31. Kapitel

Das Floß – Sicherheitskomitee – Ein Dauerlauf – Jim rät zum Arzt

31. Kapitel

Eins hätt‘ ich fast vergessen zu erwähnen, nämlich daß wir bei all den Vorbereitungen nicht versäumt hatten, uns die Mittel zur Flucht auf dem Strom zu verschaffen. Nach und nach hatten wir angetriebenes Holz, Stämme aus der Sägmühle, Bretter, und was uns sonst in die Hände kam, gesammelt und damit allmählich ein ganz stattliches Floß gebaut. So fest und schön wie unser altes war’s freilich nicht geworden, konnte sich aber trotzdem sehen lassen, und wir dachten, es werde wohl einen Stoß vertragen können. Dieses Floß hatten wir an einer kleinen Insel im Fluß draußen im Binsendickicht in Sicherheit gebracht, und da lag’s zur Flucht bereit. Heute galt’s noch, letzte Hand anzulegen, und so ruderten wir auf Onkels Boot, das immer am Ufer lag, hinaus. Tante hatte uns ein Frühstück mitgegeben, und nachdem wir unser Werk vollendet, vertrieben wir uns die Zeit mit Fischen. Als wir spät am Abend nach Hause kamen, fanden wir alles in der größten Aufregung. Niemand schien mehr zu wissen, wo ihm der Kopf stand. Wir mußten denn auch sofort nach dem Essen hinauf in unser Zimmer und zu Bett, aber niemand sagte auch nur ein Wörtchen von dem neuen Brief oder von der Ursache des Wirrwarrs überhaupt. Es war auch nicht nötig, denn wir wußten alles so gut wie nur irgend jemand. Sobald wir die Treppe halb oben waren und niemand mehr um den Weg war, schlichen wir uns in den Keller zum Speiseschrank und packten uns gehörig Eßvorräte ein, die uns eine Woche reichen konnten, und dann ging’s hinauf und ins Bett. Wir schliefen bis halb zwölf Uhr und standen dann flink auf. Tom warf Tante Sallys Rock über und packte die Eßwaren zusammen. Auf einmal fuhr er mich scharf an: »Wo ist die Butter?«

»Na«, sagte ich, »ich hab‘ ein großes Stück abgeschnitten und auf ein Maisblatt gelegt.«

»Na, dann mußt du’s druntengelassen haben, hier ist’s nicht.«

»Dann tun wir’s eben ohne«, sag‘ ich.

»Nee, wir tun’s ganz schön mit und nicht ohne«, weist er mich zurecht; »du schleichst dich einfach noch einmal in den Keller und holst sie herauf, das ist schnell getan! Dann fährst du am Blitzableiter hinunter und kommst mir nach. Ich mach‘ mich jetzt gleich in die Hütte und stopfe Jims Kleider mit Stroh aus, das muß dann die Mutter vorstellen und sobald du da bist, blök‘ ich wie ein Schaf, und dann auf und davon, hast du nicht gesehen!«

Er also am Blitzableiter hinunter und ich zum Keller geschlichen. Richtig fand ich den Klumpen Butter, wo ich ihn gelassen, faßte ihn samt dem Blatt, auf dem er lag, blies mein Licht aus und schlich die Treppe leise wieder hinauf. Ich war glücklich über den Vorplatz gelangt, bis zur Treppe ins obere Stockwerk, wo ich in Sicherheit gewesen wäre, da muß der Kuckuck Tante Sally mit einer Kerze in der Hand herbeiführen. Ich nicht faul, werf die Butter in meine Mütze und stülp‘ sie auf den Kopf. Im nächsten Augenblick erblickte sie mich und stellt mich zur Rede.

»Du warst im Keller!«

»Ja-a!«

»Was hast du dort zu tun?«

»Nichts!«

»Nichts?«

»Nein!«

»Na, was in aller Welt treibt dich denn zur Nachtzeit, wenn alles schläft, da hinunter?«

»Ich weiß nicht!«

»Du weißt’s nicht! Jetzt verbitt ich mir diese Antworten, Tom, ich will wissen, was du drunten getan hast!«

»Ich hab‘ nichts, rein gar nichts getan, Tante Sally, gewiß und wahrhaftig – nichts!«

Unter anderen Umständen hätte sie mich darauf wohl laufen lassen, aber heut‘ ging alles so drunter und drüber, daß sie jedes bißchen reizte, was nicht ganz fadengrad war. Deshalb sagte sie sehr entschieden: »Da hinein mit dir ins Wohnzimmer, und daß du mir dort bleibst, bis ich komme. Du führst irgend etwas im Schild, was ich nicht wissen soll, aber ich schwör‘ dir, ich find’s heraus, ehe wir zwei uns gute Nacht sagen. Marsch!«

Sie schob mich zur Tür hinein und verschwand. Aber waren da viele Leute! An die fünfzehn Farmer aus der Umgegend und jeder mit einer Flinte bewaffnet. Mir wurde ordentlich schwach, und ich schlich mich zu einem Stuhl und setzte mich. Da saßen sie und standen sie im Zimmer herum, unterhielten sich mit leiser Stimme und sahen dabei ängstlich und unruhig aus; taten aber, als wäre nichts passiert. Aber ich merkt’s gleich, weil sie beständig ihre Hüte auf und ab nahmen, sich hinter den Ohren oder am Kopfe kratzten, immer die Sitze wechselten und mit ihren Knöpfen spielten. Mir war auch nicht wohl zumute, aber meine Mütze ließ ich trotzdem fest sitzen.

Ach, wie wünschte ich, die Tante käm‘ herbei und prügelte mich meinetwegen durch, ließe mich dann aber laufen, so daß ich Tom sagen könnte, in welch greuliches Wespennest wir gestochen und daß wir am besten täten, den Unsinn zu lassen und uns mit Jim schleunigst auf die Socken zu machen, bevor die bewaffnete Macht sich in Bewegung setzte. Ich saß wie auf Kohlen.

Endlich erschien Tante und begann ein Kreuzverhör mit mir anzustellen, ich aber konnte keine Frage beantworten, denn ich wußte kaum mehr, was ich sagte, da ich merkte, daß die Leute unruhig zu werden begannen und zum Aufbruch rüsteten. Ein Teil wallte sofort weg und den Räubern auflauern, da nur noch wenig bis Mitternacht fehle. Die andern mahnten zur Geduld und wollten auf das versprochene Signal warten. Und immer noch hackte Tante mit Fragen auf mich ein, und ich zitterte und bebte nur so an allen Gliedern und war dem Umsinken nahe vor Angst und Entsetzen, und das Zimmer wurde heißer und heißer, und die Butter auf meinem Kopf begann zu schmelzen und rieselte sanft an meinen Ohren und meinem Hals hinunter. Als bald darauf einer sagte: ›ich bin dafür, daß wir sofort direkt zur Hütte gehen und die Bande festnehmen, sobald sie kommt‹, fiel ich beinahe um. Ein kleiner Butterstrom beginnt jetzt leise an meiner Stirn niederzusickern, und wie Tante das sieht, wird sie so blaß wie ein Leintuch und schreit: »Herr, Gott des Himmels und der Erden, was fehlt dem Kind? Barmherziger Gott, er hat gewiß eine Gehirnerweichung, und sein armes Hirn fließt aus! Was fang ich an?«

Und alles rennt auf mich los und will sehen. Sie reißt mir den Hut vom Kopf und heraus fällt das Blatt mit dem Rest der Butter, worauf sie mich herzt und küßt und unter Tränen seufzt: »Ach, wie du mich erschreckt hast! Und wie dankbar und froh ich bin, daß es nichts andres ist; denn wir sind nun einmal im Unglück, und eins kommt selten allein! Als ich die Brühe sah, dacht‘ ich bestimmt, du seist verloren, denn in bezug auf Farbe und Durchsichtigkeit würde dein Gehirn gewiß gerade so aussehen, wenn… Gott, Gott, warum hast du mir’s nicht gleich gesagt, was hätte mir an der Butter gelegen! Jetzt mach‘ dich aber fort ins Bett und laß dich vor morgen früh nicht mehr blicken, merk dir’s, Bengel!«

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen! In einer Sekunde war ich oben, in der nächsten den Blitzableiter hinunter und rannte im Dunkeln dem Schuppen zu. Ich brachte vor Aufregung kaum ein Wort heraus; ich sagte Tom nur so geschwind wie möglich, wir müßten auf und davon, es sei keine Zeit übrig; das Haus sei voller Männer mit Flinten, mindestens fünfzehn!

Toms Augen strahlten förmlich, und entzückt ruft er aus: »Nein, wahrhaftig? Herr Gott, ist das ein Spaß! Ich glaub‘, wenn ich’s noch einmal zu tun hätte, Huck, brächt‘ ich hundert zur Stelle! Wollen wir’s aufschieben und…«

»Eil dich, eil dich«, unterbrech ich ihn, »wo ist Jim?«

»Dicht neben dir, du berührst ihn beinahe. Er ist angezogen, die Mutter ebenfalls, und alles ist bereit. Nun wollen wir uns leise hinausmachen und das Signal geben!«

Aber gerad‘ in diesem Augenblick kommt das Geräusch von vielen Fußtritten auf die Türe zu; man hört sie am Schloß hantieren, und eine Stimme spricht: »Ich sagt’s euch ja, daß wir zu früh dran sind. Sie sind noch gar nicht da, die Türe ist geschlossen. Ich mach‘ auf, da können ein paar von euch hineinkriechen und im Dunkeln auf die Kerle warten und sie dann niedermachen. Wir andern halten draußen Wacht und geben euch ein Zeichen, wenn sie nahen!«

Gesagt, getan! Und ehe wir uns noch besinnen konnten, waren sie schon in der Hütte, sahen uns aber glücklicherweise im Dunkeln nicht und stolperten beinahe über uns hinweg, während wir unters Bett und ins Loch krochen. Wir kamen gut durch; leise und schnell, Jim zuerst, dann ich, Tom zuletzt: So lautete die Order. Jetzt waren wir im Schuppen und hörten draußen ganz in der Nähe Fußtritte. Wir krochen leise der Türe zu, Tom gebot uns Halt und legte sein Auge an eine Spalte, konnte aber nichts entdecken, so dunkel war es, und flüsterte uns zu, er wolle horchen und warten, bis sich die Schritte da draußen entfernten, und wenn er uns stoße, solle zuerst Jim und dann ich ganz leise hinausschleichen und er komme hinterdrein. So legte er denn sein Ohr an die Spalte und horchte und horchte, und die Schritte tönten immer gleich nahe. Mit einemmal aber stößt er uns an, und wir öffnen leise die Tür, gleiten hindurch, bücken uns, wobei wir kaum zu atmen wagen, und schlüpfen ohne jedes Geräusch, einer hinter dem andern, dem Zaun zu, kommen dort sicher an, setzen drüber, das heißt Jim und ich, Tom aber bleibt mit den Hosen an einem Splitter hängen, und wie er sich losreißen will, kracht es, und Schritte nähern sich; er reißt sich nun mit Gewalt los und setzt hinter uns her, aber da hören wir auch schon: »Wer ist da? Steht, oder ich schieße!«

Wir aber standen nicht, sondern rannten drauflos wie toll. Dann kam ein sonderbares Geräusch und bum, bum, bum! sausten die Kugeln um unsere Köpfe. Noch hörten wir, wie sie riefen: »Da sind sie, da sind sie! Dem Strom zu! Ihnen nach, die Hunde los!«

Dann kam eine atemlose Pause, und dann setzte die ganze Bande hinter uns her. Wir hörten sie, weil sie dicke Stiefel trugen und gehörig kreischten, wir aber waren barfuß und gaben keinen Laut von uns. Wir befanden uns auf dem Pfad zur Mühle, und als uns die Verfolger nahe kamen, schlugen wir uns seitwärts in den Wald, und ließen sie vorüberrasen, um dann gemächlich hinter ihnen dreinzukommen. Die Hunde hatten sie schlauerweise alle eingesperrt, und bis sie einer losgelassen, verging ein gut Teil Zeit. Jetzt aber kamen sie einhergehetzt mit Gebell und Geheul, genug für dreitausend. Es waren aber gottlob unsre Hunde, und als sie herankamen und merkten, daß nur wir es waren und alles so still und friedlich bei uns zuging, da umschnoberten sie uns nur kurz und setzten dann mit erneuter Kraft hinter dem schreienden, stampfenden Haufen unserer Verfolger drein. Wir aber weiter, immer hinterher bis zur Mühle, und dann rechts hinunter dem Strom zu, da, wo wir des Onkels Boot am Abend befestigt hatten. Im Nu war es losgemacht und wir hineingesprungen. Dann ruderten wir bis zur Mitte des Stromes, als gelte es unser Leben, immer mit möglichst wenig Geräusch. Von da an hielten wir gemächlich auf die Insel zu, wo das Floß verborgen lag, und wir konnten unsere Verfolger fortwährend schreien und johlen und die Vierfüßler dazwischen bellen hören, am ganzen Ufer entlang, bis wir schließlich so weit weg waren, daß die Töne in der Entfernung erstarben.

Da waren wir auch schon am Floß angelangt, und ich sage: »Jim, jetzt bist du wieder ein freier Mann, und ich wette, von nun an für immer und immer!«

»Un schön seins gewesen, un schön seins gegangen, Huck! Alte Jim nie nix haben gesehen so schöne, gute Plan für zu machen frei arme Nigger! Sein gewesen beste Plan, den man können erfinden. So viel Arbeit und so schwer und so lang Zeit un so durchnander! Sein aber auch gewesen Massa Tom, gute Massa Tom seine Plan!«

Wir waren alle so froh und vergnügt, wie wir nur sein konnten, und Tom war der Glückseligste von uns, denn er hatte eine Kugel, eine wirkliche und wahrhaftige Kugel in den Schenkel gekriegt.

Als Jim und ich das hörten, fühlten wir uns nicht mehr halb so wohl wie vorher. Es tat ihm ziemlich weh und blutete, und wir legten, ihn unter das kleine Bretterhäuschen, das wir zum Schutt gegen Regen errichtet hatten. Ich riß mein Hemd herunter, teilte es in Streifen und schickte mich an, die Wunde zu verbinden.

Er aber stößt mich weg und sagt: »Nein, gib mir die Lumpen, ich besorg‘ das selbst. Steht doch nicht so herum. Die Ruder her und abgestoßen! – Aber gelt, das haben wir fein gemacht, Jungens, fein, kolossal fein, sag‘ ich euch! Na, ich wollt nur, wir hätten die Flucht von Ludwig XVI. zu beaufsichtigen gehabt; alles war‘ anders gekommen und kein Kopfabhauen und keine Guillotine und nichts dergleichen hätt’s gegeben! Nein, nichts davon! Den hätten wir flott beiseite geschafft, elegant, sag‘ ich euch! Aber nun alle Mann an Bord, vorwärts! Los!«

Jim und ich aber berieten uns und überlegten, was wir zu tun hätten, und nach ein paar Minuten sag‘ ich: »Jim«, sag‘ ich, »sprich du!«

Und Jim sagt: »Du, Huck, alte Jim nur eins wollen sagen. Wenn junge Mr. Tom wären worden gerettet und befreit vom Jim un Huck, un Jim hätten gekriegt Kugel in Bein, Tom Sawyer hätten nie gesagt: Kugel nix machen für alte Jim sein Bein – nur vorwärts, weiter, Jim nix brauchen Doktor, Tom wollen erst sein frei. Nein, junge Mr. Tom nie nix würde sagen so! Un alte Jim auch wissen, was er haben zu tun. Alte Jim nix gehen von die Fleck, eh‘ Doktor sein da, zu sehen nach Kugel, alte Jim nie nix gehen eine Schritt weiter, und wenn er müssen warten vierzig Jahr!«

Ich wußt’s ja, inwendig war Jim ein Weißer, so weiß wie irgendeiner, wenn auch von außen nichts davon zu sehen war. Ich wußt’s, daß er so sprechen würde, und nun war alles gut und mir selbst eine Last vom Herzen genommen. Wir teilten nun Tom unsern Entschluß mit, der natürlich nichts davon wissen wollte und schalt und tobte und schließlich selbst probierte, herauszukriechen aus dem Bretterverschlag und das Floß flott zu machen, was wir ihn aber nicht tun ließen. Als er sah, daß wir fest blieben und daß ich das Boot zur Fahrt ins Städtchen fertig machte, meinte er: »Na, wenn ihr denn durchaus so dickköpfig sein wollt, so ist’s am Ende besser, ich sag‘ dir, Huck, was du tun mußt, wenn du zum Doktor kommst. Du verriegelst die Tür hinter dir, fesselst den Mann und verbindest ihm gut die Augen. Dann läßt du ihn schwören, daß er stumm sein will wie das Grab, steckst ihm einen Beutel mit Geld in die Hand und führst ihn dann durch lauter Hintertüren und Seitenwege, immer im Dunkeln, bis zum Boot, ruderst die kreuz und quer um alle Inseln herum, um ihn irre zu führen, durchsuchst ihm dann die Taschen nach Kreide, nimmst ihm die weg und gibst sie ihm erst wieder, wenn du mit ihm ins Städtchen zurückkommst, denn sonst macht er sich mit der Kreide ein Zeichen an unser Floß, um’s später wiederzufinden. – Das tun sie nämlich alle.«

Ich versprach’s, genauso zu machen, und Jim wollte sich im Wald verstecken, wenn er mich mit dem Doktor kommen sehe, und warten bis er wieder weg wäre, und so stieß ich denn ab und ruderte flink dem Städtchen zu.

24. Kapitel

Ein Nigger-Dieb – Südliche Gastfreundschaft – »Er unverschämter junger Flegel!« – Ein dauerhaftes Gebet

24. Kapitel

Ich also auf und mit dem Wagen der Stadt zugerast. Wie ich halbwegs dort bin, sehe ich ein andres Gefährt von der Stadt her auf mich zukommen, und wer sitzt drin, Tom Sawyer, der alte Tom, wie er leibt und lebt, und da halt‘ ich meinen Wagen an und warte, bis er dicht bei mir ist. Dann schrei ich: »Halt!«, und er hält, und wie er mich sieht, klappt sein Mund auf wie ein Scheunentor, bleibt auch so stehen, und er schluckt zwei- oder dreimal, als habe er einen ziemlich trockenen Hals gekriegt, und beginnt dann zu flehen: »Ich hab‘ dir ja nie was zuleid getan, Huck Finn, und das weißt du auch. Und ich war immer dein guter Kamerad, all mein Lebtag, und du, du kommst und spukst hier oben ‚rum ohne alle Ursache und willst mir Angst mach eh – mir, deinem alten Tom?«

Sag‘ ich: »Alter Narr! Wie kann ich spuken, wenn ich doch nie weggewesen bin vom Sonnenlicht?«

Meine Stimme schien ihn etwas zu beruhigen, aber ganz beruhigt war er noch nicht.

»Mach mir keinen Unsinn vor, Huck, gewiß und wahrhaftig, ich tät’s auch nicht an deiner Stelle. Also, Hand aufs Herz, du bist wirklich nicht dein Geist?«

»Hand aufs Herz, der bin ich nicht!«

»Na, ich – ich – ich sollte dir jetzt freilich glauben, aber siehst du, ich – ich kann’s nicht begreifen. Bist du denn damals überhaupt gar nicht ermordet worden?«

»Nee, das ist mir, Gott sei Dank, noch nie passiert! Tom, Dummerjan, merkst du’s denn nicht? Ich hab‘ ja nur so getan, um den Alten und alle loszuwerden. Na, glaubst du’s noch nicht? Steig mal ‚rüber zu mir und visitier mich, da wirst du schon fühlen, daß ich Fleisch und Knochen habe!«

Das tat er dann und gab sich danach zufrieden. Er schien furchtbar froh zu sein, daß er mich wiedersah, und wußte gar nicht, wie er es mir genug zeigen könnte. Dann wollte er genau den ganzen Hergang wissen. Es war ein geheimnisvolles Abenteuer, so recht nach seinem Geschmack. Ich aber vertröstete ihn auf später, nahm ihn erst einige Schritte weit beiseite, daß uns sein Kutscher nicht hören konnte, erzählte ihm von der Klemme, in der ich mich befand, und bat ihn, sich zu überlegen, wie wir uns heraushelfen könnten. Er sagte, ich solle mal ein bißchen still sein und ihn nachdenken lassen; er dachte und dachte und dann meinte er: »Jetzt hab‘ ich’s! Ich hab’s! So muß es gehen! Du nimmst meinen Koffer auf deinen Wagen und sagst, es sei deiner, und dann fährst du recht langsam zurück, so daß du nicht früher ankommst, als sie dich erwarten können. Ich fahr‘ wieder ein Stück zurück und komm‘ dann erst wieder, so etwa eine halbe Stunde nach dir, und das Weitere wirst du schon sehen, du brauchst zuerst gar nicht zu tun, als ob du mich kenntest.«

Sag‘ ich: »Ganz recht! Aber wart einmal, da ist noch etwas zu bedenken – etwas, das kein Mensch weiß, außer mir. Da ist nämlich noch ein Nigger gefangen dort bei deinen Verwandten, den ich gerne befreien möchte – es ist Jim, Miss Watsons Jim, weißt du?«

»Was? Jim ist ja …«

Er hält ein und sinnt nach, ich aber sage schnell: »Ich weiß, was du denkst, Tom! Du denkst, das sei ein recht gemeiner, elender Plan, und das ist’s auch! Aber was liegt mir dran? Ich bin auch gemein und elend, und ich will ihn freimachen und ihm helfen, und du darfst mich nicht verraten, gelt, das versprichst du mir, Tom?«

Seine Augen blitzten auf: »Ich – dich verraten? Helfen will ich dir!«

Mir fielen die Arme am Leib nieder, als hätte ich einen Schuß bekommen. Das war das Erstaunlichste, was ich je in meinem Leben gehört hatte, und, so leid es mir tut, ich muß sagen, Tom Sawyer sank dadurch ziemlich in meiner Achtung. Ich traute meinen Ohren kaum: Tom Sawyer, der Sohn ehrbarer Leute, ein Nigger-Dieb. Das war mehr, als ich fassen konnte!

»Unsinn«, ruf ich, »du willst mir was weismachen!«

»Nein, ganz im vollen Ernst, Huck, ich mach‘ dir nichts vor!«

»Na, gut«, sag‘ ich, »vormachen oder nicht vormachen, auf jeden Fall vergiß nicht, wenn du dort von einem durchgebrannten Nigger hören solltest, daß wir beide, weder du noch ich, etwas davon wissen!«

Das war denn abgemacht, und nun nahmen wir den Koffer und stellten ihn in meinen Wagen. Er fuhr seinen, ich meinen Weg, und sooft ich mich umdrehte, sah ich Toms verwundertes, noch halb und halb ungläubiges Gesicht mir nachstarren. Natürlich vergaß ich darüber ganz, daß ich langsam fahren sollte, um nicht zu früh wieder einzutreffen, fuhr in Gedanken immer drauflos und kam selbstverständlich etwa in der Hälfte der Zeit zurück, die ich für die Länge des Weges hätte brauchen müssen.

Der alte Mann stand am Tor und rief mir entgegen: »Nein, das ist wunderbar! Wer hätte je gedacht, daß die alte Mähre das leisten könnte. Die hab‘ ich tüchtig unterschätzt. Die geb‘ ich nun nicht für hundert Dollar her. Vorher hab‘ ich fünfzehn verlangt und gedacht, damit sei sie bis in die alte Haut hinein bezahlt. Sieh, sieh, wer hätte das gedacht. Und dabei ist ihr kein Haar naß geworden – nein, es ist wunderbar!«

Dabei half er mir kopfschüttelnd beim Ausschirren; es war die beste und argloseste Seele von der Welt! Das wunderte mich aber gar nicht, denn er war nicht nur Farmer, sondern auch Prediger. Er hatte seine kleine hölzerne Kirche, die zugleich Schulhaus war und an der Grenze der Plantage lag, selber und auf eigene Kosten errichtet; und auch für seine Predigten rechnete er nichts an. Da drunten im Süden gibt’s viele Prediger-Farmer oder Farmer-Prediger dieser Art.

Nach ungefähr einer Stunde kam Toms Wagen in Sicht. Tante Sally entdeckte ihn zuerst vom Fenster aus, als er noch etwa fünfzig Meter weit entfernt war.

