Shakespeares Wiederaufleben – Das Kgl. Nonplusultra – Aus der Schlinge gezogen

18. Kapitel

Die Sonne war längst aufgegangen, als der König und der Herzog hervorkrochen. Sie sahen recht verschlafen aus; aber nachdem sie über Bord gesprungen waren und etwas geschwommen hatten, wurden sie bedeutend frischer. Nach dem Frühstück setzte sich der König auf eine Ecke des Floßes, zog die Stiefel aus, rollte die Hosen auf, ließ die Beine bequem ins Wasser hängen, zündete die Pfeife an und begann seinen Teil in Romeo und Julia auswendig zu lernen. Als er es ziemlich gut innehatte, übten er und der Herzog zusammen. Der Herzog ließ ihn seufzen und die Hand aufs Herz legen, nach einiger Zeit sagte er, es ginge ziemlich gut; »nur«, meinte er, »mußt du Romeo nicht so herausbrüllen wie ein Stier, du mußt’s liebeskrank, sanft und schmelzend sprechen: – R-o-o-meo! denn Julia ist ein liebes süßes Mädchen, fast ein Kind, weißt du, und schreit nicht wie ein Esel.«

Nun holten sie ein paar lange Schwerter hervor, die der Herzog, der Richard III. vorstellte, aus Eichenstöcken gemacht hatte, und übten ihr Schwertgefecht. Es war wirklich großartig anzusehen, wie sie drauflos hieben und umhersprangen. Nach einiger Zeit glitt der König aus und fiel über Bord; danach rasteten sie und plauderten von allen möglichen Abenteuern, die sie früher längs des Stromes erlebt hatten.

Sobald sich eine Gelegenheit bot, ließ der Herzog einige Anschlagzettel drucken. Auf dem Floß aber ging es in den darauffolgenden Tagen, während wir stromab trieben, sehr lebhaft zu; es gab nichts als Schwertgefechte und Generalproben, wie der Herzog es nannte. Eines Morgens, als wir schon ziemlich weit drunten im Staate Arkansas waren, sahen wir ein kleines Städtchen in einer großen Bucht. Wir legten etwa dreiviertel Meile oberhalb an, in der Mündung eines Baches, der, von Zypressen überragt, wie ein Tunnel aussah; und wir alle, außer Jim, nahmen das Kanu und fuhren hinunter, um zu sehen, was für Gelegenheit in dem Städtchen für unsere Vorstellung wäre.

Wir trafen es gut; am Nachmittag sollte dort ein Kunstreiterzirkus Vorstellung geben, und das Landvolk fing schon an, in allerlei alten Rumpelkasten von Wagen und auch zu Pferde herbeizuströmen. Die Kunstreiter wollten vor Abend noch weiterreisen, und so war für unsere Vorstellung gute Gelegenheit. Der Herzog mietete die Rathaushalle, und wir gingen umher und klebten unsere Zettel an. Die lauteten:

Shakespeares Auferstehung!!!

Wunderbare Attraktion!!

Nur für einen Abend!

Die weltberühmten Tragöden

David Garrick der Jüngere vom Drury-Gasse-Theater London

und

Edmund Kean der Ältere vom königlichen Heumarkt-Theater, Piccadilly-London

wie auch der königlichen Kontinental-Theater in ihrem erhabenen Schau-Stück:

Die Balkon-Szene

aus

Romeo und Julia!

Romeo …… Herr Garrick

Julia ……. Herr Kean

Unterstützt von allen Kräften der Gesellschaft!

Neue Kostüme, neue Dekorationen, alles neu!

Ferner:

Der erschütternde, meisterhafte, bluterstarrende Schwertkampf aus Richard III.!!!

Richard III. ….. Herr Garrick

Richmond ….. Herr Kean

Ferner:

(auf besonderen Wunsch)

Hamlets unsterblicher Monolog!

Gegeben von dem berühmten Kean, der ihn an 300 aufeinanderfolgenden Abenden in Paris gespielt hat!

Nur einen Abend wegen unversäumbarer europäischer Engagements!

