7. Kapitel

Auf dem Anstand – In die Hütte eingeschlossen – Vorbereitung zur Flucht – Versenken der Leiche – Ein neuer Plan – Ruhe

7. Kapitel

»Wirst du wohl aufstehen! Was ist denn hier los?«

Ich öffnete meine Augen und sah um mich, war noch ganz wirr und betäubt und suchte mich vergeblich an alles zu erinnern. Ich mußte fest geschlafen haben; es war schon ganz hell. Vater stand vor mir, sah brummig aus, als ob ihm nicht recht gut sei, und fragte: »Was hast du mit der Flinte vor?«

Ich sah gleich, daß er nichts von seinen nächtlichen Taten wisse. So sagt‘ ich: »Es wollte jemand zur Tür herein, da hab‘ ich mich auf den Anstand gestellt!« – »Warum hast du mich nicht geweckt?«

»Ich hab’s probiert, aber es ging nicht!«

»Schon gut! Heb dich weg und schwatz nicht soviel. Mach und sieh nach, ob ein Fisch an der Leine hängt, für unser Frühstück. Ich komm‘ gleich nach!«

Er schloß die Türe auf, und ich machte mich davon, hinunter ans Flußufer. Ich sah Baumäste und Holzstücke im Wasser treiben und wußte, daß es nun im Steigen begriffen war. Das waren schöne Zeiten in der Stadt, wenn der Fluß stieg. Da kamen oft große Stücke Holz, manchmal ganze Baumstämme dahergeschwommen, oft fünf, sechs auf einmal, oft noch mehr, und man brauchte sie mir herauszufischen und auf dem Holzplatz oder in der Sägmühle zu verkaufen. Das war ein einträgliches Geschäft.

So schlenderte ich am Ufer hin, mit einem Auge schielte ich nach dem Alten, mit dem andern lugte ich, ob das Wasser etwas herantreiben würde. Wahrhaftig, sehe ich da plötzlich ein kleines Boot heranschwimmen, ein prächtiges Ding, zwölf bis vierzehn Fuß lang und so stolz dahersegeln wie ein Schwan. Ich schieße ins Wasser wie ein Frosch, ohne mich zu besinnen, geradeso, wie ich war, und steure auf das Boot los. Ich war darauf gefaßt, jemanden drin liegen zu sehen, der mich für meine vergebliche Mühe tüchtig auslachen würde; ich hatte schon gehört, daß sie die Leute manchmal auf solche Weise foppen. Diesmal war’s nicht so, es war wirklich ein leeres Boot, und ich kletterte hinein und lenkte es ans Ufer. Denk ich, der alte Mann wird sich freuen, wenn er’s sieht, es ist wenigstens zehn Dollar wert. Aber als ich ans Ufer kam, war der Alte noch nicht in Sicht. Plötzlich kam mir eine neue Idee, und ich legte das Boot in einer kleinen Bucht ganz unter Reben und Weiden versteckt an. Ich will es für mich behalten, dacht‘ ich, es gut verbergen und dann, statt in die Wälder durchzubrennen, in dem Boot davongehen, den Fluß hinunter rudern, mir einen versteckten Platz am Ufer aussuchen und dort mein Lager aufschlagen; dann brauche ich doch nicht zu Fuß Reißaus zu nehmen und mir die Beine abzulaufen. Da ich mich ziemlich nahe bei der Hütte befand, konnte mich der Alte jeden Augenblick überraschen, aber es gelang mir doch, das Boot sicher zu verstecken. Wie ich fertig bin und hinter einer alten Weide vorschaue – richtig, da steht er, hat aber das Gewehr an der Backe und zielt gerade nach irgend etwas. Er hatte also nichts gemerkt.

Als er näher kam, war ich eifrig mit den Angelleinen beschäftigt. Er schimpfte und brummte, daß ich so langsam sei, und ich sagte, ich sei ins Wasser gefallen bei der Arbeit, drum daure es so lange, denn ich wußte, er würde meine nassen Kleider sehen und mich ausfragen. Wir zogen fünf Katzenfische mit der Leine ans Land und gingen sehr befriedigt heim.

Nach dem Frühstück legten wir uns wieder hin, um zu schlafen, denn wir waren beide etwas erschöpft von den nächtlichen Lustbarkeiten. Vor dem Einschlafen kam mir der Gedanke, daß es für mich viel sicherer wäre, wenn ich den Alten und die Witwe ganz davon abhalten könnte, mich zu verfolgen, als wenn ich mich darauf verließe, einen möglichst großen Vorsprung zu gewinnen, bevor sie mich vermißten. Gut ist gut und besser ist besser!

Zuerst wollte mir gar nichts Gescheites einfallen; mit einemmal hebt der Alte den Kopf, um ein neues Maß Wasser zu dem vorhergegangenen hinunterzugießen, und sagt: »Wenn wieder einer um die Hütte schnüffelt, Huck, rüttelst du mich wach, hörst du? Der hatte nichts Gutes im Sinn, dem brenn‘ ich eins auf den Pelz! Also, du weckst mich!«

Dann legte er sich hin und schlief weiter. Aber was er gesagt, hatte mich gerade auf das gebracht, was ich suchte, und nun wußte ich, wie ich’s anzustellen hatte, daß niemand mir nachsetzen würde.

Gegen zwölf Uhr standen wir von unserm Lager auf und gingen den Fluß entlang. Das Wasser stieg ziemlich schnell und trieb eine Menge Holz mit sich. Auch ein Floß schwamm vorbei, oder ein Teil von einem, etwa neun zusammengebundene Baumstämme; wir stiegen in unser Boot und brachten sie ans Land. Dann kam das Mittagessen. Jeder andre hätte nun am Ufer gewartet und gesehen, was er noch weiter herausschlagen könnte, das war aber des Alten Art nicht. Neun Baumstämme waren genug für einen Rausch, so wollte er sie denn sofort zur Stadt bringen und versilbern. Er schloß mich also ein, nahm das Boot, befestigte das Stück Floß dran und ruderte fort – es war so gegen halb drei. Heute nacht würde er nicht wiederkommen, dessen war ich ziemlich sicher. Ich wartete nun, bis ich ihn gänzlich außer Hörweite glaubte, holte dann meine Säge vor und begann meine Arbeit von gestern fortzusetzen. Ehe der Alte noch das andre Ufer erreicht haben konnte, war ich glücklich aus dem scheußlichen Loch heraus und konnte gerade noch sehen, wie er als Punkt mit seinem Schiff und Floß drüben verschwand.

Ich nahm den Sack Mehl und schleppte ihn ans Boot, bog die Reben und Zweige beiseite und zog ihn hinein, dann machte ich’s geradeso mit der Speckseite und dem Branntweinkrug. Ich nahm allen Kaffee und Zucker, der da war, und alle Munition, ich nahm den Wassereimer und den Würfelbecher, den Feuerhaken und eine alte Zinntasse, meine rostige Säge, zwei Pferdedecken, den Kessel und den Kaffeetopf. Ich nahm die Angelleinen, die Schwefelhölzer, kurz alles, was sich nur wegtragen ließ, und einen Kupferdreier wert war. Ich räumte die Hütte rein aus. Eine Axt hätte ich noch gern gehabt, aber es war keine da, bis auf die eine draußen auf dem Holzhaufen, und ich wußte, warum ich die liegen ließ. Zuletzt nahm ich noch die Flinte, und dann war ich fertig.

Durch das Aus- und Einsteigen und Herausschleppen der Sachen war der Boden vor dem Loch ordentlich festgetreten worden. Daher gab ich ihm, so gut es ging, das vorige Aussehen wieder, indem ich Staub darauf streute, der auch das Sägmehl verdeckte. Das herausgenommene Stück Balken paßte ich wieder sorgfältig in die Öffnung, legte zwei Steine davor, um ’s festzuhalten, und wenn man zwei oder drei Fuß entfernt stand und nicht wußte, daß es losgesägt war, konnte man’s auch nicht bemerken. Außerdem war’s auf der Rückseite der Hütte, wo selten jemand hinkam.

Bis zum Boot gab es nur Grasboden, da war meine Spur nirgends zu entdecken, wovon ich mich überzeugte. Ich stand am Ufer und spähte in den Fluß. – Alles sicher! So nahm ich die Flinte und ging ein Stück in den Wald hinein, um irgendeinen Vogel zu schießen. Da sehe ich ein wildes Schwein. Die werden dort immer gleich wild, wenn sie erst einmal von einer Farm ausgebrochen sind. Ich schoß den Kerl und schleppte ihn zur Hütte.

Jetzt nahm ich die Axt zur Hand, zerschmetterte die Tür und hieb um mich, daß die Fetzen nur so flogen. Dann schleppte ich das Schwein bis zum Tisch, schlug ihm mit dem Beil ein Loch in den Hals und legte es auf den Boden zum Verbluten – die Hütte war nicht gedielt, sondern hatte gestampften Lehmboden. Dann nahm ich einen alten Sack, füllte ihn mit schweren Steinen, wälzte ihn durch die Blutlache und zog ihn dann hinter mir her dem Flusse zu, wo ich ihn hineinwarf. Er hatte eine breite, blutige Spur hinterlassen, die ein Blinder finden konnte. Ich wollte, Tom Sawyer wäre dabeigewesen, der hätte noch allerlei dazu erfunden, um dem Ding einen romantischen Anstrich zu geben – in solchen Sachen war er groß.

Zuletzt riß ich mir dann noch ein paar Haare aus, tauchte die Axt ins Blut, klebte die Haare hinten dran und warf die Axt in einen Winkel. Dann nahm ich das Schwein, preßte die Wunde fest gegen mich, daß sie nicht mehr tröpfeln konnte, und schleppte das Tier eine gute Strecke weit unterhalb den Fluß entlang, wo ich’s hineinwarf. Da fiel mir noch etwas anderes ein. Ich nahm den Sack Mehl und trug ihn zurück in die Hütte, dann holte ich die Säge, stellte den Sack an den Ort, an dem er gestanden, ritzte mit der Säge ein Loch hinein, denn es waren keine Messer oder Gabeln da; der Alte besorgte alles mit seinem Taschenmesser. Dann schleppte ich den Sack ein paar hundert Meter durch das Gras und die Weiden zu einem östlich von der Hütte gelegenen Teich, der voll Binsen war und – voll Enten, wenn die rechte Zeit dazu war. Am andern Ende des Sees führte ein Pfad in die Wildnis, das wußte ich, aber nicht wohin, jedenfalls aber entgegengesetzt vom Flusse. Das Mehl kam ganz langsam aus dem Riß heraus und hinterließ eine kleine weiße Spur über den ganzen Weg bis zum See, dann ließ ich noch des Alten Wetzstein fallen, als ob es zufällig geschehen sei, band das Loch im Sack mit einer Schnur zu, damit das Mehl nicht mehr herausfallen konnte, nahm den Mehlsack, holte die Säge und ging zu meinem Boot zurück.

