir: »Du nix sein erstaunt, von unsre Könige, Huck?«

»Nein«, sagte ich, »durchaus nicht.«

»Aber Huck, sein ja wahre Teufelskerls, nix anderes, rechte echte Teufelskerls.«

»Nun, soviel ich weiß, sind das viele Könige.«

»So, du das meinen? Dann Jim nix wollen wissen von Könige.«

»Lies doch etwas darüber nach, dann wirst du’s sehen. Da ist Henry VIII.; im Vergleich mit dem ist der unsrige ein Sonntagsschul-Superintendent. Und dann Charles II. und Louis XIV. und Louis XV. und James II. und Eduard II. und Richard III. und noch viele andere; fast alle die angelsächsischen Fürsten in den alten Zeiten waren rechte Kains-Kinder. Oh, du solltest Henry VIII. in seiner Blüte gesehen haben. Das war ein Kerl. Der heiratete ein neues Weib jeden Tag, und am nächsten Morgen hieß es immer: ›Kopf ab!‹ und er tat dabei so gleichgültig, als ob er sich ein paar Eier bestellte. ›Nell Gwynn her‹, rief er. Man brachte sie. Nächsten Morgen: ›Kopf ab!‹ und ab war er. ›Jane Shore her‹, rief er. Sie kommt. Nächsten Morgen: ›Kopf ab!‹ ab war er. ›Leute, die schöne Rosamund herbei‹; schön Rosamund folgt dem Lockruf. Nächsten Morgen: ›Kopf ab!‹

Jede von diesen Frauen mußte ihm in der Nacht eine Geschichte erzählen, und er sammelte sie alle, bis es tausend und eine waren; dann machte er ein Buch daraus, das er Domesday book nannte. Die Vorstellung, die Huck von dem Buch der englischen Grundrechte und anderen geschichtlichen Begebenheiten hat, läßt uns seine Ansicht über Könige nachsichtig beurteilen. Ja, Jim, ich könnte dir noch manches von jenem König erzählen. Hast du nie davon gehört, was dieser Heinrich für Händel mit unserem Land anfing? Das ging so zu. Auf einmal läßt er so mir nichts dir nichts im Hafen von Boston allen Tee über Bord schmeißen und läßt eine Unabhängigkeitserklärung vom Stapel und droht mit einem Krieg. Das war seine Art so – keine Spur von Rücksicht und Billigkeit. Ein andermal hatte er seinen Vater, den Herzog von Wellington, im Verdacht. Was tut er? Er geht her und läßt ihn in einem Sirupfaß ersäufen wie eine Katze. Wenn die Leute Geld herumliegen ließen und er sah es – wupp dich, steckte er es ein. Er brauchte nur den Mund aufzutun, und wenn er ihn nicht gleich wieder zuklappte, kam allemal eine Lüge heraus. Ja, wenn dieser Heinrich über das Städtchen drüben gekommen wäre, der hätte ihm noch ganz anders mitgespielt, das kannst du mir glauben.«

»Huck, das sein ganz abscheulich. Wollte, hätten solche Leute nicht auf Floß.«

»Mir geht’s ebenso, Jim. Aber sie sind nun einmal da, und wir müssen denken, daß sie so erzogen sind und nichts dafür können.«

Was hätte es genützt, Jim zu sagen, daß die beiden gar nicht König und Herzog sind?

19. Kapitel

Jim als Araber – Pastor Alexander Blodgett zieht Erkundigungen ein – Neue Pläne – Familien-Trauer– Die Erbschaft – Rührende Großmut

19. Kapitel

Am nächsten Tag, gegen Abend, erblickten wir an jedem der beiden Ufer ein Städtchen, und wir legten an einer kleinen Weideninsel mitten im Strome an. König und Herzog überlegten schon wieder, wie sie wohl die beiden Orte ausbeuten könnten. Da sagte Jim zum Herzog: »Jim hoffen, ihr sein nix lang fort, sein so viel schlimm, zu liegen ganze Tag gebunden in Zelt.« Wir konnten nämlich nichts anderes tun als ihn binden, denn wenn ihn zufällig jemand frei und allein angetroffen hätte, so wäre er sicher für einen entlaufenen Neger gehalten worden. Der Herzog meinte, es sei allerdings beschwerlich für Jim, und versprach, sich zu besinnen, wie es Jim bequemer gemacht werden könnte.

Er war ganz gescheit, dieser Herzog, und kam bald auf einen Gedanken. Er verkleidete Jim als König Lear. Jim mußte ein langes Gardinen-Kalikogewand, eine weiße Roßhaarperücke und einen Bart tragen. Dann nahm er seine Schminke und färbte Jims Gesicht, Hals, Ohren und Hände in fahles Blau, so daß er aussah wie die Leiche eines Ertrunkenen nach neun Tagen, ganz schauderhaft. Dann machte der Herzog aus einer großen Dachschindel ein Schild und schrieb darauf:

Kranker Araber – aber harmlos wenn bei Sinnen

Nachher nagelte er das Schild an eine Stange und steckte sie vier bis fünf Fuß vor dem Zelte auf. Jim war befriedigt. Er meinte, so wäre es viel besser, als Tag für Tag gebunden dazuliegen und bei jedem Geräusch vor Angst zu zittern. Der Herzog sagte ihm, er dürfe sich’s jetzt bequem machen, und wenn irgend jemand sich unnötig um ihn kümmere, solle er nur aus dem Zelt springen, sich etwas unsinnig gebärden und ein- oder zweimal aufheulen wie eine wilde Bestie, dann würden die Leute schnell ausreißen und ihn in Ruhe lassen.

Die beiden Teufelskerle hätten das Nonplusultra gern noch einmal versucht, weil sie beim erstenmal so viel Geld herausgeschlagen hatten, doch sie fürchteten, die Kunde davon könnte sich bereits bis hierher verbreitet haben. Sie konnten über kein Projekt ganz einig werden; da sagte endlich der Herzog, man solle ihn ein bis zwei Stunden ganz in Ruhe lassen, er wolle sein Gehirn anstrengen und zusehen, ob sich mit dem Arkansas-Städtchen nicht doch etwas anstellen ließe. Der König dagegen wollte ohne besonderen Plan das andere Städtchen besuchen, im Vertrauen darauf, daß ihn die Vorsehung auf einen profitablen Weg führe – damit meinte er den Teufel, glaub‘ ich. In dem Ort, wo wir zuletzt angehalten, hatten wir uns alle neue fertige Anzüge gekauft. Der König zog seinen an und hieß mich auch den meinigen anziehen, was ich auch tat.

Des Königs Anzug war ganz schwarz, und er sah darin steif und fein aus. Nie hatte ich geahnt, wie Kleider einen Menschen verändern können. Vorher hatte er wie ein ganz gewöhnlicher Kerl ausgesehen; aber wenn er jetzt seinen neuen weißen Filzhut lüftete und sich mit einem Lächeln verbeugte, sah er so erhaben und gut und fromm aus, daß man hätte glauben können, er sei eben aus der Arche gestiegen und könne der alte Levitikus selbst sein.

Jim reinigte das Kanu, und ich machte meine Ruder zurecht. Etwa drei Meilen oberhalb des Städtchens lag ein großes Dampfboot, das schon zwei Stunden dalag und Fracht einlud.

Da sagte der König: »Zu meinem neuen Anzug würde es wohl besser passen, wenn ich von St. Louis, Cincinnati oder einer andern großen Stadt angereist käme. Also zum Dampfboot hin, Huckleberry; wir wollen auf ihm das Städtchen besuchen.«

Eine Dampfschiffahrt zu machen, das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich gewann das Ufer eine halbe Meile oberhalb des Städtchens, und dann ging’s leicht hinauf, dicht am Ufer im strömungslosen Wasser. Bald kamen wir zu einem netten, harmlos und sehr ländlich aussehenden jungen Burschen, der auf einem Sägeblock saß und sich den Schweiß von der Stirne wischte, denn es war arg warmes Wetter, und er hatte ein paar große Reisesäcke bei sich.

»Fahr ans Land«, befahl der König. Ich tat’s.

»Wohin, mein junger Freund?« redete er den fremden Burschen an.

»Zum Dampfboot; nach Orleans.«

»Steig ein«, sagte der König. »Wart einen Augenblick, mein Diener wird dir bei den Säcken helfen. Spring ‚raus und hilf dem Herrn, Adolfus«, ich merkte, daß er mich meinte.

Nun, ich tat’s, und wir drei fuhren weiter. Der junge Bursche war sehr dankbar und meinte, es sei eine harte Arbeit, bei solcher Hitze sein Gepäck zu tragen. Er fragte den König, wohin er ginge; der sagte, er sei den Fluß herabgekommen und früh morgens im andern Städtchen gelandet, und nun müsse er einige Meilen hinauf, um einen Freund auf seiner Farm zu besuchen.

Der Junge sagte dann: »Als ich Sie zuerst sah, sagte ich zu mir selbst: ›Das ist sicherlich Mr. Wilks, und er kommt nicht mehr zur rechten Zeit.‹ Dann dachte ich aber: ›Nein, er kann’s nicht sein, er würde nicht hier den Fluß heraufrudern.‹ Sie sind’s doch nicht, was?«

»Nein, mein Name ist Blodgett, Alexander Blodgett, Hochwürden Alexander Blodgett – ein Diener des Herrn. Indessen tut es mir doch aufrichtig leid, daß Herr Wilks nicht zur rechten Zeit eingetroffen ist, wenn er dadurch etwas versäumt hat, was ich nicht hoffen will.«

»Nun, die Erbschaft geht ihm nicht verloren, die bekommt er sicher; aber seinen Bruder Peter wird er nun nicht mehr am Leben finden – für den Fall, daß ihm daran gelegen war, was ich nicht wissen kann. Soviel aber weiß ich gewiß, daß sein Bruder sehr viel darum gegeben hätte, ihn vor seinem Ende noch einmal zu sehen; er sprach von nichts anderem die letzten drei Wochen; seit der Knabenzeit hatten sie sich nicht wieder gesehen. Seinen jüngsten Bruder William – ’s ist der Taubstumme, und jetzt erst dreißig bis fünfunddreißig alt – hat er überhaupt nie gesehen. Peter und George waren die einzigen hierzulande; George war verheiratet, aber er und seine Frau starben beide letztes Jahr. Nur Harry und William sind von den Brüdern noch übrig, und sie sind nun leider nicht zur rechten Zeit eingetroffen.«

»Hat man ihnen denn geschrieben?«

»O ja – vor ein bis zwei Monaten, als Peter erkrankte; denn er ahnte schon damals, daß es diesmal mit ihm zu Ende gehen würde. Wissen Sie, er war ziemlich alt und Georges Töchter waren zu jung, um ihm viel Gesellschaft zu leisten, außer Mary Jane, der Rothaarigen. So fühlte er sich recht einsam, nachdem George und seine Frau gestorben waren, und es lag ihm nichts mehr am Leben. Er sehnte sich schrecklich danach, Harry vor seinem Ende zu sehen und auch den William, denn er war einer von denen, die ungern ein Testament machen. So hinterließ er nur einen Brief für Harry, in dem er sagte, wo sein Geld versteckt sei und daß er den Rest seiner Habe so verteilt wünsche, daß Georges Mädchen ein Auskommen hätten; denn ihr Vater George hatte nichts hinterlassen. Zu einem richtigen Testament konnte man Peter Wilks nicht bringen; dieser Brief ist alles.«