Eintritt 25 Cents; Kinder und Dienstboten 10 Cents.

Dann trieben wir uns etwas im Städtchen umher. Die Häuser waren meistens alte hölzerne Rumpelkasten, die nie einen Anstrich gehabt hatten; sie ruhten drei bis vier Fuß über der Erde auf Pfählen, damit sie vor dem Strom geschützt waren, wenn er austrat.

Die Kaufläden befanden sich alle an einer Straße. Davor waren weiße Segeltuchdächer über die Seitenwege gespannt, und an die Pfosten, die diese Dächer stützten, band das Landvolk die Pferde. Unter diesen Zeltdächern standen leere Kisten, auf denen sich den Tag über Faulenzer räkelten und mit ihren großen Messern daran herumschnitzten. Es war ein tabakkauendes, gähnendes, faulenzendes und Maulaffen feilhaltendes Gesindel.

Am Flußufer standen mehrere Häuser, die so unterwaschen waren, daß man meinte, sie müßten jeden Augenblick ins Wasser stürzen. Die Leute waren bereits ausgezogen. Bei ein paar anderen Häusern hatte der Fluß die Erde unter einer Ecke weggespült, so daß sie sich vornüber neigten. Trotzdem wohnten noch Menschen drin, aber es war gefährlich, denn zuweilen versinkt ein Stück Land, so breit wie ein Haus, mit einem Male. Solch ein Städtchen muß sich immer weiter zurückziehen, denn der Strom nagt beständig daran.

Je näher der Mittag herankam, desto dichter drängten sich Wagen und Pferde in den Straßen, und es kamen immer noch mehr. Familien vom Lande brachten ihr Mittagessen mit und verzehrten es in ihren Wagen. Es wurde viel Branntwein getrunken, auch sah ich drei Prügeleien.

Also am Abend hatten wir unsere Vorstellung; es waren aber kaum ein Dutzend Leute dabei, gerade genug, um die Unkosten zu decken. Sie lachten fortwährend, und das machte den Herzog ärgerlich. Noch vor dem Ende der Aufführung waren alle wieder fortgegangen, mit Ausnahme eines Jungen, der eingeschlafen war. Da sagte der Herzog: »Diese Arkansas-Kaffern stehen zu tief für Shakespeare; was sie wollen, ist niedrige Komödie – und vielleicht gar noch Schlimmeres als das. Ich kann mir schon denken, was die wollen.«

Am nächsten Morgen nahm er große Bogen Packpapier nebst schwarzer Farbe, malte Anzeigen darauf und klebte sie überall an. Die Ankündigung lautete: Im Rathaus! Nur drei Abende!

David Garrick der Jüngere

und

Edmund Kean der Ältere!

vom London- und den Kontinental-Theatern

in dem ergreifenden Trauerspiel:

Des Königs Kamelopard

oder

Das königliche Nunplusultra!!!

Eintritt 50 Cents

Ganz unten war in fetter Schrift zu lesen:

Frauen und Kinder sind ausgeschlossen.

»Wenn das nicht zieht«, sagte der Herzog, »dann kenne ich Arkansas schlecht.«

Den ganzen Tag waren König und Herzog damit beschäftigt, die Bühne, den Vorhang und eine Reihe Talglichter für die Rampe zurechtzumachen. Am Abend war in kurzer Zeit die Halle gesteckt voll Männer. Als keiner mehr hineinging, verließ der Herzog seinen Posten am Eingang, ging hinten herum auf die Bühne und trat vor den Vorhang. Er hielt eine kleine Rede, worin er das angekündigte Trauerspiel pries; es sei das ergreifendste, das überhaupt existiere, und so fuhr er fort zu prahlen mit dem Trauerspiel und mit Edmund Kean dem Älteren, der die Hauptrolle spielen würde. Endlich, als jedermanns Erwartung aufs höchste gespannt war, zog er den Vorhang auf, und im nächsten Augenblick kam der König auf allen vieren und fast völlig nackt hereingesprungen. Er war ganz bemalt mit Ringen und Streifen aller Farben, prächtig wie ein Regenbogen. Das Volk fiel fast um vor Lachen, und als der König sich müde gesprungen hatte und hinter die Szene kroch, da klatschte, trampelte und stürmte die Menge, bis er wiederkam und alles wiederholte, und er mußte es dann noch einmal machen, denn sie riefen ihn wieder heraus. Der Unsinn, den der alte Kerl machte, war toll genug, um sogar eine Kuh zum Lachen zu bringen.

