Flucht aus dem Wrack – Der Wächter an der Fähre – Untergang – Gesunder Schlaf
13. Kapitel
Mir ging der Atem aus, und ich fiel beinahe um vor Entsetzen. Hier auf dem Wrack allein mit einer solchen Bande wie die da drunten, das war kein Spaß! Jetzt mußten wir ihr Boot finden – mußten’s für uns selbst haben! So krochen wir zitternd und bebend nach Steuerbord zurück, und es schien uns eine Ewigkeit, bis wir zum Hinterteil des Schiffes gelangten. Ein Boot aber war nirgends, nirgends zu sehen. Jim sagte, er könne sich kaum noch aufrechthalten, so schlottern ihm die Knie, solche Angst habe er in seinem Leben noch nicht ausgestanden. Ach, du mein Himmel, mir ging’s nicht viel besser, aber gesagt hätte ich nichts um alles in der Welt. Ich trieb ihn nur vorwärts und versicherte ihm, daß wir, wenn wir hier bleiben, zwischen den Wellen und den Kerlen da drinnen garstig in der Klemme säßen. Wir also wieder drauflos und weitergesucht! Immer vorwärts tastend, hatten wir schon beinahe den Teil erreicht, wo das Deck sich gegen die Wasserfläche gesenkt hatte, da – seh‘ ich einen dunklen Klumpen im schwarzen Schatten da drunten, und weiß Gott und wahrhaftig, es war ein Boot! Wie froh und dankbar atmeten wir auf! Eben wollten wir uns hinunterlassen, da öffnet sich dicht neben mir eine Luke, und ein Kopf erscheint. Es ist einer von den Kerlen! Daß er mich nicht gesehen, war das reine Wunder!
Er aber dreht den Kopf nach rückwärts und flüstert: »Tu doch die Laterne weg, die kann uns ja verraten!«
Er warf einen gefüllten Sack ins Boot, schwang sich selbst nach und setzte sich. Es war Jack. Dann kam Bill nachgekrochen und war auch schnell unten.
Wispert Jack: »Fertig – stoß ab!«
Ich konnte mich kaum mehr festhalten, so schwach wurde mir. Da flüsterte Bill: »Wart ein wenig. Hast du ihn auch noch einmal genau durchsucht, den Hund?«
»Nein – hast du’s denn nicht getan?«
»Nein, Gott straf mich! Da hat der Kerl also noch seinen Teil an Barem in der Tasche!«
»Nun, dann aber geschwind zurück! – Es hat freilich keinen Wert, all den Kram fortzuschleppen und das Geld ihm zu lassen. Komm schnell!«
»Wird er denn aber nicht merken, was wir im Schilde führen?«
»Vielleicht – vielleicht auch nicht! Einerlei – haben müssen wir’s, also vorwärts!«
So kletterten die Kerle wieder zurück und verschwanden.
Ob wir flink unten und im Boot drin waren! Mir schien’s, als packe uns ein Wirbelwind! Messer raus, Leine durch – auf und los und davon, eh‘ einer Amen sagen konnte!
Wir rührten keine Ruder, verloren kein Wort, atmeten kaum. Lautlos glitten wir davon, totenstill, am Schiff entlang und waren in ein paar Minuten außer Hör-, Seh- und Schußweite, sahen das Wrack in der Dunkelheit verschwinden, waren gerettet – und dankten unserm Schöpfer.
Als wir ungefähr zwei- oder dreihundert Meter entfernt waren, sahen wir eine Laterne wie ein kleines Sternchen für einen Augenblick über dem Wasser aufblitzen; jetzt hatten die Kerle gewiß entdeckt, daß das Boot weg war und daß sie ungefähr so schlimm dran waren wie Jim Turner.
Wir aber legten uns tüchtig in die Ruder und spähten nach unserm Floß aus. Da kam es mir plötzlich in den Sinn, mir wegen des Schicksals der Männer Gedanken zu machen; vermutlich hatte ich bisher keine Zeit dazu gehabt. Mir schien die Klemme, in die ich sie gebracht hatte, selbst für Mörder etwas allzu grausam. Sag‘ ich zu mir selbst: Wer weiß, Huck, was aus dir noch einmal wird, vielleicht nichts viel Besseres, und da war‘ dir so was auch recht unangenehm.