»Was meinst du, mag der Grund sein, daß Harry nicht kommt? Wo wohnt er?«

»Oh, er wohnt in England, in Sheffield, predigt dort; er ist nie in diesem Land gewesen. Er mag wenig Zeit haben – und vielleicht hat er den Brief nicht einmal erhalten.«

»Es ist recht traurig, daß Mr. Wilks nicht mehr erleben durfte, seinen Bruder zu sehen, arme Seele! – Du sagst, du gehst nach Orleans?«

»Ja, aber das ist nur ein Teil der Reise, von dort gehe ich in einem Segelschiff nach Rio de Janeiro, wo mein Onkel wohnt.«

»Das ist eine lange Reise, muß aber recht schön sein; ich wollte, ich könnte sie mitmachen. Ist Mary Jane die älteste? Wie alt sind die andern?«

»Mary Jane ist neunzehn, Susan fünfzehn und Joanna etwa vierzehn; das ist die Wohltätige und hat eine Hasenlippe.«

»Die armen Dinger! Nun müssen sie so allein in der kalten Welt bleiben!«

»Nun, sie könnten schlimmer dran sein. Der alte Peter hatte gute Freunde, und die werden schon dafür sorgen, daß ihnen kein Leid geschieht. Da ist Hobsen, der Baptisten-Prediger, und Vorsteher Lot Hovey, und Ben Rucker, und Abner Shackleford, und Levi Bell, der Advokat, und Dr. Robinson und deren Frauen und die Witwe Bartley, und – nun ja, eine ganze Menge; aber mit den Genannten war Peter am intimsten, er schrieb auch zuweilen von ihnen an seinen Bruder, den Pfarrer, und wenn der noch kommt, wird er wissen, an wen er sich zu wenden hat.«

Der Alte fragte und fragte, bis er den Jungen förmlich ausgepumpt hatte. Verdammt, wenn er sich nicht über jeden und alles in dem ganzen Städtchen erkundigte, über alle Wilkse, über Peters Beruf, der ein Gerber gewesen, über Georges, der ein Schreiner gewesen, über Harrys, der, wie wir schon gehört, ein Geistlicher ist, und dergleichen mehr.

Dann sagte er: »Warum wolltest du denn den ganzen Weg bis zum Dampfboot hinaufgehen?«

»Weil das ein großes Orleans-Boot ist und dort vielleicht nicht gehalten hätte. Wenn schwergeladen, halte sie selbst auf ein Signal nicht immer an. Ein Cincinnati-Boot tut es, aber das ist ein St. Louis-Boot.« – »War Peter Wilks wohlhabend?«

»O ja, ziemlich wohlhabend. Er hatte Häuser und Land, und man glaubt, daß er drei- bis viertausend Dollar in Bargeld irgendwo versteckt hielt.«

»Wann sagtest du, daß er gestorben sei?«

»Ich sagte es nicht, aber es war letzte Nacht.«

»Begräbnis wohl morgen?« – »Ja, gegen Mittag.«

»Ach, das ist recht, recht traurig; aber einmal müssen wir alle sterben, der eine früher, der andere später. Drum sollten wir danach trachten, stets zur letzten Reise vorbereitet zu sein. Dann ist alles gut.«

»Ja, Herr, das ist am besten. – Mutter hat’s auch immer gesagt.«

Als wir das Dampfboot erreichten, war es mit Frachteinladen fertig und stieß bald ab. Der König gebot mir aber, noch eine Meile weiter zu rudern an einen einsamen Ort. Dann stieg er ans Land und sagte: »Jetzt rasch zurück und bring mir den Herzog mit und die neuen Reisetaschen. Sollte er ans andere Ufer gegangen sein, so geh hin und hol ihn. Sag ihm, er soll sich so fein wie möglich machen.«

Ich merkte, was er im Schilde führte, sagte aber natürlich kein Wort. Als ich mit dem Herzog zurückkam versteckten wir das Kanu, und sie setzten sich auf einen Holzblock. Der König erzählte ihm alles, gerade wie’s der Bursche erzählt hatte, nichts ließ er aus. Und die ganze Zeit bemühte er sich, wie ein echter Engländer zu sprechen, und tat’s auch ganz gut für solch einen Kerl.

Dann fragte er: »Kannst du die Taubstummenrolle spielen, Sommerfett?«

»Und ob!« rief der Herzog, »hab’s auf den histrionischen Brettern getan.« Sie warteten jetzt nur noch auf ein Dampfschiff.

Während des Nachmittags sahen wir zwei kleine Dampfer, aber sie kamen nicht von weit her; endlich kam ein großes Dampfboot, und wir riefen es an. Ein Kahn wurde uns zugeschickt, und wir gingen an Bord. Das Dampfboot kam von Cincinnati. Als der Kapitän hörte, daß wir nur vier bis fünf Meilen mitreisen wollten, wurde er sehr ärgerlich, fluchte und sagte, er würde uns dort nicht ans Land setzen. Der König blieb aber ruhig und sagte: »Wenn Herren imstande sind, einen Dollar per Meile à Person zu bezahlen, um in einem Kahn geholt und abgesetzt zu werden, so ist wohl auch ein Dampfboot imstande, sie mitzunehmen, nicht wahr!«

Das besänftigte den Kapitän; er war’s zufrieden, und wir wurden bei der Ankunft am Städtchen wieder mit dem Kahn ans Land gesetzt. Etwa zwei Dutzend Männer kamen herbei, als sie den Kahn kommen sahen, und als der König sagte: »Kann irgendeiner der Herren mir sagen, wo Mr. Peter Wilks wohnt?«, da blickten sie einander an und nickten sich zu, als wollten sie sagen: ›Siehst du, was hab‘ ich dir gesagt?‹

Dann sprach einer mit weicher Stimme: »Es tut mir leid, Herr, aber wir können nicht mehr tun, als Sie an die Stelle zu führen, wo er gestern abend noch lebte.«

Plötzlich schien unsern Alten alle Kraft zu verlassen, er fiel gegen den Mann, sank mit seinem Kinn auf dessen Schulter, und weinte ihm seine Tränen den Rücken hinunter.

»Ach, ach«, stöhnte er, »unser armer Bruder – dahin, und wir durften ihn nicht wiedersehn; oh, das ist zu, zu hart!«

Dann wandte er sich um – immer noch schluchzend – und machte allerlei unsinnige Zeichen, und da ließ auch der Herzog die Reisetasche fallen und brach in Tränen aus. Sie waren das niedergeschlagenste Paar, diese zwei Betrüger, das ich je gesehen habe.

Die Männer umgaben und bemitleideten sie und sagten allerlei freundliche Worte, trugen ihre Reisetaschen den Hügel hinauf und blieben stehen, wenn König und Herzog vor Schluchzen nicht mehr weiterkonnten. Sie erzählten dem König alles über seines Bruders letzte Minuten, und der König wiederholte alles mit seinen Händen dem Herzog.

In zwei Minuten wußte es die ganze Stadt, und das Volk kam herbeigerannt von allen Ecken und Enden. Bald waren wir von einer großen Menge umringt, die uns folgte. Fenster und Türen standen voll Menschen, und alle Augenblicke hörte man jemand über den Zaun rufen: »Sind sie’s?«

»Freilich, darauf könnt‘ ihr wetten!« lautete gewöhnlich die Antwort aus der mitlaufenden Menge.

Als wir zum Hause kamen, war die Straße gedrängt voll Menschen, und die drei Mädchen standen in der Tür. Mary Jane war rothaarig, das schadete ihr aber nichts, denn sie war sonst so hübsch, und ihr Gesicht und ihre Augen waren wie verklärt – sie freute sich so, daß ihre Onkel gekommen waren. Der König breitete die Arme aus, und Mary sprang hinein, und die Hasenlippe sprang zum Herzog, und so hatten sie sich. Fast alle, wenigstens die Frauen, weinten vor Freude über dies Wiedersehn und die Freude der Beteiligten.

Dann gab der König dem Herzog einen geheimen Wink – ich sah es –, schaute sich um und erblickte den Sarg in einer Ecke auf zwei Stühlen; dann legten die beiden je einen Arm einander auf die Schulter, bedeckten mit der andern Hand die Augen und schritten langsam und feierlich hinüber. Alle machten ihnen Platz, Gespräch und Geräusch hörten auf, und einige riefen »Sch!« Alle Männer nahmen die Hüte ab und senkten ihre Köpfe. Man hätte in dieser feierlichen Stille eine Stecknadel fallen hören können. Am Sarge angelangt, beugten sich die beiden darüber, warfen einen Blick hinein und fingen dann an so laut zu jammern, daß man sie fast in Orleans hätte hören können. Dann umarmten sie einander, und jeder hing sein Kinn über des andern Schulter, und drei, vielleicht auch vier Minuten lang ließen ihre Augen Wasser fließen wie ich’s nie von zwei Männern gesehen habe. Und die andern machten es ihnen nach. Dann knieten sie auf den entgegengesetzten Seiten des Sarges nieder, legten ihre Köpfe darauf und taten, als ob sie im stillen beteten. Das alles machte einen mächtigen Eindruck auf die Versammlung, und alles sah sich von dem Schmerz der beiden hingerissen und schluchzte laut – die drei armen Mädchen auch, und fast jede Frau ging zu den Mädchen, ohne ein Wort zu sagen, küßte sie feierlich auf die Stirn, legte ihnen die Hand auf den Kopf, sah gen Himmel mit tränenvollen Augen, brach in lautes Schluchzen aus und trat dann beiseite, um der nächsten dieselbe Gelegenheit zu geben.

Darauf trat der König etwas vorwärts und fing an, eine Rede hervorzuschluchzen, voller Tränen und Beteuerungen, was für eine schwere Prüfung für ihn und seinen armen Bruder der Verlust des Dahingeschiedenen sei, besonders da sie ihn nach der langen Reise von viertausend Meilen nicht mehr lebend finden konnten. Aber es sei eine Prüfung, versüßt und geheiligt durch dies schöne Mitgefühl, diese heiligen Tränen, und so danke er allen Anwesenden aus seinem und seines Bruders Herzen, denn mit ihrem Munde könnten sie es nicht, da Worte zu schwach und kalt wären. Und so jammervoll gings weiter, bis es einen anekeln konnte. Dann grölte er ein Amen heraus, und das Heulen ging wieder los.

Kaum hatte er ausgeredet, so intonierte einer der Anwesenden das Ehre sei Gott in der Höhe, und alle fielen kräftig mit ein; das wärmte einem ordentlich das Herz. Musik ist doch ein herrliches Ding; zumal nach einer solchen Rührszene, wo alles so weich wie geschmolzene Butter wurde, wirkte der kernige und ehrliche Gesang ordentlich auffrischend.

Dann setzte der König wieder seine Kinnlade in Bewegung und sagte, wie sehr er und seine Nichten sich freuen würden, wenn einige der nächsten Freunde der Familie zum Abendessen bleiben und nachher mit bei dem Leichnam des Verstorbenen wachen wollten. »Ja«, sagte er, »wenn unser armer Bruder, der jetzt dort liegt, reden könnte, so weiß ich, wen er nennen würde; die Namen, die ihm so lieb waren und die er oft in seinen Briefen nannte, waren folgende: Pastor Hobsen und Vorsteher Lot Hovey und Herr Ben Rucker und Abner Shackleford und Levi Bell und Dr. Robinson und deren Frauen, und Witwe Bartley.«

Pfarrer Hobsen und Dr. Robinson waren am andern Ende der Stadt zusammen auf der Jagd; das heißt, ich meine, der Doktor expedierte einen Kranken ins Jenseits, und der Pfarrer wies ihm den rechten Weg. Advokat Bell war in Geschäften nach Louisville gereist. Aber die übrigen waren bei der Hand, und so kamen sie denn alle und schüttelten dem König die Hände und dankten ihm. Dann reichten sie auch dem Herzog die Hände und sagten nichts, aber sie lächelten ihn freundlich kopfnickend an, während er mit den Händen allerlei Zeichen machte und die ganze Zeit »Gu-gu-gu-gu-gu« schluchzte wie ein Säugling, der noch kein Wort sprechen kann.