Dann ließ der Herzog den Vorhang herunter, verbeugte sich und sagte, das Trauerspiel würde nur noch zwei Abende gegeben werden wegen dringender Engagements in London, wo die Plätze im Drury-Gassen-Theater bereits alle verkauft seien. Dann machte er noch eine Verbeugung und sagte: »Wenn es uns gelungen ist, Sie zu amüsieren und zu belehren, werden wir Ihnen dankbar sein, wenn Sie es Ihren Freunden sagen, damit sie auch kommen.«

Etwa zwanzig Stimmen riefen: »Was? Schon vorüber? Ist das alles?«

Der Herzog sagte ja. Dann wurde es lebhaft. Alles schrie »Oho!« sprang wild auf und nach der Bühne zu. Aber ein großer, fein aussehender Mann sprang auf eine Bank und rief: »Ruhe! Ein Wort, meine Herren.«

Sie schwiegen wirklich und horchten. »Wir sind zum besten gehalten worden – ziemlich arg zum besten. Aber wir wollen uns doch nicht von der ganzen Stadt auslachen lassen. Nein. Wir wollen hübsch stille fortgehen und über die Vorstellung prahlen, damit der Rest der Stadt ebenso genarrt werde; dann wissen alle, wie es ist, und keiner kann den andern auslachen. Ist das nicht vernünftig?«

»Das ist wahr! – Der Richter hat recht!« riefen alle.

»Wohl denn, also kein übles Wort mehr! – Geht heim und ratet jedem, das Trauerspiel zu besuchen.«

Am nächsten Tag war nur noch von dem herrlichen Trauerspiel die Rede. Am Abend war das Haus wieder überfüllt, und auch diese Versammlung war genarrt.

Als ich und der König und der Herzog wieder auf das Floß zurückkamen, aßen wir zusammen zu Abend. Nachher, etwa um Mitternacht, ließen sie Jim und mich das Floß in die Mitte des Stromes steuern und etwa zwei Meilen unterhalb der Stadt anlegen.

Am dritten Abend war das Haus wieder gepackt voll – es waren diesmal keine neuen Gesichter, sondern Leute, die schon an den vorigen Abenden dagewesen waren. Ich stand beim Herzog und sah, daß jeder, der hineinging, etwas in seinen Taschen oder unter seinem Rock versteckt trug, und ich konnte sehen, daß es keine Parfümflaschen waren – nein, gewiß nicht! Es hatte einen widerlichen Geruch, der an schlechte Eier, verfaulte Kohlköpfe und dergleichen erinnerte. Als niemand mehr hinein konnte, gab der Herzog einem in der Nähe Stehenden einen Viertel-Dollar und bat ihn, für eine Minute Türwächter zu sein. Dann ging er hinten herum zur Bühnentür, ich hinter ihm her; doch kaum waren wir um die Ecke gebogen und im Dunkeln, da sprach er: »Jetzt geh rasch, bis du von den Häusern weg bist, und dann mach, daß du so schnell zum Floß kommst, als sei der Böse hinter dir!« Ich tat’s, und er gleichfalls. Wir kamen zur gleichen Zeit dort an, und im Nu glitten wir stromab – niemand sprach ein Wort. Ich dachte an den armen König, wie es dem wohl mit seiner Audienz gehen würde; der aber kam lustig aus dem Zelt hervorgekrochen und sagte: »Nun, Herzog, wie hat sich die Geschichte diesmal gelohnt?«

Er war nämlich gar nicht in die Stadt gegangen.

Erst als wir zehn Meilen stromab waren, machten wir Licht und nahmen unser Abendessen. König und Herzog hielten sich den Bauch vor Lachen über die Art, wie sie das Volk überlistet hatten.