Ruf ich deshalb Jim zu: »Jim, beim ersten Licht, das wir sehen, machen wir halt, legen an, verstecken dich und das Boot, und ich geh‘ dann hin und fable den Leuten was vor, daß sie nach den Kerlen dort im Wrack sehen, damit die nicht wie Ratten ersaufen, sondern schön gehenkt werden können, wenn sie einmal reif dafür sind!«
Die Idee aber war Essig, denn auf einmal begann der Sturm wieder wie toll drauflos zu rasen, schlimmer als je. Es goß nur so in Strömen, und nirgends war ein Licht zu entdecken, bei dem Hundewetter war wohl alles im Bett. Wir arbeiteten uns vorwärts, durch alles hindurch, und schauten scharf nach einem Licht und nach unserm verlorenen Floß aus. Nach einiger Zeit ließ der Regen etwas nach, aber die Wolken blieben, und der Blitz flammte hie und da noch auf. Auf einmal zeigte uns ein Strahl etwas Schwarzes, das vor uns dahinglitt. Wir natürlich flink drauflos.
Und wahrhaftig, es war unser Floß. Wir waren froh wie die Maikäfer, uns drauf verkriechen zu können, auf unserm alten, lieben, verlorenen und wiedergeschenkten Floße. Wie doch der Mensch an dem Seinen hängt! Jetzt entdeckten wir auch ein Licht drüben am Ufer, nach dem wollte ich mich denn auch hinmachen – die drei Kerle lagen mir zu schwer im Magen. Unser Boot war halb voll geladen mit Kram, den die Schurken gestohlen hatten. Den luden wir nun in einem Haufen auf unser Floß, und ich hieß Jim langsam weitertreiben und nach einiger Zeit, so etwa nach einer Stunde, ein Feuer zu machen und es brennen lassen, bis ich zurück sei, damit ich ein Zeichen habe. Dann zog ich los und auf das Licht zu. Als ich näher kam, entdeckte ich noch andere an einem Hügel aufwärts es mußte ein Dorf sein. Ich hielt auf das Uferlicht zu, zog die Ruder ein und ließ mich treiben, um erst ein wenig auszukundschaften. Im Vorbeigleiten sah ich, daß das Licht eine Laterne war, die an einem Fährboot befestigt hing. Ich schaute nun nach dem Wächter aus, wo er schliefe, und fand ihn richtig vorn bei den Tauwinden selig eingeschlummert, mit dem Kopf zwischen den Knien. Ich stieß ihn dann leicht an und begann zu schluchzen und heulen.
Er fuhr auf und sah sich dann verstört um. Als er aber entdeckte, daß nur ich es sei, reckte und streckte und dehnte er sich erst behaglich und brummte dann: »Hallo, was ist denn wieder los? Heul nicht, Bub! Was gibt’s denn?«
Schluchz‘ ich: »Vater und Mutter und Schwester und –«
Ich konnte nicht weiter vor Jammer. Dann sagt‘ er: »Oh, verdammt, heul nicht so, Junge, jeder hat seinen Packen zu tragen, und deiner wird nicht gar zu schwer sein! Was ist denn los mit Vater und Mutter und Schwester?«
»Sie sind – sie sind –. Sind Sie der Wächter von dem Fährboot?«
»Ja«, bestätigt er selbstgefällig, »der bin ich! Ich bin Kapitän, Eigentümer, Matrose und Lotse, Steuermann, Wächter – alles in einer Person. Oftmals auch alleinige Fracht und Passagier zugleich. So reich wie der alte Jim Hornback bin ich nicht, kann nicht so mit dem Gelde um mich werfen, wie er’s tut, der’s den Schlingeln dem Tom und dem Dick und dem Harry – nur so in die Taschen stopft, aber ich möcht‘ doch nicht mit ihm tauschen, nicht um viel. Denn, sag‘ ich zu ihm: Ein Leben auf dem Wasser, das ist doch ein Leben; lieber ließ ich mich hängen, als dahinten an den Bergen zu kleben, wo man nicht weiß, ob die Welt geht oder still steht, nicht um alles möcht‘ ich das, und wenn du mich in Gold fassen ließest, und, sag‘ ich …«