Der König plapperte in einem fort und fragte fast nach jedermann im ganzen Städtchen, nannte viele bei Namen, berührte allerlei Kleinigkeiten, die sich im Städtchen und besonders in Georges Familie und an Peter selbst ereignet hatten, und dabei tat er, als ob ihm Peter alles geschrieben hätte. Dieser freche Lügner! Ich brauche nicht zu wiederholen, daß er all das Zeug aus dem jungen Burschen herausgepumpt, den wir im Kanu aufs Dampfboot expediert hatten.

Nun brachte Mary Jane den Brief, den ihr Onkel zurückgelassen hatte, und der König las ihn vor und weinte darüber. Der Verstorbene vermachte sein Wohnhaus und dreitausend Dollar Gold den Mädchen und schenkte die Gerberei, die ein gutes Geschäft war, nebst andern Gebäulichkeiten und Land, alles im Wert von etwa siebentausend Dollar, dazu noch dreitausend Dollar in Gold, Harry und William. Er bezeichnete auch, wo die sechstausend Dollar im Keller versteckt seien. Drauf sagte der Hauptbetrüger, sie wollten gleich gehen und es heraufbringen, damit es in bester Ordnung besorgt würde, und gebot mir, mit einem Lichte mitzukommen. Sie schlossen die Kellertür hinter sich ab, und als sie den Sack fanden, schütteten sie ihn auf die Diele aus – es war ein herrlicher Anblick, all die Goldstücke. Oh, wie leuchteten da des Königs Augen! Er klopfte dem Herzog auf die Schulter und rief: »Gelt, diesmal hat’s aber eingeschlagen! Wer hätte so viel erwartet! Kerl, das geht über’s Nonplusultra!«

Der Herzog stimmte bei. Sie prüften die Goldstücke und ließen sie durch die Finger gleiten und auf der Diele klingen.

Der König sprach: »Das steht fest: Brüder eines reichen Toten und Vertreter ausländischer Erben zu sein, die zurückgeblieben sind, ist jetzt der richtige Beruf für dich und mich, Sommerfett!«

Jeder andere wäre zufrieden gewesen mit einem solchen Haufen Gold; aber nein, sie mußten ihn zählen. Sie taten’s, und es fehlten vierhundertfünfzehn Dollar.

Der König sagte: »Verdammt! Was hat er mit den vierhundertfünfzehn Dollar gemacht?«

Sie grübelten eine Zeitlang und suchten überall herum.

Dann meinte der Herzog: »Er war ja ein recht kranker Mann und hat wohl einen Irrtum begangen – das wird’s wohl sein. Ich meine, es wird am besten sein, wir lassen die Sache auf sich beruhen und sagen nichts davon. Wir können das schon ablassen.«

»Ach, davon ist ja keine Rede – ich denke an etwas anderes. Wir müssen sehr vorsichtig und genau in dieser Sache sein. Wir müssen das Geld hinaufnehmen und in Gegenwart der Anwesenden zählen, damit ja kein Verdacht geschöpft werden kann. Wenn nun der tote Mann da sagt, es sind sechstausend Dollar, dürfen wir nicht…«

»Halt!« rief der Herzog, »wir wollen das Fehlende dazutun«, und er langte eine Handvoll Goldfüchse aus seiner Tasche heraus.

»Das ist eine famose Idee, Herzog! Du hast einen aufgeweckten Kopf auf deinen Schultern«, rief der König. »Da hilft uns die Nonplusultra-Einnahme gut aus«, und auch er langte nun Goldstücke aus seiner Tasche und stellte sie in gezählten Häufchen auf.

Es erschöpfte fast ihre ganze Barschaft, aber es machte die Sechstausend-Summe voll.

»Hör mal«, rief nun der Herzog, »ich hab‘ noch eine andere Idee. Laß uns hinaufgehen, das Geld vorzählen und dann alles miteinander den Mädchen geben.«

»Herzog! Herzog! Laß dich umarmen! Das ist der brillanteste Gedanke, den ein Mensch haben kann. Du bist das erfinderischste Gehirn, das sich denken läßt. Oh, das ist grandios, wahrhaftig. Jetzt soll noch jemand mit Zweifel oder Argwohn kommen, wenn er will – das überzeugt alle.«

Als wir hinaufkamen, sammelten sich alle um den Tisch. Der König zählte und stellte die Goldstücke auf, dreihundert in jedem Häufchen – zwanzig elegante kleine Türmchen. Jedermann sah hungrig und mundwäßrig daraufhin. Dann wurde alles wieder in den Sack getan, und ich sah, wie der König schon wieder zu einer Rede Atem schöpfte.

Er sprach: »Liebe Freunde! Mein armer Bruder, der dort drüben liegt, hat hochherzig an uns gehandelt, die wir hier im Jammertal zurückgeblieben sind; hochherzig an diesen armen lieben Lämmern, die er geliebt und bewacht hat und die, vater- und mutterlos, ihn jetzt entbehren müssen. Ja, und wir, die ihn kannten, wissen, daß er noch mehr für sie getan, wenn er nicht gefürchtet hätte, dadurch seinen teuren William und mich zu schädigen. Oder glaubt ihr nicht? Ich zweifle nicht im mindesten daran. Nun, schlechte Brüder wären es, die zu solcher Zeit an sich selbst dächten, und schlechte Onkel, die zu solcher Zeit diese armen süßen Lämmer, die er so liebte, berauben könnten – ja, berauben, sag‘ ich. Wenn ich William recht kenne – und ich glaube, ich kenne ihn –, würde er… Nun, ich will ihn gleich fragen.« Er wandte sich und begann mit dem Herzog allerlei Zeichen auszutauschen, und der Herzog sah ihn erst eine Zeitlang dumm und dämlich an, dann, als ob ihm plötzlich etwas einleuchtete, sprang er auf den König zu, vor Freude laut gu-gu-end, und umarmte ihn wohl fünfzehnmal hintereinander. Dann sprach der König: »Wußt‘ ich’s doch. Dies wird wohl alle überzeugen, wie er darüber denkt: Hier Mary Jane, Susan, Joanna, nehmt das Geld, nehmt das Ganze. Es ist ein Geschenk von ihm, der dort liegt, kalt, aber selig.«

Dann sprang Mary Jane zu ihm, Susan und die Hasenlippe zum Herzog; solch Umarmen, Ansherzdrücken und Küssen habe ich niemals gesehen. Alle drängten sich herbei, mit Tränen in den Augen, und die meisten schüttelten den zwei Betrügern die Hände mit Redensarten wie: »Ihr lieben, guten Seelen! Wie lieb! Wie konntet ihr das?!«

Dann sprachen sie alle über den Verstorbenen, wie gut er gewesen, was für ein großer Verlust durch seinen Tod entstanden und dergleichen mehr. Bald drängte sich ein großer Kerl zur Tür herein, der Kinnbacken wie aus Eisen hatte. Er stand, hörte und sah zu und sagte nichts, und es redete auch niemand mit ihm, denn der König sprach, und alle hörten ihm zu.

Der König sagte, indem er in seiner Rede fortfuhr: »Das waren die intimsten Freunde des Verstorbenen, darum sind sie für diesen Abend eingeladen; aber morgen, hoffen wir, werden alle kommen, wir erwarten jeden, denn er ehrte jeden und hatte jeden gern, und darum gehört sich’s, daß seine Begräbnis-Orgien recht öffentlich stattfinden.

Und so ging’s fort, denn er hörte sich gern reden. Gelegentlich brachte er immer wieder die Begräbnis-Orgien mit hinein, bis es dem Herzog zuviel wurde und er auf ein Stück Papier schrieb: »Obsequien, du alter Esel«, es zusammenfaltete und es gu-gu-end dem König über die Köpfe der andern hinüberreichte.

Der König las, steckte es in die Tasche und sagte: »Armer William, obwohl tief gebeugt, ist sein Herz doch stets auf dem rechten Fleck. Er wünscht, daß ich jeden bitte, zum Begräbnis zu kommen; sagt, ich solle alle willkommen heißen. Aber er hätte sich darum nicht zu kümmern brauchen, denn ich war ja gerade dabei.«

Dann fuhr er in größter Seelenruhe fort zu salbadern und brachte wieder seine Begräbnis-Orgien hinein, und nachdem er es zum drittenmal getan hatte, rief er: »Ich sage Orgien, nicht weil es das übliche Wort ist, das ist’s nicht, das ist Obsequien, sondern weil Orgien der richtige Ausdruck ist. Obsequien wird in England nicht mehr gebraucht, das ist veraltet. In England sagen wir jetzt Orgien. Orgien ist besser, denn es bezeichnet genauer, was man dabei meint. Das Wort ist zusammengesetzt aus dem griechischen orgo, draußen, außerhalb, im Freien; und dem hebräischen giene, pflanzen, mit Erde bedecken, also beerdigen. So könnt ihr also sehen, daß Begräbnis-Orgien eine offene oder öffentliche Beerdigung bedeutet.«

Es war der frechste Mensch, der mir je vorgekommen ist. Der Mann mit dem eisenähnlichen Kiefer lachte ihm geradezu ins Gesicht. Das wunderte alle, und sie riefen: »Aber Doktor!«, und Abner Shackleford sagte: »Aber Robinson, hast du die Neuigkeit nicht gehört? Das ist Harry Wilks.«

Der König lächelte lauernd, hielt seine Tatze heraus und sprach: »Ist es meines armen Bruders lieber guter Freund und Arzt? Ich…«

»Laß deine Hände von mir!« rief der Doktor. »Du – und sprechen wie ein Engländer? Du? Es ist die erbärmlichste Nachäffung, die ich je gehört habe. Du Peter Wilks‘ Bruder? Du bist ein Betrüger! Nun weißt du, was du bist!«

Ach, wie alle entsetzt waren! Sie drängten sich um den Doktor und suchten ihn zu beruhigen, ihm auseinanderzusetzen, wie Harry auf allerlei Weise gezeigt habe, daß er Harry sei, wie er jeden Namen kannte und sogar die der Hunde, und baten und beschworen ihn, Harry nicht zu nahe zu treten und das Zartgefühl der Mädchen zu schonen und so weiter. Aber es war umsonst, er brauste auf und meinte, jemand, der sich für einen Engländer ausgebe und Englands Lingo Aussprache nicht besser nachmachen könne, als der da, sei ein Betrüger und Lügner. Die armen Mädchen hingen sich an den König und weinten.