»Ach, da kommt ja jemand! Wer das wohl sein mag? Ach herrje, das ist ein Fremder! Jimmy (das war eins von den Kindern), lauf mal schnell und sag der Liese, daß sie noch einen Teller mehr auf den Tisch stellt!«

Alles stürzte nun der Türe zu, denn ein Fremder zeigt sich hier nicht alle Jahre, und wenn mal einer kommt, interessiert man sich für ihn sogar noch mehr als für das gelbe Fieber! Tom war inzwischen vom Wagen gesprungen und befand sich schon auf halbem Weg zur Türe, während der Wagen wieder der Stadt entgegenrasselte. Wir drückten uns in der Türöffnung zusammen wie eine Herde Schafe, und eins suchte immer das andere zu verdrängen. Tom hatte seine besten Kleider an und ein Auditorium vor sich, und da fühlte er sich allemal ganz mächtig. Auch jetzt trug er sich mit der ganzen großen Würde, über die er verfügte. Er schlich sich nicht linkisch und verschämt heran, nein, stolz und aufrecht schritt er einher, wie ein Kalkutta-Hahn. Bei uns angelangt, lüftet er anmutig seinen Hut, als wäre es der Deckel einer Schachtel, in der ein seltener Schmetterling sitzt, und fragt: »Herrn Archibald Nichols habe ich wohl die Ehre vor mir zu sehen?«

»Nein, mein Junge«, erwiderte der alte Herr, »der bin ich nicht, das tut mir leid. Der Kutscher muß sich wohl geirrt haben. Nichols‘ Farm ist noch etwa drei Meilen weiter. Aber nur herein, nur herein!«

Tom blickte über die Schulter zurück dem Wagen nach, der eben dem Auge entschwand, und sagt: »Das ist zu spät – den hol‘ ich nicht mehr ein!«

»Ja, der ist fort, mein Sohn, und du mußt nun eben mit uns vorliebnehmen. Nach dem Essen spann‘ ich dann an, und fahr‘ dich zu Nichols hinüber.«

»Ach, das kann ich aber doch kaum annehmen, mein Herr, ich kann Ihnen unmöglich diese Mühe machen. Könnte ich denn nicht gehen? Ich bin gut zu Fuß, und drei Meilen sind keine so große Entfernung!«

»Wir lassen dich nicht gehen! Das wäre mir eine schöne Gastfreundschaft. Wir im Süden halten da was drauf! Nur immer herein!«

»Oh, bitte«, sagte nun auch Tante Sally, »es ist uns gar keine Mühe, nur Freude. Du mußt bleiben! Wir können dich den langen, staubigen Weg nicht machen lassen. Als ich den Wagen kommen sah, habe ich gleich in der Küche gesagt, daß man einen Teller mehr hinstellt, es ist also alles in Ordnung. Bitte also hereinzukommen und sich’s bequem zu machen!«

Tom ließ sich erbitten, dankte den guten Leuten sehr höflich und schön und trat ein. Als er im Zimmer war, sagte er mit einer Verbeugung, er komme von Hicksville in Ohio, sein Name sei William Thomson, zum Schluß dienerte er nochmals.

Man setzte sich zusammen, und er erzählte über Hicksville, über die Leute dort, über sich, seine Reise; der Mund stand ihm keinen Augenblick still, und der Stoff schien ihm nur so zuzuströmen. Denk‘ ich bei mir, das ist alles recht und gut und schön, wie es mir aber aus der Patsche helfen soll, begreif ich doch nicht recht. Da plötzlich, mitten im Reden, beugt er sich vor und küßt Tante Sally, neben der er saß, herzhaft, so recht saftig auf den Mund, lehnt sich dann behaglich in seinen Stuhl zurück, als ob nichts geschehen sei, und schwatzt weiter. Entrüstet springt die gute Frau auf, wischt sich mit dem Rücken der Hand ein paarmal kräftig über den Mund und fährt Tom an: »Er unverschämter, junger Flegel!«

Der sieht beleidigt aus und sagt nur: »Ich bin wahrhaftig ganz erstaunt, liebe Frau!«

»Du? Erstaunt? Da hört denn doch alles auf! Ei, was soll man dazu sagen? Ich hätte gute Lust, einen Stock zu nehmen und doch, wie kommst du dazu, mich zu küssen? Heraus damit, ich will’s wissen! Was hast du dir dabei gedacht?«

Ganz demütig erwiderte er: »Gedacht? Gar nichts! Ich dachte nichts Schlimmes, ich, ich dachte, es wäre Ihnen angenehm!«

»Na – jetzt aber, verrückter Bursche, wart!« Sie griff nach einem Spazierstock ihres Mannes, und es sah beinahe so aus, als wolle der Stock durchaus auf Toms Rücken tanzen und sie könne ihn nur mit Mühe zurückhalten. »Was hat dich denn auf den tollen Gedanken gebracht, es könne mir angenehm sein?«

»Ich – ich weiß nicht. Man hatte mir so gesagt!«

»Man hatte dir so gesagt? Wer dir das gesagt hat, ist auch ein Narr wie du, ein Tollhäusler, ein, ein – wer ist denn dieser man?«

»Ach, jedermann! Alle haben das gesagt!«

Sie konnte kaum mehr an sich halten, ihre Augen sprühten Funken, und ihre Finger krümmten sich, als wolle sie ihm die Augen auskratzen. Ganz heiser stößt sie heraus: »Wer sind alle? Heraus mit den Namen, oder ich werde noch verrückt!«

Tom sprang auf und schien sehr bekümmert. Halb weinend stottert er: »Das tut mir leid, aber das hätt‘ ich nicht erwartet! Sie haben mir’s aufgetragen, alle! Alle sagten: Gib ihr einen herzhaften Kuß, das wird sie freuen, wird ihr angenehm sein. Alle sagten das jeder einzelne! Aber jetzt tut mir’s leid, gute Frau, daß ich’s getan, gewiß und wahrhaftig, und ich will’s nie, nie wieder tun!«

»Nie wieder tun? Nun, das will ich doch meinen!«

»Nein, gewiß und wahrhaftig, nie wieder, bis ich drum gebeten werde! Bis Ihr mich drum bittet!«

»Bis ich dich drum bitte? Hat man je so etwas gehört? Junger Mensch, ich sag‘ dir, du kannst so alt werden wie ein Methusalem, ehe ich dich oder deinesgleichen um so etwas bitte!«

Tom schüttelt zweifelnd den Kopf und sagt vor sich hin: »Mich wundert’s, wundert’s grenzenlos, ich kann gar nicht klug daraus werden! Sie haben mir’s doch alle gesagt, und ich hab’s auch selbst gedacht! Aber –«, er hielt ein und sah sich langsam rings nach allen Gesichtern um, als wolle er irgendwo eine Zustimmung entdecken. Am Auge des alten Mannes blieb sein Blick hängen, und er fragte nun ihn: »Haben auch Sie nicht gedacht, es wäre ihr lieb, wenn ich sie küßte?«

»Ich – ich? Nein, der Gedanke ist mir wirklich nicht gekommen!«

Tom forscht nun weiter in den Gesichtern, und bei mir angelangt, fragt er: »Und du, Tom, hast du nicht auch geglaubt, Tante Sally werde die Arme öffnen und rufen: ›Sid Sawyer‹!«

»Herr des Himmels!« schreit diese und fährt auf ihn zu, »du Taugenichts, du Schlingel du! So seine arme, alte Tante anzuführen, wart!«

Sie will ihn an sich ziehen, er aber wehrt sie ab: »Nicht, erst wenn du mich drum bittest, Tante Sally«, neckte er.

Und sie verliert keine Zeit und bittet und umarmt und küßt ihn wieder und wieder, und dann liefert sie ihn dem alten Manne aus, und der nimmt auch sein Teil. Dann, als die guten Leutchen wieder ruhig geworden, sagte sie: »Ei, du lieber Himmel, nein, diese Überraschung! Wir haben nur Tom erwartet! Tante Polly schrieb nie von dir, Sid, nur immer von Tom. Wie kam denn nur alles so?«

»Ja, es war auch immer nur von Tom die Rede. Da habe ich aber gebettelt und gefleht bis zur letzten Minute, ich wolle mit, und endlich bekam ich’s auch erlaubt. Auf dem Boot nun haben wir ausgemacht – Tom und ich –, es würde ein Kapitalspaß sein, wenn er erst allein käme und ich hintennach als Fremder ins Haus fiele und euch überraschte. Darin haben wir uns aber verrechnet, Tantchen; denn für Fremde ist der Ort nicht geschaffen.«

»Nein, nicht für unverschämte Flegel, Sid. Ich sollte dir jetzt noch die Ohren zausen! So geärgert habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht wie vorhin! Aber was liegt daran! Ich will mich gerne ärgern, wenn ich nur euch beiden Bengels bei mir habe, dafür kann ich tausend solcher Scherze vertragen. Na, es war ja die reine Komödie! Ich muß sagen, ich war wie versteinert, als ich den Schmatz abkriegte!«

Die Mahlzeit wurde draußen im breiten offenen Gang zwischen dem Haus und der Küche aufgetragen, und es stand so viel auf dem Tisch, daß es für sieben Familien gereicht hätte; und alles schön heiß, kein solch elendes Zeug von Fleisch, das zuerst drei Tage im dumpfen Keller gelegen hat und dann wie der Schenkel eines alten gerösteten Kannibalen schmeckt. Onkel Silas sprach ein kräftiges Gebet darüber; das Essen war’s auch wahrhaftig wert, es wurde nicht einmal kalt davon, wie ich’s schon so manchmal bei dieser Art von Aufenthalt erlebt habe.

Nach dem Essen wurde immerzu geschwatzt und erzählt, und Tom und ich waren immer auf der Hut, um uns nicht zu verplappern. Von einem durchgebrannten Nigger aber war nie die Rede, soviel wir auch aufpaßten, und wir selbst scheuten uns, davon zu beginnen.

Tom und ich brannten vor Begierde, nun einmal ein paar Stunden ungestört plaudern zu können. Wir sagten daher, wir seien müde, was uns die guten Leute gerne glaubten und uns mit dem herzlichsten Gute Nacht entließen. In Wahrheit aber sehnten wir uns danach, einmal ungestört zusammen reden zu können über unsre gegenseitigen Erlebnisse, von meiner Ermordung von damals an bis jetzt, und dann auch, um uns unsern Plan, Jims wegen, zurechtzulegen.

25. Kapitel

Die einzelstehende Hütte – Schändlich! –Der Blitzableiter als Beförderungsmittel – Eine ganz einfache Sache – Wieder die Hexen und Geister

25. Kapitel

Oben in unserem Zimmer angelangt, setzten wir uns auf die Betten, baumelten uns was mit den Beinen vor und erzählten uns unsere Erlebnisse von der Zeit meiner Ermordung an bis heute. Dann, als alles und jedes durchgenommen war und wir nichts mehr zu erzählen wußten, beschäftigten wir uns in Gedanken mit Jim.

Mit einemmal sagt Tom: »Huck, sind wir aber Narren, daß wir nicht früher daran dachten. Ich wett‘ meinen Kopf, ich weiß, wo Jim steckt!«

»Nein, wirklich?«

»Ei, doch natürlich in jener einzelnstehenden Hütte da drüben am Zaun, das ist doch klar! Erinnerst du dich nicht, daß ein Nigger etwas in einer Schüssel hineintrug, als wir beim Essen saßen? Was hast du dir dabei gedacht?«

»Ich, oh, weiter nichts, ich meinte, es sei für einen Hund!«

»Na, eben! So ging mir’s auch. Aber das war doch für keinen Hund!«

»Warum?«

»Weil ein Stück Melone dabei lag, die frißt doch kein Hundevieh. Na, siehst du?«

»Wahrhaftig, daran hab‘ ich gar nicht gedacht. Ja, es lag eine Melone dabei, das sah ich auch. Wie doch ein Mensch etwas sehen und doch wieder nicht sehen kann! So ein Maulwurf zu sein!«

»Und der Nigger, Huck, der schloß die Tür auffallend sorgfältig hinter sich zu, als er wieder herauskam, und lieferte Onkel nach Tisch einen Schlüssel ab, ganz gewiß den Hüttenschlüssel, Huck. Melone beweist Mensch, Schlüssel beweist Gefangenen, und zwei solche Vögel wird’s wohl kaum auf der kleinen Farm geben, wo alle Menschen so gutherzig sind, daß sie kein Wässerchen trüben können. Folglich ist also Jim jener Gefangene, das hätten wir heraus, Huck, wie der schlaueste Detektiv. Jetzt streng dich an und mach dir einen Plan, wie wir Jim befreien wollen, ich mach‘ auch einen, und dann nehmen wir den, der uns am besten gefällt.«

Großer Gott, was hatte der Junge für einen Kopf auf seinen Schultern! Wenn ich den hätte, ich gäbe ihn nicht her, und wenn ich dafür Herzog oder Steuermann oder Clown in einem Zirkus oder sonst was Großes werden sollte! Ich machte mich also dran, einen Plan auszuhecken, oder tat doch wenigstens so, nur um etwas zu tun, ich wußte ja doch, wer den besten liefern würde. Richtig fängt auch Tom bald drauf an: »Fertig?«

»Ja«, sag‘ ich.

»Gut, also los!«

»Na, ich würd‘ erst mal sehen, ob’s wirklich Jim ist, dann würd‘ ich irgendwo ein Floß zu kriegen oder zu machen suchen, in der ersten dunklen Nacht dem alten Onkel den Schlüssel aus den Hosen wegstibitzen, wenn er sich gelegt hat, Jim die Tür aufschließen, zum Fluß hinunterrennen aufs Floß, nachts fahren, tags schlafen, gerad‘ wie wir’s vorher auch getan haben. Das war‘ doch gewiß ein Plan, der sich ausführen ließe, nicht?«

»Ausführen?« dehnte Tom verächtlich, »ausführen, ja, so einfach und simpel, wie wenn man ein Butterbrot schluckt. Herr, du mein Himmel, hast du denn gar kein bißchen Phantasie, Huck? Das wäre ja so leicht wie Amen sagen oder Wasser trinken. Da krähte kein Hahn danach – nein, das muß anders gemacht werden!«

Ich sagte kein Wort, hatt’s ja vorher gewußt, daß es mir mit meinem Plan so gehen würde. Daß sein Plan, wenn er erst ans Licht käme, nicht so stümperhaft wäre, das war mir klar.

So war’s auch. Tom rückte damit heraus, und ich sah im Augenblick ein, daß sein Plan zehnmal mehr wert war als meiner. Er machte Jim ebenso zum freien Mann wie der meine und hatte außerdem das Gute für sich, daß wir beide dabei Gefahr liefen, samt Jim das Lebenslicht ausgeblasen zu kriegen. Ich war’s zufrieden und sagte nur: immer rein ins Vergnügen! Wie der Plan eigentlich war, will ich lieber gar nicht erzählen, denn ich wußte vorher, daß jede Stunde neue Änderungen bringen würde, und so war’s auch. Wo Tom konnte, brachte er mit Wonne noch neue Schwierigkeiten an, zur weiteren Ausschmückung.

Eins aber stand jetzt bombenfest, nämlich, daß Tom Sawyer, Tante Pollys und Tante Sallys Tom Sawyer, der immer in einem Hause wohnte, in einem Bette schlief, zur Schule, zur Kirche ging, kurz, daß Tom Sawyer wirklich und wahrhaftig daran dachte, einen Nigger befreien zu helfen! Das war zu hoch für mich! Er war doch ein anständiger, wohlerzogener Junge, der einen guten Namen zu verlieren hatte, und seine Leute waren angesehen daheim. Und er war gescheit und kein Dummkopf, hatte was gelernt, war dabei kein Duckmäuser, sondern freundlich und gutmütig, und doch besaß er jetzt nicht für einen Pfennig Stolz und Verständnis oder Gefühl für die Strafbarkeit der Handlung, die er eben im Begriff war zu begehen und die doch mir armem, elendem Teufel schon soviel Kopfzerbrechen und Herzweh bereitet hatte, mir, dem Huck Finn! Ich konnt’s nicht verstehen, auf keine Weise. Es war einfach schmählich, schändlich! Und ich hätt’s ihm sagen müssen, es ihm klarmachen, das weiß ich, als sein treuer Freund ihn bewahren vor der Schande, die er damit über sich und die Seinen bringen würde. Ich fang‘ auch an, was davon herzustottern, er aber hält mir den Mund zu und ruft: »Meinst du, ich weiß nicht, was ich zu tun habe? Weiß ich’s für gewöhnlich vielleicht nicht?«

»Ja, doch, aber …«

»Hab‘ ich dir nicht gesagt, ich helf‘ dir den Nigger frei machen, Huck Finn?«

»Freilich, aber –«

»Also damit basta!«

Mehr sagte er nicht, und mehr sagte auch ich nicht. Es hätte auch gar nichts mehr genützt, denn was er wollte, das wollte er! Ich kümmerte mich also nicht weiter drum und ließ ihm seinen Willen.

Im Hause war mittlerweile alles still und dunkel geworden. Wir öffneten das Fenster und suchten eine Gelegenheit, hinunterzukommen. Glücklicherweise war der Blitzableiter ganz in der Nähe, der diente uns zum Beförderungsmittel, so leicht und bequem wie eine breite Treppe von Marmor. Wir also hinuntergerutscht, schneller als der Blitz, und hin zur Hütte, um zu untersuchen, ob Tom recht gehabt mit seinen Vermutungen. Die Hunde hielten sich still, die kannten uns schon. Bei der Hütte angelangt, inspizierten wir zuerst die uns noch unbekannte Nordseite und fanden da etwa in Manneshöhe eine viereckige Öffnung, vor die ein leichtes Brett genagelt war.

»Hallo, Tom«, frohlocke ich, »da haben wir’s schon, das Brett weg, Jim kriecht durch, und frei ist er!«

»Ja, das ist simpel genug nach deinem Geschmack«, höhnt Tom, »so simpel wie: ›eins, zwei, drei, hicke hacke Heu‹, oder wie Kreiselschlagen. Nein, ich denk‘, wir finden schon was andres heraus, das sich mehr der Mühe lohnt als das!«

»Na, laß uns ihn heraussägen«, schlug ich vor, »so wie ich’s damals vor meinem Tod gemacht habe!«

»Das ging‘ schon eher«, stimmt er bei, »da ist doch was Geheimnisvolles und Umständliches dabei. Aber ich wette, wir finden noch etwas viel, viel Abenteuerlicheres heraus. Wir haben ja gar keine Eile. Laß uns nur mal weitersehen!«

Zwischen der Hütte und dem Zaun befand sich eine Art Schuppen, aus rohen Brettern zusammengenagelt, so lang wie die Hütte selbst, aber viel schmäler, nur etwa fünf bis sechs Fuß breit. Dieser Schuppen stieß mit dem einen Ende an die Hütte und die Tür dazu war mit einem Vorlegeschloß verwahrt. Tom fand eine alte Eisenstange und zog damit einen der eisernen Krampen heraus; die Tür ging auf, und wir krochen in den Schuppen, langsam und vorsichtig. Beim Schein eines Schwefelhölzchens sahen wir, daß der Raum nur mit alten Schippen, Spaten, Hacken und einem wackligen, ausgedienten Pflug gefüllt war. Eine Verbindung zur Hütte gab’s nicht, und der Boden bestand aus gestampftem Lehm. Die Flamme des Zündhölzchens empfahl sich, wir taten desgleichen und drückten den herausgezogenen Krampen wieder hinein, so daß der Verschluß aussah wie vorher. Tom frohlockte.

Kaum waren wir heraus, so rief er: »Jetzt ist alles gut! Jetzt weiß ich, was wir zu tun haben: Wir graben ihn heraus! Dazu brauchen wir mindestens eine Woche!«

Soweit war’s also abgemacht, und wir wandten uns wieder dem Hause zu. Ich ging direkt auf die Hintertür zu, die nur mit einem Lederriemen befestigt war. Mir schien es der einfachste Weg, aber dem Tom war’s lang nicht romantisch genug. Das mußte abenteuerlicher gemacht werden, und er bestand darauf, am Blitzableiter in die Höhe zu klettern. Na, mir war’s recht. Einstweilen aber wollte ich mir das Ding erst einmal ansehen, ehe ich mich zur Nachfolge entschloß. Dreimal war Tom halbwegs oben und dreimal kam er blitzschnell wieder unten an. Das letztemal hätte er sich beinahe den Schädel entzweigeschlagen. Tom ließ sich aber durch so eine Kleinigkeit nicht abschrecken. Er probierte es ein viertes Mal, nachdem er sich vorher ausgeruht, und diesmal blieb er Sieger und kletterte triumphierend durchs Fenster. Ich aber machte mich ganz behaglich zur Treppe hinauf, ich bin einmal kein solcher Held wie Tom und habe auch gar keine Lust dazu, einer zu werden, das Ding kommt mir gar zu mühsam vor.

Am Morgen waren wir mit der Sonne auf und sprangen in den Hof, um uns mit den Niggern und Hunden zu befreunden. Hauptsächlich lag uns dran, den Nigger kennenzulernen, der Jim sein Futter brachte, wenn es wirklich Jim war, der da gefüttert wurde. Sie waren gerade alle beim Frühstück und brachen dann zur Arbeit auf, und Jims Nigger häufte Brot und Fleisch und sonst allerlei auf eine Zinnschüssel. Und da, während die andern weggingen, wurde auch der Schlüssel zur Hütte gebracht.

Jims Nigger hatte ein gutmütiges, rundes Gesicht, und seine Wolle auf dem Kopf war in lauter kleine Bündelchen zusammengebunden, um die Hexen und Geister fernzuhalten, wie er uns erzählte. Nie in seinem Leben sei er von den Unholden so gequält worden wie eben in den letzten Nächten. Er sehe und höre ganz furchtbare Dinge, die gar nicht da seien, Geräusche, Stimmen, kurz, er wisse sich kaum mehr zu helfen. Dabei wurde er so aufgeregt bei der Erzählung seiner Leiden, daß er ganz vergaß, was er im Begriff gewesen war zu tun.

Sagt Tom: »Wozu steht denn das viele Essen da, sollen’s die Hunde kriegen?«

Der Nigger grinste ein wenig, dann allmählich mit dem ganzen Gesicht, so wie wenn der Mond ganz langsam Stückchen für Stückchen hinter einer Wolke hervorkommt, und antwortet: »Ja, junger Herr, sein eine Hund, un sein ganz merkwürdige Hund das! Du ihr wollen sehen?« – »Ja, natürlich!«

Ich stieß Tom in die Rippen und flüstre ihm zu: »Du willst hin, am hellen Tag? So war’s aber doch nicht ausgemacht!«

»Meinetwegen – dann ist’s jetzt!«

So trotteten wir also wahrhaftig hinter dem Nigger her, direkt auf die Hütte los. Mir war’s gar nicht behaglich dabei. Als wir hineinkamen, war alles stockfinster, und wir konnten zuerst gar nichts sehen. Jim aber sah uns und platzte heraus: »Warraftig, da sein Huck! Un, gute, gnädige Himmelsherr, sein das nicht Herr Tom, junge Herr Tom?«

Da hatten wir’s! Ich wußte ja, wie’s kommen würde, ich hatt’s vorher gewußt, nun war’s verraten! Und was jetzt tun? Mir fiel nichts ein, ich stand mit offenem Munde da, und wenn ich auch etwas hätte sagen wollen, ich hätt‘ gar keine Zeit dazu gehabt, denn der Nigger drehte sich ganz starr nach uns um und rief: »Was, gute Gott, junge Herrn kennen alte Nigger?«

Inzwischen hatten sich unsere Augen an das Dunkle gewöhnt, und wir konnten nun die Gegenstände erkennen. Tom starrt den Nigger wieder an, unverwandt und furchtbar verwundert, und fragt: »Kennen wir wen?«

»Ei, alte durchgebrannte Nigger hier vor uns!«

»Woher sollten wir den kennen? Wie kommst du darauf, Alter?«

»Wie kommen Sam drauf? Sein Sam taub? Haben alte Nigger nix eben Namen gesagt von junge Herrn?«

»Na, das ist aber doch merkwürdig! Wer hat was gesagt? Wann hat er’s gesagt? Was hat er gesagt?« Ganz ruhig wendet Tom sich jetzt zu mir: »Hast du jemanden was sagen hören?«

»Ich? Nee, ich hab‘ gar nichts gehört!«

Dann wendet er sich zu Jim, mustert ihn erst eine Weile, als habe er ihn nie gesehen, und fragte dann: »Hast du was gesagt?« »Jim, Herr?« fragt dieser ganz unschuldig, »nein, Jim haben gar nix gesagt!«

Und er schüttelt den dicken Kopf, daß er nur so hin und her fliegt.

»Kein Wort?« fragt Tom noch einmal.

»Kein eine Wort, junge Herr!« beteuert Jim.

»Hast du uns jemals vorher gesehen?«

»Kann nix sein, Herr, Jim haben junge Herrn nie nix gesehen nie nix!«

Jetzt wendet sich Tom zum Nigger, der ganz verwirrt und eingeschüchtert dabei steht, blickt ihn streng an und fragt: »Was ist denn mit dir eigentlich los, Alter? Rappelt’s bei dir? Wie kommst du drauf, der Nigger dort habe was gesagt, habe uns gekannt?«

»Oh, das sein nur alte, schreckliche Geister, junge Herr. Sam wünschen, er wären tot! Geister ihn immerfort so grausam plagen. Ach, junge Herr, junge Herr, ihr nix sagen Master Silas, alte Sam sonst soviel zanken. Er sagen, sein keine Geister nix, sein keine Hexen nix auf der Welt, un alte Sam sie doch immer hören un sehen. Wenn er nur gewesen jetzt hier, er müssen glauben. Aber das sein immer so. Leute, was wollen nix glauben dran, glauben nix. Wollen nix sehen un hören und wenn’s annre Leute ihnen sagen, sie nix wollen wissen.«

Tom gab ihm einen Cent und sagte zu ihm, wir würden ihn nicht verraten, er solle sich für das Geld noch mehr Bindfaden kaufen, um seine Wolle besser zusammenzubinden, es sei offenbar so noch nicht genug.