Jetzt war’s beinahe dunkel geworden, und so ruderte ich denn das Boot eine Strecke weit den Fluß hinunter, befestigte es an einem Weidenstamm, aß ’nen Mund voll und wartete auf den Mond, der eben aufging. Ich zündete mir eine Pfeife an und begann ernstlich über meinen Plan nachzudenken. Sag‘ ich zu mir selbst: Natürlich werden sie der Spur folgen, auf der ich den alten Steinsack zum Fluß gezogen habe, und werden dann das ganze Wasser nach meiner Leiche absuchen. Und dann rennen sie hinter der Mehlspur her bis zum See und weiter durch den Wald in die Schluchten jenseits, um die Räuber zu finden, die mich gemordet und alles gestohlen haben. Außer im Fluß werden sie nirgends nach meiner Leiche suchen, des bin ich sicher, und sie werden es bald müde sein und sich nicht weiter um mich kümmern. Das ist mir gerade recht! Ich kann dann bleiben, wo ich will! Die Jackson-Insel da drüben ist gut genug für mich, dort bin ich von früher her mit jedem Schlupfwinkel bekannt, und niemand kommt je dahin. Nachts kann ich dann in die Stadt rudern und sehen, ob ich nicht hie und da etwas erwischen kann, was sich brauchen läßt. Hurra, die Jackson-Insel sei mein Reich!

Ich war ziemlich müde geworden, und das erste, was ich tat, war, daß ich einschlief. Als ich wieder aufwachte, wußte ich einen Augenblick lang gar nicht, wo ich war. Ich setzte mich auf und blickte nicht wenig verwundert nach allen Seiten. Jetzt kam mir wieder alles ins Gedächtnis zurück. Der Fluß sah aus, als sei er Meilen und Meilen breit. Der Mond schien so hell, daß ich die Holzstücke zählen konnte, die hundert Meter weit entfernt still und schwarz dahinglitten. Alles war totenstill, und es sah aus, als sei’s sehr spät, und es roch auch so, so frisch, so, so – ihr wißt, was ich sagen will, ich kann nur keine Worte dafür finden.

Ich gähnte und reckte und streckte mich und wollte gerade mein Boot losmachen und weiterrudern, als ich drüben über dem Wasser etwas hörte. Ich horchte. Bald hatt‘ ich’s heraus, was es war. Ein dumpfer regelmäßiger Laut, wie ihn Ruder von sich geben, wenn sie sieh in den eisernen Klammern bewegen, drang durch die stille Nacht. Ich spähte unter den Weidenzweigen hervor und richtig, da war’s ein Boot, das übers Wasser herüberkam. Wie viele drin waren, konnte ich noch nicht sagen. Es kam näher und näher, und bald erkannte ich, daß nur ein einziger Mann drin saß. Denk‘ ich, holla, das ist doch am End‘ der Alte, obgleich ich ihn diese Nacht nicht erwartete. Der Kahn wurde mit der Strömung unterhalb von mir angetrieben und ruderte dann im seichten Wasser dicht am Ufer herauf, so dicht, daß ich ihn mit ausgestrecktem Gewehr hätte berühren können. Und richtig – da saß der Alte, und zwar nüchtern, was ich sofort an der Art, wie er die Ruder führte, erkannte.

Jetzt galt’s, keine Zeit zu verlieren. Im nächsten Augenblick trieb ich leise aber schnell den Strom hinunter, immer im Schatten des Ufers hin. So ruderte ich eine oder zwei Meilen weiter, dann ließ ich mein Boot mehr der Mitte des Flusses zutreiben, da ich wußte, daß das Fährhaus in der Nähe sein mußte, von dem mich die Leute bemerken und anrufen konnten. Ich war nun mitten im Treibholz drin, zündete mir eine Pfeife an, legte mich längelang in mein Boot und ließ mich von den Wellen treiben.

Da lag ich und rauchte, und starrte in den Himmel, an dem kein Wölkchen stand. Daß der so bodenlos tief aussehen kann, wenn man so im Mondschein auf dem Rücken liegt und immerzu hineinstarrt, hatte ich gar nicht gewußt. Aber so war’s! Und wie weit man in solcher Nacht auf dem Wasser hören kann! Ich hörte die Leute an der Fähre sprechen und konnte jedes Wort verstehen, das sie sagten. Der eine meinte, die Tage würden nun immer länger und die Nächte kürzer. Drauf sagte ein andrer, die heutige sei aber keine von den kurzen, worauf alle lachten; er wiederholte den Ausspruch, den er wohl für einen guten Witz hielt, und die andern lachten wieder. Dann sagte einer, es sei schon drei Uhr, hoffentlich bliebe der Morgen nun keine Woche mehr aus, was wieder viel Spaß erregte, und dann trieb mein Boot weiter und weiter, und die Stimmen wurden allmählich undeutlich, so daß ich nur noch den Ton hören, aber die Worte nicht mehr verstehen konnte; das Lachen hörte ich noch länger, aber dann verklang auch das.

Nun war ich ziemlich weit unterhalb der Fähre. Ich erhob mich und erblickte vor mir die Jackson-Insel, die sich – mit dichtem Wald bestanden – von fern groß und dunkel und massig, wie ein Dampfschiff ohne Lichter, vom Wasser abhob. Die Sandbank vorn konnte man nicht sehen; das Wasser stand zu hoch im Augenblick.

Bald war ich dort. Erst trieb mich die starke Strömung an der Spitze vorbei, dann kam ich in stilles Wasser und landete am Ufer gegen Illinois zu. Ich versteckte mein Boot in einer kleinen Bucht, die ich kannte, in dichtem Weidengebüsch, so daß es kein Mensch von außen entdecken konnte. Hurra, nun war ich sicher!

Dann kroch ich am Ufer hinauf, setzte mich auf einen Baumstamm und sah auf den mächtigen Strom hinaus, auf dem das viele Treibholz so schwarz und so still dahinglitt. Weit, weit da drüben lag die Stadt, drei oder vier Lichter glitzerten wie Sterne von dorther. Jetzt kam ein mächtiges Holzfloß mit einer Laterne daher. Ich beobachtete es, wie es so langsam näher schwamm. Ein Mann stand drauf, und ich hörte ihn sagen: »Achtung, Jungens da vorn, he, Steuerbord!« Es war, als ob er neben mir stünde, und er war doch weit da draußen mitten auf dem Strom.

Am Himmel zeigte sich jetzt ein Streifchen Grau, und ich zog mich in den Wald zurück, um mich noch ein wenig aufs Ohr zu legen vorm Frühstück.

32. Kapitel

Der Doktor – Onkel Silas – Schwester Hotchkiß – Tante Sally in Nöten

32. Kapitel

Der Doktor war ein freundlicher, gutmütig aussehender, alter Mann, den ich natürlich erst aus seinem besten Schlaf wecken mußte. Ich erzählte ihm, wie ich und mein Bruder gestern zusammen ausgezogen waren zum Jagen nach Spanish Island und wie wir dort die Nacht auf einem gefundenen Stück Floß kampierten und daß mein Bruder wahrscheinlich um Mitternacht einen bösen Traum gehabt haben müsse, denn sein Gewehr sei losgegangen und habe ihn ins Bein geschossen und er möge doch mitkommen und nachsehen, was sich tun ließe, aber ja nichts verraten, denn wir wollten am Abend wieder heim und unsere Leute überraschen.

»Wer sind denn eure Leute?«

»Ei, die Phelps‘ drunten auf der Mühle.«

»So, so«, macht er, und nach einer Minute fragt er: »Wie hast du gesagt, daß er den Schuß kriegte?«

»Er hat geträumt, und da ging das Gewehr los.«

»Sonderbarer Traum!« brummt er.

Dann zündete er sich eine Laterne an, nahm seinen Messerbeutel, und wir machten uns auf den Weg. Als er aber das Boot sah, traute er ihm nicht recht und sagte, das sei wohl genügend für einen, aber nicht für zwei.

Platz‘ ich los: »Ach, Sie brauchen keine Angst zu haben, wir sind da drin zu dritt gefahren und ganz bequem.«

»Zu dritt? Wer war denn der dritte?«

»Ei, ich und Sid und – und – und die Gewehre; hab‘ mich eben versprochen.«

»Ah, so?« war alles, was er sagte.

Er setzte seinen Fuß auf die Bank und wiegte das Boot hin und her und probierte, wie fest es sei, und meinte dann, er wolle sich doch lieber nach einem größeren umsehen. Die waren aber alle angekettet, und so stieg er allein ins Boot und meinte, ich könne ja warten, bis er wiederkäme, oder am Ufer nebenher laufen; das beste sei, ich würde heimgehen und meine Leute auf die Nachricht vorbereiten. Das aber wollte ich nicht und sagt’s ihm auch und sagt‘ ihm dann noch, wie er das Floß finden könne, und er stieß ab.

Mir ging ein Licht auf. Sag‘ ich zu mir selbst: Wenn der nun mit dem Bein doch nicht so im Handumdrehen fertig wird? Wenn er am Ende drei oder vier Tage braucht, was dann? – Dort bleiben und warten, bis er die Katze aus dem Sack läßt? Nein, Herr Doktor, ich weiß, was ich zu tun habe, Sie sollen’s schon erfahren! Ich bleib‘ hier und warte, bis er zurückkommt, und wenn er dann sagt, er müsse bald wieder nachsehen, dann paß‘ ich auf und gehe mit, und wenn ich schwimmen muß; dann nehmen wir ihn fest, binden ihn, treiben den Fluß hinunter und geben ihn erst frei, wenn er mit Tom fertig ist. Wir belohnen ihn dann königlich, das heißt, wir geben ihm, was wir haben, und rudern ihn dann ans Ufer. Man sieht, ich hatte doch ein wenig von Toms Unterricht profitiert und war stolz darauf!

Einstweilen kroch ich nun bei einem alten Holzhaufen unter und muß fest eingeschlafen sein, denn wie ich die Augen wieder aufmache, ist’s heller Tag, und die Sonne brennt mir auf den Schädel. Vom Doktor war weit und breit nichts zu sehen. So renn‘ ich denn zu seinem Haus und höre, daß er in der Nacht gerufen worden und seitdem nicht wieder heimgekommen sei. Armer Tom, denk‘ ich, da sieht’s bös aus, und setz‘ mich wieder in Trab, und wie ich um die nächste Ecke biege, renn‘ ich mit dem Kopf beinah auf Onkel Silas‘ Magen.