Der Herzog sagte: »Grünschnäbel, Dummköpfe! Ich wußte wohl, daß das erste Publikum ’s Maul halten würde, damit die übrigen auch in die Falle gingen; ich wußte, daß sie den dritten Abend denken würden, nun sei die Reihe an ihnen. Ja, jetzt haben sie ihre Revanche. Ich gäbe was drum, wenn ich sehen könnte, was sie für ein Gesicht dabei machen.«

Diese Halunken hatten wirklich 465 Dollar an diesen drei Abenden eingenommen. Ich habe früher nie einen solchen Berg von Kleingeld beisammen gesehen.

Bald schliefen und schnarchten die beiden, da sagte Jim zu mir: »Du nix sein erstaunt, von unsre Könige, Huck?«

»Nein«, sagte ich, »durchaus nicht.«

»Aber Huck, sein ja wahre Teufelskerls, nix anderes, rechte echte Teufelskerls.«

»Nun, soviel ich weiß, sind das viele Könige.«

»So, du das meinen? Dann Jim nix wollen wissen von Könige.«

»Lies doch etwas darüber nach, dann wirst du’s sehen. Da ist Henry VIII.; im Vergleich mit dem ist der unsrige ein Sonntagsschul-Superintendent. Und dann Charles II. und Louis XIV. und Louis XV. und James II. und Eduard II. und Richard III. und noch viele andere; fast alle die angelsächsischen Fürsten in den alten Zeiten waren rechte Kains-Kinder. Oh, du solltest Henry VIII. in seiner Blüte gesehen haben. Das war ein Kerl. Der heiratete ein neues Weib jeden Tag, und am nächsten Morgen hieß es immer: ›Kopf ab!‹ und er tat dabei so gleichgültig, als ob er sich ein paar Eier bestellte. ›Nell Gwynn her‹, rief er. Man brachte sie. Nächsten Morgen: ›Kopf ab!‹ und ab war er. ›Jane Shore her‹, rief er. Sie kommt. Nächsten Morgen: ›Kopf ab!‹ ab war er. ›Leute, die schöne Rosamund herbei‹; schön Rosamund folgt dem Lockruf. Nächsten Morgen: ›Kopf ab!‹

Jede von diesen Frauen mußte ihm in der Nacht eine Geschichte erzählen, und er sammelte sie alle, bis es tausend und eine waren; dann machte er ein Buch daraus, das er Domesday book nannte. Die Vorstellung, die Huck von dem Buch der englischen Grundrechte und anderen geschichtlichen Begebenheiten hat, läßt uns seine Ansicht über Könige nachsichtig beurteilen. Ja, Jim, ich könnte dir noch manches von jenem König erzählen. Hast du nie davon gehört, was dieser Heinrich für Händel mit unserem Land anfing? Das ging so zu. Auf einmal läßt er so mir nichts dir nichts im Hafen von Boston allen Tee über Bord schmeißen und läßt eine Unabhängigkeitserklärung vom Stapel und droht mit einem Krieg. Das war seine Art so – keine Spur von Rücksicht und Billigkeit. Ein andermal hatte er seinen Vater, den Herzog von Wellington, im Verdacht. Was tut er? Er geht her und läßt ihn in einem Sirupfaß ersäufen wie eine Katze. Wenn die Leute Geld herumliegen ließen und er sah es – wupp dich, steckte er es ein. Er brauchte nur den Mund aufzutun, und wenn er ihn nicht gleich wieder zuklappte, kam allemal eine Lüge heraus. Ja, wenn dieser Heinrich über das Städtchen drüben gekommen wäre, der hätte ihm noch ganz anders mitgespielt, das kannst du mir glauben.«

»Huck, das sein ganz abscheulich. Wollte, hätten solche Leute nicht auf Floß.«

»Mir geht’s ebenso, Jim. Aber sie sind nun einmal da, und wir müssen denken, daß sie so erzogen sind und nichts dafür können.«

Was hätte es genützt, Jim zu sagen, daß die beiden gar nicht König und Herzog sind?