Dann blickt er Jim noch einmal fest an und sagt: »Ich möchte nur wissen, ob Onkel Silas den Kerl nicht baumeln läßt! Ich tät’s an seiner Stelle. So ’nen undankbaren Hund, der seinem Herrn durchbrennt!« Und während der Nigger mit seinem Geldstückchen zur Tür schleicht, um’s zu betasten und auf seine Echtheit hin zu prüfen, nähert sich Tom Jim und flüstert ihm leise zu: »Verrat ja nie, daß du uns kennst. Und wenn du bei Nacht graben hörst, so sind wir es, wir wollen dich befreien!«

Jim hatte nur Zeit, nach unsern Händen zu fassen und sie zu drücken, dann kam der behexte Nigger wieder auf uns zu, und wir versprachen, bald wieder mit ihm herzukommen, wenn er es wolle; er meinte, es sei ihm sehr lieb, besonders im Dunkeln, wo ihn die Geister am meisten plagten, je mehr Menschen da seien, desto besser. So schieden wir von Jim, dem Wiedergefundenen!

26. Kapitel

Gut durchgeschlüpft! – Schwarze Pläne – Gewandtheit im Stehlen – Ein tiefes Loch

26. Kapitel

Noch war’s fast eine Stunde bis zum Frühstück. Wir gingen dem Wald zu, denn Tom wollte etwas Licht haben, um in der Nacht in dem dunkeln Schuppen graben zu können. Eine Laterne, meinte er, sei zu hell, und so wollten wir uns altes verfaultes Holz suchen, das im Dunkeln leuchtet, freilich nicht stark, aber für unsere Arbeit doch gerade genug. Wir suchen also, finden auch ziemlich viel, verstecken’s im Gebüsch, und Tom fährt ganz unzufrieden heraus: »Verdammt, alles wickelt sich so glatt und leicht ab. Es ist doch infam schwer, einen schwierigen Plan ins Werk zu setzen, bei dem’s der Mühe wert ist, sich anzustrengen. Nicht einmal ein Wächter kommt uns in den Weg, den man einschläfern müßte – ein Wächter gehört doch wenigstens dazu! Kein Hund, der einen Schlaftrunk oder Gift haben muß, nichts, nichts! Dem Jim haben sie eine Kette, so dünn wie mein kleiner Finger, ums Bein getan und ihn damit ans Bett gebunden. Nun frag‘ ich eins! Ist das ’ne Art? Da muß man nur das Bett aufheben, die Kette abstreifen, und Jim ist frei. Und Onkel Silas, der traut jedem! Überläßt den Schlüssel dem Kürbisschädel von Nigger und bestellt niemand, der auf ihn aufpaßt. Jim hätt‘ schon längst aus dem Loch herausgekonnt, wenn er nur gewollt hätte, der ist aber zu klug und weiß, daß er mit der Kette am Fuß nicht weit käme. Hol’s der Henker, Huck, es ist die dümmste Geschichte, die ich je erlebt hab‘! Da heißt’s alle Schwierigkeiten selbst erfinden. Na, das können wir nun nicht ändern, wir müssen eben versuchen, das beste aus der Sache zu machen. Eines tröstet mich, und das ist, daß es noch viel, viel glorreicher und rühmlicher sein wird, Jim durch einen Haufen von Gefahren und Abenteuern durchzubringen, wo nicht eine Schwierigkeit existierte, gar keine in den Weg gelegt wurde von denen, deren Pflicht es gewesen wäre, sie zu liefern, und wir sie alle, alle in unsrem eigenen Hirn ersinnen mußten. Das nenn‘ ich groß, und das tröstet mich auch und macht mir Mut! Nimm nur einmal bloß die eine Laterne an, Huck. Schon, dabei müssen wir nur so tun, als sei’s gefährlich, was? Ich glaube, wir könnten bei Fackelzugbeleuchtung graben, es kümmerte sich noch keine Seele drum! Inzwischen müssen wir aber ausschauen, ob wir nichts finden, aus dem sich eine Säge machen läßt.« – »Was sollen wir damit?«

»Was wir damit sollen? Ei, müssen wir nicht das Bein von Jims Bett absägen, um die Kette loszukriegen?«

»Du hast ja eben selbst gesagt, daß man das nur zu heben brauche, um die Kette abzustreifen!«

»Na, das ist auch wieder ganz und gar nach deiner Art, Huck Finn. Du willst immer alles in der Klein-Kinderschul-Manier tun! Nur recht einfach, nur recht simpel! Hast du denn nie was gelesen? Kein Räuberbuch, keine Heldengeschichte? Baron Trenck oder Casanova oder Benvenuto Cellini oder Heinrich IV., kennst du keinen einzigen von diesen Helden? Wer hat je gehört, daß man einen Gefangenen auf so zimperliche Art befreit wie eine alte Jungfer? Nein, wir machen’s, wie es die besten Autoritäten vor uns gemacht haben. Man sägt also das Bein des Bettes entzwei und läßt es dann so, leckt das Sägmehl auf und verschluckt es, so daß niemand es finden kann, dann wird Fett und Schmutz um die durchsägte Stelle gerieben, und das Auge des tapfersten, wachsamsten Seneschalls, oder wie sie die Kerle heißen, kann nichts davon entdecken, und er meint, das Bein sei vollständig heil. Dann, in der Nacht der Flucht, gibt man dem Bett einen Tritt – und ab fliegt das Bein, die Kette wird abgestreift und frei bist du! Nun hast du nichts weiter zu tun, als deine Strickleiter zu nehmen, sie am Fenstergitter zu befestigen, hinunterzusteigen, dein Bein beim letzten Sprung in den Festungsgraben zu brechen – denn eine Strickleiter ist immer neunzehn Fuß zu kurz, weißt du –, und dann kommen deine treuen Vasallen, die unten stehen, heben dich auf dein Roß, und fort geht’s, wie der Wind, deinen heimatlichen Fluren in Languedoc oder Navarra, oder wie sie heißen, zu. Das ist herrlich, Huck, großartig! Ich wollte, wir hätten auch einen Festungsgraben um die Hütte! Wenn wir noch Zeit haben in der Nacht vor der Flucht, graben wir uns einen!«

Drauf sag‘ ich: »Was sollen wir denn mit einem Festungsgraben anfangen, wenn wir Jim doch unter dem Schuppen herausbohren wollen?«

Er aber hört mich nicht, hat mich und alles um uns her vergessen. In sich versunken sitzt er da, das Kinn in die Hand gestützt. Dann seufzt er auf, schüttelt den Kopf und seufzt wieder. Darauf sagt er: »Nein, das ginge am Ende doch nicht gut, es muß nicht gerade sein.« – »Was denn?« frag‘ ich.

»Ei, Jims Bein abzusägen«, sagt er.

»Herr, du mein Gott«, ruf ich, »nein, das ist allerdings gar nicht nötig. Zu was wolltest du ihm denn das Bein absägen?«

»Na, dafür gibt’s genug berühmte Vorbilder. Genug haben’s schon getan. Wenn sie die Kette nicht anders loskriegen konnten, hackten sie sich einfach die Hand oder den Fuß ab und waren frei. Ein Bein ab wäre noch besser! Das können wir aber am Ende sein lassen; es ist, wie gesagt, nicht gerade notwendig, und Jim ist überdies so ein dickköpfiger Nigger, der’s nie begreifen würde, warum es sein sollte und daß es die Mode in Europa ist, es so zu machen, na also – wir lassen’s bleiben! (Schwerer Seufzer.) Eins aber kann und muß er haben, und das ist eine Strickleiter. Wir zerreißen unsere Bettücher und machen ihm eine, es ist kinderleicht. Die schicken wir ihm dann in einem Laib Brot; so wird’s beinahe immer gemacht.«

»Na, aber Tom Sawyer«, warf ich ein, »wie du wieder schwatzt. Wozu soll denn Jim eine Strickleiter brauchen? Der weiß ja gar nicht, was er damit anfangen soll.«

»Er braucht eine, Huck Finn, sag‘ ich dir. Du sprichst gerade wie der Blinde von der Farbe. Weißt und verstehst nichts davon. Er muß einfach eine Strickleiter haben, ob er sie braucht oder nicht, er muß, denn alle haben eine!«

»Was, in der Welt, soll er aber damit tun?«

»Damit tun? Er versteckt sie in seinem Bett. Kann er das nicht? Das geschieht meistens, und er muß es auch. Huck, du willst eben nie etwas der Ordnung und Regel nach tun, da hast du kein Verständnis dafür, immer willst du’s anders machen als die andern. Und selbst wenn er auch nichts mit der Strickleiter anfängt, dann findet man sie doch nachher in seinem Bett als ein wichtiges Indicinium, oder wie sie’s heißen. Nein, Huck, du weißt und verstehst gar nichts. Glaubst du denn, man braucht keine Indiciniums, wenn einer durchgegangen ist? Natürlich muß man die haben! Du natürlich denkst nichts und sorgst für nichts! Du würdest’s nett machen, wenn du’s zu tun hättest, das muß ich sagen – alle Achtung!«

»Na«, sag‘ ich, »braucht er’s, so braucht er’s und soll’s haben, ich will nicht gegen die Regel sündigen – Gott bewahre! Aber eins weiß ich: Wenn wir nun unsre Bettücher nehmen und zerreißen, um dem alten Kerl eine Strickleiter zu machen, dann kriegen wir’s mit Tante Sally zu tun, die steigt mit dem Strick ohne Leiter hinter uns, soviel ist gewiß. Na, mir soll’s recht sein, mein Buckel ist nicht verwöhnt, der kennt die Kost. Sag mal, Tom, tät’s nicht auch ’ne Leiter von Bast geflochten? Der ist leichter zu beschaffen und tut dieselben Dienste. Dann brauchen wir nicht erst was zu zerreißen und in den Brotlaib läßt sich’s auch stecken, und was Jim betrifft, so hat der keine Erfahrung in den Sachen, dem ist’s einerlei, ob die Leiter von Bast oder von Bett…«

»Dummheiten und kein Ende! Wenn ich solch‘ ein Dickkopf wäre, Huck Finn, dann hielt ich mein M…, das würd‘ ich tun, gewiß und wahrhaftig? Wer in der Welt hat je gehört, daß ein Staatsgefangener auf einer Bastleiter entwichen wäre, ’s ist rein zum Totlachen!«

»Na gut, Tom, nur ruhig, mach’s, wie du Lust hast, ich rat‘ aber, wir nehmen lieber ein Tuch draußen von der Leine anstatt aus unserem Bett!«

Das leuchtete ihm ein und gab ihm einen neuen Gedanken. Sagt er: »Weißt du was, Huck, wir nehmen auch gleich ein Hemd!«

»Ein Hemd? Wozu?«

»Für Jim, um ein Tagebuch darauf zu schreiben.«

»Sei doch nicht so närrisch! Jim kann ja nicht schreiben.«

»Na, wenn er nicht schreiben kann, so kann er doch wenigstens Zeichen darauf malen, wenn wir ihm eine Feder aus einem alten Zinnlöffel oder einem dicken eisernen Nagel machen.«

»Ja, aber Tom, das hätten wir wieder viel einfacher und besser, wenn wir einer Gans ’ne Feder ausrissen!«

»Gefangene haben keine Gänse, die im Kerker herumlaufen und sich Federn ausreißen lassen, du Dummbart! Die Gefangenen machen ihre Federn immer aus dem härtesten verrostetsten, und ältesten Stück Eisen, das ihnen unter die Finger kommt, und dazu brauchen sie Wochen und Wochen, Monate und Monate, bis sie soweit sind und es abgefeilt haben, denn sie können’s nur an der Mauer abreiben. Die nähmen keinen Federkiel, selbst wenn sie ihn haben könnten, es wäre ganz gegen die Regel.«

»Und die Tinte? Woraus sollen wir die machen? Aus Lakritzensaft?«

»Dummkopf! – Viele nehmen Rost mit Tränen gemischt, aber das ist schon mehr etwas für Weiber, die’s Heulen verstehen. Die besten Vorbilder, die ich kenne, haben ihr eigenes Blut dazu benutzt, das mag Jim auch tun. Wenn er aber nur eine kleine und gewöhnliche Nachricht von sich geben will, dann kann er sie auch mit einer Gabel auf einen Zinnteller schreiben und ihn dann zum Fenster hinauswerfen. So hat’s die Eiserne Maske gemacht, und die hat’s verstanden.«

»Jim hat aber keine Zinnteller. Sie schicken ihm das Essen in einer Blechschüssel.«

»Das tut nichts, die verschaffen wir ihm.«

»Wird aber jemand seine Tellerschrift lesen können?«

»Darauf kommt’s nicht an, Huck! Er hat nur die Teller zu bekritzeln und dann wegzuwerfen. Das Lesen ist Nebensache, gehört nicht dazu! Neunundneunzigmal unter hundert bist du nicht imstande herauszukriegen, was ein Gefangener auf einen Teller oder sonstwohin kritzelt, darauf kommt’s gar nicht an!«

»Ja, aber warum denn die vielen Teller so verderben?«

»Warum? Schwerenot, bist du dumm! Die gehören ja den Gefangenen gar nicht!«

»Aber irgend jemandem gehören sie doch, nicht?«

»Na und wenn! Was liegt dem Gefangenen dran, wem…«

Hier brach er ab, denn man hörte das Horn blasen, das uns zum Frühstück rufen sollte, und wir rannten dem Hause zu.

Im Laufe des Morgens nahm ich also ein Leintuch und ein Hemd von der Wäscheleine auf dem Trockenplatz und steckte beides in einen alten Sack, den ich gefunden hatte; das verfaulte Holz kam auch mit hinein. Ich nannte das borgen, wie mein Alter immer sagte, Tom aber meinte, das sei gestohlen. Er sagte aber, wir stellten jetzt eben Gefangene vor, und Gefangene nähmen alles, was sie kriegen könnten, und niemand sehe sie deshalb schief an und nehme es ihnen übel. Bei einem Gefangenen ist’s keine Sünde, wenn er die Dinge stiehlt, die er zu seiner Befreiung braucht, sagte Tom, das ist sein Recht, und solange wir hier Gefangene sind, hätten wir das Recht, alles und jedes Ding zu stehlen, das wir zu unserer Befreiung brauchen. Er sagte, wenn wir keine Gefangenen wären, wäre es was ganz anderes, nur ein ganz gemeiner, erbärmlicher Kerl stehle, wenn er nicht gefangen sei. Wir beschlossen also, alles zu nehmen, was wir nur irgend brauchen könnten und was uns unter die Finger käme. Mir war das ganz recht, und doch fing Tom furchtbar an zu schimpfen, als ich einmal den Niggern eine Melone von ihrem Feld nahm und sie aß. Er zwang mich, hinzugehen und den Kerlen Geld dafür zu bringen, und sagte, das sei ganz was anderes und so hätte er’s nicht gemeint, das sei gestohlen – gemein gestohlen, wir dürften nur nehmen, was wir wirklich brauchten. Das begriff ich nun nicht.

Sag‘ ich: »Tom, ich hab‘ die Melone wirklich gebraucht.«

Er aber sagte, nein, ich hätte sie nicht genommen, um damit frei zu werden! Das sei der Unterschied! Ja, wenn ich sie gebraucht hätte, um ein Messer drin zu verbergen, sie Jim zuzuschmuggeln, der dann den Senneschaal, oder wie der Kerl heißt, damit habe töten können, das wäre ein ander Ding gewesen. Ich ließ es gut sein, dachte aber bei mir, ich könne den Vorteil, ein Gefangener zu sein, nicht so recht einsehen, wenn man soviel Federlesens machen müsse, sooft man sich einmal eine Wassermelone zu Gemüt führen wolle.

Na, wie ich schon vorher gesagt habe, wir warteten also an jenem Morgen, bis alles im Hause an der Arbeit und niemand mehr im Hof war, um uns zu beobachten. Dann schleppte Tom den Sack in den Schuppen, während ich Wache stand. Als er wieder herauskam, setzten wir uns auf einen Holzstoß und plauderten.

Sagt‘ er: »Jetzt ist alles in Ordnung, nur noch Handwerkszeug brauchen wir, und das ist leicht zu haben.«

»Handwerkszeug?« frag‘ ich.

»Ja!«

»Handwerkszeug für was?«

»Na, um damit zu graben! Du wirst ihn doch wohl nicht mit den Nägeln herauskratzen?«

»Sind denn die alten Hacken und sonstigen Dinger da drinnen nicht gut genug, um einen Nigger herauszugraben?«

Darauf sieht er mich aber so traurig an, als sei ich seine Großmutter und als wolle er eben den Geist aufgeben.

»Huck Finn«, sagt er, »mit dir ist nichts anzufangen! Hast du je von Gefangenen gehört, die nur so nach Hacken und Spaten greifen konnten, um sich damit herauszugraben? Ich frag‘ dich auf dein Gewissen, Huck Finn, wenn du eins hast und ein Fünkchen Verstand dazu. Welch ein Anrecht auf Heldentum hätte ein Gefangener in diesem Fall? Ebensogut könnte man ihm geschwind den Schlüssel zum Kerker leihen, und damit fertig! Spaten und Hacken! Wahrhaftig! – Nicht einmal ein König würde sie kriegen!«

»Na«, frag‘ ich, »wenn wir also die Spaten und Hacken da drin nicht brauchen, was brauchen wir dann?«

»Ein paar richtige, ordentliche Taschenmesser!«

»Was? Um damit den Boden bis zur Hütte zu untergraben?«

»Ja!«

»Na, laß dich begraben, Tom, das ist verrückt!«

»Das ist ganz einerlei! Verrückt oder nicht, so muß es geschehen, so ist’s der Regel nach. Ich hab’s nie anders gehört oder gelesen, und ich kenne alle Bücher, in denen so etwas vorkommt. Immer graben sie sich mit einem Taschenmesser heraus! Und gewöhnlich nicht durch Lehm und Schmutz wie hier, merk dir’s, sondern durch harten, festen Felsgrund. Und dazu brauchen sie Wochen und Monate, und manchmal dauert es noch viel länger. Da war mal einer in dem Schlosse Dief, im Hafen von Marseille, der saß ganz unten im untersten Kerker und grub sich durch, und wie lange glaubst du, hat er dazu gebraucht?« – »Was weiß ich! Anderthalb Monate?«

»Siebenunddreißig Jahre! Und kam in China heraus! So, da siehst du; so muß man’s machen. Ich wollte nur, der Grund dieser Festung hier wäre aus Fels, aus hartem, solidem Fels!«

»Aber Jim kennt ja gar niemand in China! Der wird sich nicht dorthin sehnen!«

»Was hat das damit zu tun? Der andre Kerl in Dief kannte auch niemand dort. Aber du kommst immer vom Hauptpunkt ab und gerätst auf Seitenwege!«

»Gut! Was liegt mir dran, wo er herauskommt, meinethalben im Mond, ich meine, die Hauptsache ist, daß er herauskommt, und ich glaube, Jim denkt geradeso. Aber etwas müssen wir doch bedenken. Jim ist zu alt, um ‚mit dem Taschenmesser ausgegraben zu werden, so lange lebt der gar nicht mehr!«

»Das wird sich zeigen! Du denkst doch nicht, daß wir hier siebenunddreißig Jahre brauchen, um ein Loch in den Dreck zu wühlen?«

»Wie lang werden wir denn wohl brauchen, Tom?«

»Na, so lang, wie wir eigentlich regelrecht brauchen sollten, können wir gar nicht wagen zu brauchen, denn Onkel Silas wird bald genug Wind bekommen, wer und woher Jim ist. Wer kann’s wissen, wie bald Jim forttransportiert werden soll? Bei so unsicheren Umständen halt‘ ich fürs gescheiteste, wir graben so schnell wie möglich und tun nachher, als wären es siebenunddreißig Jahre gewesen. Dann können wir ruhig sein und alles abwarten, und sobald sich die erste Gefahr zeigt, ihn herausholen und schleunig fortspedieren. So, denk‘ ich, wird’s am besten sein!«

»Da liegt doch mal wirklich Verstand drin, den ich auch begreifen kann«, sag‘ ich, »so tun kostet nichts, so tun ist Kinderspiel, und meinetwegen können wir tun, als seien’s hundertundfünfzig Jahre gewesen. Na, will mal sehen, ob ich irgendwo ein paar tüchtige Taschenmesser erwischen kann.«

»Nimm gleich drei«, rät Tom, »wir brauchen eins, um eine Säge draus zu machen.«

»Tom«, wag‘ ich noch einmal einzuwenden, »dahinten unter dem Schuppendach habe ich eine alte rostige Säge liegen sehen, wenn’s nicht unchristlich und gegen die Regel ist, so…«

Aber er sah mich so trostlos und entmutigt an, daß ich nicht fortzufahren wagte.

»Du lernst nichts, Huck!« seufzt er, »lauf und verschaff uns die Messer – drei, hörst du?«

Ich tat’s!

27. Kapitel

Der Blitzableiter – Sein Bestes – Ein Vermächtnis an die Nachwelt – Löffel stehlen – Unter den Hunden – Eine hohe Summe!

27. Kapitel

Alles ging früh zu Bett, wie wir es erwartet hatten, und das ganze Haus lag bald in tiefster Ruhe. Wir also am Blitzableiter hinunter, leise in den Schuppen geschlichen, unser Bündel faules Holz als brillante Beleuchtung vorgekriegt und nun los an die Arbeit! Erst räumten wir alles aus dem Weg, was auf dem Boden lag, gerade in der Richtung auf Jims Bett zu. Tom meinte, es sei gut, wenn der Gang, den wir graben wollten, unter dem Bett münde, da könne man die Öffnung doch nicht so leicht bemerken, denn Jims Decke hinge ziemlich auf den Boden herunter und es verfiele keiner so leicht darauf, diese aufzuheben und darunter nachzusehen. Na also! Wir gruben und gruben, stocherten und wühlten mit unsern Taschenmessern bis beinahe gegen Mitternacht. Dann waren wir hundemüde und unsre Hände voller Blasen, und doch konnte man kaum sehen, daß wir vorwärtsgekommen waren.

Endlich sag‘ ich: »Na, Tom, mir scheint’s, mit den siebenunddreißig Jahren, die wir nach der Regel zu der Arbeit brauchen sollen, kommen wir nicht aus; wenn da nicht mindestens achtunddreißig drauf gehen, will ich Hans heißen!«

Er sagte kein Wort, seufzte aber tief und hörte mit einemmal auf zu stochern. Da wußte ich, daß er jetzt nachdenke, und ließ ihn gewähren.

Plötzlich sagt‘ er: »Huck, so kann’s nicht weitergehen. Ja, wenn wir wirklich eingekerkert wären und so viele Jahre vor uns hätten, wie wir hierzu brauchen, und hätten keine Eile, sondern brauchten jeden Tag nur ein paar Minuten zu graben, während der Ablösung der Wachen, und bekämen dabei keine Blasen an die Hände, dann könnten wir’s so weitertreiben – jahrein, jahraus – und alles der Regel nach tun, wie’s sein müßte. So aber! Wir können nicht so zaudern, wir müssen flink zugreifen, haben gar kein bißchen Zeit zu verlieren. Wenn wir morgen noch einmal ein paar Stunden so weitermachen wollen, müssen wir gewiß eine Woche lang warten, bis unsere Hände wieder so sind, daß man ein Taschenmesser anrühren und weitergraben kann.«

»Was sollen wir nun tun, Tom?«

»Das will ich dir sagen, das ist ganz einfach! Schön ist’s nicht und recht auch nicht und nicht moralisch, und es darf’s nie einer erfahren. Wir haben aber keine Wahl. Herausgraben müssen wir ihn und schnell dazu, und so müssen wir eben die Hacken und Schaufeln nehmen und tun, als seien’s nur Taschenmesser!«

»Das nenn‘ ich doch endlich einmal vernünftig gesprochen, Tom, bravo, bravo! Dein Kopf wird klarer und klarer, scheint mir, tut sein bestes, übertrifft sich nächstens selbst«, frohlock ich. »Schaufeln ist die Losung, moralisch oder nicht moralisch! Ich für mein Teil kümmere mich einen Pfifferling um die Moralischkeit. Wenn ich ’nen Nigger stehlen will oder ’ne Wassermelone oder ein Sonntagsschulbuch, kommt mir’s gar nicht drauf an, wie ich’s mache, wenn ich’s nur kriege. Was ich will, ist mein Nigger oder meine Melone oder mein Buch, und wenn ich eine Schaufel brauche, um’s herauszugraben, muß eben eine Schaufel her, mögen die Autoritäten davon denken, was sie wollen, die können mir gestohlen werden!«

»Na«, meint er, »in unserm Fall sind wir allerdings entschuldigt, wenn wir Schaufeln nehmen und so tun, sonst tät‘ ich’s wahrhaftig nicht, denn Recht bleibt Recht und Unrecht bleibt Unrecht, und keiner soll’s Unrechte tun, wenn er’s besser weiß! Du kannst meinethalben Jim mit der Schaufel ausgraben, ohne zu tun, als sei’s ein Messer, bei mir aber ist das anders, ich weiß, was recht ist und wie es sein muß, also – gib mir ein Messer!«

Er hatte seins bei sich, doch reich‘ ich ihm das meine, ohne mir’s weiter zu überlegen.