Er ruft: »Junge, Tom, wo habt ihr denn gesteckt all die Zeit, Bengel, he?«

»Ich – ich hab‘ gar nicht gesteckt«, stotter‘ ich, »Sid und ich sind nur immer hinter dem durchgebrannten Nigger hergewesen.«

»Ja, aber wo denn in aller Welt, wo habt ihr ihn denn gesucht? Eure Tante ist in schöner Angst und Aufregung euretwegen!«

»Das braucht sie gar nicht zu sein«, sag‘ ich, »uns ist nichts passiert. Wir liefen hinter den Männern und den Hunden drein, konnten aber nicht Schritt halten und verloren sie. Dann dachten wir, wir hörten sie auf dem Wasser, nahmen das Boot und setzten hinter ihnen her, ruderten hierhin und dorthin, konnten sie aber gar nicht finden. Wir aber immer weiter am Ufer hin, bis wir müde und schläfrig waren, und dann legten wir an, banden das Boot fest und legten uns selbst aufs Ohr und wachten erst vor einer Stunde wieder auf. Da dachten wir, wir wollten zur Stadt rudern, um zu hören, wie’s gegangen sei, und nun ist Sid zur Post, um zu sehen, ob er nichts erfahren könne, und ich wollte eben sehen, ob sich was zu essen auftreiben ließe, und dann wären wir heimgekommen.«

Wir gingen also zur Post, um nach Sid zu sehen, aber der war natürlich nicht dort. Der Alte bekam einen Brief eingehändigt, und wir warteten noch eine gute Weile, aber Sid wollte immer noch nicht kommen. Da wurde der Alte endlich ungeduldig und meinte, seinetwegen könne der nun heimfliegen oder schwimmen, oder war er wolle, ihm sei’s einerlei, wir führen – und zwar gleich. Mich zurücklassen, damit ich auf Sid warten könnte, wollte er auch nicht, er meinte, das habe doch weiter keinen Zweck, der werde sich schon heimfinden; ich müsse mit, damit Tante sehe, daß wir heil und ganz seien.

Als wir heimkamen, war Tante Sally über die Maßen froh, mich zu sehen. Sie lachte und weinte in einem Atem und umarmte mich und klapste mich ein paarmal in ihrer gewohnten Weise, was aber mehr gestreichelt war, und sagte, wenn Sid heimkomme, kriege der auch seinen Teil.

Das ganze Haus war voller Farmer und Farmersfrauen, die alle zum Mittagessen bleiben wollten, und es war ein Gezeter und Geschnatter, daß man sein eignes Wort kaum hörte. Die alte Mrs. Hotchkiß war die ärgste, der stand die Zunge keine Sekunde still – das lief nur so.

»Na, Schwester Phelps«, sagt sie, »ich bin vorhin drin in der Hütte gewesen, und ich glaub‘, der Kerl, der Nigger, war einfach verrückt. Sagt’s ja gleich der Schwester Damrell: Schwester Damrell, sag‘ ich, der Kerl war verrückt, verrückt war er, sag‘ ich – das sind meine eignen Worte. Ihr habt’s ja alle gehört, nicht? Er war verrückt, sagt‘ ich, das kann ein Wickelkind sehen, sagt‘ ich. Und, ich sag‘, seht doch nur den Mühlstein an! Ein gesunder Mensch mit fünf Sinnen kann unmöglich so tolles Zeug auf einen Mühlstein kratzen, he, was meint ihr? – Hier brach irgendeiner sein Herz, und da elendete sich der und der durch siebenunddreißig Jahre hindurch, und dann den Unsinn über den natürlichen Sohn von irgendeinem Ludwig und all das tolle Zeug. Der war rein verrückt, das hab‘ ich gleich anfangs gesagt und sag’s nun noch einmal und bleib‘ dabei bis an mein seliges Ende. Nein, so ein Kerl! Der war verrückt, so verrückt wie der heilige Nebokatzneser seinerzeit, und das sag‘ ich und damit basta!«

»Und die Strickleiter aus Lumpen, habt ihr die gesehen?« fragte die alte Mrs. Damrell, »was in aller Welt hat er mit der…«

»Grad‘, was ich gesagt habe vorhin zur Schwester Utterback, es sind noch keine drei Minuten her, das wird sie euch bestätigen. Sie sagte: Seht doch nur die Strickleiter, sagt sie. Ja, sag‘ ich, seht doch, was kann er damit tun haben wollen? Sag‘ ich. Sagt sie: Schwester Hotchkiß, sagt sie…«

»Aber wie in aller Welt haben sie den Mühlstein hineingekriegt, und wer hat das Loch gegraben und…«

»Meine eignen Worte, Bruder Penrod, meine eignen Worte! – Darf ich um die Saucenschüssel bitten? – Dasselbe sagt‘ ich grad‘ zu Schwester Dunlap – grad‘ vor einer Minute. Schwester Dunlap, sag‘ ich, wie haben die Kerle den Mühlstein hineingebracht, sagt‘ ich, und ohne Hilfe, sag‘ ich, ohne Hilfe! Da liegt der Hase im Pfeffer! Ich laß mir so was nicht weismachen, sag‘ ich, da war, Hilfe, sag‘ ich, und viel Hilfe. Dem Kerl haben mehr als ein Dutzend geholfen, da wett‘ ich meinen Kopf – und ich für mein Teil, ich würde jeden Nigger hier am Platz lebendig rösten, bis er gesteht, wer geholfen hat. Ich wollt’s schon herauskriegen. Ich, das sag‘ ich, und dabei bleib‘ ich und…«

»Ein Dutzend, meint ihr, habe geholfen? Ei, vierzig konnten kaum mit dem fertig werden, was getan worden ist. Seht nur einmal die Sägen aus Taschenmessern an und all das Zeug, was da für Zeit dazu gehört, um das fertigzukriegen, und damit haben sie den Bettpfosten durchsägt, und dann die Strohpuppe auf dem Bett und…«

»Das ist jetzt leicht sagen, Bruder Hightower, das hab‘ ich grad‘ vorhin dem Bruder Phelps selbst gesagt. Er fragte mich: ›wie denkt ihr denn drüber, Schwester Hotchkiß?‹ Über was, Bruder Phelps, sag‘ ich, über was? ›Über den Bettpfosten, wie der abgesägt ist‹, sagt er. Drüber denken? sag‘ ich, drüber denken? Ei, von selbst hat sich der nicht abgesägt, sag‘ ich, da wett‘ ich meinen Kopf, sag‘ ich. Den hat jemand abgesägt, sag‘ ich und dabei bleib‘ ich. Das ist meine Meinung, sag‘ ich, sie mag nicht viel wert sein, sag‘ ich, aber ’s ist nun einmal meine Meinung, sag‘ ich, und wenn’s jemand besser weiß, sag‘ ich, der soll’s nur sagen, sag‘ ich, und so ist’s und dabei bleib ich. Und, sag‘ ich zu Schwester Dunlap, Schwester Dunlap, sag‘ ich…«

»Meiner Seel‘, das muß ja eine ganze Schar Nigger gewesen sein, die in der Hütte Nacht für Nacht ihr Wesen getrieben haben, um all das fertig zu kriegen, Schwester Phelps. Seht nur einmal das Hemd an: jeder Zoll davon mit geheimnisvoller afrikanischer Blutschrift bedeckt. Eine ganze Schar, sag‘ ich, muß dahinter hergewesen sein all die Wochen! Ich gäb‘ wahrhaftig zwei Dollar, wenn mir einer das Zeug erklären könnte, und die Kerle, die’s geschrieben haben, würd‘ ich peitschen, bis…«

»Eine ganze Schar zum Helfen, Bruder Marples, sagt ihr? Ja, das will ich meinen! Ich wollt‘ nur, ihr wäret in dem Unglückshaus gewesen und hättet die letzten Wochen miterlebt. Die Kerls haben gestohlen, was ihnen unter die Finger kam. Und wir immer hinter allem her, und trotzdem stahlen sie weiter! Sie haben das Hemd unter meiner Nase von der Wäscheleine weggenommen und auch das Leintuch, aus dem sie die Leiter gemacht haben – ich weiß gar nicht, wie oft sie Leintücher von der Wäscheleine gekrippst haben! Und Mehl und Kerzen und Leuchter und Löffel und die alte Pfanne und tausend Dinge, auf die ich mich jetzt nicht besinnen kann, und mein neues Kattunkleid, und dabei waren ich und Silas und mein Tom und Sid immer dahinter her, Tag und Nacht, wie ich schon gesagt habe, und keiner von uns konnte auch nur ein Haar von ihnen entdecken. Und jetzt, zu guter Letzt, führen die Kerle nicht nur uns an, sondern noch dazu die Räuberbande vom Indianer-Territorium, und kriegen wahrhaftig den Neger weg mit heiler Haut, trotz der sechzehn Mann und zweiundzwanzig Hunde, die ihnen auf den Fersen sind. Da mach‘ sich einer einen Vers drauf! Ei, Geister hätten’s nicht besser besorgen können, nicht flinker und gewichster. Und ich glaub‘ wahrhaftig, es müssen Geister gewesen sein, denn nehmt nur einmal unsere Hunde an; ihr kennt sie alle, beßre gibt’s gar nicht. Und hat auch nur einer von ihnen die leiseste Spur von den Kerlen entdeckt, he? Das erklär mir einer, wenn er kann! He?«

»Ja, das übersteigt denn doch…«

»Hat man je so was gehört, so…«

»Herr du mein Gott, ich…« »Hausdiebe, sowohl als …«

»Herr, du meine Güte, ich hätt‘ mich zu Tode gefürchtet, wenn ich in dem Hause …«

»Zu Tode gefürchtet? Ei, ich bin auch beinah gestorben vor Angst! Ich hab‘ kaum gewagt, ins Bett zu gehen oder aufzubleiben, zu liegen oder zu stehen, Schwester Ridgeway, ihr könnt mir’s glauben. Ei, die waren imstande, mir das Tuch unterm… Na, ihr könnt euch denken, in welcher Aufregung ich war, als gestern Mitternacht herankam. Ich war so weit, daß ich jeden Augenblick dachte, mein bißchen Verstand müsse auch noch mit draufgehen. Ich glaubte wahrhaftig, sie würden zum Schluß noch anfangen, die Kinder zu stehlen. Jetzt bei Tag hört sich’s freilich, komisch an, aber, sag‘ ich zu mir selbst, da sind meine zwei armen, unschuldigen Jungen da oben und schlafen und wissen nichts in dem einsamen, dunklen Zimmer, und wahrhaftig, ich wurde bei dem Gedanken so unruhig, daß ich hinaufkroch und die Tür verschloß. Wahrhaftig, das tat ich! Und das hätte jeder an meiner Stelle auch getan. Denn, wißt ihr, wenn man erst einmal anfängt sich zu fürchten und es geht weiter und wird schlimmer und schlimmer und man verliert den Kopf und kriegt das Zittern und weiß kaum mehr, was man tut, da befürchtet man jeden Augenblick etwas Schreckliches. Ich dachte, wenn du so ein armer Junge wärst und schliefst da oben allein, und das Zimmer wäre nicht verschlossen und man…« Da hielt sie auf einmal ein, und ihr Auge nahm einen starren, verwunderten Ausdruck an, als wolle sie sich auf etwas besinnen, und sie wandte mir langsam den Kopf zu, und ihr Blick streifte mich, und ich dachte, es sei gesünder für mich, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, ehe sie zu Worte kam.