Plötzlich wandte sich der Doktor zu ihnen und sagte: »Ich war eures Vaters Freund und ich bin euer Freund, und ich beschwöre euch als Freund, als ein ehrlicher Freund, der euch zu beschützen und Kummer und Unglück von euch abzuwenden sucht, diesem Gauner den Rücken zu kehren, nichts mit ihm zu tun zu haben, diesem unwissenden Landstreicher mit seinem idiotischen Griechisch und Hebräisch, wie er es nennt. Er ist ein fadenscheiniger Betrüger. Kommt her mit einer Masse leerer Namen, die er sich irgendwo zusammengesucht hat, und ihr nehmt sie für Beweise, und eure betrogenen Freunde hier helfen euch, euch selbst zu betrügen – die sollten doch gescheiter sein. Mary Jane Wilks, du kennst mich als deinen Freund, und als einen uneigennützigen Freund. Laß dir raten und diesen erbärmlichen Gauner hinauswerfen. Ich bitte dich, tu es. Wirst du’s tun?«

Mary Jane erhob sich stolz in ihrer ganzen Größe – oh, wie war sie schön! – und sagte: »Hier ist meine Antwort.« Sie hob den Sack Geld auf und legte ihn in des Königs Hände mit den Worten: »Nimm diese sechstausend Dollar und lege das Geld für mich und meine Schwestern an, wie du es für gut hältst, wir brauchen keinen Empfangsschein darüber.«

Dann umschlang sie den König mit ihrem Arm von einer Seite, und Susan und die Hasenlippe taten dasselbe von der andern Seite. Alles klatschte mit den Händen und trommelte stürmisch mit den Füßen auf die Diele, während der König seinen Kopf hoch hielt und stolz lächelte.

Der Doktor rief: »Wohl denn, ich wasche meine Hände in Unschuld. Aber ich sage euch allen, daß die Zeit kommen wird, wo es euch übel zumute ist.«

»Um so besser, Doktor«, rief der König höhnisch, »dann werden sie Euch wohl rufen lassen müssen« – das machte alle lachen, und sie sagten, das sei ein guter Witz.

12. Kapitel

Langsame Fahrt – Geliehene Dinge – Besteigung des Wracks – Die Verschwörer – »Das ist unmoralisch!« – Jagd nach dem Boot

12. Kapitel

Es mußte beinahe ein Uhr sein, als wir endlich aus dem Bereich der Insel kamen; es war eine verflixt langsame Fahrt auf dem Floß. Sollte uns irgendwas Verdächtiges begegnen, so hatten wir verabredet, das Floß zu verlassen, unser Boot, das wir angehängt hatten, zu besteigen und uns so schnell wie möglich nach dem Illinois-Ufer zu aus dem Staub zu machen. Glücklicherweise hatten wir das aber nicht nötig, sonst wäre es uns übel ergangen, denn wir hatten mit keinem Gedanken daran gedacht, Flinte oder Angelleine oder irgendwelche Lebensmittel in unser Boot zu tun. Der Mensch kann nicht an alles denken, aber es war wahrhaftig sehr dumm gewesen, unsre ganze Habe aufs Floß zu schaffen.

Wenn die Männer wirklich nach der Insel gekommen sind, werden sie wohl mein Lagerfeuer gefunden und die ganze Nacht dabei auf Jim gewartet haben. Auf jeden Fall kamen sie uns nicht nach, und wenn das Feuer sie nicht an der Nase herumgeführt hat, so ist das nicht meine Schuld, ich zündete es in der besten Absicht an. Als sich der erste Streifen im Osten zeigte, landeten wir in einer Bucht am Illinois-Ufer und verbargen unsere Flotte im dichten Weiden- und Binsengestrüpp.

Drüben an der Missouri-Seite gab’s Berge, hier bei uns nur dichte Waldungen, auch war drüben die fahrbarere Strecke des Stroms, so daß es für uns keine Gefahr gab, entdeckt zu werden. So lagen wir denn den Tag über still und sahen den Fahrzeugen drüben zu, wie sie auf- und abwärts glitten, den Booten, den Flößen und den Dampfern, die in der Mitte des Stroms daherkeuchten und schnaubten. Ich erzählte Jim mein Abenteuer von gestern mit der Frau in der Hütte, die sich durch meinen Rock und Hut nicht hatte täuschen lassen, und er meinte, die sei schlau gewesen, die hätte uns wohl schwerlich so leicht entwischen lassen, wie’s die Männer getan; die hätte sich nicht schläfrig hingelegt und ein einsames Lagerfeuer bewacht, statt drauflos zu suchen, die wäre gar nicht ohne Hund ausgerückt und hätte überhaupt die Sache viel schlauer angefaßt. Warum sie dann wohl den Männern nicht geraten habe, einen Hund mitzunehmen, warf ich ein. Das habe sie wahrscheinlich zuletzt noch getan, meinte Jim, deshalb hätten sich auch gewiß die alten Schlafhauben von Männern verspätet und all die kostbare Zeit verloren und wir säßen hier auf dem Floß im Weidengestrüpp, statt da drüben hinter Schloß und Riegel im Städtchen, »ja warraftig!« Mir war’s nun ganz und gar einerlei, was die Ursache sei, daß wir hier waren statt dort, solange wir nur wirklich frei blieben und sie uns nicht wegfingen.

Als es anfing, dunkel zu werden, streckten wir unsre Köpfe vorsichtig aus dem Weidengestrüpp und sahen uns um. Vorn, hinten, hüben, drüben – alles sauber, nichts zu sehen! Jim nahm nun ein paar von den obersten Planken des Floßes und stellte eine Art Hütte her, um uns und unsre Habseligkeiten gegen das Wetter zu schützen; die Hütte erhielt einen Bretterboden, ungefähr einen Fuß höher als die Oberfläche des Floßes, so daß unsere Decken und andere Sachen aus dem Bereich der Wellen der Dampfboote waren. Gerade in der Mitte der Hütte machten wir dann von Lehm eine Art Herd, worauf wir unser Feuer anzünden konnten, ohne daß es von außen viel gesehen werden würde. Dann verfertigten wir noch ein zweites Steuerruder, um nicht in Not zu geraten, im Fall das eine zerbrochen würde. Ein gabeliger Baumast diente uns als Laternenpfosten, denn es war nötig, Licht zu haben, um nicht von irgendeinem Dampfboot in den Grund gebohrt zu werden.

In der zweiten Nacht ließen wir uns ungefähr sieben bis acht Stunden von einer ziemlich reißenden Strömung dahintragen. Wir fingen Fische und plauderten, schwammen auch mal neben her, um den Schlaf fernzuhalten. Es war uns ordentlich feierlich zumute, so auf dem großen, stillen Strom hinzugleiten in der lautlosen Nacht. Wir legten uns dann auf den Rücken und schauten nach den Sternen, und es kam uns gar nicht in den Sinn, laut zu sprechen, oder gar zu lachen, höchstens hie und da mal ganz leise. Wir hatten fabelhaft gutes Wetter, und nichts passierte uns, weder in dieser Nacht noch in der nächsten und übernächsten.

Jede Nacht kamen wir an Städtchen vorüber, die oft weit drüben an den schwarzen Abhängen gelegen waren; kein Haus war zu erkennen, nichts als Nester voll schimmernder Lichter. In der fünften Nacht kamen wir an St. Louis vorüber, und das leuchtete und funkelte, als habe man die ganze Welt in Brand gesteckt. Bei uns zu Haus in Petersburg hatten sie immer gesagt, wie furchtbar groß St. Louis sei und wie da zwanzig- oder dreißigtausend Menschen alle auf einem Fleck zusammen lebten. Ich hatt’s nie geglaubt. Als ich aber den Bündel Lichter dort sah, in der Nacht um zwei Uhr, wo sonst alles gesund und fest schläft, da wurde mir begreiflich, daß es wahr sein müsse und daß die Leute nicht geflunkert hatten.

Jeden Abend begab ich mich nun ans Ufer in irgendein kleines Dorf, meist so gegen zehn Uhr, und kaufte ein, was wir gerade brauchten, Speck oder Mehl oder Tabak, wie’s kam. Manchmal verhalf ich auch einem Huhn, das nicht recht ruhen wollte, zu einer bequemeren Lage in meinen Armen. Mein Alter sagte immer: Wenn du irgendwo ein Huhn kriegen kannst, nimm’s mit, unter allen Umständen. Brauchst du’s nicht, braucht’s ein anderer, und eine gute Tat lohnt sich jedesmal. Der Alte zwar brauchte das Huhn immer selbst, allein das änderte nichts an seinem Wahlspruch.

Morgens, eh‘ der Tag kam, schlüpfte ich dann in die Felder und pumpte mir irgendeine Melone oder einen Kürbis oder andere Früchte, die mir gerade in den Weg kamen. Pumpen sei nichts Schlimmes, hatte mein Alter immer gesagt, wenn man nur die Absicht habe, es einmal heimzugeben, die Witwe aber meinte, das sei nur ein schönerer Ausdruck für Stehlen, und kein ordentlicher Mensch täte dergleichen. Jim, den ich fragte, sagte, die Witwe habe recht, der Alte aber auch, und wenn wir zwei oder drei Sachen von unserer Pumpliste strichen, zum Beispiel schlechte Wassermelonen oder saure Äpfel, und uns fest vornehmen würden, diese künftig liegen zu lassen, dann sei’s wohl jedem recht gemacht, und wir könnten das übrige leichten Herzens lustig weiter nehmen. Vorher war’s uns nicht ganz wohl bei der Sache gewesen, aber seit wir diesen Ausweg gefunden hatten, wurde es uns wieder ganz behaglich – Wassermelonen und saure Äpfel ließen sich ja leicht entbehren.

Ab und zu schossen wir ein vorwitziges Wasserhuhn, das sich des Morgens zu früh oder des Abends zu spät legte, kurz, wir lebten ganz behaglich, glücklich und zufrieden und freuten uns unseres Daseins.

In der fünften Nacht, als wir an St. Louis vorbei waren, kam ein furchtbares Gewitter mit Donner und Blitz, und der Regen goß wie Bindfaden herunter. Wir verkrochen uns in unsre Hütte und ließen Floß Floß sein, das schwamm von selbst weiter. Beim Schein der Blitze konnten wir sehen, daß die Ufer felsig und steil waren, und auch im Wasser zeigten sich Felsen. Auf einmal ruf ich: »Hallo, Jim, sieh mal dort hin!« Und was war’s? Ein Dampfboot, das an einem der Felsen gestrandet war. Wir hielten gerade darauf los und konnten es ganz deutlich sehen beim Schein der Blitze. Ein Teil des Oberdecks ragte noch aus dem Wasser hervor, und wenn gerade ein heller Blitz kam, konnte man alles, was darauf war, deutlich erkennen, sogar einen Stuhl, der nahe bei der großen Schiffsglocke stand, samt einem Hut, der an der Lehne hing.

Puh, mich überlief’s! Es war so schauerlich da draußen in der Nacht bei dem Sturm, und mir ging’s, wie es jedem Jungen in meinem Alter beim Anblick des einsamen, traurigen Wracks da mitten im Strom gegangen wäre, mir gruselte, und doch wollt‘ ich für mein Leben gern an Bord und ein wenig dort herumschnüffeln.

»Laß uns anlegen, Jim«, bat ich.