Er wirft’s weit weg und wiederholt ungeduldig: »Gib mir ein Taschenmesser, Huck Finn!«

Erst starrt‘ ich ihn verblüfft an, dann dacht‘ ich nach: Und da ging mir ein Licht auf! Ich such‘ und kram‘ unter dem alten Werkzeug am Boden herum, find‘ ’ne Hacke und reich‘ sie ihm, und er nimmt sie und macht sich an die Arbeit, ohne weiter ein Wort zu sagen. So war er immer, stets voller Grundsätze!

Ich bewaffnete mich mit einer Schaufel, und nun ging’s lustig drauflos, daß die Brocken nur so kollerten und flogen. Eine halbe Stunde lang gruben wir fleißig, dann fielen wir beinahe um vor Schlaf, aber wir konnten doch auch ein Stück Arbeit aufweisen mit unsern Taschenmessern! Alsdann machte ich mich davon und eilte die Hintertreppe hinauf, ich dachte, Tom sei hinter mir her. Als er aber nicht kommt, seh‘ ich zu unserm Fenster hinaus und erblicke ihn am Blitzableiter, an dem er herauf klettern will. Er bringt es aber nicht fertig, da ihm seine blasigen Hände zu weh tun, und ruft mir ganz jämmerlich zu: »Ich kann’s nicht, Huck, es geht nicht! Was soll ich nun anfangen? So rat mir doch, Huck, denk nach! Weißt du gar nichts?«

»Ja«, sag‘ ich, »aber das wäre nicht moralisch und nicht nach der Regel. Komm eben einfach die Treppe herauf und tu, als sei’s der Blitzableiter!«

Schweigend schlich er davon und tat’s, aber gesprochen hat er an dem Abend kein Wort mehr.

Am andern Morgen entlehnte Tom einen Zinnlöffel und einen Messingleuchter im Hause, um Schreibfedern für Jim draus zu machen, sechs Talgkerzen ließ er außerdem noch mitgehen. Ich trieb mich bei den Negerhütten herum, wartete auf eine Gelegenheit und führte drei Zinnteller aus. Tom meinte, das sei lange nicht genug, ich aber sagte, wenn Jim die Teller herauswerfe, würden sie in dem Buschwerk vor dem Fensterloch von niemandem gesehen, und da könnten wir sie wieder herausholen und noch einmal benutzen.

Da war er denn auch zufrieden und sagte: »Jetzt müssen wir aber noch herauskriegen, wie wir all das Zeug dem Jim zustecken!«

»Na, durchs Loch natürlich, wenn wir es fertig haben!«

Er sah mich nur an, aber wie! Ich wußte, was er dachte, fast besser, als wenn er’s gesagt hätte, dabei brummte er etwas wie verrückt oder so, ich untersucht‘ es nicht weiter. Dann legte er sich aufs Nachsinnen, sagte auch nach einiger Zeit, er habe drei oder vier verschiedene Arten herausgefunden, es habe aber keine Eile mit der Entscheidung, wir müßten Jim doch zuerst alles klarzumachen suchen, wofür er die Sachen zu benutzen habe.

An dem Abend rutschten wir etwas nach zehn Uhr am Blitzableiter hinunter, nahmen eine von den Talgkerzen mit, horchten unter Jims Guckloch – Fenster konnte man das Ding nicht nennen –, hörten ihn schnarchen und warfen die Kerze hinein, wodurch er gar nicht einmal wach wurde. Jetzt ging’s frisch drauflos mit Hacke und Schaufel, und in vielleicht zwei Stunden oder etwas mehr waren wir fertig. Wir krochen durch das Loch unter Jims Bett in die Hütte, tappten auf dem Boden herum, fanden die Kerze, zündeten sie an und stellten uns ein Weilchen vor Jim hin, der immerzu schnarchte, dann weckten wir ihn allmählich. War der aber glücklich, uns zu sehen! Er nannte uns Herzchen und Zuckerpüppchen und gab uns sonst noch alle Schmeichelnamen, die sich nur erdenken lassen, und bat uns, sofort eine alte Feile zu holen und seine Kette abzufeilen und dann ohne viel Zeitverlust mit ihm auf und davon zu gehen. Das war nun ganz und gar nicht Toms Absicht, und der zeigte ihm denn auch bald, wie ganz gegen alle Regeln das wäre, und setzte ihm unsern Plan auseinander und wie wir ihn auch jeden Moment ändern könnten, wenn wirklich Gefahr in Verzug wäre, er brauche sich kein bißchen zu fürchten, denn wir würden dafür sorgen, daß er sicher frei würde. Jim sagte dann auch schließlich, ihm sei alles recht, und wir saßen und plauderten von alten Zeiten; Tom stellte eine Menge Fragen, und als Jim erzählte, Onkel Silas käme jeden Tag, um mit ihm zu beten, und Tante Sally, um nachzusehen, ob er genug zu essen habe, und daß beide so gut und freundlich seien, da sagte Tom: »So, nun weiß ich auch, was ich zu tun habe. Die müssen dir selbst die Sachen zutragen, die du brauchst, Jim!«

Sag‘ ich: »Das wirst du doch nicht tun, Tom, das ist ja das Tollste, was du bis jetzt ausgedacht hast!«

Er aber hörte gar nicht auf mich, sondern machte immer weiter, wie er’s zu tun pflegte, wenn ihm ein neuer Gedanke kam.

So sagte er denn Jim, daß wir ihm die Strickleiter in einem Brotlaib zuschmuggeln wollten, und andre größere Sachen durch den Nigger, der ihm das Essen bringe, er dürfe sich aber nichts merken lassen und müsse immer aufpassen und niemals etwas verraten. Die kleineren Sachen würden wir in des Onkels Rocktaschen stecken oder an der Tante Schürzenbänder befestigen, wo er sie dann unbemerkt wegnehmen müsse. Wir sagten ihm auch, zu was er jedes einzelne benutzen solle und wie er ein Tagebuch führen müsse auf dem Hemd mit seinem eignen Blut und dergleichen mehr. Tom unterrichtete ihn von allem. Jim konnte freilich nicht recht klug draus werden, meinte aber, wir seien doch kluge Weiße und müßten’s eben besser verstehen als so ein armer, dummer Nigger. Er war’s denn auch zufrieden und versprach, alles genau so zu machen, wie’s Tom angegeben.

Jim holte ein paar Pfeifen und Tabak heraus, und so waren wir lustig und guter Dinge. Dann krochen wir wieder zum Loch hinaus und gingen zu Bett, mit Händen, die aussahen, als seien sie mal von Ratten angenagt worden: So langes Graben ist doch kein Spaß! Tom war in der besten Laune. Er sagte, das sei das Schönste, Interessanteste, was er je erlebt hätte, und meinte, den Spaß könnten wir unser ganzes Leben lang fortsetzen, wenn wir nur erst wüßten wie, und es unsern Kindern einmal überlassen, Jim zu befreien, der ganz sicher mit der Zeit immer mehr Geschmack an seiner Gefangenschaft finden werde. Tom meinte auch, bei sorgfältiger Behandlung könne man Jim gewiß bis hoch in die Achtzig bringen und die Erzählung seiner Abenteuer dann als wertvolles Vermächtnis der Nachwelt überlassen, und alle, die damit zu tun gehabt hatten, würden Ruhm und Lorbeeren und einen gefeierten, hochgepriesenen Namen ernten. Na, mir soll’s recht sein!

Am Morgen gingen wir zum Holzplatz hin und zerlegten den Messingleuchter in handliche Stücke, die Tom samt dem Zinnlöffel in seine Tasche steckte. Dann schlenderten wir zu den Niggerhütten, und während ich Sam – das war der Nigger, der Jim das Essen brachte – anderweit beschäftigte, bohrte Tom ein Stück von dem Messingleuchter in ein großes Stück Brot, das auf Jims Schüssel lag, und wir trotteten nachher hinter Sam her, um zu sehen, was es für eine Wirkung habe. Die war nun über alle Beschreibung, denn Jim biß sich beinahe alle Zähne an dem Messing aus; das war ein Hauptspaß. Jim aber ließ sich nichts merken und tat, als wäre es ein Stein oder so etwas gewesen, das sich leicht einmal ins Brot verirrt; nachher aber biß er nie wieder in etwas hinein, ohne vorher mit seiner Gabel an drei oder vier Stellen probiert zu haben, ob alles mit rechten Dingen zugehe.

Und während wir noch dastehen, springen auf einmal zwei Hunde ganz seelenvergnügt unter Jims Bett hervor und andere drängen nach, mehr und immer mehr tauchen auf, bis vielleicht zwölf oder gar fünfzehn herumwimmeln und wir kaum Platz zum Atmen haben! Na, das war ein Schreck! Zum Henker, wir mußten ja wahrhaftig vergessen haben, die Schuppentüre zuzumachen. Unser Sam aber brachte vor Schrecken nur das Wort Geister heraus und fiel, so lang er war, auf den Boden, zwischen die Hunde, und wälzte sich und schlug um sich, als habe er Krämpfe. Tom riß geschwind die Tür auf, ergriff einen Fetzen Fleisch von Jims Schüssel, warf ihn hinaus, und die Hunde sausten wie toll hinterher, er selbst auch mit, und eh‘ ich noch Amen sagen konnte, war er leise wieder da. Ich wußte, er hatte flink die Schuppentür geschlossen, zog die Tür zur Hütte hinter sich zu und kauerte sich auf den Boden zu dem noch immer stöhnenden Sam. Er streichelte und schmeichelte an ihm herum, fragte, ob er denn wieder etwas gesehen habe und ob ihm die Geister noch immer keine Ruhe ließen. Sam kam wieder etwas zu sich, richtete sich auf und blinzelte scheu in alle Ecken.

»Massa Sid«, flüsterte er ängstlich, »du sagen, Sam sein Narr, aber Sam sehen ganze Million Hund oder Deibel oder so was, er wollen sterben, wenn er’s nix sehen ganz deutlich! Massa Sid, Sam sie riechen, sie fühlen! Sein gesprungen über arme, alte Sam! Das sein zuviel, zuviel! Sam nur einmal sollten fangen Geister, nur ein – einemal! Geister sollten bleiben weg dann nächstemal von arme, alte Sam! Sam das schwören!«

Sagt Tom: »Sam, ich will dir sagen, was ich glaube. Weißt du, warum die jedesmal kommen, wenn du dem Durchbrenner hier sein Frühstück bringst? Die sind hungrig, ganz sicher hungrig! Weißt du, was du tun mußt? Du mußt ihnen eine Zauberpastete machen, das allein kann dir helfen!«

»Aber, große Gott, Massa Sid, wie sollen alte Sam machen Zauberpastete? Er gar nix nicht wissen davon! Er nie nix haben gehört von solcher Pastet!«

»Na, da muß ich’s wohl für dich tun, he?«

»Massa Sid das wollen tun? Oh, sein so gut, so gut! Sam wollen küssen die Boden, wo Massa Sid gehen!«

»Na, schon gut, Alter, schon gut. Ich tu’s, weil du freundlich und gefällig warst und uns den Durchbrenner, den schlechten Kerl dort, gezeigt hast. Aber vorsichtig mußt du sein, hörst du? Du darfst nicht hören und nicht sehen, nicht merken und nicht merken wollen, was ich in die Pastete stecke, sonst ist alles umsonst, und die Geister packen dich beim Wickel, und wer weiß, ob sie dann das nächstemal so schnell verschwinden und dich nicht mit fortschleppen. Ich rat‘ dir auch, nicht danach zu schielen, wenn der Kerl dort die Pastete aufmacht, noch weniger, danach zu fassen.«

»Massa Sid, was du denken? Sam nix rühren dran mit kleinste Spitz von kleinste Finger, nix für zehnmalhunderttausend Dollahs!«

23. Kapitel

Jim fort – Alte Erinnerungen – Phelps‘ Sägmühle – Eine Verwechslung – In der Klemme

23. Kapitel

Jim, mein alter Jim war also richtig fort, schmachvoll verkauft und verschachert. Der Junge, der mir die Auskunft gegeben hatte, war längst weitergegangen, und ich stand immer noch da, ganz niedergeschlagen, und konnte keinen rechten Gedanken fassen, so laß ich mich denn unter einen Baum zu Boden fallen und sinn‘ und sinn‘ und denk‘ und denk‘ und kann doch nichts zusammendenken, als daß mein Jim fort ist und ich nun wirklich ganz allein bin. Mir kamen die Tränen, so einsam und verlassen fühlte ich mich. War ja all mein Lebtag auf mich selbst angewiesen gewesen, es hatte ja nie jemand nach mir gefragt, außer mein Alter, wenn er Geld brauchte, aber Jim – der hatte mich liebgehabt, wirklich liebgehabt, dem war ich auch was wert: Meinen Jim mußte ich wiederhaben! Darüber kam ich nicht hinaus!

Ungefähr eine Stunde von hier soll Silas Phelps wohnen, so hatte der Junge gesagt. Ich besinn‘ mich nicht lange und lauf tapfer zu. Auf einmal aber schießt es mir durch den Kopf: Was willst du denn eigentlich tun, wenn du dort bist, wo sie Jim hingebracht haben? Das machte mich stutzig; darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht, und so schlich ich mich wieder in den Wald, setzte mich unter einen Baum und überlegte.

Was wollte ich eigentlich? Ja, da lag’s! Ihm jetzt noch einmal zur Flucht verhelfen? Das erste Mal war er von selbst durchgebrannt, und ich hatte ihn unterwegs getroffen. Jetzt aber müßte ich alles auf mein Gewissen nehmen, und die ganze Schuld würde allein auf mich fallen. Ich wäre vor Scham unter den Boden gesunken, wenn ich Tom Sawyer oder einen der andern gesehen hätte. Ach, es waren doch schöne Zeiten dort im alten lieben Nest! Selbst bei der Witwe ließ sich’s ertragen, und Miss Watson meinte es doch auch nur gut. Und ich? Zum Dank dafür wollte ich ihrem Jim zur Flucht verhelfen! So konnte nur ein ganz räudiges, verlorenes Schaf, wie ich, denken. Wie? – Wenn ich mich nun hinsetzte und schriebe einen Brief: »Liebe Miss Watson, Ihr Nigger Jim ist hier in…«, ja so, den Namen wußte ich ja noch nicht, der ließ sich aber leicht ermitteln. Also: »Jim ist hier bei Mr. Phelps, und gegen die versprochene Belohnung können Sie ihn wiederhaben – Huck Finn!«

Wenn ich so schriebe, dann wäre alles gut, mein Gewissen rein, und Jim, ja Jim, der arme Kerl, der müßte eben dafür büßen. Der arme Jim! Ach, er war so gut und so freundlich mit mir gewesen und hatte mich immer so liebgehabt. Schon dort bei der Witwe und nun gar erst auf unserm lieben Floß. Wie oft hatte er für mich gewacht und mich schlafen lassen! Wie hatte er für mich gesorgt! Er war stolz darauf, daß ich bei ihm war und mit ihm lebte, und wie dankbar war er für alles! Und ich sollte ihn verlassen? Sollte ich es ruhig mit ansehen, wie sie ihn wieder zurückschleppten und Miss Watson ihn aus lauter Wut weit weg von Weib und Kindern verkaufte? Ich meinte Jims kummervolles Gesicht zu sehen! Nein, ich konnte nicht so treulos sein. Und wenn es Todsünde wäre und ich geradewegs zur Hölle müßte. Na, dort würde auch eher Platz für Huck Finn, den Schmierfink, sein, als da oben in den glänzenden Himmelshallen bei den sauberen Engelein! Ich konnte doch nichts Besseres verlangen – so ein armer, elender Teufel, wie ich einer bin. Es war ja schrecklich, einem Nigger durchzuhelfen, das wußte ich; es war schlimmer als lügen und stehlen und rauben und morden; aber einerlei, ich konnte doch Jim nicht im Stich lassen! Als ich soweit mit mir im klaren war, sprang ich auf, wanderte rüstig vorwärts und dachte, alles übrige, wie und auf welche Weise ich dem armen Jim helfen könnte, werde sich schon finden, wenn ich erst einmal an Ort und Stelle wäre.

Mein Weg führte noch eine Strecke weit durch dichten Wald, dann erreichte ich ein frisches, grünes Tal, sah ein Gebäude von fern, und lief drauf zu. Meine Vermutung bestätigte sich; bald sah ich das Schild: Sägmühle von S. Phelps. Da war ich also an Ort und Stelle und wollte nun das Schicksal gewähren lassen, wie es mich trieb.

Alles ringsum war wie ausgestorben, es war still, wie am Sonntag, und heiß und sonnig. Die Leute schienen alle auf dem Feld bei der Arbeit zu sein, und in der Luft schwirrte und summte es von Käfern und Insekten; dieser Ton gibt einem immer das Gefühl, als ob alles vereinsamt, jedermann gestorben und begraben sei. Kommt dann ein leichtes Lüftchen und bewegt die Blätter leise, so meint man das Flüstern der Geister der Dahingeschiedenen zu hören, und es läuft einem ordentlich kalt über den Rücken, und man wünscht selbst tot und begraben zu sein, erlöst von all dem Übel der Welt.

Silas Phelps‘ Farm war eine Baumwollpflanzung, wie man sie zu Dutzenden trifft und die man im Traum beschreiben kann. Ein Zaun rings um den großen Hof, ein paar elende Grasplätzchen drin, sonst kahl und glatt wie ein abgeschabter Filzhut. In der Mitte ein großes Blockhaus für die Familie aus behauenen Hölzblöcken, die Spalten dazwischen mit Speis und Mörtel zugeschmiert und vorzeiten einmal getüncht. Dicht daneben eine Küche, durch einen breiten, großen, offenen, aber überdachten Gang mit dem Haus verbunden. Hinter der Küche die Räucherkammer. Gegenüber drei Negerhütten in einer Reihe, dann eine einzelnstehende weiter hinten gegen die Rückseite des Zauns zu, dann noch ein paar Wirtschaftsschuppen in derselben Richtung. Bei der kleinen alleinstehenden Hütte sehe ich einen großen Kessel zum Seifensieden, vor der Küchentür eine Bank mit einem Wassereimer und Schöpfer drauf, ein Hund liegt ausgestreckt davor und schläft mitten in der heißesten Sonne. Im Hof noch mehrere Hunde, ebenso beschäftigt. In einer Ecke des Hofs ein paar schattenspendende Bäume, am Zaun einige Johannisbeer- und Stachelbeerbüsche. Außerhalb des Zaunes ein Garten und ein Melonenbeet, dann die Baumwollfelder und dahinter die Wälder.

Ich ging erst einmal ringsherum und betrachtete mir das Ganze von allen Seiten. Dann kletterte ich hinten über den Zaun und ging direkt auf die Küche zu. Kaum war ich ein wenig näher gekommen, so hörte ich das Summen eines Spinnrads, immer denselben kläglichen, gleichmäßigen, einförmigen Ton, und nun kam mir erst recht der Wunsch, tot zu sein, denn von allen Geräuschen der Welt ist mir dies das unausstehlichste, es macht mich ganz traurig und melancholisch. Abhalten ließ ich mich aber nicht, sondern schritt kühn vorwärts und hoffte, daß die gütige Vorsehung mir die rechten Worte zur rechten Zeit schon in den Mund legen würde; bis jetzt hatte sie’s wenigstens immer im richtigen Moment getan, sobald ich sie nur ruhig hatte gewähren lassen.

Kaum war ich halbwegs bis zur Küche vorgerückt, als sich erst ein Hund und bald darauf ein zweiter kläffend erhoben. Im nächsten Moment war ich von ungefähr fünfzehn umringt, wie die Achse eines Rades von den Speichen, und alle hoben ihre Köpfe und Nasen nach mir und bellten und heulten in allen Tonarten. Wohin ich auch blickte, aus allen Ecken und Enden, hinter den Hütten hervor und über den Zaun herüber kam noch neuer Nachschub angesegelt; ich stand ganz still dazwischen, rührte mich nicht und betrachtete mir die Meute.

Ein altes Negerweib kam jetzt aus der Küche angerannt und verscheuchte die Bestien mit einem Bratspieß, den sie kriegerisch schwang. »Wollt ihr wohl? – Du Tiger und du Juno, fort mit euch!« schrie sie immerwährend und hieb bald dem einen, bald dem andern eins über. Die Getroffenen klemmten den Schwanz ein und machten sich davon, um im nächsten Moment wedelnd zurückzukehren und Freundschaft mit mir zu schließen. Ein Hund ist gar nicht so schlimm, wenn man ihn zu behandeln weiß!

Der Alten folgte noch ein kleines schwarzes Mädchen und zwei Niggerjungen in sehr spärlicher Kleidung, und sie hingen sich an ihrer Mutter Rock und blinzelten dahinter hervor nach mir, scheu und ängstlich wie junge Vögelchen, wie sie’s immer machen, die kleinen schwarzen Bälge. Plötzlich stürzte aus der Tür des Wohnhauses eine weiße Frau, ihre Kinder auch hinter ihr her, die sich ebenso benahmen wie ihre kleinen dunklen Vettern. Das Gesicht der Frau strahlte von Freundlichkeit, ihr Mund war ganz breitgezogen, so lachte sie und freute sie sich. Schon von weitem rief sie mir zu: »Also da bist du endlich! Bist du’s denn wirklich?«

»Gewiß, ich bin’s!« – Diese Antwort war heraus, ehe ich nur wußte, was ich tat oder redete.

Sie riß mich an sich und preßte mich in ihre Arme, daß mir beinahe der Atem verging. Dann ergriff sie meine beiden Hände und schüttelte und drückte sie, während ihr die Tränen aus den Augen stürzten. Sie konnte gar nicht fertig werden mit Schütteln und Umarmen und schluchzte fortwährend: »Ach, du siehst deiner Mutter gar nicht so ähnlich, wie ich dachte, aber das schadet nichts, lieber Junge. Gott, was freue ich mich, dich zu sehen, ich möchte dich wahrhaftig aufessen! Kinder, das ist euer Vetter Tom, gebt ihm die Hand und sagt ihm guten Tag!«

Die aber steckten die Finger in den Mund und ließen die Köpfe hängen. Sie aber achtete darauf gar nicht und schwatzte immer weiter: »Liese, tummel dich, daß er was zu essen bekommt. Du wirst recht hungrig sein, Tom?«

Ich sagte, ich habe schon auf dem Boot gegessen und sei nicht besonders hungrig, was sehr gegen die Wahrheit war. So gingen wir denn dem Hause zu, sie führte mich an der Hand, und die Kinder trotteten hinterher.