Nun fiel ich ein: »Ach, ach, meine Leute werden gar nicht wissen, was sie tun sollen und –«
»Wer wird’s nicht wissen?«
»Ei, der Vater und die Mutter und die Schwester und Miss Hooker. Ach, guter Herr, wenn Sie doch Ihr Boot nehmen wollten und hingehen und –«
»Wohin? Wo sind die denn?«
»Auf dem Wrack!«
»Auf welchem Wrack?«
»Ach, es ist ja nur eins da!«
»Was, du willst doch nicht sagen auf dem Walter Scott?«
»Ja! Dort!«
»Großer Gott! Was, um Himmels willen, tun sie denn da?«
»Nun, freiwillig sind sie nicht hingegangen!«
»Das glaub‘ ich wohl! Herr des Himmels, da sind sie ja einfach verloren, wenn sie nicht machen, daß sie schleunigst wegkommen. Wie, in Gottes Namen, sind sie denn eigentlich da hingeraten?«
»Sehr einfach! Miss Hooker war zu Besuch dort oben in der Stadt –«
»Booths Landing meinst du – weiter!«
»Also sie war zu Besuch in Booths Landing, und gegen Abend wollte sie dann fort und noch eine Freundin besuchen, um da zu übernachten, ein Fräulein – ach ich hab‘ den Namen vergessen. Mitsamt ihrer alten Niggerfrau ließ sie sich in der Fähre übersetzen, und da verloren sie das Steuerruder mitten auf dem Wasser und wurden nun fortgerissen von den Wellen und gegen das Wrack geschleudert, und Fähre und Fährmann und die Niggerfrau, alles war verloren. Nur Miss Hooker erwischte etwas vom Schiff, woran sie sich halten konnte, und rettete sich so auf Deck. – Vielleicht eine Viertelstunde später kamen wir in unserem Boot flußabwärts vom Markt heim; es war so stichdunkel, daß wir das Wrack nicht eher sahen, als bis wir mit der Nase draufstießen und es zu spät war. Das Boot war natürlich zum Kuckuck, aber retten konnten wir uns alle, nur Bill Whipple – der ertrank – ach, und der war der beste Kerl von der Welt, wahrhaftig, ich hätt‘ beinahe lieber all das Wasser selbst geschluckt – das hätt‘ ich, meiner Seel‘ –«
»Herr, du mein Gott, das ist gewiß und wahrhaftig die merkwürdigste Geschichte, die ich je gehört habe! Na und dann? Was habt ihr dann getan?«
»Nun, wir riefen und schrien natürlich und waren wie toll; aber es ist so weit da draußen, da konnte uns niemand hören. Sagt‘ mein Alter: Das nutzt alles nichts, einer von uns muß sehen, wie er ans Land kommt und Hilfe schafft. Gut also! Ich war der einzige, der schwimmen konnte, so mußte ich denn ran und mein Heil probieren. Da gab’s kein langes Zaudern! Ich denn rein und los. Miss Hooker rief mir nach, wenn ich nicht früher Hilfe fände, so solle ich nur machen, daß ich zu ihrem Onkel käme, der werde schon Rat wissen. So schwimm‘ ich denn drauflos und komme auch richtig ans Land, vielleicht eine Stunde weiter da unten, aber wo ich auch anklopfe und meine Geschichte erzähle, alle weisen mich ab. ›Was‹, sagen sie, ›in der schrecklichen Nacht? Nein, mein Junge, das wäre Unsinn, da such du sonst jemand – mach, daß du zur Dampf-Fähre kommst; wenn dir einer hilft, so wird dir der dort helfen!‹ Und da bin ich, und – ach, wenn Sie doch wirklich gehen wollten und sehen und –«
»Meiner Seel‘, das will ich, will’s gern tun, aber – sag mal, weißt du, ganz umsonst kann ich’s nicht, wie steht’s denn mit – na, du weißt, was ich sagen will, wer wird mir’s denn vergüten? Glaubst du, dein Vater kann –«