Sag‘ ich zu mir selber: Huck du wirst’s besser erklären können, wie’s kam, daß ihr am Morgen trotz verschlossener Tür nicht im Zimmer wart, wenn du jetzt ein bißchen hinausgehst und darüber nachdenkst. Und das tat ich denn auch. Weit weg aber wagte ich mich nicht, aus Furcht, sie könne nach mir schicken und dann erst recht ein Verhör anstellen. Gegen Abend gingen allmählich die fremden Leute weg, und ich erzählte ihr, wie Sid und ich in der Nacht vom Lärm und vom Schießen aufgewacht seien, und daß wir hätten sehen wollen, was es gebe, und da wir die Tür verschlossen gefunden, am Blitzableiter hinuntergerutscht seien, wobei wir uns beide ein wenig weh getan und deshalb geschworen haben, es nie wieder zu probieren. Und dann erzählte ich ihr alles, wie ich’s Onkel Silas zuvor erzählt hatte, und sie sagte, sie wolle uns verzeihen, es sei wohl natürlich bei solchen wilden Bengeln wie wir zwei, und sie danke Gott, daß uns weiter nichts passiert sei und wolle nun nicht länger nachdenken über das, was daraus hätte werden können, und sie klopfte mir auf den Kopf und versank in Nachsinnen. Mit einemmal springt sie auf und ruft: »Tom«, ruft sie, »wo ist Sid? Beinah‘ ist’s Nacht und noch kein Sid da! Herr, du mein Gott, was ist aus dem Jungen geworden?«

Das scheint mir eine willkommene Gelegenheit, und ich springe auf und rufe: »Ich lauf nach der Stadt, ich will ihn schon finden!«

Aber da kam ich gut an.

»Du bleibst«, sagt sie mit Nachdruck und packt mich am Arm, »einer ist gerade genug! Wenn er bis zum Abendessen nicht da ist, geht dein Onkel und sieht zu, daß er ihn findet, und damit basta!«

Beim Abendessen war er dann auch noch nicht da, und so ging also Onkel gleich nachher auf die Suche.

Gegen zehn kam er wieder, etwas ärgerlich, etwas unruhig, er hatte von Sid nirgends eine Spur finden können. Tante Sally war nicht nur etwas, sondern sehr unruhig, Onkel Silas aber meinte, dazu sei kein Grund vorhanden – Jungen seien eben Jungen, und am Morgen werde sich der Ausreißer wohl von selbst wieder einstellen, heil und durstig und hungrig. Sie mußte sich damit zufriedengeben, wohl oder übel, aber sie sagte, aufbleiben wolle sie doch und auf ihn warten und Licht brennen, damit er das Haus finden könne.

Als ich zu Bett ging, kam sie mit mir auf mein Zimmer, nahm ihr Licht mit und deckte mich warm zu und war so gut und so wie eine Mutter mit mir, daß ich mir ganz elend und schlecht vorkam und ihr kaum in die guten, freundlichen Augen sehen konnte. Und sie setzte sich auf den Bettrand zu mit und schwatzte lange, lange und sagte, was für ein prächtiger Bursche Sid sei, und schien kaum fertig werden zu können, ihn zu loben, und dazwischen fragte sie immer wieder, ob ich dächte, daß er verlorengegangen oder sonstwie zu Schaden gekommen sein könne, oder daß er gar beinahe ertrunken sei und am Ende eben jetzt irgendwo liege, krank und elend, und sie sei nicht bei ihm, um ihm zu helfen und ihn zu trösten. Dabei stürzten ihr die hellen Tränen aus den Augen und rannen leise über die Wangen, und ich versicherte ihr, Sid sei gewiß wohl und munter und werde sich am Morgen unfehlbar einstellen, darauf drückte sie meine Hand und küßte mich und bat mich, es noch einmal zu sagen und noch einmal, denn es täte ihr wohl, sie sei in solcher Angst um ihn. Als sie dann wegging, sah sie mir in die Augen, so fest und doch dabei so gut und freundlich, und sagte: »Ich werde die Türe nicht schließen, Tom, und dort ist das Fenster und der Blitzableiter, aber, nicht wahr, du wirst brav sein? Wirst du? Und wirst nicht durchbrennen, Tom, um meinetwillen!«

Das fiel mir aufs Herz, wo Tom ohnehin schon schwer drauflag, und aus dem Schlafen wurde nicht viel. Ich warf mich ruhelos hin und her. Zweimal rutschte ich am Blitzableiter hinab und schlich mich ums Haus herum auf die Vorderseite und sah die gute Frau dort am Fenster sitzen bei ihrem einsamen Licht, und die Augen, die auf den Weg hinausstarrten, waren dick voll Tränen, und ich wünschte, ich wäre imstande gewesen, etwas für sie zu tun, aber ich wußte nicht, was. Das einzige war, daß ich mir selbst schwur, nie wieder etwas zu tun, was ihr Kummer machen würde. Dann, als ich zum drittenmal aufwachte, dämmerte schon der Tag, und ich glitt noch einmal hinunter auf meinem gewöhnlichen Weg, und richtig, da saß sie noch, und das Licht war ausgebrannt, während der müde, graue Kopf auf den Tisch gesunken und die alte Frau endlich eingeschlummert war.

33. Kapitel

Tom Sawyer verwundet – Die Erzählung des Doktors – Jim profitiert etwas – Tom beichtet – Tante Polly kommt – »Briefe heraus!«

33. Kapitel

Doch vor dem Frühstück war Onkel Silas wieder in der Stadt gewesen, hatte aber natürlich wieder keine Spur von Tom entdecken können, und nun saßen die beiden am Tisch, ganz stumm und betrübt, sie schienen tief in Gedanken versunken zu sein, und keines sagte ein Wort, und der Kaffee wurde kalt, und essen konnten sie auch nichts.

Sagt da plötzlich der Alte: »Hab‘ ich dir den Brief gegeben, Sally?«

»Welchen Brief?«

»Den, den ich gestern auf der Post bekommen habe.«

»Nein, einen Brief hast du mir nicht gegeben!«

»Na, dann muß ich’s vergessen haben!«

Er kramte in allen Taschen, stand auf und holte den Brief irgendwo her, wo er ihn hingelegt hatte, und gab ihn ihr.

Sagt sie: »Ach, der ist ja von Petersburg, Das amerikanische Petersburg am Mississippi. der ist von der Schwester!«

Ich denk‘, nun wird dir wieder einmal ein kleiner Spaziergang guttun, konnte mich aber nicht vom Fleck rühren, so war mir der Schreck in alle Glieder gefahren. Ehe sie den Brief aber ganz geöffnet hatte, ließ sie ihn fallen und rannte der Türe zu – sie hatte durchs Fenster etwas gesehen. Ich aber auch. Dort wurde Tom Sawyer auf einer Matratze dahergeschleppt, und dahinter kamen der Doktor und dann Jim in ihrem Kattunkleid, mit den Händen auf den Rücken gebunden, und sonst noch eine Masse Leute. Ich stürzte erst auf den Brief los und warf ihn hinter ein Möbelstück. Tante Sally rannte indessen auf die Matratze los, stürzte sich über Tom und schrie und jammerte: »Ach Gott, er ist tot, er ist tot; gewiß ist er tot!«

Tom drehte jetzt den Kopf und murmelte etwas Unzusammenhängendes; man sah, er hatte Fieber, und da schlug sie die Hände überm Kopf zusammen und jubelte: »Er lebt, Gott sei Dank, er lebt! Weiter brauch‘ ich nichts zu wissen!« Und sie küßte Tom ganz flüchtig und rannte dann ins Haus zurück, um sein Bett zurechtzumachen; bei jedem Schritt, den sie vorwärts stürzte, flogen ihr die Befehle nur so nach rechts und links von den Lippen, und Nigger und Dienstleute und alles rannte hinter ihr drein wie die wilde Jagd.

Ich schlich hinter den Männern her, um zu sehen, was sie mit Jim anfangen würden, und der Doktor und Onkel Silas folgten Tom ins Haus. Die Männer schienen sehr aufgebracht, und einige sprachen sogar davon, Jim zu töten, ihn baumeln zu lassen, all den anderen Niggern zum warnenden Exempel, damit die sich’s nie einfallen ließen durchzubrennen, wie’s Jim getan, und dabei alles so durcheinanderzubringen und eine ganz ehrbare Familie wochenlang in Angst und Aufregung zu versetzen. Andere rieten davon ab und sagten: »Tut’s ja nicht, es ist ja nicht unser Nigger, und wenn sein Herr einmal auftaucht, der läßt ihn sich teuer bezahlen.« Das kühlte die Hitzköpfe ein wenig ab, denn die, die am schnellsten dabei sind, einen Nigger zu henken, wollen am wenigsten davon wissen, dafür bezahlen zu müssen, wenn einmal die Hitze verflogen ist.

Aber fluchen taten sie auf Jim, und immer ab und zu bekam er einen ordentlichen Puff an den Schädel oder einen Tritt oder sonst irgendeine liebenswürdige Aufmerksamkeit. Der aber sagte kein Wort, tat auch gar nicht, als ob er mich kennte, und sie schleppten ihn in seine alte Hütte, zogen ihm seine eigenen Kleider wieder an, brachten die Ketten und fesselten ihn, diesmal nicht an den Bettpfosten, sondern an einen schweren Block, der in den Boden der Hütte eingetrieben wurde, und banden seine Hände und beide Beine und sagten, er solle von jetzt an nichts bekommen als Brot und Wasser, bis sein Herr käme oder er versteigert werden würde, wenn der sich nicht zu rechter Zeit einstelle, und füllten unser Loch auf und meinten, ein paar Männer müßten nun immer nachts bei der Hütte Wache stehen, und bei Tage müsse eine Bulldogge an der Türe angebunden werden.