Im Zimmer setzte sie mich auf einen Rohrstuhl, zog sich einen Schemel heran und hielt immer meine beiden Hände fest. Lange sah sie mir ins Gesicht, dann rief sie: »Endlich, endlich, kann ich dich einmal nach Herzenslust betrachten, mein Junge, Gott, wie sich meine Augen danach gesehnt haben seit Jahr und Tag. Aber ich habe dich schon früher erwartet, vor ein paar Tagen schon. Was hat dich denn aufgehalten? Ist dem Boot was passiert?«

»Ja, Madam – das Boot…«

»Aber, Junge, so sag doch nicht Madam, sag doch Tante Sally! Also was war’s mit dem Boot, und wo ist’s passiert?«

Die letzte Frage war nun schwer zu beantworten, und so ließ ich sie fallen, wußte ich doch nicht, aus welcher Richtung mein Boot erwartet wurde, sagte also einfach: »Ja, es platzte eine der Dampfröhren!«

»Guter Gott, es wurde doch niemand verletzt?«

»O nein, niemand, nur ein Nigger getötet.«

»Nun, das ist ein Glück, das hätte schlimm verlaufen können! Vor zwei Jahren, an Weihnachten, kam dein Onkel einmal von New Orleans zurück auf der alten Sally Rook, und da passierte ganz dasselbe, und ein Mann wurde schwer verletzt und starb bald drauf, glaub‘ ich. Er war ein Baptist; dein Onkel wußte von einer Familie in Baton-Rouge, die seine Leute ganz genau kannte. Ja, ich erinnere mich jetzt ganz deutlich, er starb wirklich und wahrhaftig an den Verletzungen. Blutvergiftung kam noch dazu, und er mußte amputiert werden, es half aber alles nichts, er wurde schließlich blau am ganzen Körper und starb in der Hoffnung auf ein ewiges Leben. Es soll schrecklich zum Ansehen gewesen sein. Na, was ich sagen wollte, dein Onkel war beinahe jeden Tag drüben in der Stadt, um nach dir zu sehen. Gerade jetzt ist er wieder dort, schon seit einer Stunde, und muß jeden Augenblick zurückkommen. Hast du ihn denn nicht unterwegs getroffen, wie? Ein alter Mann mit einem …«

»Nein, ich hab‘ niemand gesehen, Tante Sally. Gleich nachdem das Boot angelegt hatte, machte ich mich auf den Weg hierher. Da es aber so heiß war, legte ich mich ein wenig in den Wald und muß bald eingeschlafen sein. Beim Gerassel eines Wagens fuhr ich in die Höhe und ging weiter. – Vielleicht saß gerade der Onkel in dem Wagen?« – »Da magst du recht haben! Wie lang ist es wohl her?«

»Ja, das weiß ich nicht so genau, vielleicht eine Stunde.«

»Ei, wo hast du denn dein Gepäck? Soll es jemand holen?«

»Weil es so heiß war, hab‘ ich mein Bündelchen im Wald liegenlassen; ich hab’s gut versteckt und am Weg ein Zeichen gemacht, damit ich’s wiederfinde.«

»Ja, da mußt du freilich selber hin«, sagte sie.

Mir aber war’s allmählich so unbehaglich geworden, daß ich kaum mehr hören und sehen konnte. Mein Kopf glühte mir nur so, und gern hätte ich einmal die Kinder beiseite genommen, um von ihnen herauszukriegen, wer ich denn eigentlich sei. Aber daran war nicht zu denken. Frau Phelps schwatzte und schwatzte in einem fort, ihr Mund bewegte sich immerzu wie ein Mühlrad. Auf einmal hörte ich sie sagen: »Da schwatzen wir aber immer drauflos, und du hast mir noch kein Wort von der Schwester und allen dort erzählt. Na, ich stell‘ meine Mühle ab, leg du mal los, Junge, und berichte mir von allem und jedem, hörst du? Sag mir, wie’s ihnen geht, was sie tun und treiben, was sie dir für mich aufgetragen haben, jedes kleinste Wort, an das du dich erinnern kannst. Na, Junge!«

Mir lief bei diesen Worten eine Gänsehaut über den ganzen Leib. Da saß ich nun fest! Bis hierher hatte mir die gütige Vorsehung durchgeholfen, nun schien sie mich schmählich im Stich lassen zu wollen. Ich schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Wasser und marterte mein Hirn ab, um einen einigermaßen geeigneten Ausweg zu finden. Wie ich eben den Mund auftun will, um mir mit ein paar kleinen, unschuldigen Flausen erst Luft zu verschaffen, eh‘ ich weiter in dies gefährliche Fahrwasser tauche, faßt sie mich hastig am Arm, zerrt mich hinters Bett, und flüstert: »Da kommt er! Zieh doch deinen Kopf ein bißchen ein – noch tiefer, so ist’s recht, nun kann er dich nicht sehen. Daß du dich nicht verrätst, hörst du? Ich will ihn einmal ordentlich anführen. Kinder, ihr sagt mir kein Wort von Vetter Tom, sonst gibt’s was!«

Ich saß gut in der Klemme, aber bange machen gilt nicht, und so hielt ich eben stille und wartete ab, bis der Blitz niederfuhr.

Ich konnte gerade noch einen flüchtigen Blick auf den alten Mann werfen, der nun ins Zimmer trat, ehe ihn das Bett verdeckte. Frau Phelps springt auf ihn los und schreit: »Ist er da?«

»Nein!« sagt der Mann.

»Herr, du mein Gott«, jammert sie da, »was in aller Welt ist aus dem armen Jungen geworden?«

»Ja, da fragst du mich mehr, als ich dir sagen kann«, und der alte Herr zuckt die Schultern, »ich muß sagen, ich fange ernstlich an, mir Sorge zu machen.«

»Sorge?« schreit sie auf, »Sorge? Mir kostet’s nächstens den Verstand! Er muß ja da sein, gewiß hast du ihn nur unterwegs verfehlt, Alter, ja, ja, so wird’s sein, ganz gewiß; ich ahne, daß es so ist!«

»Na, Sally, verfehlt! Das ist auf dem Wege ja rein unmöglich.«

»Aber, ach, du allmächtiger Herr im Himmel, was wird die Schwester sagen! Was wird sie sich für Gedanken machen! Er muß ja gekommen sein – du mußt ihn verfehlt haben! Er …«

»Na, Alte, mach mich nicht toll, ich weiß kaum, was ich denken soll, ich bin wahrhaftig am Ende meiner Weisheit, und die Geschichte ist mir unbegreiflich! Gekommen ist er aber nicht, soviel steht fest, denn ich kann ihn nicht verfehlt haben. Ach, Sally, es ist schrecklich, schrecklich. Ich fange wahrhaftig an, zu glauben, daß dem Boot etwas passiert sein muß!«

»Da, Silas, sieh doch einmal dahin – zum Fenster hinaus! Kommt dort nicht jemand daher?«

Er sprang ans Fenster und starrte hinaus, dem Zimmer den Rükken kehrend, und das war’s, was sie wollte. Flink bückte sie sich nach mir und faßte mich am Rockkragen; ich kroch hinter dem Bett hervor, und wie sich der alte Herr wieder umdrehte, stand sie strahlend und leuchtend und glühend da, wie eine ganze Feuersbrunst, und ich daneben, erbärmlich wie ein begossener Pudel mit hängenden Ohren und hängendem Schwänze. Mir brach der Angstschweiß aus allen Poren.

»Na, wen haben wir denn da?« ruft er und starrt mich an.

»Wen meinst du wohl?« fragt sie schlau.

»Woher soll ich das wissen? Ich hab‘ keine Ahnung! Wer ist’s denn?«

»Ei, Tom Sawyer ist’s, Männchen!«

Mir war’s, als zuckte ein Blitzstrahl vom Himmel und schlüge neben mir ein. Tom Sawyer! Aber ehe ich noch Atem schöpfen konnte, hatte mich schon der alte Mann bei der Hand und drückte und schüttelte sie, bis er genug hatte. Und seine Frau tanzte um uns herum wie ein Indianerhäuptling und lachte und weinte, und beide feuerten zwischendurch ganze Salven von Fragen auf mich los über Tante Polly und Sid und Mary und die übrigen.

Ihre Freude aber, so groß sie auch sein mochte, war nichts gegen die meine. Ich fühlte mich wie neugeboren, wußte ich doch endlich, wer ich eigentlich war! Und daß ich mich als solch‘ guter alter Bekannter entpuppte, das, nein das – ich kann gar nicht sagen, wie mir zumute war! Eine ganze Stunde lang bestürmten mich nun die beiden mit ihren Fragen, und meine Redewerkzeuge waren endlich so müde, daß sie beinahe den Dienst versagten. Ich hatte den beiden aber auch mehr über meine Familie, das heißt die Familie Sawyer, erzählt, als sechs Familien in sechsmal sechs Jahren erleben können. Dann sprach ich von meiner Reise, dem Boot, der geplatzten Zylinderröhre, und sie hingen an meinem Munde und verschlangen sozusagen jedes Wort.

Ich fühlte mich nun so wohl und munter wie ein Fisch im Wasser und plätscherte und schwamm im Strom meiner Beredsamkeit lustig weiter. Es gab nichts Lustigeres und Behaglicheres, als Tom Sawyer vorstellen zu dürfen, und ich hatte mich bereits bestens in die Rolle eingelebt, als ich mit einemmal das Keuchen eines Dampfboots aus der Ferne hörte. Da erst kam mir der Gedanke: Wenn nun Tom, der wirkliche Tom, mit dem Boot angekommen ist, auf einmal zur Tür hereintritt und meinen Namen ruft, noch ehe ich ihm einen Wink geben kann, und dadurch alles verraten und verloren ist? Die Angst trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Nein, das durfte nicht sein, das mußte ich verhindern um jeden Preis! Ich mußte ihm entgegeneilen, um ihn von meiner Lage zu unterrichten. So sagte ich denn, ich wolle zurück und nach meinen Sachen sehen, sonst könnten sie mir am Ende doch noch abhanden kommen. Der alte Mann wollte mich durchaus begleiten, ich aber dankte und sagte, ich könne gut allein, er dürfe mir das Pferd ruhig anvertrauen, ich freue mich darauf, allein zu fahren, und er möge sich, um alles in der Welt, meinetwegen nicht noch einmal in der Hitze so weit bemühen. Das sah er endlich ein und ließ mich gewähren.

2. Kapitel

Die Jungen entwischen Jim! –Tom Sawyers Räuberbande – Finstre Pläne!

2. Kapitel

Wir schlichen auf den Fußspitzen den kleinen Pfad hinab, der unter den Bäumen hin zur Rückseite des Gartens führt, wobei wir den Kopf ständig bücken mußten, um nicht von den Zweigen getroffen zu werden. Gerade als wir an der Küchentür vorüber wollen, muß ich natürlich über eine Wurzel stolpern und hinfallen, wodurch ein kleines Geräusch entstand. Jetzt hieß es still liegen und den Atem anhalten! Miss Watsons Nigger Jim saß an der Tür; wir konnten ihn ganz gut sehen, weil das Licht gerade hinter ihm stand. Er steht auf, streckt den Kopf heraus, horcht eine Minute lang und sagt dann: »Wer’s da?«

Dann horcht er wieder, und – jetzt schleicht er sich auf den Zehenspitzen heraus und steht gerade zwischen uns, ich hätte ihn zwicken können, wenn ich gewollt hätte. Er steht, und wir liegen still wie die Mäuse, und so vergehen Minuten auf Minuten. An meinem Fuß fängt’s an mich zu jucken, und ich kann mich nicht kratzen. Jetzt juckt’s am Ohr, dann am Rücken, gerade zwischen den Schultern, es ist zum Tollwerden! Warum’s einen nur immer juckt, wenn man nicht kratzen kann oder darf! Darüber hab‘ ich oft nachgedacht seitdem. Entweder wenn man bei feinen Leuten ist, oder bei einem Begräbnis, oder wenn einen der Lehrer was fragt, oder in der Kirche, oder wenn man im Bett liegt und will schlafen und kann nicht, kurz, wenn man irgendwo ist, wo man nicht kratzen kann und darf, da juckt’s einen gerade erst recht an hundert verschiedenen Stellen.

Endlich sagt Jim: »He da, wer ’s da? Ich mich lassen tothauen, ich haben was gehört! Aber Jim sein nicht so dumm! Jim sitzen hier hin und warten!«

Und damit pflanzt er sich gerade zwischen mich und Tom auf den Boden, lehnt den Rücken an einen Baum und streckt die Beine aus, daß das eine mich beinahe berührt. Jetzt beginnt mein Juck-Elend von neuem. Erst die Nase, bis mir die Tränen in den Augen stehen, ich wage nicht zu kratzen, dann allmählich jeder Körperteil, bis ich nicht weiß, wie ich stillhalten soll. Fünf, sechs Minuten geht das Elend so weiter, mir scheinen’s Stunden. Ich zähle schon elf verschiedene Orte, an denen ’s mich juckt. Gerade als ich denke, nun kannst du’s aber nicht mehr aushalten, höre ich Jim tief aufatmen, dann schnarchen und – ich bin gerettet.

Tom gab mir jetzt ein Zeichen, er schnalzte leise mit den Lippen, und wir krochen auf allen vieren davon. Vielleicht zehn Fuß weit entfernt hielt Tom an und flüsterte mir zu, er wolle Jim zum Spaß am Baum festbinden. Ich sagte nein, ich wolle nicht, daß er aufwache, Lärm schlüge und man dann entdecken würde, daß ich nicht im Bett sei. Dann sagte Tom, er habe nicht genug Lichter und wolle sich deshalb in der Küche ein paar mitnehmen. Das wollte ich aus Angst vor Jim auch nicht erlauben, aber Tom bestand darauf, und so schlichen wir uns in die Küche, fanden die Lichter, und Tom legte fünf Cents zur Bezahlung auf den Tisch. Ich schwitzte nun förmlich vor Angst, fortzukommen, Tom aber ließ sich nicht halten und kroch zu Jim zurück, um ihm einen Streich zu spielen. Ich wartete, und die Zeit wurde mir sehr lang; alles war so still und unheimlich um mich herum.

Endlich kam Tom, und nun rannten wir eilig den Pfad hinunter und kletterten den steilen Hügel hinter dem Haus hinauf. Tom erzählte, daß er Jim mit einem Strick an den Baum gebunden und seinen Hut oben an einen Ast gehängt habe, der Kerl habe aber immer weitergeschlafen und sich nicht gerührt. Später behauptete Jim, die Hexen hätten ihn verzaubert und seien auf ihm über den ganzen Staat geritten. Dann hätten sie ihn wieder unter dem Baum niedergelassen und zum Zeichen, wer es getan, seinen Hut auf den Ast gehängt. Als Jim seine Geschichte das nächste Mal erzählte, waren die Hexen bis New Orleans auf ihm geritten, und jedesmal, sooft er es wieder erzählte, war der Ausflug weiter gewesen, bis er schließlich behauptete, daß der Ritt um die ganze Erde gegangen und sein Rücken ganz zerschunden worden sei. Jim war riesig stolz darauf und sah auf die anderen Nigger nur noch vornehm herab. Aus meilenweiter Ferne kamen Nigger herbei, um Jims Geschichte zu hören. Es gab keinen angeseheneren Neger in der Gegend, und die fremden Gäste glotzten ihn mit offenem Munde an wie ein Meerwunder. Die Nigger unterhalten sich gern im Dunkeln beim Herdfeuer über Hexen, sooft aber einer darüber seine Weisheit auskramte und Jim dazukam, dann rief er: »Ach, was wißt ihr von Hexen«, worauf jener Nigger beschämt in den Hintergrund schlich. Jim trug jenes Fünf-Cent Stück stets an einer Schnur um den Hals und behauptete, es sei ein Zaubermittel, das ihm der Teufel eigenhändig gegeben habe mit der Bemerkung, er könne damit jedermann heilen und Hexen herbeizaubern, soviel er wolle, wenn er einen gewissen Spruch dabei hersage. Auch das trug nicht wenig zur Erhöhung der Berühmtheit Jims bei.

Als Tom und ich oben auf dem Hügel ankamen, konnten wir gerade ins Dorf hinuntersehen, und da blinkten noch drei oder vier Lichter, wahrscheinlich bei Kranken. Über uns blitzten die Sterne, und drunten zog der Mississippi dahin, so breit und ohne Laut, es war großartig. Wir rannten dann auf der andern Seite den Hügel hinunter und fanden Joe Harper und Ben Rogers und noch ein paar Jungens, die auf uns warteten. Ein Boot wurde losgemacht, und wir ruderten den Fluß hinunter, bis dahin, wo der große Einschnitt im Ufer ist. Dort legten wir an.

Wir kletterten auf ein dichtes Buschwerk zu, und nun ließ Tom uns alle schwören, das Geheimnis nicht zu verraten, und zeigte uns ein Loch im Hügel. Wir steckten die Lichter an und krochen auf Händen und Knien hinein. So ging es ungefähr zweihundert Meter in einem engen Gange fort, bis sich die Höhle auftat. Tom tastete an den Wänden der Höhle umher und verschwand auf einmal unter einem Felsen, wo niemand eine Öffnung vermutet hatte. Wir folgten ihm durch einen schmalen Gang, bis wir in einen Raum gelangten, ungefähr wie ein Zimmer, nur etwas kalt, feucht und dumpfig, und da blieben wir dann.

Tom hielt nun eine feierliche Ansprache und sagte: »Hier wollen wir also eine Räuberbande gründen und sie Tom Sawyers Bande nennen. Jedermann, der beitreten will, muß einen Eid schwören und seinen Namen mit Blut unterschreiben!«

Alle waren dazu bereit, und so zog Tom einen Bogen Papier aus der Tasche, auf den er einen furchtbaren Eid geschrieben hatte, den er uns jetzt vorlas. Darin stand, daß jeder Junge treu zur Bande halten müsse und niemals deren Geheimnisse verraten dürfe bei Todesstrafe. Wenn irgend jemand irgendeinem von uns irgend etwas zuleid täte, müsse einer das Racheamt übernehmen, den man dazu erwähle, und er dürfe nicht essen und nicht schlafen, ehe er den Beleidiger und seine ganze Familie getötet und allen ein blutiges Kreuz in die Brust geritzt habe, was das Zeichen der Bande sein solle. Und niemand außer uns dürfe dies Zeichen benutzen, und wenn er es doch täte, solle er gerichtlich belangt, und wenn dies nichts helfe, einfach getötet werden. Wenn aber einer aus der Bande die Geheimnisse verrate, werde ihm der Hals abgeschnitten, der Körper verbrannt und die Asche in alle vier Winde zerstreut, sein Name dann dick mit Blut von der Liste gestrichen, ihn auszusprechen bei Strafe verboten und er selbst solle vergessen sein für immer und ewig. Wir alle fanden den Eidschwur prächtig und fragten Tom, ob er ihn ganz allein aus seinem eignen Kopf gemacht habe. Er sagte ja, zum größten Teil, einiges habe er auch in alten Piraten- und Räuberbüchern gefunden; jede ordentliche Bande schwöre einen solchen Eid.

Jetzt meinte einer, man solle doch auch die Familie töten von den Jungens, die das Geheimnis verrieten. Tom sagte, das sei eine gute Idee, nahm einen Bleistift und korrigierte es noch hinein in den Eidschwurbogen.

Da meinte Ben Rogers: »Ja, aber, hört einmal, wie ist denn das? Der da« – dabei zeigte er auf mich – »hat doch gar keine Familie nicht, wen sollen wir denn da töten?«

»Er hat doch auch einen Vater«, sagte Tom Sawyer.

»Den hat er wohl, aber wo ihn finden? Früher lag er manchmal betrunken in der Straße, aber seit einem Jahr hat ihn niemand hier herum gesehen!«

Nun berieten sie hin und her und hätten mich beinahe ausgestoßen, denn jeder, so sagten sie, müsse jemanden zum Töten haben, was dem einen recht, sei dem andern billig, und so saßen sie und überlegten, und ich heulte beinahe, so schämte ich mich. Da fiel mir plötzlich Miss Watson ein, und ich bot ihnen die zum Töten an, das leuchtete ihnen ein und alle riefen: »Das geht, die ist recht dazu, Huck kann eintreten!«

Dann nahmen wir Stecknadeln, stachen uns in die Finger und unterzeichneten unsern Namen mit unsrem Herzblut, wie Tom sagte.

»Nun«, meinte jetzt Ben Rogers, »auf was soll unsere Bande sich hauptsächlich verlegen?«

»Auf weiter nichts«, versetzte Tom, »als Raub und Mord und Totschlag!«

»Wen sollen wir denn berauben? Häuser – oder Vieh – oder –«

»Unsinn!« schrie Tom, »das nennt man diebsen und stehlen, nicht rauben und plündern! Wir wollen keine Diebe sein, sondern Räuber! Das ist viel vornehmer! Räuber und Wegelagerer! Wir überfallen die Postkutschen und Wagen auf der Landstraße, mit Masken vor dem Gesicht, und schlagen die Leute tot und nehmen ihnen Uhren und Geld ab!«

»Müssen« wir immer alle tothauen?« »Gewiß, das ist am einfachsten. Ich hab’s auch schon anders gelesen, aber gewöhnlich machen sie’s so. Nur einige schleppt man hie und da in die Höhle und wartet, bis sie ranzioniert Durch Lösegeld befreit, losgekauft. werden!«

»Ranzioniert? Was ist denn das?«

»Das weiß ich selber nicht, aber so hab‘ ich’s gelesen, und so müssen wir’s machen!«

»Ho, ho, das können wir ja nicht, wenn wir nicht wissen, was es ist!«

»Ei zum Henker, wir müssen’s eben! Hab‘ ich dir nicht gesagt, daß ich’s gelesen habe? Willst du’s anders machen, als es in den Büchern steht, und alles untereinanderbringen?«

»Oh, du hast gut reden, Tom Sawyer, aber wie in der Welt sollten wir die Burschen ranzionieren, wenn wir nicht wissen, wie man’s macht? Das möcht‘ ich wissen! Wie zum Beispiel, denkst du dir’s eigentlich?«

»Ich – ich weiß nicht, aber ich denke, wenn wir sie behalten, bis sie ranzioniert sind, so wird das heißen, bis sie tot sind!«

»Das läßt sich hören, das begreife ich, aber warum hast du das nicht gleich gesagt? Natürlich behalten wir sie, bis sie zu Tode ranzioniert sind. Sie werden uns aber genug zu schaffen machen, uns alles wegfressen und dabei immer auskneifen wollen!«

»Wie du schwatzest, Ben! Wie können sie auskneifen, wenn einer immer Wache steht, der bereit ist, sie niederzuschießen, wenn einer nur den Finger krumm macht?«

»Einer, der Wache steht? Das ist gut! Das freut mich! Also soll einer die ganze Nacht dastehen, ohne zu schlafen, und sie bewachen! Das ist eine gräßliche Dummheit. Warum nimmt man da nicht sofort einen Knüttel und ranzioniert sie, sobald sie hierherkommen?«

»Weil’s so nicht in den Büchern steht, darum! Ich frag‘ dich, Ben Rogers, willst du alles den Regeln nach tun oder nicht? Darauf kommt’s an! Ich glaube, die Leute, die die Bücher schreiben, wissen besser, wie man’s macht, als du! Denkst du, sie könnten von dir etwas lernen? Noch lange nicht! Und drum wollen wir die Burschen genauso ranzionieren, wie’s da angegeben ist, und nicht ein bißchen anders!«

»Schon recht, mir liegt nichts dran, ich sage aber, es ist gräßlich dumm so. Sollen wir die Weiber auch töten?«

»Ben Rogers, wenn ich so dumm wäre wie du, hielt ich lieber den Mund! Die Weiber töten! Wer hat je so etwas gehört oder gelesen! Nein, die werden in die Höhle geschleppt, und man ist so höflich und rücksichtsvoll zu ihnen wie man kann. Nach einer Weile verlieben sie sich dann in einen und wollen gar nicht wieder fort.«

»Gut, damit bin ich einverstanden! Ich für mein Teil aber danke. Bald werden wir die ganze Höhle voll Weiber haben und voll Kerle, die auf’s Ranzionieren warten, so daß am Ende kein Platz mehr für die Räuber da sein wird. Ich seh’s schon kommen! Aber mach nur weiter, Tom, ich bin schon still!«

Der kleine Tommy Barnes war inzwischen eingeschlafen, und als sie ihn weckten, fürchtete er sich und weinte und wollte zu seiner Mama und gar kein Räuber mehr sein.

Da neckten sie ihn alle und hießen ihn Mamakind; das machte ihn ganz wild, und er schrie, nun wolle er auch alles sagen und alle Geheimnisse verraten. Da gab ihm Tom fünf Cents, um ihn stille zu machen, und sagte, nun gingen wir alle nach Hause und kämen nächste Woche wieder zusammen und dann wollten wir ein paar Leute berauben und töten.

Ben Rogers sagte, er könne nicht viel loskommen, nur an Sonntagen, und wollte deshalb gleich nächsten Sonntag anfangen. Aber die anderen Jungens meinten, am Sonntag schicke sich so etwas gar nicht, und so ließen wir’s sein. Sie machten aus, so bald wie möglich wieder zusammenzukommen und dann einen Tag zu bestimmen. Hierauf wählten wir noch Tom Sawyer zum Hauptmann und Joe Harper zum Unterhauptmann der Bande und brachen dann nach Hause auf.

Ich kletterte wieder auf’s Schuppendach und von da in meine Kammer, gerade als es anfing Tag zu werden. Meine neuen Kleider waren furchtbar schmutzig und voller Lehm, und ich war hundemüde.

20. Kapitel

Huck bringt das Geld beiseite – Seltsames Versteck – Trauerfeierlichkeiten – Zur Erde bestattet

20. Kapitel

Als nun alle fortgegangen waren, fragte der König Mary Jane, ob sie auch Platz im Hause hätte. Sie antwortete, sie habe ein Fremdenzimmer, das wohl Onkel William benutzen könnte; ihr eigenes Zimmer, das etwas größer sei, würde sie gern ihm überlassen, sie selbst könne ja im Zimmer der Schwester auf einem Feldbett schlafen; oben auf dem Boden sei auch ein kleiner Verschlag mit einer Pritsche darin. Der König meinte, der Verschlag sei gerade recht für seinen Diener – womit er mich meinte.