Jim aber war zuerst taub für die Bitte und meinte: »Jim nix brauchen zu sehen auf Wrack, Jim sein gar nix neugierig. Du viel besser bleiben davon, oder du dir verbrennen die Finger. Jim nix wollen haben zu tun mit Polizei!«

»Polizei? Selbst Polizei! Was hätte denn die da zu tun? Das Deck und das Lotsenhaus zu bewachen, he? Glaubst du, irgendeiner riskiere sein Leben in einer solchen Nacht wegen ein paar alter Planken, die jeden Augenblick auseinandergerissen und weggespült werden können?« Jim glaubte das nun keineswegs und so blieb er still. »Und außerdem«, fuhr ich fort, könnten wir uns gewiß etwas aus des Kapitäns Kajüte pumpen, Jim – Zegarren, wett‘ ich, fünf Cents das Stück, feine Ware, Jim! Dampfboot-Kapitäne sind immer reich, Jim! Haben sechzig Dollars im Monat und fragen nicht lang, was etwas kostet, wenn sie’s brauchen. Komm, steck eine Kerze ein, Jim, ich hab‘ keine Ruh‘ mehr, bis wir dort sind. Meinst du, Tom Sawyer hätte zu so was nein gesagt? Niemals! Der nicht! Der hätt’s ein Abenteuer genannt, ein heldenhaftes Abenteuer, so hätt‘ er’s genannt und wäre an Bord gegangen, wenn’s auch sein Leben gekostet hätte. Und wie hätt‘ er sich dabei benommen! Mit Anstand, sag‘ ich dir! Der hätt‘ sich hingestellt wie Christian Klumbus, als er das tausendjährige Reich entdeckte! Ach, ich wollte, Tom wär‘ hier!«

Jim brummte noch etwas in seinen Bart, den er nicht hatte, und gab dann nach. Er sagte aber, wir dürften nur so wenig wie möglich reden, nur das Allernotwendigste und ganz, ganz leise. Der Blitz zeigte uns das Wrack wieder, gerade rechtzeitig, um anlegen zu können.

Das Deck ragte hier hoch empor. Wir schlichen im Dunkeln auf der schrägen Fläche nach Backbord auf die Kajüte zu, indem wir uns Schritt für Schritt behutsam vorwärtsbewegten und die Hände ausstreckten, um nirgends anzustoßen. Wir erreichten auch bald das vordere Ende des Oberlichts und kletterten in die Öffnung; noch ein paar Schritte, und wir standen vor der Tür des Kapitäns. Die stand offen, und – Herr des Himmels – ganz im Hintergrund des Ganges, der zum Salon führt, erblicken wir ein Licht und vernehmen Stimmengemurmel.

Jim flüsterte mir zu, ihm sei sterbensübel, und beschwor mich, mit ihm wegzugehen. Ich sagte: »Gut, komm fort.«

Da hörte ich gerade eine Stimme stöhnen und flehen: »Ach, laßt mich doch, Jungens, ich schwör’s, ich verrat‘ euch nicht!«

Drauf antwortete eine andre Stimme ziemlich laut: »Da lügst du, Jim Turner, wir sind dir hinter die Schliche gekommen! Immer hast du den größten Teil gewollt, wenn’s etwas zu teilen gab, und auch gekriegt, was noch wichtiger ist, weil du uns immer verraten wolltest, wenn wir’s nicht täten. Diesmal aber haben wir dich gefangen, Kerl! Gemeiner, verlogener Hund du!«

Jim hatte sich schon lange davongemacht und mußte bereits beim Floß angelangt sein, in mir aber regte sich die Neugier immer mehr. Tom Sawyer hätte nun erst recht nicht locker gelassen, sagte ich mir, und ich tu’s auch nicht, ich muß sehen, was da vorgeht. Ich ließ mich also auf Hände und Knie nieder und kroch in dem kleinen Durchgang in der Dunkelheit nach hinten, bis mich nur noch die Breite einer Kabine von dem Salon trennte. Da drinnen lag ein Mann an Händen und Füßen geknebelt auf dem Boden, zwei andre standen vor ihm, der eine mit einer kleinen Laterne, der andre mit einer Pistole in der Hand. Der mit der Pistole zielte auf den Kopf des Geknebelten und wiederholte immer wieder: »Ich möcht‘ ihn niederschießen, den Hund, und ich sollt’s eigentlich auch tun – dieser Verräter!«

Der am Boden krümmte sich dann jedesmal und ächzte: »Tu’s nicht, Bill, tu’s, bitte, nicht – ich sag‘ gewiß und wahrhaftig kein Sterbenswörtchen mehr!«

Und als er so wimmerte, höhnte der mit der Laterne: »Was Gescheiteres und was Wahreres hast du noch nie gesagt, das schwör‘ ich dir!« Und einmal sagte er: »Hör nur, wie der Kerl bettelt, und doch, wenn wir nicht stärker gewesen wären als er, hätt‘ er uns beide getötet, so gewiß ich hier stehe. Und warum – weshalb? Für nichts, rein für nichts? Nur weil wir haben wollten, was uns gehörte. Nur darum! Ich wett‘ aber, du drohst keinem mehr, Jim Turner! – Tu die Pistole weg, Bill!«

Drauf Bill: »Ich will aber nicht, Jack, ich will den Hund zum Schweigen bringen. Verdient er’s nicht, der schlechte Kerl? Hat er nicht von selbst dem alten Hatfield den Garaus gemacht?«

»Ich aber will nicht, daß du ihn tötest, und ich habe meine Gründe dafür!«

»Gott segne dich für diese Worte, Jack, ich werde sie dir nie vergessen, so lang ich lebe«, schluchzte der am Boden.

Jack hörte nicht auf ihn, hing seine Laterne an einen Nagel und ging im Dunkeln gerade auf die Stelle zu, wo ich war, während er Bill veranlaßte, ihm zu folgen. Ich retirierte wie ein Krebs, so schnell ich konnte. Um nicht entdeckt zu werden, blieb mir nur übrig, mich in eine der nächsten Kabinen zu flüchten.

Vor dem Eingang der Kabine, in die ich geflüchtet war, blieb Jack stehen und rief: »Komm hier herein.«

Und Jack, gefolgt von Bill, trat ein. Ich aber hatte mich zuvor geschwind in eine der oberen Kojen verkrochen. Sehen konnte ich sie nicht, wohl aber riechen, so viel Branntwein hatten sie geladen. Gott sei Dank, daß ich keinen trinke, aber ich glaube, sie hätten’s doch nicht gerochen. Mir war fast der Atem vergangen, so beklommen fühlte ich mich. Da lieg‘ aber auch mal einer und atme, wenn zwei dicht unter seiner Nase solches Zeug verhandeln! Sie sprachen leise und eifrig. Bill wollte Turner durchaus töten. Spricht Bill: »Er hat gedroht, uns zu verraten, und er wird’s tun, wenn wir ihn jetzt laufen lassen und wenn wir ihm selbst unser Teil noch dazugeben. Das weißt du so gut wie ich, Jack, warum also zögern? Ich bin dafür, daß wir ihn von dieser Welt erlösen!«

»Ich auch!« bestätigt Jack sehr ruhig. – »Hol’s der Teufel, das hab‘ ich dir bis jetzt nicht angemerkt! Gut also, voran denn!«

»Wart noch eine Minute, Bill, und hör mich erst zu Ende, ich bin noch nicht fertig. Eine Kugel ist ganz gut, aber es gibt auch noch eine geräuschlosere Art, so was zu tun, wenn’s getan sein muß! Warum sich in Gefahr begeben, wenn du ganz dasselbe ohne jede Gefahr haben kannst? Hab‘ ich nicht recht?«

»Natürlich! Aber was willst du eigentlich tun?«

»Hör mich an! Ich denke, wir sehen noch einmal alle Räume nach, damit wir nichts vergessen mitzunehmen, drauf stoßen wir ab ans Ufer und verbergen die Beute. Dann warten wir’s ruhig ab. In weniger als zwei Stunden geht diese alte Rattenfalle doch auseinander, und wenn der Kerl dann mit ersäuft, wer ist schuld daran? Warum kommt er her? Merkst du’s nun? Ich bin immer dagegen gewesen, einen Menschen zu töten, wenn man’s vermeiden kann – ’s ist dumm und ’s ist unmoralisch!«

»Da hast du recht! Aber wenn nun die Geschichte nicht so schnell auseinandergeht?«

»Na, die zwei Stunden wollen wir auf jeden Fall einmal warten. Komm, vorwärts!«

Sie verdufteten und ich auch, und zwar ziemlich rasch, von kaltem Schweiß bedeckt. Ich kroch eiligst dahin zurück, wo wir angelegt hatten. Es war dort so dunkel wie in einer Kuh, und ich konnte die Hand nicht vor den Augen sehen, flüsterte nur ganz leise: »Jim!« Dicht neben mir stöhnt etwas Antwort.

»Schnell, Jim, wir haben mit Stöhnen gar keine Zeit zu verlieren. Das ist eine Räuber- und Mörderbande dadrinnen, und wenn wir ihr Boot nicht erwischen und es forttreiben lassen, so ist einer von den Kerlen arg in der Klemme. Ich möcht‘ sie aber alle drei zappeln lassen und dem Sheriff ausliefern. Schnell, eil dich! Ich will diese Seite absuchen nach dem Boot, du die andre. Dann setzt du dich ins Floß und –«

»Floß? O Herr, herrjemine, Floß? Da sein kein Floß nix mehr! Floß sein losgerissen, sein fort, und arme alte Jim und Huck sein verloren! Sein keine Floß nix da!«

13. Kapitel

Flucht aus dem Wrack – Der Wächter an der Fähre – Untergang – Gesunder Schlaf

13. Kapitel

Mir ging der Atem aus, und ich fiel beinahe um vor Entsetzen. Hier auf dem Wrack allein mit einer solchen Bande wie die da drunten, das war kein Spaß! Jetzt mußten wir ihr Boot finden – mußten’s für uns selbst haben! So krochen wir zitternd und bebend nach Steuerbord zurück, und es schien uns eine Ewigkeit, bis wir zum Hinterteil des Schiffes gelangten. Ein Boot aber war nirgends, nirgends zu sehen. Jim sagte, er könne sich kaum noch aufrechthalten, so schlottern ihm die Knie, solche Angst habe er in seinem Leben noch nicht ausgestanden. Ach, du mein Himmel, mir ging’s nicht viel besser, aber gesagt hätte ich nichts um alles in der Welt. Ich trieb ihn nur vorwärts und versicherte ihm, daß wir, wenn wir hier bleiben, zwischen den Wellen und den Kerlen da drinnen garstig in der Klemme säßen. Wir also wieder drauflos und weitergesucht! Immer vorwärts tastend, hatten wir schon beinahe den Teil erreicht, wo das Deck sich gegen die Wasserfläche gesenkt hatte, da – seh‘ ich einen dunklen Klumpen im schwarzen Schatten da drunten, und weiß Gott und wahrhaftig, es war ein Boot! Wie froh und dankbar atmeten wir auf! Eben wollten wir uns hinunterlassen, da öffnet sich dicht neben mir eine Luke, und ein Kopf erscheint. Es ist einer von den Kerlen! Daß er mich nicht gesehen, war das reine Wunder!

Er aber dreht den Kopf nach rückwärts und flüstert: »Tu doch die Laterne weg, die kann uns ja verraten!«

Er warf einen gefüllten Sack ins Boot, schwang sich selbst nach und setzte sich. Es war Jack. Dann kam Bill nachgekrochen und war auch schnell unten.

Wispert Jack: »Fertig – stoß ab!«

Ich konnte mich kaum mehr festhalten, so schwach wurde mir. Da flüsterte Bill: »Wart ein wenig. Hast du ihn auch noch einmal genau durchsucht, den Hund?«

»Nein – hast du’s denn nicht getan?«

»Nein, Gott straf mich! Da hat der Kerl also noch seinen Teil an Barem in der Tasche!«

»Nun, dann aber geschwind zurück! – Es hat freilich keinen Wert, all den Kram fortzuschleppen und das Geld ihm zu lassen. Komm schnell!«

»Wird er denn aber nicht merken, was wir im Schilde führen?«

»Vielleicht – vielleicht auch nicht! Einerlei – haben müssen wir’s, also vorwärts!«

So kletterten die Kerle wieder zurück und verschwanden.