Als sie endlich fertig geworden waren, nahmen sie mit ihren Fußspitzen der Reihe nach Abschied von Jim; auf einmal erscheint der alte Doktor und sagt: »Hört, Leute, behandelt den Kerl nicht schlechter als nötig ist, denn es ist kein schlimmer und kein böser Nigger. Als ich dort aufs Floß kam und den Jungen fand und sah, daß ich ohne Hilfe die Kugel nicht herausbringen würde, und doch keine Hilfe nah und fern zu entdecken war, und ich den Burschen auch nicht allein lassen konnte, um zu sehen, ob ich jemanden auftreiben könnte, denn er wurde schlimmer und schlimmer und fing schließlich an zu toben und wollte mich nicht heranlassen und sagte, wenn ich mit Kreide ein Zeichen ans Floß machte, dann würde er mich töten und dergleichen Unsinn mehr; als ich mir da gar nicht mehr zu helfen wußte und schließlich laut vor mich hinspreche: ›nun muß ich Hilfe haben, koste es, was es wolle‹, da, Leute, da, sag‘ ich euch – stand plötzlich der Nigger dort vor mir, wie aus dem Boden gezaubert, und er hat mir geholfen, ohne viel zu reden, und zwar wacker geholfen! Natürlich wußte ich gleich, daß er irgendwo durchgebrannt sein müsse. Da saß ich nun! Was blieb mir übrig, als ruhig auszuharren den ganzen Tag über und die Nacht dazu. Das war eine Klemme, sag‘ ich euch! In der Stadt warteten meine Patienten auf mich, was sollten die denken, und doch mußte ich bleiben, denn ich wagte nicht wegzugehen, aus Furcht, der Nigger könnte ausreißen und ich bekäme hinterher Vorwürfe. Ein Schiff, das ich hätte anrufen können, wollte auch nicht in die Nähe kommen, und so ließ ich es denn bleiben und immer bleiben, bis zum Tagesanbruch, diesem Morgen. Nie aber habe ich einen Nigger gesehen, der treuer und besser gepflegt hätte als der dort, und doch setzte er dabei seine Freiheit aufs Spiel und schien so müde, so todmüde; er muß furchtbar abgearbeitet worden sein in den letzten Wochen. 1 Er war mehr als tausend Dollar wert und eine gute Behandlung obendrein. Ich hatte dort alles, was ich brauchte, und der Junge auch, besser vielleicht als zu Hause, denn es war so ruhig und still, wie gemacht für einen Kranken. Aber der Boden brannte mir doch unter den Füßen bei meiner Verantwortung für die beiden, und wochenlang konnte ich nicht bleiben; na, da kamen uns dann endlich ein paar Männer in einem Boot nahe genug, um sie anzurufen. Zum Glück saß der Nigger gerade am Steuer, mit dem Kopf auf den Knien, und war fest, fest eingeschlafen. So winkte ich ihnen denn, leise zu sein, und sie fielen leise über ihn her und banden ihn, ehe er noch recht die Augen offen hatte, und so hatten wir gar keine Last mit ihm. Und da der Junge gleichfalls schlief, machten wir das Floß leise los, ruderten es dem Ufer zu und legten’s dort fest, ohne daß einer von den beiden sich nur rührte, der Nigger hatte sich nicht gemuckst, keinen Laut von sich gegeben von Anfang an. Das ist kein schlimmer Kerl, meine Herren, glauben Sie mir’s, ich hab’s erprobt!«

»Das lautet alles sehr gut und schön, Doktor, das muß ich sagen!« meinte einer.

Die andern schienen auch ein wenig besänftigt, und ich war dem alten Mann herzlich dankbar für die Wohltat, die er Jim mit der Erzählung erwiesen, und ich freute mich, daß ich den armen Kerl von Anfang an richtig beurteilt hatte; ich wußte, er hatte ein gutes, ein weißes Herz in seiner schwarzen Brust. Und Jim profitierte auch davon, denn alle stimmten überein, er habe sich gut benommen und brav, und verdiene, daß man ihn drum lobe und belohne. Jeder versprach aufrichtig und von Herzen, dem armen Kerl keine Püffe mehr zu geben.

Das war aber vorerst aber auch alles. Ich hatte gehofft, sie würden ihm eine oder zwei von seinen verdammt schweren Ketten abnehmen oder ihm Fleisch und Gemüse zu seinem Brot und Wasser erlauben; daran aber schienen sie nicht zu denken, und ich wollte mich lieber nicht dreinmischen, nahm mir aber fest vor, Tante Sally bei nächster Gelegenheit von des Doktors Erzählung zu sagen. Bei nächster Gelegenheit, das heißt, wenn ich erst die bösen Klippen umschifft hätte, die in meinem Wege lagen. Mit den Klippen meine ich nämlich die Aufklärungen, die ich Tante Sally zu geben haben würde über Toms Wunde.

Zeit zum Besinnen hierüber hatte ich genug, Tante wich nicht vom Krankenbett, nicht bei Tag und nicht bei Nacht, und ich hielt mich in sicherer Entfernung, und sooft ich Onkel Silas irgendwo auftauchen sah, wich ich ihm schleunigst aus.

Am andern Morgen hörte ich, Tom gehe es viel besser und Tante habe sich ein wenig hingelegt. Ich schlüpf‘ also in das Krankenzimmer und hoffte, ihn wach zu treffen und mit ihm etwas zu ersinnen, das alle kommenden Kreuz- und Querfragen aushielt. Er aber schlief, und zwar ganz friedlich; sein Gesicht war blaß, nicht mehr so glutrot wie am Tag zuvor, als er ankam. So setzte ich mich also hin und wollte warten, bis er wach würde. Nach vielleicht einer Viertelstunde glitt Tante Sally plötzlich leise wie ein Geist herein, und da saß ich wieder fest! Sie winkte mir, still zu sein, und setzte sich zu mir und begann zu flüstern und sagte, wie dankbar wir alle sein könnten, Sid gehe es so viel besser und er schlafe nun schon lange so ruhig und so friedlich und sehe dabei immer besser und immer wohler aus und es sei zehn gegen eins zu wetten, daß er bei Besinnung wäre, wenn er nun erwache.

Da saßen wir denn und warteten. Auf einmal schlug er die Augen auf und sah ganz klar und frei um sich und sagte: »Herrje, wie ist denn das, ich bin ja zu Hause? Wo ist denn das Floß?«

»Das ist alles in Ordnung«, sag‘ ich.

»Und Jim?« fragt er.

»Der auch«, sag‘ ich; aber ganz so keck, wie ich beabsichtigt hatte, kam’s doch nicht heraus.

Er merkte das aber gar nicht, sondern rief ganz vergnügt: »Na, dann ist alles gut, herrlich! Da ist uns ja allen geholfen! Hast du’s der Tante schon erzählt?«

Eben wollte ich auch dazu ›ja‹ sagen, als die sich selbst ins Mittel legte: »Erzählt, Sid – was?«

»Na, alles, Tantchen, wie wir die ganze Geschichte fertig gekriegt haben.«

»Welche Geschichte?«

»Na, die Geschichte, wie wir den Nigger befreit haben; ich und – Tom!«

»Herr des Himmels! Den Nigger befr… Was schwatzt der Junge da? Großer Gott, er phantasiert wieder!«

»O nein, ich phantasiere gar nicht, ich weiß recht gut, was ich sage Tante. Wir haben ihn befreit – ich und Tom. Das wollten wir tun von Anfang an und wir haben’s getan! Und haben’s gut gemacht, elegant gemacht, das muß jeder zugeben!« Und damit war er ins richtige Fahrwasser geraten, und sie probierte nicht mehr, ihn zu unterbrechen, sondern ließ ihn schwatzen und schwatzen. Sie saß da und starrte ihn nur an, und Mund und Augen wurden bei ihr immer größer, und ich ließ dem Unglück seinen Lauf, denn hier war nichts mehr zu machen. »Ja, Tantchen, das war eine Arbeit, da gab’s zu tun, Nacht für Nacht, Stunde um Stunde, alle die Wochen, während ihr ruhig im Bett lagt und schlieft. Und wir mußten die Kerzen stehlen, siehst du, und die Leuchter und das Leintuch und das Hemd und dein Kleid und Löffel und Zinnteller und Messer und die Pfanne, den Mühlstein und Mehl und sonst noch eine ganze Menge; du kannst dir gar nicht denken, was wir für Plage hatten mit den Sägen und den Federn und den Inschriften und all dem und noch viel weniger, was wir für einen Spaß dabei hatten. Und dann waren die onnaniemen Briefe zu schreiben und die Särge und Totenköpfe zu malen und das Loch in der Hütte zu graben und die Strickleiter zu machen und in die Pastete zu backen, und dann die Löffel, die wir in deine Schürzentasche steckten, und noch vieles andere mehr.«

»Allmächtiger!«

»… und die Ratten für die Hütte und die Schlangen und all das Zeug herbeizuschaffen für Jim zur Gesellschaft! Und dann hast du den Tom mit der Butter erwischt und ihn so lang aufgehalten, daß beinahe die ganze Geschichte verunglückt wäre, denn die Männer kamen, noch ehe wir weg waren, und wir mußten rennen, und sie hörten uns und schossen, und ich kriegte mein Teil ab, und wir ließen sie dann an uns vorbei, und die Hunde wollten auch nichts weiter von uns wissen, sondern liefen dem Geschrei nach, und wir schlichen zum Boot und ruderten zum Floß, das wir zwischendurch gemacht hatten, und waren dann in Sicherheit und Jim frei, und das haben wir alles allein fertig gebracht, und es war ein kapitaler Spaß, Tantchen!«

»Na, so was hab‘ ich in meinem Leben noch nicht gehört! Also ihr wart’s, ihr Bengel, ihr habt diese heillose Wirtschaft gemacht, ihr seid es gewesen, ihr habt uns alle beinahe um den Verstand gebracht und fast zu Tod erschreckt! Na, da sollt aber doch! Ich hätte gute Lust, es euch einmal gleich tüchtig zu zeigen, was ich davon denke! Ich, die ich Abend für Abend – na, werd‘ du nur erst einmal wieder gesund, du Racker, dann will ich euch das Leder so gerben und euch den Teufel austreiben, daß euch Hören und Sehen vergeht und ihr den Himmel für eine Baßgeige anseht, ihr, ihr –«

Aber Tom war so stolz auf seine Heldentaten und so glücklich, daß er nicht schweigen konnte, und er jubilierte und prahlte weiter, während sie dabei Feuer und Flamme spie. Während so eins das andre immer zu überbieten suchte, saß ich da und hörte das Ding mit an. Plötzlich sagt sie: »Na, freu dich jetzt noch drüber, so lang du kannst, Schlingel, aber das sag‘ ich dir, erwisch‘ ich euch nachher wieder drüben bei dem Kerl…«

»Bei welchem Kerl?« fragt Tom und sein Lächeln verschwindet.