Mary Jane führte uns hinauf und zeigte allen die Zimmer, die einfach und nett waren. Sie wollte ihre Kleider und andere Sachen aus dem Zimmer räumen, falls sie Onkel Harry im Wege wären, aber er sagte, das sei nicht der Fall. Die Kleider hingen längs der Wand, von einem Kalikovorhang bedeckt, der auf den Boden reichte. Ein alter haariger Koffer stand in einer Ecke, ein Gitarrenkasten in der anderen, und allerlei Kleinigkeiten und Zierat, womit junge Mädchen ihre Zimmer schmücken, lagen und hingen umher. Der König sagte, es sei so viel hübscher und heimischer und sie solle nur nichts verändern.

Am Abend hatten sie ein großes Essen, und viele Männer und Frauen waren dabei. Ich stand hinter den Stühlen des Königs und des Herzogs und wartete den beiden auf; die andern wurden von den Negern bedient. Mary Jane saß oben am Tisch, mit Susan neben sich, und sagte, wie schlecht die Semmeln geraten, und wie die eingemachten Früchte auch nicht ganz nach Wunsch seien, und wie zäh die gebratenen Hühner seien – wie Frauen es gewöhnlich tun, um Komplimente zu fischen. Die Anwesenden wußten wohl, wie ausgezeichnet gut alles war, und wunderten sich und sagten: »Wie fangen Sie es nur an, daß Sie die Semmeln so schön gebräunt bekommen?« und »Wo haben Sie diese herrlichen Früchte her?« und ähnliches Gerede, wie es bei dergleichen Gelegenheiten vorkommt.

Als alles vorbei war, soupierten ich und die Hasenlippe in der Küche von dem, was übrig war, während die andern den Negern aufräumen halfen.

Sobald ich allein war, fing ich an, über die Sache nachzudenken. Ich sagte zu mir: Soll ich heimlich zum Doktor gehen und diese Betrüger entlarven? Nein – das geht nicht. Er könnte verraten, wer’s ihm gesagt, und dann würden mir König und Herzog die Hölle heiß machen. Soll ich insgeheim zu Mary Jane gehen und es ihr sagen? Nein, das wag‘ ich nicht. Ihr Gesicht, ein Blick könnte es ihnen verraten; sie haben das Geld und könnten damit entwischen. Und wenn sie Hilfe herbeiholte, würde ich leicht hineinverwickelt werden. Nein, der einzige Ausweg ist: Ich muß das Geld irgendwie stehlen, und zwar so, daß sie keinen Verdacht auf mich haben. Ich will es stehlen und verstecken, und nach einiger Zeit, wenn ich weit stromab bin, Mary Jane in einem Briefe verraten, wo es versteckt ist. Aber ich muß das heute nacht tun, wenn möglich, denn der Doktor hält sich vielleicht nicht so still, wie’s jetzt scheint, und das könnte die beiden zur schnellen Flucht veranlassen.

Ich hielt es für das beste, die Zimmer gleich zu durchsuchen. Oben war’s dunkel, doch ich fand des Herzogs Zimmer und fing an, mit den Händen herumzufühlen. Da fiel mir jedoch ein, daß es dem König nicht ähnlich sieht, das Geld einem andern anzuvertrauen; also ging ich in sein Zimmer und begann herumzutasten. Doch bald, fand ich, daß ohne Licht nichts auszurichten sei; allein ich wagte nicht, eins anzuzünden. Auf einmal hörte ich Schritte und wollte schnell unters Bett kriechen. Dabei berührte ich den Vorhang, der Mary Janes Kleider bedeckte; dahinter sprang ich und versteckte mich zwischen den Gewändern.

Sie kamen herein und schlossen die Tür. Das erste, was der Herzog tat, war, daß er unters Bett guckte! Dann setzten sie sich, und der König sprach:

»Nun, was ist’s? Mach’s kurz, denn es ist besser, wenn wir da unten mit heulen und trauern, statt hier oben zu bleiben und Gelegenheit zu geben, daß man über uns redet.«

»Dauphin, so höre denn! Mir ist nicht ganz wohl; ich habe keine Ruhe. Der Doktor liegt mir im Kopf. Was hast du für einen Plan? Ich habe eine Idee, und ich glaube, eine gute.«

»Heraus damit, Herzog!«

»Daß wir uns vor drei Uhr morgens hier aus dem Staub machen und stromab gleiten mit dem, was wir haben. Ich bin dafür, uns zu begnügen und zu verschwinden.«

»Was! Nicht den Rest der Erbschaft hier verkaufen? Abzumarschieren wie ein paar Narren und Eigentum im Wert von acht- bis neuntausend Dollar zurücklassen, das mit Schmerzen darauf wartet, eingesackt zu werden? – Und noch dazu gut verkäufliches Zeug!«

Der Herzog murrte und meinte, der Sack Geld sei genug, er wolle nicht noch weiter gehen – und wolle nicht die drei Waisen um alles, was sie hätten, berauben.

»Was du für Zeug redest!« rief der König. »Denen rauben wir doch nichts als das Geld. Die Leute, die das Eigentum kaufen, sind die Verlierenden; denn sobald sich’s zeigt, daß es uns nicht gehörte – was nicht lange dauern wird –, ist der Verkauf ungültig, und das Eigentum fällt an die Erben zurück. Diese Waisen hier erhalten das Haus zurück, und das ist genug für sie; sie sind jung und tüchtig und können sich leicht ihr Brot verdienen. Denen wird’s nicht schlecht gehen. Denk doch nur, es gibt Tausende und Tausende, die es lange nicht so gut haben. Die hier können sich doch wahrhaftig über nichts beklagen.«

Der König schwatzte drauflos, bis der Herzog endlich nachgab; doch er blieb dabei, daß es eine große Torheit sei, um so mehr, als der Doktor mit Entlarvung drohe.

Der König entgegnete: »Doktor oder Teufel! Was scheren wir uns um die? Haben wir nicht alle Toren der Stadt auf unserer Seite? Und ist das nicht genug Majorität?«

Sie wollten eben hinuntergehen, als der Herzog sagte: »Ich glaube nicht, daß wir das Geld an einen guten Ort getan haben.«

Jetzt horchte ich auf, denn ich hatte schon gefürchtet, daß ich keinen Wink bekommen würde.

Da fragte der König: »Warum?«

»Weil Mary Jane von nun an in Trauer gehen wird; der erste Befehl, den die Negerin, die das Zimmer aufräumt, erhält, wird sein, all diese Kleider fortzuschaffen; und meinst du, solch schwarzes Gesindel könne Geld finden, ohne etwas davon beiseite zu schaffen?«

»Hast wieder einmal recht, Herzog«, rief der König; und er kam und krabbelte unter dem Vorhang herum, nur zwei bis drei Fuß von der Stelle, wo ich stand. Ich drückte mich fest an die Wand und hielt still, obgleich ich zitterte. Ich dachte, was wohl die Kerls tun würden, wenn sie mich hier fänden, und versuchte zu überlegen, was ich tun könnte, wenn sie mich entdeckten. Aber der König hatte bereits den Sack und argwöhnte nichts. Nun steckten sie ihn in den Strohsack, der unterm Federbett lag, und schoben ihn tüchtig ins Stroh hinein und sagten, da sei er gut aufgehoben, denn die Schwarzen pufften ja nur das Federbett auf und wendeten den Strohsack nicht öfter als höchstens zweimal im Jahr. Bevor die beiden die Treppe halb hinab waren, hatte ich den Geldsack hervorgezogen. Ich kletterte in meinen Verschlag und versteckte ihn einstweilen dort. Ich nahm mir aber vor, ihn draußen irgendwo zu verbergen, denn, wenn sie ihn vermißten, würden sie ja das ganze Haus durchstöbern. Das wußte ich wohl. Dann legte ich mich in meinen Kleidern auf mein Lager; doch ich konnte nicht schlafen, selbst wenn ich’s gewollt hätte, denn es ließ mir keine Ruhe, meine Arbeit zu beenden. Bald hörte ich König und Herzog kommen, da stand ich flink auf und lauschte, den Kopf an der Leiter, ob was passieren würde. Aber es ereignete sich nichts.

Ich wartete nun lange, bis alles im Hause ganz ruhig war, und schlüpfte dann die Leiter hinab.

Zuerst kroch ich an ihre Türen und horchte; alles schnarchte.

So schlich ich denn auf den Zehen fort und kam glücklich unten an. Nirgends war ein Laut zu hören.

Ich guckte durch eine Spalte der Speisezimmertür und sah, daß die Männer, die die Leichenwacht hielten, alle auf ihren Stühlen eingeschlafen waren. Die Tür, die zum Salon führte, wo der Tote lag, stand offen, und eine Kerze brannte in jedem Zimmer. Ich ging auf dem Vorplatz weiter und fand die andere Salontür ebenfalls offen. Ein Blick überzeugte mich, daß außer Peters Leiche niemand drin war. Ich ging vorüber, fand aber die Haustür verschlossen, und der Schlüssel steckte nicht. In diesem Augenblick hörte ich jemand hinter mir die Treppe herabkommen. Ich sprang in den Salon, sah mich rasch um, und der einzige Platz, wo ich das Säckchen verbergen konnte, war der Sarg. Der Deckel war etwas verschoben, so daß das Gesicht des Toten sichtbar war. Ich steckte das Säckchen flink unter den Deckel, gerade unterhalb der gekreuzten Hände des Toten, bei deren Berührung ich schauderte. Dann huschte ich flink hinter die Tür.

Es war Mary Jane. Sie ging leise zum Sarg, sah hinein und kniete nieder; dann führte sie ihr Schnupftuch an die Augen, und ich sah, daß sie weinte, obwohl ich’s nicht hören konnte und ihr Rücken mir zugewendet war. Ich entwischte. Am Speisezimmer guckte ich wieder durch die Spalten, ob die Wächter mich nicht gesehen hatten. Alles war in Ordnung, sie hatten mich nicht bemerkt.

Ich schlüpfte hinauf ins Bett und fühlte mich sehr niedergeschlagen, weil die Sache, obwohl ich mir soviel Mühe gegeben und soviel Gefahr gelaufen war, so mißlich stand. Ich sagte mir, wenn der Sack nur bliebe, wo er ist, so war‘ schon alles gut; denn sobald wir ein- bis zweihundert Meilen stromab wären, könnte ich Mary schreiben und sie könnte den Sarg wieder ausgraben lassen. So wird’s aber schwerlich kommen, denn vor dem Zuschrauben des Deckels werden sie das Geld finden. Dann kriegt es der König wieder, und man wird es ihm nicht wieder fortschmuggeln. Gern wär‘ ich hinuntergegangen, um den Sack herauszunehmen – doch ich wagte es nicht.

Als ich des Morgens hinunterkam, war das Gastzimmer verschlossen, und die Wächter waren fortgegangen. Niemand war im Hause außer der Familie, Witwe Bartley und unsere Bande. Ich beobachtete ihre Gesichter, um zu sehen, ob sie etwas gemerkt hätten, konnte aber nichts wahrnehmen.

Gegen Mittag kam der Leichenbestatter mit seinen Leuten. Sie setzten den Sarg in die Mitte des Zimmers auf zwei Stühle, stellten die andern Stühle in zwei Reihen auf, wozu sie von den Nachbarn einige borgten, so daß Vorplatz, Salon und Speisezimmer damit voll waren. Ich sah, daß der Sargdeckel wie zuvor lag, doch wagte ich nicht, solange Menschen da waren, ihn aufzuheben.

Allmählich versammelte sich das Volk. Die falschen Onkel und die Mädchen nahmen die Sitze zu Häupten des Sarges ein, und vor Ablauf einer halben Stunde waren die Geladenen gekommen und hatten Platz genommen. Alles war still und feierlich, nur die Mädchen und die zwei Betrüger schluchzten dann und wann, gebeugten Hauptes, ihre Taschentücher vor den Augen.

Sie hatten eine Zimmerorgel geborgt, die ziemlich schadhaft war. Als alles bereit war, setzte sich ein junges Frauenzimmer davor und fing an, daran zu arbeiten. Es klang ziemlich kreischend und verstimmt. Dann fiel die Gemeinde mit Gesang ein. Hierauf erhob sich Pastor Hobsen langsam und feierlich und begann zu reden. Plötzlich brach der furchtbarste Lärm im Keller los, den man sich denken konnte! Es war nur ein Hund, aber er machte einen Heidenlärm und wollte gar nicht enden. Der Pfarrer mußte aufhören zu predigen. Es war sehr störend, und niemand wußte sich zu helfen. Bald jedoch machte der langbeinige Leichenbestatter dem Pfarrer ein Zeichen, als wollte er sagen: Ich werde schon Ruhe schaffen. Dann ging er hinaus, während das Gebell und der Lärm immer ärger wurden. Bald darauf hörten wir einen tüchtigen Krach, der Hund stieß ein schauerliches Geheul aus, dann wurde alles totenstill, und der Pfarrer fuhr in seiner Predigt fort, wo er aufgehört hatte. Nach einer Weile erschien der Leichenbestatter wieder, schlich leise an der Wand entlang, bis er beim Pfarrer war, und rief mit heiserem Ton zu ihm hinüber, indem er den Hals vorstreckte und die Hand über den Mund hielt: »Er hatte eine Ratte!« Diese Auskunft verbreitete unter den Anwesenden sichtlich Befriedigung.

Die Predigt war zweifellos sehr gut, aber heillos lang und ermüdend, und zum Überfluß mußte der König noch etwas von seinem Senf dazutun. Endlich war auch das überstanden, und der Leichenbestatter näherte sich mit einem Schraubenzieher dem Sarg. Mir wurde ganz heiß dabei. Aber er hob den Deckel nicht, schob ihn nur zurecht und schraubte ihn fest. Wissen konnte ich freilich nicht, ob das Geld noch drin war oder nicht. Wie, wenn jemand den Sack insgeheim herausgenommen hatte? Wie sollte ich jetzt wissen, ob ich Mary Jane schreiben mußte oder nicht? Angenommen, sie gräbt den Sarg aus und findet nichts – was würde sie von mir denken? Sie könnten mich vielleicht verfolgen und einsperren; lieber schreibe ich nicht.

Sie begruben ihn, wir kamen heim, und ich beobachtete wieder die Gesichter – ich konnte nicht anders, ich hatte keine Ruhe. Es kam aber nichts dabei heraus.

Der König machte am Abend Besuche, war gegen jedermann sehr liebenswürdig und wurde dadurch noch beliebter. Er deutete an, daß ihn seine Gemeinde in England nicht lange entbehren könne und er sich darum mit der Ordnung der Hinterlassenschaft beeilen müsse, um bald heimreisen zu können. Er bedauerte, daß er solche Eile habe, und den andern tat es auch leid; sie wünschten, er hätte länger bleiben können, doch sahen sie wohl ein, daß das nicht anging. Auch sagte er, daß er und William die Mädchen natürlich mit sich heimnehmen würden; das freute alle, denn die Mädchen würden bei ihren eigenen Verwandten gut aufgehoben sein. Den Mädchen gefiel es auch und freute sie so sehr, daß sie ihren Kummer ganz vergaßen. Sie baten den König, so schnell wie möglich alles zu verkaufen. Die armen Dinger waren so froh und glücklich; mir tat das Herz weh, sie so betört und belogen zu sehen, aber ich konnte nicht helfen.

In der Tat ließ der König sofort das Haus, die Neger und alles Eigentum zur Versteigerung anzeigen; doch konnte auch vorher jedermann aus freier Hand kaufen, was er wünschte.

21. Kapitel

Totaler Ausverkauf – Entdeckter Verlust – Mary Jane entschließt sich zum Fortgehen – Huck nimmt Abschied von ihr – Mumps

21. Kapitel

Schon am Tag nach dem Begräbnis bekam die Freude der Mädchen den ersten Stoß. Gegen Mittag erschienen nämlich zwei Sklavenhändler, und der König verkaufte die Neger zu passablen Preisen gegen in drei Tagen fällige Wechsel, wie sie es nannten. Ich dachte, den armen Mädchen und den Negern würde vor Jammer das Herz brechen. Ich glaube, ich wäre mit der Wahrheit herausgeplatzt und hätte die Kerls entlarvt, wenn ich nicht gewußt hätte, daß der Verkauf ungültig sei und die Neger in ein bis zwei Wochen wieder zurück sein würden.

Dieser Verkauf machte viel Gerede in der Stadt. Es schadete den Betrügern etwas; aber der König blieb hartnäckig dabei, trotz aller Einwendungen des Herzogs, der sich ernstlich unbehaglich fühlte.

Der nächste Tag war Auktionstag. Es war schon hell am Morgen, als König und Herzog zu mir auf den Boden kamen und mich weckten. Ich konnte in ihren Gesichtern lesen, daß was los sei.

Der König redete mich an: »Warst du vorgestern abend in meinem Zimmer?«

»Nein, Majestät« – so nannte ich ihn immer, wenn niemand außer unserer Bande dabei war.

»Warst du gestern oder letzte Nacht drin?«

»Nein, Majestät.«

»Auf Ehre? – Keine Lügen jetzt!«

»Auf Ehre, Majestät; ich sage Ihnen die Wahrheit. Ich bin nicht in Ihrem Zimmer gewesen, seit Fräulein Mary Sie und den Herzog hinführte, um es Ihnen zu zeigen.«

Der Herzog fragte: »Hast du sonst jemand hineingehen sehen?«

»Nein, Ihro Gnaden, nicht daß ich mich zu erinnern wüßte.«

»Denk etwas nach.«

»Doch, ja, ich habe die Neger mehreremal hineingehen sehen.«

»Wann war das?«

»Es war am Begräbnistag, am Morgen. Ich war nicht früh auf, denn ich hatte mich verschlafen. Ich kam gerade die Leiter herab, als ich sie sah.«

»Ja, ja, nur weiter, nur weiter. Was taten sie? Wie benahmen sie sich?«

»Sie taten nichts, und es fiel mir auch nichts Besonderes an ihnen auf. Sie schlichen auf den Zehen davon; allein ich dachte, sie seien in Ihro Gnaden Zimmer gegangen, um aufzuräumen oder dergleichen, in der Meinung, Sie wären schon auf; da sie aber merkten, daß Sie noch schliefen, würden sie nun leise davonschleichen, um Sie nicht zu wecken.«

»Alle Wetter, das ist ’ne Bescherung!« rief der König und sie sahen einander verdutzt und ziemlich dumm an. Eine Minute lang standen sie da, grübelnd und sich hinter den Ohren kratzend, dann brach der Herzog in ein heiseres Gelächter aus und sagte: »Es übersteigt alles, wie gut diese Neger ihre Rolle, gespielt haben. Sie taten so jämmerlich, weil sie aus dieser Gegend fort mußten! Und ich glaubte, sie fühlten sich wirklich elend, und du glaubtest es auch, und alle andern. Mir soll kein Mensch je wieder behaupten, daß Neger kein histrionisches Talent besitzen. In denen steckt ein Vermögen. Hätte ich die Mittel und ein Theater, so wäre mein erstes: Die müßten mir her. Und wir haben sie verschleudert, hergegeben für einen Wisch, einen Wechsel! Sag mal, wo ist er eigentlich, der Wisch?«

»Zum Einkassieren auf der Bank. Wo soll er sonst sein?«

»Nun, dann ist es, gottlob, in Ordnung.«

Jetzt sagte ich in etwas ängstlichem Ton: »Ist irgend etwas schiefgegangen?«

Der König wandte sich zu mir und fuhr mich an: »Geht dich nichts an! Halt deinen Mund und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, wenn du welche hast. Vergiß das nicht, solange du in dieser Stadt bist – verstanden?«

Als der König mit mir fertig war, sagte der Herzog höhnisch: »Schnelle Verkäufe mit kleinem Gewinn! Ist ja das wahre Geschäftsprinzip – was?«

Der König schnarrte zurück: »Ich hab’s gerade recht gut machen wollen, als ich die Kerls so rasch verkaufte. Wenn der Gewinn gleich Null oder gar minus ist, so ist’s mein Fehler nicht mehr als deiner.«

»Nun, sie wären noch in diesem Hause, und wir wären fort, wenn man meinen Rat befolgt hätte.«

Der König gab ihm darauf wieder heraus, dann fuhr er mich an und machte mich arg herunter, weil ich ihm nicht auf der Stelle gesagt hätte, daß die Neger aus seinem Zimmer gekommen seien und sich so eigen benommen hätten; jeder Narr hätte wissen können, daß dahinter was steckt. Dann fluchte er zur Abwechslung auf sich selbst und sagte, das käme davon, wenn man früh aufstehe, anstatt sich seine Ruhe zu gönnen, er wolle verdammt sein, wenn er’s je wieder täte. So gingen sie grollend und zankend ab.

Mittlerweile war’s Zeit zum Aufstehen geworden; so stieg ich denn die Leiter hinab und wandte mich zur Treppe. Als ich am Zimmer der Mädchen vorbeikam, stand die Tür offen, und ich sah Mary Jane neben ihrem alten haarigen Koffer sitzen, der offen war und in den sie eben Sachen gepackt hatte, um sich zur Reise nach England zu rüsten. Doch jetzt hielt sie inne – mit einem gefalteten Kleid auf dem Schoß –, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte.

Es tat mir leid, sie so traurig zu sehen, ich trat daher ins Zimmer und sagte:

»Fräulein Mary Jane, was fehlt Ihnen?«

So sagte sie mirs denn. Es war wegen der Neger; der Verkauf hätte ihr alle Freude an der Reise nach England verdorben. Sie könne nie wieder glücklich sein, wenn sie daran denke, daß Mutter und Kinder voneinander getrennt würden und daß sie sich nie, nie wiedersehen würden.

»Aber sie werdens doch, eh‘ zwei Wochen um sind – ich weiß es gewiß!« sagte ich.

Da war’s heraus, bevor ich mich’s versah! Und im nächsten Augenblick schlang sie ihre Arme um meinen Hals und rief: »Wär’s möglich? Bitte sag’s noch einmal!«

Ich hatte zuviel gesagt und fühlte mich etwas verlegen. Ich bat sie, mir eine Minute Zeit zum Besinnen zu lassen. Sie setzte sich wieder und war ganz voll Erwartung und Aufregung; dabei sah sie so glücklich und beruhigt aus wie jemand, der sich eben einen Zahn hat ausziehen lassen. Ich überlegte mir’s und sprach zu mir selbst: Ein Mensch, der sich aufrafft und die Wahrheit sagt, wenn er in die Enge getrieben wird, läuft manche Gefahr – zwar kann ich nicht aus Erfahrung sprechen und weiß es nicht gewiß, aber es will mir so scheinen. Nun ist hier aber ein Fall, wo es mir entschieden vorkommt, als ob die Wahrheit besser und sogar sicherer wäre als eine Lüge. Ich will’s also wagen und diesmal die Wahrheit sagen, obwohl für mich viel auf dem Spiel steht und es mir dabei zumute ist, wie einem, der sich mit der brennenden Pfeife auf ein Faß Schießpulver setzt. Dann sagte ich: »Fräulein Mary Jane, wissen Sie irgendeinen Platz etwas außerhalb der Stadt, wo Sie hingehen und drei bis vier Tage zubringen könnten?«

»Ja – bei Lothrops. Warum?«

»Lassen wir das warum. Wenn ich Ihnen sage, woher ich weiß, daß die Neger einander wiedersehen werden, innerhalb zwei Wochen, hier in diesem Hause, und beweise, woher ich’s weiß – wollen Sie dann zu Lothrops gehen und vier Tage dort bleiben?«

»Vier Tage«, rief sie »ein Jahr, wenn es sein muß!«

»Gut«, sagte ich, »von Ihnen will ich nichts mehr als Ihr Wort, das ist mir sicherer, als wenn ein anderer auf die Bibel schwört.« Sie lächelte und errötete lieblich; ich fuhr fort: »Wenn Sie nichts dagegen haben, will ich die Tür schließen und verriegeln.«

Dann kam ich zurück und begann: »Nun bitte ich, nicht aufzuschreien. Sitzen Sie hübsch still und hören Sie mich an wie ein Mann. Ich muß die Wahrheit sagen, und Sie müssen sich fassen, Fräulein Mary, denn sie ist schlimmer Art und schwer zu ertragen, aber es geht einmal nicht anders. Diese Onkel sind gar nicht Ihre Onkel; sie sind ein paar Betrüger, erbärmliche Landstreicher. – So, über’s Schlimmste sind wir nun hinweg, den Rest werden Sie ziemlich leicht ertragen.«

Natürlich griff sie dieser Anfang tüchtig an; doch ich war jetzt über das Gröbste weg und konnte nun leichter fortfahren. Ihre Augen leuchteten mehr und mehr, als ich ihr alles erzählte, von dem Augenblick an, wo wir den jungen Burschen trafen, der zum Dampfboot wollte – alles haarklein –, bis zu dem Moment, wo sie sich an der Haustür dem König an die Brust warf und ihn sechzehn- oder siebzehnmal küßte.