»Ach, darüber machen Sie sich keine Sorgen, daran soll’s nicht fehlen. Miss Hooker sagte noch, ihr Onkel Hornback …«
»Was – der ist ihr Onkel? Paß mal auf, was ich dir sage – siehst du dort das Licht? – Gut – also, darauf gehst du los, und wenn du hinkommst, fragst du in der Wirtschaft nach Jim Hornback. Die werden dich dann zurechtweisen; aber eil dich und halt dich unterwegs nicht auf, denn der wird’s schnell wissen wollen. Und sag ihm, ich wolle ihm seine Nichte bringen, heil und ganz, eh‘ er noch selbst zur Stadt kommen könne, er soll sich ja nicht ängstigen und – aber mach doch, daß du fortkommst, Schlingel – steht da und sperrt das Maul auf, statt den Weg unter die Füße zu nehmen! Vorwärts, ich werd‘ gleich abstoßen!«
Ich tu‘ also, als ob ich dem gewiesenen Licht zurenne. Kaum bin ich aber außer Hör- und Sehweite, schleich‘ ich in großem Bogen zurück, bis dahin, wo ich mein Boot versteckt hatte, mach‘ es flott und laß mich nun leise am Ufer hin treiben und verberg mich dann zwischen ein paar Holzschiffen, denn ich mußte sehen, ob der Mann wirklich Ernst mache. Im ganzen war ich sehr mit mir zufrieden, denn, denk‘ ich, viele hätten sich nicht soviel Mühe gemacht wegen der alten Diebsbande, sondern sie ruhig Wasser schlucken lassen, bis sie genug gehabt – und verdient hätten sie’s auch, die Kerle! Ich wollte, die Witwe hätte die Geschichte gehört, die härte gewiß geweint vor Rührung über meine Großmut gegen die Schurken, denn, merkwürdig, für Mörder und dergleichen Lumpengesindel hatte sie wie andere gute Seelen immer die größte Teilnahme.
Jetzt seh‘ ich, wie sich die Fähre in Bewegung setzt. Ich also raus aus meinem Versteck und flink drauflos gerudert, um zuerst an Ort und Stelle zu sein. Da erhebt sich auch schon das Wrack aus den Wellen, ganz geisterhaft dunkel und schwarz. Aber es sinkt rasch und zusehends, ist schon beinahe ganz mit Wasser gefüllt. Viel Spielraum, um frische Luft zu schöpfen, hatten die Kerle drin nicht mehr – soviel war klar. Ich rudre denn noch ein bißchen näher, versuch‘ auch, die Burschen, falls sie überhaupt noch existierten, schwach anzurufen, krieg‘ aber keine Antwort und denk‘: Wollt ihr nicht, so will ich erst recht nicht!
Jetzt kommt auch schon die Fähre mit voller Kraft angedampft. Ich halt‘ nun schleunigst nach der Mitte des Stroms zu, und wie ich glaubte außer Hörweite zu sein, zieh‘ ich die Ruder ein, um alles sehen und beobachten zu können. Ich sah, wie die Fähre um das Wrack herumdampfte und schnupperte, um nach Fräulein Hookers irdischen Resten zu suchen, zum Trost des armen, seiner geliebten Nichte beraubten Onkels Hornback. Der Fährmann konnte aber offenbar nichts entdecken, und da das Wrack von Minute zu Minute erschreckend rasch tiefer und immer tiefer sank, gab er schließlich den Versuch nach kurzem ganz auf und dampfte dem Ufer zu. Ich aber zog nun gewaltig aus, den Fluß hinunter.
Schrecklich lang kam es mir vor, ehe ich Jims Licht entdeckte, und als es endlich, endlich in Sicht kam, schien mir’s noch wenigstens tausend Meilen entfernt. Als ich schließlich glücklich anlangte, dämmerte im Osten schon der Tag herauf. Wir hielten also auf eine kleine Insel zu, verbargen unser Floß, bohrten das vom Wrack mitgenommene Boot an, daß es sank, krochen in unsere Hütte und schliefen wie die Toten den Schlaf der Gerechten.