»Bei welchem Kerl? – Fragt der Bursche auch noch! Bei dem Nigger natürlich! Bei wem denn sonst?«

Tom sieht mich sehr ernst an und fragt: »Tom, hast du mir nicht eben gesagt, es sei alles in Ordnung? Ist er denn nicht frei?«

»Der?« sagt Tante Sally, »der Nigger? Den haben sie glücklich wieder hinter Schloß und Riegel in seiner Hütte bei Brot und Wasser, und man hat ihn angekettet, bis er reklamiert oder verkauft wird!«

Tom fährt im Bett in die Höhe, kerzengerade, seine Augen sprühen und seine Nasenflügel beben nur so hin und her, und er schreit mich an: »Dazu haben sie kein Recht! Dazu hat niemand das Recht, hörst du, niemand! Eil dich – renn – verlier‘ keine Sekunde! Laß ihn frei! Er ist kein Sklave, er ist so frei wie irgendeiner von uns! Geschwind – vorwärts!«

»Was in aller Welt meint der Junge?«

»Ich meine jedes Wort grad‘ so, wie ich’s sage, Tante, und wenn nicht gleich eins von euch geht, geh‘ ich selber. Ich hab‘ den armen Kerl mein ganzes Leben lang gekannt und ebenso Tom – gelt, Tom! Miss Watson, seine Herrin, ist vor zwei Monaten gestorben; es tat ihr so leid, daß sie ihn früher einmal hatte verkaufen wollen. Um das wieder gutzumachen, setzte sie ihn frei – in ihrem Testament!«

»Na, aber dann – das begreif einer! Warum hast du ihn denn befreien wollen, wenn er doch schon frei war?«

»Das ist wieder einmal eine Frage, so recht wie von einem Frauenzimmer, das muß ich sagen. Warum? Ei, ich wollte ein Abenteuer haben, so ein echtes, gerechtes Abenteuer! Was? Ich wäre fußtief im Blut gewatet, wenn – Herr des Himmels, Tante Polly!!«

Und da stand sie leibhaftig, mitten unter der Türe, und sah so strahlend und glücklich aus wie ein zuckriger Engel.

Tante Sally war mit einem Satz an ihrem Halse und riß ihr beinahe den Kopf ab vor lauter Liebe und Umarmen und lachte und weinte und wußte nicht, was sie tun sollte. Inzwischen hatte ich mir ein sicheres Plätzchen unter dem Bett ausgesucht, denn die Dinge schienen mir allmählich kritisch für uns beide zu werden.

Ich schielte unter dem Bett vor.

Nach einer kleinen Weile schüttelte Toms Tante ihre Schwester ab, stellte sich vor Tom hin und schaute ihn über ihre Brille hinweg an, als wolle sie ihn durchbohren.

Endlich beginnt sie: »Ja, du hast recht, wenn du den Kopf zur Wand drehst, Tom, ich tät’s auch an deiner Stelle!«

»Ach, du lieber Himmel«, fällt Tante Sally kläglich ein, »ist der Junge denn so verändert? Das ist ja Tom gar nicht, das ist Sid! Tom ist, Tom ist – ja, wo ist denn Tom? Der war ja eben noch da!«

»Du meinst wohl, wo ist Huck Finn? Das meinst du! Ich hab‘ nicht umsonst jahrelang so ’nen Bengel, wie meinen Tom, großgezogen, um nicht zu wissen, daß das Tom ist. Das war‘ mir noch schöner! Nur hervor unter dem Bett da, Huck Finn!«

Ich kroch vor, aber wohl war mir nicht dabei.

Tante Sally sah so verwirrt und so verständnislos und wie geistesgestört drein, wie ich nie wieder jemand gesehen habe, ausgenommen Onkel Silas, als sie ihm später die Geschichte erzählte. Es machte ihn wie betrunken, denn er wußte den ganzen Tag über kein Ding vom andern zu unterscheiden und lief umher wie im Traum, und am Abend ließ er eine Predigt los, die ihm einen großen Ruf machte in der Gegend, denn der Älteste und Klügste wäre nicht imstande gewesen, sie zu verstehen. Toms Tante Polly aber erzählte nun alles, wer und was ich sei, und ich mußte dann beichten, wie ich in die Klemme geraten sei, daß ich mir nicht anders zu helfen gewußt hätte, als ›ja‹ zu sagen, als mich Mrs. Phelps als Tom Sawyer bewillkommnete. Hier unterbrach mich Mrs. Phelps und meinte: »Sag du nur immer Tante Sally, ich bin’s nun schon gewohnt, und es macht mir weiter nichts aus.« – Daß mich also, erzählte ich weiter, Tante Sally als Tom Sawyer begrüßte und ich mich nicht dagegen wehren konnte, denn ich fand keinen Ausweg und wußte auch, daß Tom selbst nichts dagegen haben würde, im Gegenteil, denn ein solches Geheimnis wäre ihm gerade recht, er würde sich nur drüber freuen und ein Abenteuer draus machen, wie’s ja auch dann geschehen sei, denn er ging gleich drauf ein und spielte sich als Sid auf und machte mir alles so leicht und bequem, wie er nur konnte.

Seine Tante Polly sagte, mit Miss Watson und ihrem Testament habe Tom ganz recht, die habe den Jim freigelassen. So war’s denn wahrhaftig wahr: Tom Sawyer hatte sich und uns allen die Mühe und Not gemacht, nur um einen alten Nigger freizumachen – der schon frei war! Und nun verstand ich auch erst, wie sich einer von Toms Erziehung dazu hergeben konnte, einem durchgebrannten Nigger weiterzuhelfen. Bis dahin war mir das immer unfaßlich geblieben.

Tante Polly erzählte dann weiter, als sie Tante Sallys Brief bekommen habe, worin es hieß, daß Tom und Sid angekommen seien, habe sie sofort Unrat gewittert und zu sich selbst gesagt: »Na, da sieh mal einer«, habe sie gesagt, »ich hätt’s mir denken können, als ich den Burschen alleine fortließ. Was bleibt mir nun übrig, als selbst hinter dem Bürschchen herzureisen, den ganzen weiten Weg, um herauszukriegen, was diesmal wieder los ist, denn aus dir, Sally, war ja gar nicht klug zu werden!«

»Was? – Ei, du hast mich ja nie darüber gefragt!«

»Na, so was! Zweimal hab‘ ich dir geschrieben und gefragt, was du mit dem Sid, der auch zu Besuch gekommen sein soll, eigentlich meinst.«

»Geschrieben? Zweimal? Ich hab‘ nie auch nur eine Zeile gekriegt!«

Ohne ein Wort zu sagen, wendet sich Tante Polly langsam zu Tom und schaut diesen fest an. – »Na, Tom!«

»W-was?« fragt der, unwillig und verdrießlich.

»Komm du mir nicht mit ›was?‹, du Racker, wart! Heraus die Briefe!« – »Welche Briefe?«

»Die Briefe! Wart, ich will dir …!«

»Sie sind im Koffer! Dort! Da und ganz unversehrt, grad‘ wie sie waren, als ich sie von der Post holte. Ich hab‘ nicht einmal hineingesehen. Dachte mir, sie hätten am Ende keine Eile und könnten hier nur Unheil stiften, und da hab‘ ich sie…«

»Na, wenn dir nicht eine tüchtige Tracht Prügel gehört, so weiß ich nicht, wem sonst. Dann hab‘ ich noch einmal geschrieben, um zu sagen, daß ich kommen wolle, und der Brief wird auch…«

»Mit dem ist alles in Ordnung«, sagt Tante Sally, »der ist gestern gekommen, den hab‘ ich!«

Gern hätt‘ ich nun zwei Dollar gewettet, daß dem nicht so sei, denn ich wußte das besser, aber ich dachte, es ist doch klüger, du hältst den Mund, und tat es auch!

  1. An dieser Stelle fehlen einige Worte im Buch. Sinngemäß ergänzt. Re.

34. Kapitel

Aus der Gefangenschaft befreit – Der Gefangene wird belohnt – Ganz ergebenst, Huck Finn!

34. Kapitel

Als ich Tom zum erstenmal wieder allein sprechen konnte, fragte ich ihn, was er sich damals eigentlich bei Jims Flucht gedacht habe, was er getan hätte, wenn alles geglückt wäre und er den Nigger befreit hätte, der schon vorher frei war. Er sagte mir, sein Plan sei von Anfang an gewesen, wenn wir Jim erst glücklich heraus hätten, mit ihm auf dem Floß stromabwärts zu fahren bis zur Mündung und alle Arten von Abenteuern dabei zu bestehen, ihm dann erst zu offenbaren, daß er frei sei, ihn im Triumph auf einem Dampfboot wieder heimzunehmen, die verlorene Zeit zu vergüten, alle Nigger der Stadt brieflich zu bestellen, daß sie ihn mit Musik und Fackeln in Empfang nähmen und ihn und uns als Helden beim Einzug feierten.

Jim wurde augenblicklich von seinen Ketten befreit, und als Tante Polly und Tante Sally und Onkel Silas hörten, wie treu er dem Doktor geholfen hatte, Tom zu pflegen, wurde ihm in jeder Weise geschmeichelt, und er bekam ordentliche Kleider und soviel zu essen wie er nur wollte, und er brauchte nichts zu tun, als sich seines Lebens zu freuen. Und wir nahmen ihn mit an Toms Bett und schwatzten, bis wir genug hatten, und Tom gab ihm vierzig Dollar, weil er so geduldig als Gefangener gewesen und uns das Spiel nicht verdorben und alles so schön getan hatte, und Jim war beinahe zu Tode gerührt und wußte nicht, was er anfangen solle vor Wonne, und platzte endlich heraus: »Na, Huck, du sehen, was Jim dir immer sagen? Was Jim dir schon früher auf Insel sagen? Jim dir sagen, er haben haarige Brust un was das bedeuten. Jim dir sagen, er sein gewesen reich un werden noch mal wieder reich, un hier – hier es sein! Du nix nie mehr sagen, Zeichen sein nix wert. Zeichen sein Zeichen, un Jim haben gewußt, er noch werden reich, so gewiß, wie er jetzt hier stehen!«

Tom schwatzte nun und schwatzte und schlug uns vor, alle drei heimlich in der Nacht durchzubrennen, uns eine Ausrüstung zu kaufen und auf ein paar Wochen in die Indianer-Territorien zu gehen und dort alle möglichen Abenteuer zu bestehen. Ich sagte gleich: Ich bin dabei, aber woher das Geld für die Ausrüstung nehmen; von zu Hause würde ich keins bekommen, denn das habe mein Alter inzwischen schon dem Kreisrichter abgeschwindelt und die Gurgel hinuntergejagt.