Da sprang sie auf, ihr Gesicht glühte wie die untergehende Sonne, und rief: »Der Schändliche! – Komm, verlier keine Minute, keine Sekunde. Sie sollen geteert und gefedert und in den Fluß geworfen werden!«

Ich entgegnete: »Versteht sich. Aber doch nicht, bevor Sie zu Lothrops gehen, oder…«

»Oh!« rief sie, »was fällt mir nur ein!« und setzte sich wieder. »Wo habe ich meine Gedanken? Du bist mir doch nicht böse, nicht wahr?« Und dabei legte sie ihre Sammethand auf meine, daß ich meinte, ich müsse vergehen. »Meine Aufregung war zu groß«, sagte sie, »sei jetzt so gut und fahre fort, ich werde mich zusammennehmen. Sag mir nur, was ich tun soll, es soll genau befolgt werden!«

»Wahrhaftig«, sprach ich, »es ist eine schlimme Bande, diese zwei Gauner, und ich bin leider darauf angewiesen, daß ich mit ihnen noch eine Weile reisen muß, ob ich will oder nicht – den Grund sage ich Ihnen lieber nicht. Allerdings, wenn Sie die Kerls anzeigten, würde die Stadt mich schon aus ihren Klauen reißen, und ich wäre sicher; es ist aber da noch ein anderer, von dem Sie nichts wissen, dem es dann schlecht gehen könnte. Den müssen wir doch retten, nicht wahr? Natürlich, so wollen wir also das Pärchen noch nicht anzeigen.«

Wie ich das sagte, kam mir ein guter Gedanke. Am Ende gelang es doch, mich und Jim von den Gaunern loszumachen und sie hier ins Gefängnis zu bringen. Doch da ich das Floß nicht bei Tage treiben lassen wollte, so durfte mein Plan nicht vor Abend zur Ausführung kommen.

Ich sagte: »Fräulein Mary Jane, ich will Ihnen sagen, was wir tun, dann werden Sie auch bei Lothrops nicht so lange zu bleiben brauchen. Wie weit ist’s bis dorthin?«

»Eine gute Stunde, landeinwärts.«

»Das genügt. Gehen Sie jetzt hin, bleiben Sie ruhig dort bis neun oder halb zehn Uhr abends, und dann lassen Sie sich wieder heimbringen; Sie können ja sagen, Sie hätten etwas vergessen. Wenn Sie vor elf hier sind, stellen Sie ein Licht ans Fenster und warten auf mich bis elf Uhr; sollte ich bis dahin nicht erscheinen, so denken Sie, daß ich fort bin und in Sicherheit. Dann kommen Sie heraus, enthüllen alles und lassen die Gauner ins Gefängnis stecken.«

»Gut«, sprach sie, »das will ich tun.«

»Sollte es aber passieren, daß ich nicht fortkomme, sondern mit den beiden ergriffen werde, dann müssen Sie den Leuten sagen, daß Sie alles durch mich erfahren haben, und müssen mir beistehen, soviel Sie können.«

»Dir beistehen? Gewiß will ich das. Sie sollen kein Haar auf deinem Haupte krümmen.«

»Wenn ich entwische, so kann ich freilich nicht beweisen, daß diese Schurken nicht Ihre Onkel sind; doch könnt‘ ich das auch nicht, selbst wenn ich hier wäre. Ich könnte nur beschwören, daß sie Landstreicher und Gauner sind, doch das wär‘ auch schon von Bedeutung. Aber es gibt noch andere, die das besser können als ich, und denen man leichter Glauben schenken wird als mir. Ich will Ihnen sagen, wo sie zu finden sind. Geben Sie mir einen Bleistift und ein Stück Papier – so, Königliches Nonplusultra zu Bricksville. Stecken Sie das ein und verlieren Sie’s nicht. Wenn das Gericht sich Auskunft verschaffen will über die zwei, so soll man nur nach Bricksville schicken und sagen lassen, die Leute, die das Königliche Nonplusultra gespielt haben, seien abgefaßt und man brauche einige Zeugen. Dann wird das ganze Städtchen im Nu hier sein, Fräulein Mary. Alle werden kommen, und zwar kochend vor Wut.«

Ich dachte, nun ist alles wohlgeordnet und sagte noch: »Lassen Sie die Versteigerung ruhig vor sich gehen. Niemand braucht für die gekauften Sachen zu bezahlen vor dem nächsten Tag, und die beiden werden nicht von hier fortgehen wollen, bis sie das Geld haben. So wie wir’s jetzt eingefädelt haben, wird der Verkauf ungültig sein, und die beiden werden das Geld nicht bekommen. Es geht ebenso wie mit den Negern: es ist kein gültiger Verkauf, und die Neger werden bald wieder heimkehren. Die Gauner können nicht einmal das Geld für die Neger erhalten. Warten Sie nur, das Pärchen soll seine Wunder erleben!«

»Ich will nur noch zum Frühstück hinunter«, rief sie, »und dann gehe ich gleich zu Lothrops.«

»Nein, nein, Fräulein Mary Jane«, entgegnete ich, »das geht nicht – geht unmöglich; Sie müssen vor dem Frühstück gehen. Stellen Sie sich vor, Sie könnten Ihren Onkeln begegnen! Sie können jeden Augenblick erscheinen, um Ihnen guten Morgen zu wünschen und Sie zu küssen –«

»Genug, genug davon! Da will ich lieber vor dem Frühstück gehen. Sollen die Schwestern hierbleiben?«

»Ja, grämen Sie sich nicht um sie. Sie müssen’s noch etwas aushalten. Es würde Verdacht erregen, wenn alle gingen. Sie dürfen jetzt weder den Gaunern, noch den Schwestern, noch irgend jemandem in der Stadt zu Gesicht kommen. Wenn Sie heute ein Nachbar nach dem Befinden Ihrer Onkel fragen würde, so könnte Ihr Gesicht Sie verraten. Nein, gehn Sie nur gleich fort, Fräulein Mary Jane, und lassen Sie mich alles besorgen. Ich werde Fräulein Susan auftragen, daß Sie den Onkeln einen freundlichen Gruß senden; Sie seien auf einige Stunden fortgegangen, um eine Freundin zu besuchen, und würden am Abend oder frühmorgens heimkehren.«

Fräulein Mary Jane stutzte einen Augenblick, dann bemerkte sie ein wenig spitz: »Sag meinetwegen, ich sei zu meinen Freundinnen gegangen, aber einen Gruß darfst du dem sauberen Paar von mir nicht ausrichten.«

»Gut, also keinen Gruß.« – Warum sollt‘ ich ihr gegenüber darauf bestehen? »Aber noch eins, Fräulein – der Geldsack!«

»Nun, den haben die leider; und ich schäme mich, wenn ich daran denke, wie sie ihn bekamen.«

»Nein, da irren Sie sich. Die haben ihn nicht.«

»Die nicht? – Wer sonst?«

»Ich wollte, ich wüßt‘ es; doch weiß ich es nicht. Ich hatte ihn, denn ich stahl ihn, stahl ihn für Sie und weiß auch, wo ich ihn versteckt habe, fürchte aber, daß er nicht mehr da ist. Es tut mir sehr leid, Fräulein Mary Jane, nie hat mir etwas so leid getan; aber ich tat alles, was ich tun konnte. So wahr ich lebe, ich meinte es ehrlich. Ich wurde beinah erwischt, und ich mußte ihn am ersten besten Platz verstecken und mich aus dem Staub machen – und es war kein guter Platz.«

»Oh, hör doch auf, dich anzuklagen! Es ist nicht recht von dir, und ich leid‘ es nicht. Es war nicht deine Schuld. – Wo hast du ihn versteckt?«

Ich wollte sie nicht wieder an ihren großen Kummer erinnern, so schwieg ich eine Minute und sagte dann: »Ich sag‘ es Ihnen jetzt lieber nicht, Fräulein Mary Jane, wenn Sie’s mir nicht übelnehmen; doch ich will es Ihnen auf ein Stück Papier schreiben, und Sie können es auf dem Weg zu Lothrops lesen, wenn Sie wollen. Sind Sie damit zufrieden?«

»O ja.«

So schrieb ich denn: »Ich verbarg ihn im Sarg. Er steckte drin, als Sie dort weinten – damals in der Nacht. Ich stand hinter der Tür und hatte viel Mitleid mit Ihnen, Fräulein Mary Jane.«

Mir wurden die Augen feucht bei dem Gedanken, wie sie dort einsam in der Nacht weinte, während diese Teufel, unter ihrem eigenen Dach beherbergt, sie betrogen und beraubten; und als ich das Papier zusammenfaltete und ihr gab, sah ich auch in ihren Augen Tränen, und sie schüttelte mir kräftig die Hand und sagte: »Leb wohl. Ich will alles tun, wie du mir’s gesagt hast. Und sollte ich dich auch nie wiedersehen, so werde ich dich doch nie vergessen; und ich werde oft, sehr oft an dich denken und auch für dich beten!« – und sie war fort.

Für mich beten! Na, wenn die dich kennen würde, dachte ich bei mir, würde sie eine Arbeit wählen, die ihrer Kraft angemessener und erfolgversprechender wäre. Aber ich wette, sie hat’s doch getan, das sah ihr ganz gleich. Darüber war kein Zweifel, sie besaß mehr Festigkeit, als ich je bei einem Mädchen gesehen hatte, und wirklichen Charakter. Das mag wie Schmeichelei klingen, ist aber keine. Was Schönheit anbetrifft, und auch Güte – ach, da übertraf sie alle. Seit dem Augenblick, als sie zur Tür hinausging, hab‘ ich sie nie wiedergesehen, nein – nie; aber an sie gedacht hab‘ ich viele, viele millionenmal, auch an ihre Worte, daß sie für mich beten würde. Und wenn ich genau gewußt hätte, daß es ihr wohltun könnte, wenn ich für sie betete, so will ich verdammt sein, wenn ich’s nicht versucht hätte.

Also Mary Jane war fort, und niemand hatte sie fortgehen sehen.

Als ich der Susan und der Hasenlippe begegnete, sagte ich: »Wie heißen die Leute jenseits des Flusses, die Sie zuweilen besuchen?« Sie antworteten: »Da sind mehrere, aber besonders die Proktors.« »Das ist der Name«, rief ich, »bald hätt‘ ich’s vergessen! Fräulein Mary Jane befahl mir, Ihnen zu sagen, daß sie in großer Eile dahinüber mußte; es ist dort jemand krank.«

»Wer denn?«

»Ich weiß nicht; oder vielmehr, ich hab’s vergessen, aber ich glaube, es war –«

»Um Gottes willen, doch nicht etwa Hannah?«

»Leider doch«, rief ich, »Hannah war der Name.«

»Um Gottes willen! Und noch vorige Woche war sie so munter! Ist es schlimm?«

»Ach, wenn’s bloß schlimm wäre. Man wachte bei ihr die ganze Nacht, sagte Fräulein Mary Jane, und befürchtet, daß sie nicht mehr lange leben wird.«

»Wer hätte das gedacht! Was fehlt ihr denn?«

Mir fiel im Augenblick nichts Vernünftiges ein, so sagte ich denn: »Mumps.« In manchen Gegenden auch Wochentölpel genannt.

»Mumps? Du Schlafmütze! Man wacht nicht bei Leuten, die Mumps haben.«

»So, meinen Sie? Na, Sie können darauf wetten, daß man bei diesem Mumps wacht. Das ist nämlich ein ganz anderer Mumps. Es sei eine neue Gattung Mumps, sagte Fräulein Mary Jane.«

»Wieso?«

»Weil noch andere Übel dabei sind.«

»Was für andere?«

»Ach, Masern und Keuchhusten und Rose und Schwindsucht und Gelbsucht und Gehirnfieber, und ich weiß nicht, was noch mehr.«

»Ach was! Und das heißen sie Mumps?«

»Fräulein Mary Jane sagte so!«

»Aber um alles in der Welt, warum nennen sie das Mumps?«

»Warum? Weil’s Mumps ist. Damit fängt’s an.«

»Liegt darin auch Sinn und Verstand? Angenommen, es verstaucht einer seine Zehen und fällt nachher von einem Haus herab, bricht den Hals und die Hirnschale, und es fragte jemand, woran er gestorben sei, und so ein Tölpel antwortete: ›Nun, er hatte sich die Zehen verstaucht!‹ – hätte das auch Sinn und Verstand? Nein: und ebensowenig Sinn ist in deinem Mumps! – Ist’s wohl ansteckend?«

»Jedenfalls, ich würde der Krankheit nicht trauen.«

»Das ist ja schrecklich«, rief die Hasenlippe, »da muß ich gleich zu Onkel Harry gehen, und…«

»Jawohl«, sag‘ ich, »das würd‘ ich auch. Natürlich tät‘ ich das. Ich würde keine Minute verlieren.«

»So, warum meinst du?«

»Nur Geduld, es soll Ihnen gleich ein Licht aufgehen. Nicht wahr, Ihre Onkel müssen so bald wie möglich wieder in England sein? Sie trauen Ihren Onkeln doch nicht zu, daß sie selber jetzt abreisen und Ihnen und Ihren Schwestern zumuten, später nachzukommen und die lange Seereise allein zu machen? Nein, Sie wissen wohl, daß sie warten werden, bis Sie alle zusammen reisen können. Also gut. Ihr Onkel Harry ist Pfarrer, nicht wahr? Wird ein Pfarrer einen Dampfbootbeamten täuschen, nicht bloß hier, sondern auch in New York und sonst, damit Fräulein Mary Jane an Bord gelassen wird? Trauen Sie Ihrem Onkel zu, daß er das Leben der anderen Passagiere in Gefahr brächte? Sie wissen recht gut, daß er das nicht täte. Also, was wird er tun? Nun, er wird sagen: ›Das ist zwar recht fatal, aber meine Kirche muß sich eben behelfen, so gut sie kann, denn meine Nichte war diesem ansteckenden, fürchterlichen Universal-Mumps ausgesetzt, und da ist es meine Pflicht und Schuldigkeit, hier zu bleiben und drei Monate zu warten, um zu wissen, ob sie angesteckt ist.‹ – Nun, ich will nichts gesagt haben, und wenn Sie meinen, es sei besser, dem Onkel Harry zu sagen…«

»Was, ein paar Monate hier herumliegen, während wir uns in England gut amüsieren könnten, bloß um zu wissen, ob Mary Jane angesteckt ist oder nicht? Du bist wohl nicht gescheit.«

»Was meinen Sie, wollen Sie’s nicht lieber einigen Nachbarn sagen?«

»Nun hör doch einer – deine Dummheit geht über alles. Weißt du denn nicht, daß sie es sogleich ausposaunen würden? Das beste ist, man sagt’s gar niemand.«

»Aber Onkel Harry sollten wir sagen, daß sie auf eine Weile ausgegangen ist, damit er sich nicht ihretwegen ängstigt.«

»Mag sein, daß Sie recht haben – ja, ich glaube Sie haben recht.«

»Ja, Fräulein Mary Jane wünschte auch, Sie möchten das bestellen. Sie sagte: ›bringe den Onkeln Harry und William von mir Gruß und Kuß und sag ihnen, ich sei nur geschwind zu einem kleinen Besuch über’n Fluß gegangen zu Herrn – Herrn –‹ wie ist der Name der reichen Familie, auf die Ihr Onkel Peter soviel hielt? Ich meine die, die…«

»Ach, du meinst wohl die Apthorps, nicht wahr?«

»Ja, ganz richtig. Der Kuckuck soll diese Namen holen, die man gar nicht behalten kann. Ja, sie sagte, ich solle melden, sie sei nur hinüber, um die Apthorps zu bitten, sicher zur Auktion zu kommen und das Haus zu kaufen, denn sie glaube, Onkel Peter möchte gern, daß sie es bekämen, statt jemand anderer. Sie will ihnen so lang zusetzen, bis sie versprechen zu kommen, und wenn sie nicht zu müde ist, will sie heute abend noch heimkommen, andernfalls würde sie bestimmt morgen früh zurück sein. Sie wünschte, daß man nichts von den Proktors sagen solle, sondern nur von den Apthorps – was auch ganz wahr ist, denn sie wird wegen des Hauses mit ihnen sprechen; ich weiß es, denn sie hat es mir selbst gesagt.«

»Schon gut«, riefen sie und gingen fort, um den Onkeln Gruß, Küsse und die Nachricht zu bringen.

Soweit war alles gut. Die Mädchen, dachte ich, werden den Mund halten, denn sie wollen nach England gehen; und dem König und Herzog muß es lieber sein, wenn Mary Jane fort ist und für die Auktion arbeitet, als daß sie sich noch im Bereich des Dr. Robinson befindet. Ich war mit mir zufrieden und schmeichelte mir, die Sache ziemlich nett gedeichselt zu haben – und daß Tom Sawyer selbst es nicht viel besser gekonnt hätte.

22. Kapitel

Welche sind die Rechten? – Handschriften – Probe – Tätowieren – Die Leiche wird ausgegraben – Fort! – Befreiung vom königlichen Joche – Jim wird verschachert

22. Kapitel

Die Auktion fand spät am Nachmittag statt und zog sich lange hin. Der Alte stand neben dem Auktionator, machte ein Armsündergesicht, warf hier und da einen Bibelvers dazwischen, oder auch dann und wann ein Schmeichelwort, und der Herzog gu-gu-te herum, um Teilnahme zu erregen.

Endlich ging’s zu Ende, und es war alles verkauft – alles, außer einem kleinen Begräbnisplatz auf dem Kirchhof, der auch noch verkauft werden mußte. Während noch darauf gesteigert wurde, landete ein Dampfboot, und in etwa zwei Minuten kam eine Menschenmenge schreiend und lachend daher, und viele riefen: ›Hurra, da sind neue Erben vom alten Wilks! Sie leben hoch!‹

Sie brachten einen fein aussehenden alten Herrn und einen netten jungen Mann, der den rechten Arm in einer Schlinge trug.

Das Volk umringte sie jubelnd und lachend. Mir war’s aber gar nicht lächerlich, und ich dachte, nun würde dem König und dem Herzog der Spaß vergehen. Doch weit gefehlt. Der Herzog ließ sich nicht das mindeste anmerken, sondern gu-gu-te drauflos, wie ein Krug mit engem Halse, aus dem man Buttermilch gießt. Der König aber blickte mitleidig auf die Neuankömmlinge herab, als bereite ihm der Gedanke, daß es solche Schurken und Betrüger auf der Welt geben könne, Magenschmerzen bis ins Herz hinein. Oh, er machte das bewundernswert. Eine Menge Leute umringten den König, um ihm zu zeigen, daß sie auf seiner Seite seien. Der eben angekommene alte Herr schaute ganz verdutzt drein. Bald jedoch fing er an zu reden, und ich konnte gleich hören, daß er wie ein Engländer sprach; nicht wie der König, obwohl der es ganz gut nachmachte. Des alten Herrn Worte kann ich nicht wiedergeben, aber er sagte etwa folgendes: »Das ist eine Überraschung, die ich nicht voraussah, und ich muß es leider frei gestehen: Ich bin schlecht vorbereitet, ihr zu begegnen, denn mein Bruder und ich haben Unglück gehabt; er hat den Arm gebrochen, und unser Gepäck wurde durch einen Irrtum letzte Nacht in einem Städtchen weiter oberhalb ans Land gesetzt. Ich bin Peter Wilks‘ Bruder Harry, und das ist sein Bruder William, der weder hören noch reden, und jetzt auch nicht einmal ordentlich Zeichen machen kann, da er nur eine Hand dazu frei hat. Wir sind, was wir zu sein vorgeben, und in ein bis zwei Tagen, wenn ich mein Gepäck erhalte, kann ich’s beweisen. Bis dahin will ich nichts weiter sagen, sondern ins Gasthaus gehen und warten.«

So gingen er und der neue Stumme ab; der König platzte folgendermaßen los: »Arm gebrochen – sehr wahrscheinlich, he? Und sehr rechtzeitig, zumal für einen, der Zeichen machen soll und es nicht gelernt hat. Gepäck verloren! Ausgezeichnet, vorzüglich ausgedacht unter den Verhältnissen!«

Dann lachte er und die andern auch, außer dreien oder vieren. Einer davon war der Arzt, ein anderer ein scharf dreinblickender Herr mit einer alten Reisetasche, der eben mit dem Dampfboot gekommen war und mit dem Arzt leise sprach. Sie sahen zum König hinüber und winkten einander zu – es war Levi Bell, der Advokat, der in Louisville gewesen war. Der dritte, der nicht mitgelacht hatte, war ein großer, rauher Kerl, der erst dem alten Herrn zugehört hatte und nun die Rede des Königs anhörte.

Er wartete, bis er geendet, und fuhr ihn dann wie folgt an: »Hör mal, wenn du Harry Wilks bist, wann kamst du hierher?«

»Den Tag vor der Beerdigung, Freund«, sprach der König.

»Zu welcher Tageszeit?«

»Am Abend, etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang.«

»Woher kamst du?«

»Von Cincinnati, mit Dampfer Susan Pawell

»So – ich hab‘ dich doch am Morgen in einem Kanu bei der Landzunge landen sehen.«

»Ich war am Morgen nicht bei der Landzunge.«

»Das ist gelogen!«

Mehrere sprangen auf und baten ihn, doch nicht so zu einem alten Mann und Prediger zu reden.

»Potz Prediger, ein Betrüger und Lügner ist er. Er war jenen Morgen auf der Landzunge. Ich wohne da – ich war da, und er war da. Ich sah ihn dort. Er kam in einem Kanu mit Tim Collins und einem Knaben.« – Da rief der Arzt: »Würdest du den Knaben erkennen, wenn du ihn siehst, Heinz?«

»Ich weiß nicht, aber ich glaube. – Da ist er ja, ich kenne ihn ganz gut.« Er wies dabei auf mich.

Der Arzt sprach:

»Nachbarn, ich weiß nicht, ob das neuangekommene Paar Betrüger sind oder nicht; aber wenn die hier keine sind, will ich ein Narr sein. Ich halte es für meine Pflicht, sie nicht fortzulassen, bis wir mehr in Erfahrung bringen. Komm, Heinz, kommt alle, wir nehmen dieses Paar ins Gasthaus und stellen es dem andern gegenüber. Wir werden dann bald dahinterkommen.«

Das war ein Spaß für die Menge, wenn auch nicht für des Königs Freunde. So gings denn los. Es war um Sonnenuntergang. Der Arzt führte mich bei der Hand; er war ganz freundlich, ließ aber meine Hand nie los.

Wir gingen ins große Zimmer des Gasthofs, zündeten Licht an und holten das neue Paar.

Erst sprach der Arzt: »Ich will mit diesen beiden Männern – er deutete auf den König und den Herzog – nicht zu hart verfahren, aber ich halte sie für Betrüger. Wenn sie keine Betrüger sind, so werden sie sich nicht weigern, das Säckchen herbeizuschaffen, das ihnen Wilks hinterlassen hat, und es von uns aufbewahren lassen, bis sie sich richtig ausgewiesen haben. – Hab‘ ich recht?«

Alle stimmten bei. So schien mir’s, daß sich unser Pärchen gleich in einer bösen Klemme befand. Doch der König machte nur eine bekümmerte Miene und sprach:

»Meine Herren, ich wünschte, das Geld wäre da, denn ich habe nichts gegen eine redliche, offene Untersuchung dieser traurigen Affäre; aber leider ist das Geld nicht mehr da.«

»Wo ist es denn?«

»Nun, als meine Nichte es mir zum Aufheben gab, verbarg ich es im Bettstroh, mit der Absicht, es während der wenigen Tage unseres Hierseins auf die Bank zu senden. Wir hielten das Bett für einen sicheren Platz. Nicht an Neger gewöhnt, hielten wir sie ebenso ehrlich wie unsere Domestiken in England. Die Neger stahlen es den nächsten Morgen, nachdem ich das Zimmer verlassen hatte. Als ich sie verkaufte, vermißte ich das Geld noch nicht, und so sind sie damit fort. Mein Diener hier kann Ihnen darüber berichten, meine Herren.«

Der Arzt und mehrere andere riefen: »Unsinn!«, und ich sah, daß niemand ihm wirklich glaubte. Einer fragte mich, ob ich’s die Neger hätte stehlen sehen. Ich entgegnete: Nein, aber ich hätte die Neger fortschleichen sehen und hätte mir nichts dabei gedacht, als daß sie meinen Herrn aufgeweckt und sich aus dem Staub gemacht hätten, ehe er sie anranzen konnte. Das war alles, was ich darüber gefragt wurde. Doch plötzlich wandte sich der Arzt zu mir und sagte: »Bist du etwa auch ein Engländer?«

Ich antwortete mit ja, und er und einige andere lachten und machten ihre Witze darüber.