Ob wir flink unten und im Boot drin waren! Mir schien’s, als packe uns ein Wirbelwind! Messer raus, Leine durch – auf und los und davon, eh‘ einer Amen sagen konnte!

Wir rührten keine Ruder, verloren kein Wort, atmeten kaum. Lautlos glitten wir davon, totenstill, am Schiff entlang und waren in ein paar Minuten außer Hör-, Seh- und Schußweite, sahen das Wrack in der Dunkelheit verschwinden, waren gerettet – und dankten unserm Schöpfer.

Als wir ungefähr zwei- oder dreihundert Meter entfernt waren, sahen wir eine Laterne wie ein kleines Sternchen für einen Augenblick über dem Wasser aufblitzen; jetzt hatten die Kerle gewiß entdeckt, daß das Boot weg war und daß sie ungefähr so schlimm dran waren wie Jim Turner.

Wir aber legten uns tüchtig in die Ruder und spähten nach unserm Floß aus. Da kam es mir plötzlich in den Sinn, mir wegen des Schicksals der Männer Gedanken zu machen; vermutlich hatte ich bisher keine Zeit dazu gehabt. Mir schien die Klemme, in die ich sie gebracht hatte, selbst für Mörder etwas allzu grausam. Sag‘ ich zu mir selbst: Wer weiß, Huck, was aus dir noch einmal wird, vielleicht nichts viel Besseres, und da war‘ dir so was auch recht unangenehm.

Ruf ich deshalb Jim zu: »Jim, beim ersten Licht, das wir sehen, machen wir halt, legen an, verstecken dich und das Boot, und ich geh‘ dann hin und fable den Leuten was vor, daß sie nach den Kerlen dort im Wrack sehen, damit die nicht wie Ratten ersaufen, sondern schön gehenkt werden können, wenn sie einmal reif dafür sind!«

Die Idee aber war Essig, denn auf einmal begann der Sturm wieder wie toll drauflos zu rasen, schlimmer als je. Es goß nur so in Strömen, und nirgends war ein Licht zu entdecken, bei dem Hundewetter war wohl alles im Bett. Wir arbeiteten uns vorwärts, durch alles hindurch, und schauten scharf nach einem Licht und nach unserm verlorenen Floß aus. Nach einiger Zeit ließ der Regen etwas nach, aber die Wolken blieben, und der Blitz flammte hie und da noch auf. Auf einmal zeigte uns ein Strahl etwas Schwarzes, das vor uns dahinglitt. Wir natürlich flink drauflos.

Und wahrhaftig, es war unser Floß. Wir waren froh wie die Maikäfer, uns drauf verkriechen zu können, auf unserm alten, lieben, verlorenen und wiedergeschenkten Floße. Wie doch der Mensch an dem Seinen hängt! Jetzt entdeckten wir auch ein Licht drüben am Ufer, nach dem wollte ich mich denn auch hinmachen – die drei Kerle lagen mir zu schwer im Magen. Unser Boot war halb voll geladen mit Kram, den die Schurken gestohlen hatten. Den luden wir nun in einem Haufen auf unser Floß, und ich hieß Jim langsam weitertreiben und nach einiger Zeit, so etwa nach einer Stunde, ein Feuer zu machen und es brennen lassen, bis ich zurück sei, damit ich ein Zeichen habe. Dann zog ich los und auf das Licht zu. Als ich näher kam, entdeckte ich noch andere an einem Hügel aufwärts es mußte ein Dorf sein. Ich hielt auf das Uferlicht zu, zog die Ruder ein und ließ mich treiben, um erst ein wenig auszukundschaften. Im Vorbeigleiten sah ich, daß das Licht eine Laterne war, die an einem Fährboot befestigt hing. Ich schaute nun nach dem Wächter aus, wo er schliefe, und fand ihn richtig vorn bei den Tauwinden selig eingeschlummert, mit dem Kopf zwischen den Knien. Ich stieß ihn dann leicht an und begann zu schluchzen und heulen.

Er fuhr auf und sah sich dann verstört um. Als er aber entdeckte, daß nur ich es sei, reckte und streckte und dehnte er sich erst behaglich und brummte dann: »Hallo, was ist denn wieder los? Heul nicht, Bub! Was gibt’s denn?«

Schluchz‘ ich: »Vater und Mutter und Schwester und –«

Ich konnte nicht weiter vor Jammer. Dann sagt‘ er: »Oh, verdammt, heul nicht so, Junge, jeder hat seinen Packen zu tragen, und deiner wird nicht gar zu schwer sein! Was ist denn los mit Vater und Mutter und Schwester?«

»Sie sind – sie sind –. Sind Sie der Wächter von dem Fährboot?«

»Ja«, bestätigt er selbstgefällig, »der bin ich! Ich bin Kapitän, Eigentümer, Matrose und Lotse, Steuermann, Wächter – alles in einer Person. Oftmals auch alleinige Fracht und Passagier zugleich. So reich wie der alte Jim Hornback bin ich nicht, kann nicht so mit dem Gelde um mich werfen, wie er’s tut, der’s den Schlingeln dem Tom und dem Dick und dem Harry – nur so in die Taschen stopft, aber ich möcht‘ doch nicht mit ihm tauschen, nicht um viel. Denn, sag‘ ich zu ihm: Ein Leben auf dem Wasser, das ist doch ein Leben; lieber ließ ich mich hängen, als dahinten an den Bergen zu kleben, wo man nicht weiß, ob die Welt geht oder still steht, nicht um alles möcht‘ ich das, und wenn du mich in Gold fassen ließest, und, sag‘ ich …«

Nun fiel ich ein: »Ach, ach, meine Leute werden gar nicht wissen, was sie tun sollen und –«

»Wer wird’s nicht wissen?«

»Ei, der Vater und die Mutter und die Schwester und Miss Hooker. Ach, guter Herr, wenn Sie doch Ihr Boot nehmen wollten und hingehen und –«

»Wohin? Wo sind die denn?«

»Auf dem Wrack!«

»Auf welchem Wrack?«

»Ach, es ist ja nur eins da!«

»Was, du willst doch nicht sagen auf dem Walter Scott?«

»Ja! Dort!«

»Großer Gott! Was, um Himmels willen, tun sie denn da?«

»Nun, freiwillig sind sie nicht hingegangen!«

»Das glaub‘ ich wohl! Herr des Himmels, da sind sie ja einfach verloren, wenn sie nicht machen, daß sie schleunigst wegkommen. Wie, in Gottes Namen, sind sie denn eigentlich da hingeraten?«

»Sehr einfach! Miss Hooker war zu Besuch dort oben in der Stadt –«

»Booths Landing meinst du – weiter!«

»Also sie war zu Besuch in Booths Landing, und gegen Abend wollte sie dann fort und noch eine Freundin besuchen, um da zu übernachten, ein Fräulein – ach ich hab‘ den Namen vergessen. Mitsamt ihrer alten Niggerfrau ließ sie sich in der Fähre übersetzen, und da verloren sie das Steuerruder mitten auf dem Wasser und wurden nun fortgerissen von den Wellen und gegen das Wrack geschleudert, und Fähre und Fährmann und die Niggerfrau, alles war verloren. Nur Miss Hooker erwischte etwas vom Schiff, woran sie sich halten konnte, und rettete sich so auf Deck. – Vielleicht eine Viertelstunde später kamen wir in unserem Boot flußabwärts vom Markt heim; es war so stichdunkel, daß wir das Wrack nicht eher sahen, als bis wir mit der Nase draufstießen und es zu spät war. Das Boot war natürlich zum Kuckuck, aber retten konnten wir uns alle, nur Bill Whipple – der ertrank – ach, und der war der beste Kerl von der Welt, wahrhaftig, ich hätt‘ beinahe lieber all das Wasser selbst geschluckt – das hätt‘ ich, meiner Seel‘ –«

»Herr, du mein Gott, das ist gewiß und wahrhaftig die merkwürdigste Geschichte, die ich je gehört habe! Na und dann? Was habt ihr dann getan?«

»Nun, wir riefen und schrien natürlich und waren wie toll; aber es ist so weit da draußen, da konnte uns niemand hören. Sagt‘ mein Alter: Das nutzt alles nichts, einer von uns muß sehen, wie er ans Land kommt und Hilfe schafft. Gut also! Ich war der einzige, der schwimmen konnte, so mußte ich denn ran und mein Heil probieren. Da gab’s kein langes Zaudern! Ich denn rein und los. Miss Hooker rief mir nach, wenn ich nicht früher Hilfe fände, so solle ich nur machen, daß ich zu ihrem Onkel käme, der werde schon Rat wissen. So schwimm‘ ich denn drauflos und komme auch richtig ans Land, vielleicht eine Stunde weiter da unten, aber wo ich auch anklopfe und meine Geschichte erzähle, alle weisen mich ab. ›Was‹, sagen sie, ›in der schrecklichen Nacht? Nein, mein Junge, das wäre Unsinn, da such du sonst jemand – mach, daß du zur Dampf-Fähre kommst; wenn dir einer hilft, so wird dir der dort helfen!‹ Und da bin ich, und – ach, wenn Sie doch wirklich gehen wollten und sehen und –«

»Meiner Seel‘, das will ich, will’s gern tun, aber – sag mal, weißt du, ganz umsonst kann ich’s nicht, wie steht’s denn mit – na, du weißt, was ich sagen will, wer wird mir’s denn vergüten? Glaubst du, dein Vater kann –«

»Ach, darüber machen Sie sich keine Sorgen, daran soll’s nicht fehlen. Miss Hooker sagte noch, ihr Onkel Hornback …«

»Was – der ist ihr Onkel? Paß mal auf, was ich dir sage – siehst du dort das Licht? – Gut – also, darauf gehst du los, und wenn du hinkommst, fragst du in der Wirtschaft nach Jim Hornback. Die werden dich dann zurechtweisen; aber eil dich und halt dich unterwegs nicht auf, denn der wird’s schnell wissen wollen. Und sag ihm, ich wolle ihm seine Nichte bringen, heil und ganz, eh‘ er noch selbst zur Stadt kommen könne, er soll sich ja nicht ängstigen und – aber mach doch, daß du fortkommst, Schlingel – steht da und sperrt das Maul auf, statt den Weg unter die Füße zu nehmen! Vorwärts, ich werd‘ gleich abstoßen!«

Ich tu‘ also, als ob ich dem gewiesenen Licht zurenne. Kaum bin ich aber außer Hör- und Sehweite, schleich‘ ich in großem Bogen zurück, bis dahin, wo ich mein Boot versteckt hatte, mach‘ es flott und laß mich nun leise am Ufer hin treiben und verberg mich dann zwischen ein paar Holzschiffen, denn ich mußte sehen, ob der Mann wirklich Ernst mache. Im ganzen war ich sehr mit mir zufrieden, denn, denk‘ ich, viele hätten sich nicht soviel Mühe gemacht wegen der alten Diebsbande, sondern sie ruhig Wasser schlucken lassen, bis sie genug gehabt – und verdient hätten sie’s auch, die Kerle! Ich wollte, die Witwe hätte die Geschichte gehört, die härte gewiß geweint vor Rührung über meine Großmut gegen die Schurken, denn, merkwürdig, für Mörder und dergleichen Lumpengesindel hatte sie wie andere gute Seelen immer die größte Teilnahme.