»Das hat er nicht«, versicherte mir Tom, »das ist noch alles da, sechstausend Dollar und mehr. Dein Alter hat sich nicht mehr blicken lassen, wenigstens solange ich dort war.«

Sagt Jim ordentlich feierlich: »Er nie nix mehr werden kommen, Huck!«

Frag‘ ich: »Wieso, Jim?«

»Du fragen wieso, Huck? Jim sagen: Er nie nix mehr werden kommen!«

Ich aber wollt’s genauer wissen, endlich erwiderte er: »Du dir erinnern die Haus, wo schwimmen vorbei an Insel? Un Mann, wo liegen drin tot auf’m Boden? Jim ihn haben zugedeckt, weil du ihn nix sehen sollen; Huck, du dir erinnern? Du können haben dein Geld, wenn du ihr wollen haben – tote Mann sein gewesen deine Vater!«

Tom ist jetzt beinah wieder ganz wohl und trägt seine Kugel wie eine Uhr an einer Kette um den Hals und sieht alle nach der Zeit. Und mir bleibt jetzt nichts mehr zu erzählen übrig, weshalb ich auch recht froh bin, denn wenn ich gewußt hätte, was für eine furchtbare Arbeit es ist, so ein Buch zusammenzuschmieren, so hätten mich keine zehn Gäule dazu gebracht. Aber noch einmal tu‘ ich’s nicht, davor soll mich Gott bewahren! Lieber Steine klopfen! Oder Holz hacken! Soviel aber seh‘ ich jetzt schon – nämlich, daß ich früher als die andern zu den Indianern muß, ganz allein, denn Tante Sally will mich durchaus adoptieren und sievilisieren, und das halt ich nicht aus, das kenne ich von früher her.

Ganz ergebenst
Huck Finn

Ende

4. Kapitel

»Langsam aber sicher« – Huck und der Kreisrichter – Aberglaube

4. Kapitel

So vergingen drei oder vier Monate, und wir waren nun mitten im Winter drin. Ich ging fleißig zur Schule, konnte buchstabieren, lesen, schreiben, das Einmaleins hersagen bis zu sechs mal sieben ist fünfunddreißig, Ja, Huck Finn hat’s nach diesem Exempel nicht sehr weit in der Rechenkunst gebracht! weiter kam ich nicht und wäre auch wohl nie weiter gekommen, und wenn ich hundert Jahre dran gelernt hätte – ich habe einmal kein Talent zur Mathe-maatik.

Erst verabscheute ich die Schule, dann gewöhnte ich mich allmählich dran. Strengte sie mich einmal übermäßig an, so schwänzte ich einen Tag, und die Prügel, die ich dafür anderntags bekam, taten mir gut und frischten mich auf. Je länger ich hinging, desto leichter wurde mir’s. Auch an der Witwe ihre Art gewöhnte ich mich nach und nach und ärgerte mich nicht mehr über alles. Nur das Wohnen in einem Hause und Schlafen im Bett wollte mir noch immer nicht hinunter, und eh‘ das kalte Wetter kam, rannte ich manchmal des Nachts in den Wald und ruhte dort einmal gründlich aus. Ich liebte mein altes, freies Leben viel – viel mehr als das neue, aber ich fing doch an, auch das ein klein wenig gern zu haben. Die Witwe und ich, wir kamen uns langsam aber sicher näher und waren ganz zufrieden miteinander. Sie sagte auch, sie schäme sich meiner gar nicht mehr.

Eines Morgens stieß ich beim Frühstück das Salzfaß um und wollte eben ein paar Körnchen von dem verschütteten Salz nehmen, um es über die linke Schulter zu werfen, damit es mir kein Unglück bringe, da kam mir Miss Watson zuvor: »Die Hand weg, Huckleberry«, zeterte sie, »du mußt auch immer Dummheiten machen!« Die Witwe wollte ein gutes Wort für mich einlegen, aber das konnte das Unglück nicht abhalten, das wußte ich nur zu gewiß. Als ich vom Tisch aufstand und mich drückte, war mir’s ganz unbehaglich und beklommen zumute. Ich mußte immer daran denken, wo mir wohl etwas Schlimmes zustoßen und was es sein werde. Ich weiß noch andre Mittel, um Unglück fernzuhalten, aber die ließen sich hier nicht anwenden und so hielt ich still und tat gar nichts, schlängelte mich, nur niedergeschlagen meines Weges weiter, immer auf der Hut vor irgend etwas Unbekanntem. Ich ging den Garten hinunter und kletterte über den hohen Bretterzaun. Es war in der Nacht frischer Schnee gefallen, und ich sah Fußspuren darin. Sie führten direkt vom Steinbruch hierher und rings um den Gartenzaun. Im Garten selbst sah ich nichts, und das machte mich stutzig. Was hatte einer da draußen herumzulungern? Ich wollte den Spuren nachgehen, bückte mich aber erst noch einmal, um sie zu untersuchen. Zuerst fiel mir nichts dran auf, dann aber, Herr, du mein Gott, da sah ich etwas, das mir bekannt war, und ich wußte sofort, was die Uhr geschlagen hatte. Am linken Absatz der Fußspur befand sich ein mir nur allzu bekanntes Kreuz aus dicken Nägeln, um den Bösen fernzuhalten.

In einer Sekunde war ich auf und davon und den Hügel hinunter. Von Zeit zu Zeit sah ich ahnungsvoll über die Schulter zurück, konnte aber niemand entdecken. Wie der Blitz rannte ich zum Kreisrichter, der mich mit den Worten empfing: »Junge, du bist ja ganz außer Atem. Kommst du wegen deiner Zinsen?«

»Nein«, sag‘ ich, »hab‘ ich denn wieder was zu bekommen?«

»O ja, gestern abend sind die vom letzten halben Jahr eingelaufen. Über hundertundfünfzig Dollar; ein ganzes Vermögen für dich, mein Junge. Ich lege dir die Zinsen aber wohl besser mit dem Kapital an, denn wenn du sie hast, gibst du sie auch aus.«

»O nein«, sag‘ ich, »ich will sie gar nicht haben, die Zinsen nicht und auch die sechstausend nicht, Sie sollen’s behalten, Herr, ich will’s Ihnen geben, alles, alles!«

Er sah mich erstaunt an und schien mich nicht zu verstehen. Dann sagte er: »Wie – wie meinst du das, Junge?«

Sag‘ ich: »Fragen Sie mich, bitte, nichts weiter, Herr, aber nehmen Sie’s, bitte, nehmen Sie’s!«

Darauf er: »Junge, ich versteh‘ dich nicht, was ist denn mit dir?«

Darauf ich: »Bitte, bitte nehmen Sie’s und fragen Sie mich nicht weiter – dann muß ich Ihnen auch nichts vorschwindeln!«

Er dachte eine Weile nach, dann sagte er: »Holla, ich glaub‘, ich hab’s. Du willst mir deine Ansprüche abtreten, verkaufen, nicht schenken. Das liegt dir im Sinn, nicht wahr?«

Und ohne weiteres schreibt er ein paar Zeilen auf ein Stück Papier, liest’s noch einmal durch und sagt dann: »Da – sieh‘ her. Es ist ein Vertrag, und es steht drin, daß ich dir deine Ansprüche abgekauft habe. Da hast du einen Dollar. Nun unterschreibe!«

Ich unterschrieb und trollte mich.

Miss Watsons Nigger Jim hatte eine haarige Kugel, so groß wie eine Faust, die einmal aus dem vierten Magen eines Ochsen herausgenommen worden war. Mit der konnte er wahrsagen, da sich ein Geist darin befand, der alles wußte. Ich ging also zu Jim am Abend und sagte ihm, mein Alter sei wieder im Land, ich habe seine Fußspuren im Schnee gefunden. Was ich wissen wollte, war, was der Alte im Schilde führte und wie lang er bleiben werde. Jim nahm seine haarige Kugel, brummte etwas drüber hin, hob sie in die Höhe und warf sie dann zu Boden. Sie fiel derb auf und rollte kaum einen Zoll weit von der Stelle. Noch einmal probierte es Jim und noch einmal und immer blieb es gleich. Jetzt kniete Jim nieder und legte sein Ohr an die Kugel und horchte, aber ’s wollte nichts sagen. Er sagte, manchmal redet es nicht ohne Geld. Ich bot ihm nun eine alte, nachgemachte Münze an, bei der überall das Messing durchsah, und die sich so fett und schlüpfrig anfühlte, daß sie mir niemand für echt abgenommen hätte. Von meinem Dollar schwieg ich natürlich, denn für die alte Kugel war wahrhaftig die schlechte Münze gut genug. Jim nahm die Münze, roch daran, rieb sie, biß hinein und versprach es einzurichten, daß die Haarkugel die Unechtheit nicht merke. Er sagte, er wolle eine rohe Kartoffel nehmen und die Münze hineinstecken und die Nacht über drin lassen, am andern Morgen sehe man dann kein Messing und fühle keine Fettigkeit und kein Mensch werde den Betrug merken, noch weniger eine Haarkugel. Das Ding mit der Kartoffel wußt‘ ich, hatt’s nur vergessen im Moment.

Jim steckte also nun die Münze unter die Kugel und legte wieder das Ohr dran. Jetzt sei alles in Ordnung, sagte er, und die Kugel werde mir wahrsagen, soviel ich wolle. »Nur zu!« sag‘ ich.

Und die Kugel sprach nun zu Jim, und Jim sagt’s mir wieder: »Deine alte Vater noch nix wissen, was wollen tun. Einmal wollen gehen, einmal wollen bleiben. Du sein ganz ruhig, Huck, lassen tun die alte Mann, wie er wollen. Sein da zwei Engels, fliegen um ihn rum. Sein der eine weiß, der andere schwarz. Wollen der weiß ihn führen gute Weg, kommen der schwarz und reißen ihn fort. Arme Jim, ich nix können sagen von Ende, ob schwarz, ob weiß! Bei dir aber allens sein gut. Du haben noch viel Angst im Leben, aber auch viel Freud! Werden kommen Krankheit und Unglück un dann Gesundheit un Glück! Sein deine Engels zwei Mädels, eine blond und eine braun, eine reich un eine arm. Werden du heiraten erst die arm un dann die reich! Du nix gehen zu nah an Wasser, sonst du müssen fallen rein un ganz ersaufen! Du hören arme, alte Jim, Huck, du nix vergessen, was er sagen!«

Das versprach ich denn auch hoch und heilig. Als ich an diesem Abend mein Licht angezündet hatte und damit in mein Zimmer trat – saß da mein Alter in Lebensgröße!

5. Kapitel

Hucks Vater – Bekehrung – Zärtlichkeiten

5. Kapitel

Ich hab‘ mich stets vor ihm gefürchtet, er hat mich immer so tapfer gegerbt, aber diesmal merkt‘ ich gleich, daß es anders war. Das heißt, zuerst schnappte ich nach Luft – es nahm mir den Atem, ihn so plötzlich zu sehen; aber dann raffte ich mich schnell zusammen und trat näher.