Dann ging’s wieder an die allgemeine Untersuchung, die Geschichte ging auf und nieder, hin und her, Stunde über Stunde verstrich, und niemand dachte ans Abendessen. Sie ließen erst den König sein Teil erzählen, dann den alten Herrn seines, und wer nicht ein vorurteilsvoller Starrkopf war, mußte einsehen, daß der alte Herr die Wahrheit, der andere Lügen auftischte. Bald mußte auch ich erzählen, was ich wußte. Der König warf mir einen Blick aus seinem linken Augenwinkel zu, und das genügte, um auf seiner Seite zu bleiben. Aber ich war noch nicht weit gediehen, als der Arzt zu lachen begann und Levi Bell, der Advokat, sagte: »Setz dich, mein Junge, ich würde mich an deiner Stelle nicht anstrengen. Ich glaube, du bist das Lügen noch nicht gewöhnt, wenigstens geht’s dir nicht leicht von der Hand. Dir fehlt noch Übung; du machst’s noch zu plump.«

Das Kompliment war mir gleichgültig, doch war ich froh, auf so billige Art wegzukommen.

Der Arzt wollte eben wieder anfangen, da unterbrach er sich und sagte: »Wärst du gleich zu Anfang in der Stadt gewesen, Levi Bell…«

Da fiel ihm der König ins Wort, streckte seine Hand aus und sprach: »Oh, ist das meines armen verstorbenen Bruders alter Freund, von dem er mir so oft schrieb?« Dabei schüttelten sie einander die Hände, und der Advokat lächelte und schien erfreut. Sie sprachen eine Weile miteinander, gingen dann etwas beiseite und flüsterten.

Schließlich sagte der Advokat laut: »Das wird die Sache bald in Ordnung bringen. Ich schicke die Anweisung mit derjenigen Ihres Bruders hin, und dann sehen die Leute ja gleich, daß alles im reinen ist.«

Feder und Papier wurden gebracht; der König setzte sich, legte den Kopf auf die Seite, biß sich auf die Zunge und schmierte was hin. Dann ging die Feder an den Herzog, dem’s dabei recht unbehaglich zumute war. Doch ergriff er die Feder und schrieb.

Dann wandte sich der Advokat an den alten Herrn und sagte: »Ich bitte jetzt Sie und Ihren Bruder, einige Zeilen zu schreiben und Ihre Namen zu zeichnen.«

Der alte Herr schrieb, doch niemand konnte es lesen. Der Advokat machte ein erstauntes Gesicht und sprach: »Na, jetzt hört alles auf!« Dann zog er eine Anzahl Briefe aus der Tasche und verglich die Handschriften. »Diese alten Briefe«, fuhr er fort, »sind von Harry Wilks, hier sind die zwei Handschriften seiner angeblichen Brüder: des ersten Paares und man sieht sofort, daß sie die Briefe nicht geschrieben haben (König und Herzog sahen sehr verblüfft aus, als sie merkten, welche Falle ihnen der Anwalt gestellt hatte), dann ist hier die Handschrift des alten Herrn vom zweiten Paar, und man sieht auf den ersten Blick, daß er die Briefe auch nicht geschrieben hat. Sein Gekritzel ist überhaupt keine Handschrift zu nennen. Hier hab‘ ich noch einige Briefe von…«

Da rief der alte Herr: »Erlauben Sie mir gefälligst eine kleine Erklärung. Niemand außer meinem Bruder hier kann meine Handschrift lesen – darum kopiert er für mich. Sie haben in den Briefen seine Handschrift, nicht meine.«

»Na«, rief der Anwalt, »wo soll das hinaus? Ich habe einige von Williams Briefen; wenn Sie ihn ein paar Zeilen schreiben lassen, könnten wir ja vergl…«

»Er kann nicht mit der linken Hand schreiben«, entgegnete der alte Herr. »Könnte er die rechte Hand gebrauchen, so würden Sie gleich sehen, daß er seine eigenen und meine Briefe geschrieben hat. Vergleichen Sie die gefälligst, sie sind von derselben Hand.«

Der Anwalt tat es und sagte: »Das scheint so – jedenfalls erkenne ich jetzt eine viel größere Ähnlichkeit als vorher. Ei, ei! Ich hatte schon gedacht, ich sei auf der rechten Spur; nun ist’s wieder nichts. Soviel ist jedoch sicher bewiesen, daß diese zwei – er deutete auf König und Herzog – keine Wilkse sind.«

Selbst jetzt gab der bocksbeinige alte Narr, der König, nicht klein bei und sagte, es sei kein reeller Beweis. Sein Bruder William sei ein arger Spaßmacher und hätte eben einen seiner Spaße losgelassen und seine Handschrift verstellt. Er hätt‘ es ihm gleich angesehen. So plapperte der Kerl fort, bis er anfing, selbst an das zu glauben, was er sagte. Doch bald unterbrach ihn der alte Herr mit den Worten: »Mir ist was eingefallen. Ist irgend jemand unter den Anwesenden, der beim Aufbahren der Leiche meines Bruders, des verstorbenen Peter Wilks, zugegen war?«

»Ja«, rief jemand, »ich und Abel Turner besorgten das. Wir sind beide hier.«

Dann wandte sich der alte Herr zum König und sagte: »Vielleicht weiß der Herr dann, was auf seiner Brust tätowiert war?«

Da mußte der König sich rasch zusammennehmen, sonst wäre er zusammengestürzt wie ein Stück Flußufer, das die Strömung untergraben hat; es kam so plötzlich und unerwartet und war so recht eine Frage, die einen, der nicht darauf vorbereitet war, ganz aus der Fassung zu bringen vermochte. Wie konnte er wissen, was auf der Leiche tätowiert war?! Er erblaßte ein wenig, das konnte er nicht vermeiden. Es wurde sehr still, und alle beugten sich vor und starrten ihn an. Ich dachte, nun würde er den ungleichen Kampf aufgeben – was konnte er auch noch sagen? Aber nein; so unglaublich es scheint: Er blieb fest. Wahrscheinlich wollte er versuchen, die Leute müde zu machen, bis sich die Menge verkleinerte und er und der Herzog vielleicht Gelegenheit fänden zu entschlüpfen. Er verzog seinen Mund zum Lächeln und sagte: »Hm! Eine große Frage, nicht wahr? Ja, mein Herr, allerdings weiß ich, was auf seiner Brust tätowiert ist. Es ist ein kleiner, dünner, blauer Pfeil, den man kaum bemerkt, wenn man nicht scharf hinsieht.«

Solch ein Ausbund grenzenloser Frechheit war mir doch noch nie vorgekommen.

Der alte Herr wandte sich rasch zu Abel Turner und dessen Kameraden, und seine Augen glänzten so, als ob er den König jetzt festgenagelt hätte; er sagte: »Da haben Sie es gehört! War solch ein Zeichen auf Peter Wilks‘ Brust?«

»Wir haben kein solches Zeichen bemerkt.«

»Gut!« sagte der alte Herr. »Was ihr auf seiner Brust fandet, war ein kleines mattes P und ein B (der Anfangsbuchstabe eines Namens, den er schon jung aufgab) und ein W. Diese drei Buchstaben sind mit Strichen verbunden so: P-B-W« – er zeichnete sie auf ein Stück Papier. »Habt ihr davon nichts bemerkt?«

Beide antworteten: »Nein, wir sahen überhaupt gar keine Zeichen.«

Nun ging der Skandal los, und alles rief: »Die ganze Sippe sind Betrüger« – »Spießruten laufen« – »In den Fluß tauchen« – »Ersäuft die Bande.«

Da sprang der Anwalt auf den Tisch und schrie: »Meine Herren, meine Her-r-ren! Ein Wort, nur ein Wort, ich bitte. Lassen Sie uns den Sarg ausgraben und selbst nachsehen.«

Das wirkte.

»Hurra!« rief das Volk, das nun auseinanderging; aber Arzt und Anwalt riefen: »Halt, halt, ergreift erst die vier Männer und den Jungen und schleppt sie mit.«

»Jawohl, jawohl«, riefen alle, »und finden wir die Zeichen nicht, so hängen wir die ganze Sippschaft.«

Jetzt wurde mir bange, doch was half’s? Sie griffen uns und marschierten mit uns direkt zum Kirchhof, der anderthalb Meilen stromab lag. Die ganze Stadt zog hinter uns her, angelockt durch den Lärm, den wir machten und der nun immer ärger wurde.

Als wir an unserem Haus vorbeigingen, wünschte ich, ich hätte Mary Jane nicht fortgeschickt. Hätte ich ihr jetzt zuwinken können, so wäre sie gewiß erschienen, um mich zu retten und die Schurken zu überführen.

Wir stürmten den Flußweg hinab wie Wildkatzen. Noch dazu stieg ein Gewitter am Himmel herauf, Blitze zuckten, und der Wind sauste in den Bäumen, wodurch alles noch unheimlicher wurde. Ich war noch nie in einer so fürchterlichen Lage und großen Gefahr gewesen, und ich war wie niedergeschmettert, alles war anders gegangen, als ich erwartete: Anstatt daß ich’s leiten konnte, wie ich vorhatte, in der Hoffnung, meinen Spaß daran zu haben und mich zur rechten Zeit von Mary Jane retten zu lassen, wenn der Spaß zuweit ging, bewahrte mich jetzt nichts in der Welt vor einem schmachvollen Tode, außer diese Tätowierungen. Wenn sie die nicht finden…!

Das war ein unerträglicher Gedanke, und doch vermochte ich an nichts anderes zu denken. Es wurde dunkler und dunkler, und ich hätte somit gute Gelegenheit zum Entwischen gehabt, aber der rücksichtslose Kerl, der Heinz, hielt mich am Handgelenk fest, und ich hätte mich eher vom Riesen Goliath losmachen können als von ihm. Er riß mich mit sich fort, und ich mußte immer aufpassen, daß ich nicht stürzte.

Als wir ankamen, war der Kirchhof von der Menge im Nu überflutet. Am Grab stellte sich heraus, daß hundertmal so viele Schaufeln mitgebracht waren, als man brauchte, aber niemand hatte an eine Laterne gedacht. Doch sie gruben darauflos beim unsteten Leuchten des Blitzes und schickten einen Mann zum nächsten Haus, eine halbe Meile entfernt, nach einer Laterne.

So gruben sie denn unaufhaltsam; es wurde schrecklich finster und regnete, der Wind sauste daher, und die Blitze zuckten rascher. Die Leute kümmerten sich aber nicht darum, sie waren voller Erwartung. Einen Augenblick konnte man jedes Gesicht der großen Menge unterscheiden und sehen, wie die Erde schaufelweise aus dem Grab emporsprang; dann, im nächsten Augenblick, löschte die Finsternis alles wieder aus, so daß man keinen Schritt weit sehen konnte.

Endlich holten sie den Sarg heraus und schraubten den Deckel los. Das war ein Drücken, Quetschen, Stoßen, Halsrecken – jeder wollte es sehen; bei dieser Finsternis war das ganz schrecklich. Heinz drängte sich auch vor und zog mich so heftig mit, daß ich beinahe geschrien hätte. Aber ich möchte wetten, daß er gar nicht mehr an mich dachte, so aufgeregt war er.

Plötzlich kam eine wahre Sintflut von Blitzen, und jemand rief: »Herr Gott, da liegt der Sack Gold auf seiner Brust!«

Heinz brüllte vor Erstaunen, die andern ebenfalls. Er ließ mich los und sprang vorwärts, um es auch zu sehen – die Eile aber, wie ich nach der anderen Richtung querfeldein sprang, kann sich kaum jemand vorstellen, der’s nicht selbst erlebt hat.

Im Städtchen angelangt, spähte ich umher und sah, daß niemand auf der Straße war, darum flog ich auch geradewegs durch die Hauptstraße. Als ich mich unserem Hause nahte, war kein Licht da – alles dunkel. Das betrübte mich sehr; ich weiß selbst nicht warum.

Aber zuletzt, gerade als ich vorbeieilte, erglänzte plötzlich ein Licht in Mary Janes Fenster, und mir schwoll das Herz, als wollte es zerspringen; im nächsten Moment war das Haus hinter mir im Dunkel für immer verschwunden. Sie war das beste Mädchen, das mir je vorgekommen.

Sobald ich weit genug vom Städtchen war und mich sicher fühlte, sah ich mich um, wo ein Kahn zu finden sei. Bald zeigte mir der Blitz einen, der nicht angekettet war. Ich hinein und fort war eins. Es war ein Kanu, das nur mit einem Strick angebunden war. Mein Floß war weit weg in der Mitte des Stromes an der kleinen Insel, und ich durfte deshalb keine Zeit verlieren. Als ich endlich hinkam, wäre ich vor Ermattung fast hingestürzt. Doch dürft ich’s noch nicht und tat’s auch nicht.

Ich sprang an Bord und rief: »Heraus, Jim, und schnell fort! Gott sei Dank, wir sind sie los!«

Jim sprang heraus und kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Als ich ihn beim Blitz erblickte, stand mir fast das Herz still, und ich fiel rücklings ins Wasser. Ich hatte ganz vergessen, daß er König Lear und ein ertrunkener Araber, alles in einem war; er hatte mich fast zu Tode erschreckt. Jim fischte mich wieder aus dem Wasser und wollte mich umarmen und herzen und so weiter. Er war so froh, mich wiederzusehen, ohne König und Herzog, aber ich rief: »Nicht jetzt – später, später, warte bis zum Frühstück, jetzt nur rasch fort!«

Im Augenblick waren wir los und trieben den Fluß hinab. Ach, es tat so wohl, wieder frei zusammen auf dem großen Strom zu sein ohne widerwärtige Gesellschaft. Vor Freude sprang ich einigemal empor und schlug meine Hacken zusammen, ich konnte nicht anders; aber da hörte ich einen Laut, den ich wohl kannte, ich hielt den Atem an und horchte – und wahrhaftig, als der nächste Blitzstrahl übers Wasser zuckte, da sah ich sie kommen! Sie ruderten drauf los wie toll, daß der Kahn nur so dahinsauste! Ich wäre fast zusammengesunken und konnte kaum das Weinen zurückhalten.

Sie kamen aufs Floß. Der König sprang auf mich zu, packte mich am Kragen und rief: »Wolltest uns entwischen, du Racker! Bist unser müde, he?«

Ich sagte: »Nein, Majestät, sicher nicht, lassen Sie mich los!«

»Schnell ‚raus damit, was hattest du vor, sprich, oder ich zermalme dich!«

»Ich will Ihnen ja alles ehrlich erzählen, Majestät, grad‘ wie es kam. Der Mann, der mich hielt, war recht freundlich und sagte, er hätte einen Sohn in meinem Alter letztes Jahr verloren; es täte ihm leid, einen Knaben in solcher Gefahr zu sehen. Als alle so erstaunt waren, das Gold zu finden, und auf den Sarg zusprangen, ließ er mich los und flüsterte: ›Jetzt lauf, was du kannst, oder du wirst sicher gehängt!‹ und ich lief. Warum hätte ich bleiben sollen, da ich doch nichts nützen konnte, und wozu sollte ich mich hängen lassen, wenn ich entwischen konnte? So lief ich, bis ich das Kanu fand, und als ich hier ankam, mahnte ich Jim zur Eile, sonst würden sie mich fangen und doch hängen. Ich sagte ihm auch, ich fürchtete, daß Sie beide nicht mehr am Leben wären und wie leid mir das täte; Jim tat’s auch leid, und wir freuten uns so, als wir Sie ankommen sahen. Fragen Sie nur Jim selbst, ob’s nicht wahr ist.«

Jim bestätigte alles, doch der König gebot ihm zu schweigen und sagte: »Nun, das klingt freilich höchst wahrscheinlich.« Dann schüttelte er mich wieder und sagte, er würde mich ins Wasser werfen und ersaufen lassen.

Da rief der Herzog: »Laß den Jungen los, du alter Esel! Hättest du es anders gemacht? Hast du nach ihm gefragt, als du ausgerissen bist? Meines Wissens nicht!«

Da ließ mich der König los und begann auf die Stadt und alle ihre Bewohner zu fluchen, aber der Herzog rief: »Du tätest besser daran, auf dich selbst zu fluchen, du hast das beste Anrecht darauf, von dir selbst verflucht zu werden. Du hast von Anfang an nichts Gescheites getan, außer daß du kühn und frech mit dem erdichteten blauen Pfeil herauskamst. Das war ein glanzvoller Gedanke und das einzige, was uns rettete. Sonst hätten sie uns eingesperrt, bis das Gepäck der Engländer angekommen wäre, und dann stünde uns das Zuchthaus offen. Aber der Streich hetzte das Volk zum Kirchhof, und dann half uns das Gold erst recht. Denn wenn die aufgeregten Narren uns nicht losgelassen hätten, um das Gold zu sehen, hätten wir die Nacht in Halsbändern geschlafen, die uns länger gehalten hätten, als uns lieb gewesen wäre.«

Sie schwiegen eine Minute, dann sprach der König, wie in Gedanken: »Hm, und wir dachten, die Neger hätten es gestohlen.«

Da wurde mir ängstlich zumute.

»Ja«, sagte der Herzog langsam und sarkastisch, »wir dachten’s.«

Eine halbe Minute später brummte der König: »Wenigstens ich dachte es.«

Da entgegnete der Herzog im selben Ton: »Im Gegenteil – ich dachte es.«

Da rief der König ärgerlich: »Hör mal, Sommerfett, was willst du damit sagen?«

Der Herzog entgegnete rasch: »Wenn’s erlaubt ist, so möchte ich mir die Frage erlauben, was du damit meinst.«

»Hm«, rief der König sarkastisch, »vielleicht tatst du es im Schlafe und wußtest es selbst nicht.«

Da sagte der Herzog auffahrend: »Kerl, laß den Unsinn, hältst du mich für einen Narren? Meinst du vielleicht, ich wüßte nicht, wer das Geld in den Sarg gelegt hat?«

»Natürlich weiß ich, daß du es weißt, denn wer sollte es getan haben als du selber?«

»Du lügst«, schrie der Herzog und packte ihn.

Da rief der König: »Laß mich los! Laß meine Kehle los! – Ich nehme alles zurück.«

Der Herzog schrie: »Erst gestehe, daß du das Geld dort versteckt hast in der Absicht, mich loszuwerden, es später auszugraben und alles selbst zu behalten.«

»Wart einen Augenblick, Herzog, und beantworte diese eine Frage, ob du das Geld nicht hintastet, ehrlich, und ich will dir glauben und alles zurücknehmen, was ich gesagt.«

»Du alter Schurke, ich tat’s nicht, und du weißt es wohl!«

»Nun denn, ich glaube dir. Aber beantworte mir noch das eine – werd nicht böse: Hattest du nicht im Sinn, das Geld zu entwenden und zu verstecken?«

Der Herzog schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Was ich im Sinn hatte, ist ganz gleich. Ich hab’s nicht getan. Aber du hattest es nicht nur im Sinn, sondern tatest es auch.«

»So wahr ich lebe, Herzog, ich tat es nicht, wahrhaftig. Ich will nicht leugnen, daß ich es beabsichtigte, aber getan hab‘ ich’s nicht, denn du – ich meine irgend jemand kam mir damit zuvor.«

»Du lügst, du tatest es und mußt es gestehen, oder…«

Der König, den der Herzog immer noch an der Kehle hatte, begann zu röcheln und rief dann halb erstickt: »Genug – ich gestehe!«

Ich war froh, es ihn sagen zu hören; ich fühlte mich um ein gut Teil leichter.

Der Herzog ließ ihn los und rief: »Wenn du es je wieder leugnest, ersäuf ich dich. – Ja, sitz nur da und plärre wie ein Kind, das paßt ganz zu einem Kerl, der so handelt wie du. Meiner Lebtage habe ich keinen solch alten Gauner gesehen, der alles verschlingt, wenn’s darauf ankommt, und ich verließ mich auf dich, als seiest du mein eigener Vater. Du solltest dich schämen, dabeizustehen und es auf die armen Neger kommen zu lassen, ohne ein Wort zu ihren Gunsten zu sagen. Es ärgert mich immer noch, daß ich so dumm war, es zu glauben. Verdammt, jetzt verstehe ich, warum du das Defizit gutmachen wolltest: Du hast das Geld, das beim Nonplusultra verdient war, und alles andere allein einsacken wollen.«

Der König sagte ängstlich und halb röchelnd: »Nein, Herzog, du wolltest ja das Defizit decken, nicht ich.«

»Ruhe! Ich will davon nichts mehr hören«, rief der Herzog. »Du siehst nun die Folgen. Sie haben all ihr eigen Geld zurück und all unseres dazu, bis auf einige Silberstücke. Mach, daß du zu Bett kommst, und schaffe mir keine Defizits mehr, solange du lebst.«

Der König kroch unters Zelt und suchte Trost bei seiner Flasche; bald tat der Herzog ein Gleiches. In einer halben Stunde waren sie wieder die dicksten Freunde, und je trunkener sie wurden, desto mehr liebkosten sie sich, und bald schnarchten sie in gegenseitiger Umarmung. Sie waren riesig angeheitert, aber wie ich bemerkte, hütete sich der König wohl, darauf zurückzukommen, daß er das Gold nicht versteckt habe. Das war für mich eine wahre Erleichterung. Als die beiden schnarchten, erzählte ich natürlich Jim alles.

Wir trieben mehrere Tage stromab, ohne irgendwo anzuhalten, bis wir so weit südlich waren, wo das lange spanische Moos von den Bäumen hängt, als ob sie lange graue Barte hätten. Dann hielten wir wieder hier und da an. Die beiden versuchten ihr Glück mit Predigen, Wahrsagen, Mesmerismus, kurz mit allerlei, aber nichts wollte recht glücken. Sie wurden sehr mürrisch, und wir konnten ihnen nichts recht machen. Sie steckten viel beieinander und hatten manches zu flüstern, so daß Jim und ich anfingen zu fürchten, sie brüteten irgendeine Teufelei aus. Bald legten wir nicht weit von einem Städtchen an. Der König sagte, er wolle hingehen und sehen, ob Gelegenheit fürs Nonplusultra wäre, und wenn er bis Mittag nicht zurück sei, sollten der Herzog und ich nachkommen, und Jim sollte, wie gewöhnlich, das Floß hüten. Zu Mittag kam er nicht zurück. Der Herzog und ich gingen also zum Städtchen und fanden den König betrunken in einer Kneipe. Er und der Herzog fingen an sich zu streiten; da dachte ich, meine Gelegenheit sei gekommen, und rannte zum Floß zurück, rief Jim, erhielt aber keine Antwort. Ich rief zwei-, dreimal, bekam aber keine Antwort. Da ging ich ein Stück Weges ins Land und begegnete einem Jungen, den ich fragte, ob er einen Neger gesehen hätte, und beschrieb ihm Jim. »Ja, den haben die Leute vor einer halben Stunde zur Sägmühle des alten Silas Phelps geschleppt«, sagte der Junge. Ich erfuhr auch von ihm, daß ihn ein kahlköpfiger alter Kerl für eine Belohnung von zweihundert Dollars gefangen und sein Anrecht darauf einem Farmer für vierzig Dollars abgetreten habe. Der Anschlagzettel habe den Neger beschrieben und er sei auf dem Floß gefangen worden.

Jetzt ging mir ein Licht auf. Der König hatte Jim für vierzig Dollar verschachert, während er allein in der Stadt war, und als der Herzog und ich den König am Nachmittag aufsuchten, wurde Jim unterdessen weggeführt.

Mir stand das Herz fast still. Dieser verräterische Schurkenstreich setzte der Handlungsweise der Majestät vollends die Krone auf. Ich dachte einen Augenblick daran, umzukehren und dem Schurken die Meinung zu sagen. Doch er und der Herzog hätten nur neue Schurkereien gegen mich ausgebrütet, und Jim wäre dadurch nicht geholfen gewesen. Armer, alter Jim, wie mochte ihm zumute sein! Nein, ich wollte die Kerle gar nicht wiedersehen, da brauchte ich der Vorsehung nicht ins Handwerk zu pfuschen, diese Kerle würde ihr Schicksal ohne mich ereilen, früher oder später, das wußte ich gewiß. Und darin hab‘ ich recht gehabt, das will ich nur gleich jetzt erzählen, damit ich gar nicht noch einmal an die Lumpenbrut zu denken brauche. Ein paar Tage später, als ich mit Tom … Ja so, da verplappre ich mich, das gehört ja hier noch gar nicht hin! – Also, kurz und gut: Ein paar Tage später brachten Schiffsleute aus einem weiter stromab gelegenen Städtchen die Nachricht, es seien dort ein paar Gauner geteert, gefedert und von einer großen Volksmenge begleitet durch die Straßen gehetzt worden. Die Beschreibung, die man von ihnen machte, paßte genau auf meine hohen Herrschaften von früher. Sie hatten das Nonplusultra einmal zuviel aufgeführt. Dieser Lohn war gerecht. Warum hatten sie den armen Jim verraten, der ihnen nie was zuleide getan? Später hab‘ ich nichts mehr von ihnen gehört und gesehen und hoffe sehr, daß es auch nie mehr der Fall sein wird!