Jetzt seh‘ ich, wie sich die Fähre in Bewegung setzt. Ich also raus aus meinem Versteck und flink drauflos gerudert, um zuerst an Ort und Stelle zu sein. Da erhebt sich auch schon das Wrack aus den Wellen, ganz geisterhaft dunkel und schwarz. Aber es sinkt rasch und zusehends, ist schon beinahe ganz mit Wasser gefüllt. Viel Spielraum, um frische Luft zu schöpfen, hatten die Kerle drin nicht mehr – soviel war klar. Ich rudre denn noch ein bißchen näher, versuch‘ auch, die Burschen, falls sie überhaupt noch existierten, schwach anzurufen, krieg‘ aber keine Antwort und denk‘: Wollt ihr nicht, so will ich erst recht nicht!

Jetzt kommt auch schon die Fähre mit voller Kraft angedampft. Ich halt‘ nun schleunigst nach der Mitte des Stroms zu, und wie ich glaubte außer Hörweite zu sein, zieh‘ ich die Ruder ein, um alles sehen und beobachten zu können. Ich sah, wie die Fähre um das Wrack herumdampfte und schnupperte, um nach Fräulein Hookers irdischen Resten zu suchen, zum Trost des armen, seiner geliebten Nichte beraubten Onkels Hornback. Der Fährmann konnte aber offenbar nichts entdecken, und da das Wrack von Minute zu Minute erschreckend rasch tiefer und immer tiefer sank, gab er schließlich den Versuch nach kurzem ganz auf und dampfte dem Ufer zu. Ich aber zog nun gewaltig aus, den Fluß hinunter.

Schrecklich lang kam es mir vor, ehe ich Jims Licht entdeckte, und als es endlich, endlich in Sicht kam, schien mir’s noch wenigstens tausend Meilen entfernt. Als ich schließlich glücklich anlangte, dämmerte im Osten schon der Tag herauf. Wir hielten also auf eine kleine Insel zu, verbargen unser Floß, bohrten das vom Wrack mitgenommene Boot an, daß es sank, krochen in unsere Hütte und schliefen wie die Toten den Schlaf der Gerechten.

1. Kapitel

Huck soll sievilisiert werden – Moses in den Schilfern – Miss Watson – Tom Sawyer wartet

1. Kapitel

Da ihr gewiß schon die Abenteuer von Tom Sawyer gelesen habt, so brauche ich mich euch nicht vorzustellen. Jenes Buch hat ein gewisser Mark Twain geschrieben und was drinsteht ist wahr – wenigstens meistenteils. Hie und da hat er etwas dazugedichtet, aber das tut nichts. Ich kenne niemand, der nicht gelegentlich einmal ein bißchen lügen täte, ausgenommen etwa Tante Polly oder die Witwe Douglas oder Mary. Toms Tante Polly und seine Schwester Mary und die Witwe Douglas kommen alle in dem Buche vom Tom Sawyer vor, das wie gesagt, mit wenigen Ausnahmen eine wahre Geschichte ist. – Am Ende von dieser Geschichte wird erzählt, wie Tom und ich das Geld fanden, das die Räuber in der Höhle verborgen hatten, wodurch wir nachher sehr reich wurden. Jeder von uns bekam sechstausend Dollars, lauter Gold. Es war ein großartiger Anblick, als wir das Geld auf einem Haufen liegen sahen. Kreisrichter Thatcher bewahrte meinen Teil auf und legte ihn auf Zinsen an, die jeden Tag einen Dollar für mich ausmachen. Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich mit dem vielen Geld anfangen soll. Die Witwe Douglas nahm mich als Sohn an und will versuchen, mich zu sievilisieren wie sie sagt. Das schmeckt mir aber schlecht, kann ich euch sagen, das Leben wird mir furchtbar sauer in dem Hause mit der abscheulichen Regelmäßigkeit, wo immer um dieselbe Zeit gegessen und geschlafen werden soll, einen Tag wie den andern. Einmal bin ich auch schon durchgebrannt, bin in meine alten Lumpen gekrochen, und – hast du nicht gesehen, war ich draußen im Wald und in der Freiheit. Tom Sawyer aber, mein alter Freund Tom, spürte mich wieder auf, versprach, er wolle eine Räuberbande gründen und ich solle Mitglied werden, wenn ich noch einmal zu der Witwe zurückkehre und mich weiter ›sievilisieren‹ lasse. Da tat ich’s denn.

Die Witwe vergoß Tränen, als ich mich wieder einstellte, nannte mich ein armes, verirrtes Schaf und sonst noch allerlei, womit sie aber nichts Schlimmes meinte. Sie steckte mich wieder in die neuen Kleider, in denen es mir immer ganz eng und schwül wird. Überhaupt ging’s nun vorwärts im alten Trab. Wenn die Witwe die Glocke läutete, mußte man zum Essen kommen. Saß man dann glücklich am Tisch, so konnte man nicht flott drauflos an die Arbeit gehen, Gott bewahre, da mußte man abwarten bis die Witwe den Kopf zwischen die Schultern gezogen und ein bißchen was vor sich hingemurmelt hatte. Damit wollte sie aber nichts über die Speisen sagen, o nein, die waren ganz gut soweit, nur mißfiel mir, daß alles besonders gekocht war und nicht Fleisch, Gemüse und Suppe alles durcheinander. Eigentlich mag ich das viel lieber, da kriegt man so einen tüchtigen Mund voll Brühe dabei und die hilft alles glatt hinunterspülen. Na, das ist Geschmacksache!

Nach dem Essen zog sie dann ein Buch heraus und las mir von Moses in den Schilfern vor und ich brannte drauf, alles von dem armen kleinen Kerl zu hören. Da, mit einemmal sagte sie, der sei schon eine ganze Weile tot. Na, da war ich aber böse und wollte nichts weiter wissen – was gehen mich tote und begrabene Leute an? Die interessieren mich nicht mehr! –

Dann hätt‘ ich gern einmal wieder geraucht und fragte die Witwe, ob ich’s dürfe. Da kam ich aber gut an! Sie sagte, das gehöre sich nicht für mich und sei überhaupt »eine gemeine und unsaubere Gewohnheit«, an die ich nicht mehr denken dürfe. So sind nun die Menschen! Sprechen über etwas, das sie gar nicht verstehen! Quält mich die Frau mit dem Moses, der sie weiter gar nichts angeht, der nicht einmal verwandt mit ihr war und mit dem jetzt nichts mehr anzufangen ist, und verbietet mir das Rauchen, das doch gewiß gar nicht so übel ist. Na, und dabei schnupft sie, aber das ist natürlich ganz was andres und kein Fehler, weil sie’s eben selbst tut.

Ihre Schwester, Miss Watson, eine ziemlich dürre, alte Jungfer, die gerade zu ihr gezogen war, machte nun einen Angriff auf mich, mit einem Lesebuch bewaffnet. Eine Stunde lang mußte ich ihr standhalten und dann löste sie die Witwe mit ihrem Moses wieder ab, und ich war nun sozusagen zwischen zwei Feuern. Lange konnte das nicht so weitergehen, und es trat denn auch glücklicherweise bald eine Stunde Pause ein. Nun langweilte ich mich aber schrecklich und wurde ganz unruhig. Alsbald begann Miss Watson: »Halt doch die Füße ruhig, Huckleberry«, oder »willst du keinen solchen Buckel machen, Huckleberry, sitz doch gerade!« und dann wieder »so recke dich doch nicht so, Huckleberry, und gähne nicht, als wolltest du die Welt verschlingen, wirst du denn nie Manieren lernen?«, und so schalt sie weiter bis ich ganz wild wurde. Dann fing sie an, mir von dem Ort zu erzählen, an den die bösen Menschen kommen, worauf ich sagte, ich wünschte mich auch dahin. Da wurde sie böse und zeterte gewaltig, so schlimm hatte ich’s aber gar nicht gemeint, ich wäre nur gern fortgewesen von ihr, irgendwo, der Ort war mir ganz einerlei, ich bin überhaupt nie sehr wählerisch. Sie aber lärmte weiter und sagte, ich sei ein böser Junge, wenn ich so etwas sagen könne, sie würde das nicht um die Welt über die Lippen bringen, ihr Leben solle so sein, daß sie dermaleinst mit Freuden in den Himmel fahre. Der Ort, mit ihr zusammen, schien mir nun gar nicht verlockend, und ich beschloß bei mir, das meinige zu tun, um nicht mit ihr zusammenzutreffen. Sagen tat ich aber nichts, das hätte die Sache nur schlimmer gemacht und doch nichts geholfen.

Sie war aber nun einmal am Himmel, dem Ort der Glückseligen, wie sie’s nannte, angelangt und teilte mir alles mit, was sie drüber wußte. Sie sagte, alles was man dort zu tun habe, sei, den ganzen Tag lang mit einer Harfe herumzumarschieren und dazu zu singen immer und ewig. Das leuchtete mir nun gar nicht ein, ich schwieg aber und fragte nur, ob sie meine, mein Freund Tom Sawyer werde auch dort hinkommen, was sie ziemlich bestimmt verneinte. Mich freute das nicht wenig, denn Tom und ich, wir beide müssen beisammen bleiben.

Miss Watson predigte immer weiter, und mir wurde dabei ganz elend zumute. Dann kamen die Nigger herein, es wurde gebetet, und jedermann ging zu Bett. Ich auch. Ich stieg mit meinem Stummel Kerze in mein Zimmer hinauf und stellte das Licht auf den Tisch. Dann setzte ich mich auf einen Stuhl vors Fenster und probierte, an etwas Lustiges zu denken. Das nützte aber wenig. Ich fühlte mich so allein, daß ich wünschte, ich wäre tot. Die Sterne glitzerten und blitzten, und die Blätter rauschten so schaurig auf den Bäumen. Ich hörte aus der Ferne eine Eule, deren Schrei jemandes Tod bedeutete, und dann einen Hund, dessen klägliches Geheul verkündete, daß einer im Sterben liege, und der Wind schien mir etwas klagen zu wollen, was ich nicht verstand, so daß ich bald am ganzen Leibe zitterte und mir der kalte Schweiß auf die Stirne trat. Die ganze Nacht schien von lauter armen, unglücklichen Geistern belebt, die keine Ruhe in ihren Gräbern fanden und nun da draußen herumheulten, jammerten und zähneklapperten. Mir wurde heiß und kalt, und ich hätte alles drum gegeben, wenn jemand bei mir gewesen wäre. Da kroch mir auch noch eine Spinne über die linke Schulter, ich schnellte sie weg und gerade ins Licht, und ehe ich noch zuspringen konnte, war sie verbrannt. Daß das ein schlimmes Zeichen ist, weiß jedes Kind, und mir schlotterten die Knie, als ich nun begann meine Kleider abzuwerfen. Ich drehte mich dreimal um mich selbst und schlug mich dabei jedesmal an die Brust, nahm dann einen Faden und band mir ein Büschel Haare zusammen, um die bösen Geister fernzuhalten; doch hatte ich kein großes Vertrauen zu diesen Mitteln. Sie nützen wohl, wenn man ein gefundenes Hufeisen wieder verliert, anstatt es über der Türe anzunageln, oder bei dergleichen kleineren Fällen; wenn man aber eine Spinne getötet hat, da weiß ich nicht, was man tun kann, um das Unglück fernzuhalten. So setzte ich mich zitternd auf den Bettrand und zündete mir zur Beruhigung mein Pfeifchen an. Das Haus war so still und die Witwe nicht in meiner Nähe. So saß ich lange, lange. Da schlug die Uhr von der Ferne – bum – bum – bum – bum, zwölfmal, und wieder war alles still, stiller als vorher. Plötzlich höre ich etwas unten im Garten unter den Bäumen, ein Rascheln und Knacken, ich halte den Atem an und lausche. Wieder hör‘ ich’s, und dabei, leise wie ein Hauch, das schwächste ›Miau‹ einer Katze. »Miau, miau« tönt’s kläglich und langgezogen. Und »miau, miau« antworte ich ebenso kläglich, ebenso leise, schlüpfe rasch in meine Kleider, lösche das Licht aus und steige durch das Fenster auf das Schuppendach. Dann lasse ich mich zu Boden gleiten, krieche auf allen vieren nach den Schatten der Bäume, und da war richtig und leibhaftig Tom Sawyer, mein alter Tom, und wartete auf mich.

10. Kapitel

Der Fund – Vater Bunker – Verkleidet

10. Kapitel

Nach dem Frühstück hätte ich gern unsere Erlebnisse besprochen und begann von dem Toten, den wir in der schwimmenden Hütte gefunden; Jim aber wollte nicht drauf eingehen, weil das Unglück bringe. Auch meinte er, der Geist des Toten könne uns erscheinen, denn einer, der nicht begraben sei, treibe sich noch viel leichter um als einer, der zufrieden und behaglich in der Erde liege. Das schien mir soweit vernünftig, und so bestand ich nicht weiter drauf, die Sache zu besprechen, zerbrach mir aber im stillen den Kopf, wer wohl den Mann erschossen habe und warum sie es getan.

Dann untersuchten wir die alten Lumpen von Kleidern, die wir uns mitgenommen hatten, und fanden in dem zerrissenen Futter eines alten Überziehers acht Dollar in Silber eingenäht. Jim meinte, die Leute in jenem Hause hätten gewiß den Rock gestohlen, denn wenn sie etwas vom Geld gewußt, hätten sie es wohl nicht so freundlich hinterlassen. Ich dachte mir, der Rock habe gewiß dem Toten gehört, aber da mich Jim gewarnt hatte, wollte ich nicht länger mehr darüber sprechen.

Etwas aber mußte ich ihn doch fragen: »Jim, du sagst, es bringt Unglück, wenn man von den Toten spricht, aber das nämliche hast du auch behauptet, als ich neulich die Schlangenhaut fand und anrührte. Da hast du gemeint, das sei das Schlimmste, was man tun könne. Siehst du nun das furchtbare Unglück, das es uns gebracht hat? Wir haben acht Dollar und dazu diesen ganzen Kram erobert. Hätten wir doch jeden Tag solch ein Unglück, Jim!«

»Du nix sein so sicher, Huck, nix sein so sicher. Dich nix machen mausig. Es schon kommen! Jim dir sagen: Es schon kommen!«

Und es kam wirklich. Am Dienstag war’s, daß wir uns so drüber unterhielten. Am Freitag darauf, nach dem Mittagessen, lagen wir oben auf dem Hügel im Gras und schmauchten unser Pfeifchen. Der Tabak war uns ausgegangen, und ich lief zur Höhle, um welchen zu holen, und entdeckte dort plötzlich eine Klapperschlange. Ich nicht faul, hau‘ ihr eins über den Kopf, daß sie das Aufstehen vergißt, nehm‘ sie dann und lege sie so natürlich wie möglich zusammengerollt unten auf Jims Lager; ich wollt‘ ihn einmal tüchtig erschrecken und ordentlich auslachen hinterher. Am Abend hatte ich jedoch alles wieder vergessen, und als wir zur Höhle kamen und Jim sich auf seine Decke ausstreckte, während ich Licht machte, wurde er von dem Weibchen der toten Schlange, das am Nachmittag herzugekrochen war, gebissen.

Brüllend sprang er auf, und das erste, was wir beim Lichte sahen, war das Schlangenvieh, wie’s den Kopf bedrohlich erhob und sich eben zu einem zweiten Biß anschicken wollte. Im nächsten Moment hatte ich mit einem Knüppel das Biest seinem Kameraden nachgesandt, während Jim meines Alten Branntweinkrug zu fassen kriegte und den Inhalt hastig hinunterzustürzen begann.

Er war barfuß, und die Schlange hatte ihn gerade in die Ferse gebissen. Das war nun ganz allein meine Schuld. Jedes Kind weiß, daß, wo man eine, tote Schlange liegen läßt, sich deren Gefährte unfehlbar nach kurzer Zeit einstellt, um sich um den toten Kameraden zu ringeln, und ich Dummkopf mußte das vergessen. Jim hieß mich der Schlange den Kopf abhacken, denselben wegwerfen, dann die Haut abziehen und ein Stück vom Fleische rösten. Ich tat’s, und er aß es und sagte es werde ihm helfen. Auch die Klappern mußte ich loslösen und sie ihm ums Handgelenk binden, das sei auch ein gutes Mittel, sagte er. Dann schlich ich mich leise hinaus und warf die Schlangen in die Büsche; Jim durfte nicht dahinterkommen, daß ich der Anstifter von all dem Unheil war, wenn ich’s irgendwie verhindern konnte.

Jim saugte und saugte an dem Branntweinkrug wie ein Kind an seiner Milchflasche, hie und da kam’s über ihn, und er tanzte wie besessen auf einem Bein herum und brüllte fürchterlich dazu, jedesmal aber, wenn er wieder zu sich kam, machte er sich aufs neue an den Schnaps. Sein Fuß schwoll dick an, ebenso das Bein, aber allmählich stellte sich ein ordentlicher, regelrechter Rausch ein, und ich dachte, nun sei er gerettet. Ich hätte lieber selbst für den Biß gebüßt, als des Alten Branntwein so herhalten sehen zu müssen.

Vier Tage und vier Nächte mußte Jim auf seinem Lager aushalten, dann war die Geschwulst wieder vergangen, und er war wieder heil und gesund. Ich schwor mir, nie wieder eine Schlangenhaut anzurühren, ich hatte genug an den Folgen vom letztenmal. Jim meinte, ein andermal würde ich wohl gleich auf ihn hören und ihn nicht wieder auslachen. Und das will ich auch, weiß Gott! Dann sagte er, er sei immer noch nicht überzeugt, daß wir ganz über die schlimmen Folgen hinaus seien. Er wolle lieber tausendmal über seine linke Schulter in den Neumond sehen, denn das sei nicht halb so gefährlich, wie die Berührung einer Schlangenhaut. Davon war ich jetzt beinahe selbst überzeugt, obgleich ich bis dahin das erstere für das Schlimmste und das Dümmste gehalten hatte, was der Mensch tun könne. Der alte Vater Bunker, wie er in der Stadt hieß, hatte es einmal getan, und es war ihm schrecklich übel bekommen, denn beinahe zwei Jahre danach war er im Rausch vom Kirchturm gestürzt und war unten beim Auffallen flach wie ein Pfannkuchen geworden, so daß sie ihn, statt im Sarge, zwischen zwei alten Stalltüren begraben mußten – so wurde wenigstens erzählt, ich bin nicht dabeigewesen. Mein Alter hat noch oft davon gesprochen und daß alles nur daher gekommen sei, weil Vater Bunker einmal unvorsichtigerweise über die linke Schulter in den Neumond gesehen. Der alte Narr, der er war!

Die Tage verstrichen, und der Strom trat wieder in seine Ufer zurück. Wir wußten nichts Eiligeres zu tun, als einem Kaninchen die Haut abzuziehen, es als Köder auf einem der großen Fischhaken zu befestigen, die wir mit den andern Sachen im schwimmenden Haus gefunden hatten, und die Leine auszuwerfen. Wir fingen damit auch wirklich einen Katzenfisch, der seinesgleichen suchte. Er war groß und schwer wie ein Mensch, sechs Fuß lang und wog zweihundert Pfund. Wir konnten ihn natürlich nicht ans Ufer ziehen, der hätte uns quer übers Wasser nach Illinois hinübergerissen, und so saßen wir und warteten geduldig, bis er sich zu Tode gezappelt hatte. Es war wohl der größte Fisch, der je im Mississippi gefunden wurde; Jim wenigstens sagte, er habe nie einen größeren gesehen. Was der drüben in der Stadt wert gewesen wäre! Da hätte man das Fleisch pfundweise verkaufen können; es ist so schneeweiß und schmeckt so gut, besonders gebacken.

Am andern Morgen war es mir gar so traurig und langweilig zumute, und ich überlegte mir, was ich anstellen könnte, um mich wieder ein bißchen aufzurappeln. Da fiel mir ein, daß ich ja einmal ein wenig ans Land übersetzen und sehen könnte, was dort los sei. Jim gefiel der Plan, nur riet er, ruhig zu warten, bis es dunkel zu werden beginne, und empfahl mir, überhaupt sehr vorsichtig zu sein. Nach einigem Besinnen meinte er, ob ich mich nicht mit den Frauenkleidern und Hüten, die wir erbeutet, vielleicht als Mädchen, verkleiden könnte. Das war mal wieder eine gute Idee! Wir machten also einen der Röcke kürzer, dann schlug ich meine Hosen übers Knie hinauf und schlüpfte in den Rock hinein. Jim hakte ihn hinten ein, und er paßte wundervoll. Dann nahm ich einen der Hüte, einen alten Kapotthut mit riesigen Scheuledern nach vorn, und band ihn unterm Kinn zusammen. Wer nun mein Gesicht sehen wollte, mußte sich große Mühe geben, um es im Hintergrund der Ofenröhre erblicken zu können. Jim meinte, kein Sterbensmensch könne mich so erkennen, selbst bei Tageslicht nicht. Den ganzen Tag lang übte ich mich in dem ungewohnten Anzug und war am Abend so ziemlich damit vertraut, nur tadelte Jim, daß ich gar nicht zierlich wie ein Mädchen gehe und auch immer den Rock aufhebe, um an meine Hosentaschen zu gelangen. Das ließ ich mir gesagt sein und suchte es besser zu machen.

So nahm ich denn mein Boot und begab mich gegen Abend auf den Weg zur Stadt, kreuzte die Fähre und trieb am Ufer entlang bis zu den ersten Häusern. In einer kleinen Hütte, die ich kannte und die, wie ich wußte, lange leer gestanden hatte, brannte ein Licht. Ich war neugierig, wer sich wohl da einquartiert haben könnte. So schlich ich zum Fenster und spähte hinein. Eine Frau von vielleicht vierzig Jahren saß vor einem Talglicht und strickte. Ihr Gesicht war mir unbekannt, sie mußte fremd sein in der Gegend, denn auf Meilen in die Runde gab’s niemand, den ich nicht gekannt hätte. Das fremde Gesicht war nun ein Glückszufall, denn mir war mittlerweile das Herz in die Stiefel gefallen; ich hatte schon befürchtet, ich könne erkannt werden, und bereute das ganze Abenteuer. Selbst meine Stimme konnte mich verraten und zur Entdeckung führen. Der Fremden gegenüber brauchte ich nun aber gar keine Angst zu haben, und hielt sich die Frau auch nur seit zwei Tagen in dem kleinen Städtchen auf, so konnte sie mir so gut Auskunft geben über alles, was ich zu wissen wünschte, wie sonst jemand. So klopfte ich denn an die Tür und nahm mir fest vor, ja nicht zu vergessen, daß ich ein Mädchen sei.