Er war beinahe fünfzig und sah auch so aus. Sein Haar war lang und verwirrt und fettig und hing ihm übers Gesicht, daß seine Augen wie hinter Buschwerk hervorstachen. Es war noch ganz schwarz und kein bißchen grau, so war auch sein langer Schnauzbart. In seinem Gesicht, soweit man’s sehen konnte, war keine Farbe, es war ganz weiß, aber nicht von einem gewöhnlichen Weiß, sondern so, daß es einem übel machte, wenn man’s sah, daß es einem eine Gänsehaut über den Rücken jagte, so totenähnlich, so fischbauchartig war es. Seine Kleider – waren Lumpen, weiter nichts. Er hatte den rechten Fuß aufs linke Knie gelegt, und der Stiefel sperrte das Maul so weit auf, daß zwei oder drei Zehen heraussahen, an denen er herumfingerte. Sein Hut, ein alter zerrissener Filzdeckel, lag auf dem Boden.

Ich starrte ihn an. Er hatte den Stuhl etwas hinten übergekippt und starrte mich wieder an. Endlich stellte ich das Licht hin und sah, daß das Fenster offen war; der Alte war also übers Schuppendach eingestiegen. Der verflixte Schuppen!

Der Alte folgte mir mit den Augen, ich spürte es, endlich sagte er: »Donnerwetter, feine Kleider – sehr fein! Du bild’st dir wohl was drauf ein, he? Denkst, du bist ein Herr geworden, he?«

»Vielleicht – vielleicht auch nicht«, sag‘ ich.

»Wirst du mir wohl ordentlich antworten, he?« brüllt er, »du scheinst dir tüchtige Mücken in den Kopf gesetzt zu haben, seit wir uns nicht gesehen. Die treib‘ ich dir aus, das laß dir gesagt sein! Du gehst auch in die Schule, hab‘ ich mir sagen lassen, und kannst lesen und schreiben. Glaubst jetzt wohl, daß du besser bist als dein Vater, he, du Racker? Wart‘ ich will dir kommen! Wer hat dir erlaubt dahinzugehen, wer, frag‘ ich, wer hat dir’s erlaubt?«

»Die Witwe! Sie hat’s erlaubt!«

»Die Witwe, he? Und wer hat’s der Witwe erlaubt, daß sie ihre Nase in Dinge steckt, die sie absolut nichts angehen, wer, he?«

»Niemand!«

»Gut, der will ich’s zeigen! Und du, Bengel, infamer, du läßt das Schulegehen bleiben, verstanden? Ich werd’s den Leuten schon zeigen, was es heißt, einem solchen Flegel wie dir, in den Kopf zu setzen, er sei besser als sein Vater. Laß du dich wieder in der Schule erwischen! Deine Mutter hat nicht lesen und schreiben können, eh‘ sie starb und keiner von der Familie konnt’s ich kann’s auch nicht, und da kommt so ein Racker und will besser sein als wir alle und bildet sich was drauf ein und tut sich dick damit. Das laß ich mir aber nicht gefallen, verstanden? Da – zeig einmal, was du lesen kannst.«

Ich nahm ein Buch und stotterte etwas vom General Washington und dem Krieg. Eine Minute lang hörte er zu, dann versetzte er dem Buch einen Stoß, daß es in die andere Zimmerwand klatschte, und sagte: »Kann’s der Bengel ja wahrhaftig! Ich hätt’s nicht geglaubt, dacht‘ es sei Geflunker. Aber du, wart, ich werd‘ dir die Mücken austreiben, ich leid’s nicht, verstanden? Ich werde aufpassen, und erwisch‘ ich dich an der Schule, mein feiner Herr, so gerb ich dir das Leder durch, daß du die Engel im Himmel pfeifen hörst! Nächstens wirst du noch fromm werden! Donnerwetter, so ein Sohn!«

Er griff nach einem kleinen blau und gelben Bildchen, auf dem ein Junge und ein paar Kühe abgemalt waren, und fragt: »Was ist das?«

»Das hab‘ ich gekriegt, weil ich meine Aufgabe gut gelernt habe.«

Rasch war’s zerrissen, und er brüllt:

»Ich will dir was Beßres geben, wart‘ ich werd‘ dir ein Bild auf den Buckel malen.«

Nun saß er still und murmelte und brummte vor sich hin. Dann fängt er wieder an: »Hat man je schon so etwas erlebt! Das nenn‘ ich einen feinen Herrn! Ein Bett, wahrhaftig, und Bettücher! Und ein Stückchen Teppich am Boden! Und der eigene Vater schläft bei den Schweinen oder wo er gerade hinkommt! Und das will ein Sohn sein! Wart, Kerl, die Mücken fliegen dir aus dem Kopf, eh‘ du Amen sagen kannst, da sag‘ ich dir. Mit dir werd‘ ich noch fertig werden, Racker! Die Leute sagen auch, du hättest Geld! Wie ist das?«

»Die Leute lügen – so ist das!«

»Ich sag‘ dir, Bursche denk dran, daß du mit deinem Vater sprichst, bald bin ich fertig mit meiner Geduld, also sieh dich vor! Jetzt bin ich zwei Tage in der Stadt, und überall hab‘ ich von deinem Geld gehört, schon weiter unten im Tal erzählten sie davon, und so muß doch was dran sein! Deshalb bin ich gekommen. Also morgen schaffst du mir das Geld, verstanden? – Ich brauch’s!«

»Ich hab‘ kein Geld!«

»Du lügst! Der Kreisrichter hat’s für dich, und du schaffst mir’s her – ich brauch’s, sag‘ ich dir!«

»Ich hab‘ kein Geld! Frag den Kreisrichter selbst, der wird dir’s auch sagen!«

»Gut, ich werd‘ ihn fragen, und er muß blechen, oder ich will wissen, wie’s damit steht. Was hast du in der Tasche, he? Ich will’s haben!«

»Ich hab‘ nur einen einzigen Dollar, und den brauch‘ ich, um –«

»Das ist ganz wurst, wozu du ihn brauchst, her damit! Raus!«

Er nahm ihn und biß hinein, um zu sehen, ob er echt sei, und sagte dann, er gehe in die Stadt, um sich Whisky zu holen, er habe den ganzen Tag noch keinen Tropfen über die Lippen gebracht, dabei roch er wie ein Schnapsladen. Dann kletterte er zum Fenster hinaus auf den Schuppen, steckte den Kopf wieder herein, fluchte noch einmal über meine Mücken und darüber, daß ich besser sein wolle als er, und als ich dachte, nun sei er sicher fort, erschien er noch einmal und erinnerte mich an die Schule und die versprochenen Prügel, wenn ich mich dort blicken lasse.

Am andern Tag war er betrunken, ging zum Kreisrichter und drohte ihm wegen des Geldes, das der nicht herausgeben wollte; er sagte, er wolle vor Gericht gehen und ihn dazu zwingen.

Der aber und die Witwe wollten, daß man mich meinem Alten wegnehme und eines von ihnen zu meinem Vormund mache. Und das wäre, meiner Seele, das beste gewesen. Aber da war ein neuer Ortsrichter gekommen, der kannte den alten Mann nicht und meinte, es sei unrecht, Familien zu trennen, er könne nichts tun, er wolle dem Vater das Kind nicht rauben. So mußten der Kreisrichter und die Witwe die Sache eben gehen lassen, wie’s ging.

Das war Wasser auf die Mühle meines Alten und stieg ihm riesig zu Kopf. Er drohte, er wolle mich schwarz und blau dreschen, wenn ich ihm nicht sofort Geld verschaffe. Ich lief also zum Kreisrichter und lieh mir drei Dollar von meinem Geld. Der Alte nahm’s betrank sich, lärmte, schimpfte, fluchte und spektakelte durch die Straßen der Stadt, bis sie ihn festnahmen und für eine Woche einsperrten. Das war ihm nun nichts Neues und genierte ihn weiter nicht. Wenn sie jetzt auch Meister über ihn seien, so bleibe er doch immerhin Herr und Meister seines Sohnes, meinte er, und werde das der ganzen Stadt und seinem Herrn Sohne selbst noch klar beweisen. Dem wolle er schon noch einheizen in seinem Leben!

Nach Verlauf der Strafzeit ließen sie ihn dann laufen. Der Ortsrichter aber sagte, er wolle einen neuen Menschen aus ihm machen, nahm ihn mit nach Hause, gab ihm saubere, ordentliche Kleider statt der Lumpen, behielt ihn zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrot und schloß sozusagen dicke Freundschaft mit ihm. Nach dem Abendessen redete er dann auf ihn ein von Gott und dem letzten Gericht, der Bibel und dem Temperamentsverein Huck meint den Temperenzverein = Mäßigkeitsverein. bis der alte Mann zu schluchzen und zu weinen begann und sagte, er sei ein Narr gewesen all sein Leben lang, ein elender, erbärmlicher, lumpiger Narr! Jetzt aber gehe er in sich und wolle von neuem beginnen und ein Mann werden, dessen sich kein Mensch in der Welt zu schämen brauche, wenn ihm der Herr Richter nur helfen und ihn nicht verachten wolle. Der sagte, er möchte ihm um den Hals fallen für diese Worte und weinte vor Rührung, und seine Frau weinte mit. Mein Alter versicherte nun, er sei immer verkannt worden in seinem Leben; alles, was ein verlorener Mensch brauche, um gerettet zu werden, sei Sympathie; der Richter stimmte ihm zu, und dann weinten sie wieder.

Als es Zeit war zum Schlafengehen, erhob sich mein bekehrter Vater, hielt seine Hand hin und sagte: »Sehen Sie hier diese Hand, meine Herrn und Damen, nehmen Sie sie, schütteln Sie sie. Es war einstmals die Hand eines Schweines, aber sie ist’s nicht mehr, sie ist die Hand eines Mannes, der ein neues Leben begonnen hat und der eher sterben wird, als daß er ins alte zurückkehrt. Denken Sie an diese Worte, gedenken Sie dessen, der sie sagte. Es ist eine reine Hand jetzt, nehmen Sie, fürchten Sie nichts, schütteln Sie diese Hand!«

Der Richter, seine Frau und seine Kinder schüttelten sie der Reihe nach, und die Frau Richter küßte sie sogar. Dann sollte er noch ein feierliches Gelöbnis unterschreiben – und er tat’s, indem er drei Kreuze druntersetzte. Der Richter bemerkte noch, das sei der schönste Tag seines Lebens, und dann führten sie meinen Alten im Triumph in ihr allerbestes Gastzimmer. Der aber fühlte sich sehr durstig, und in der Nacht, als alles schlief, kletterte er aus dem Fenster aufs Vordach der Haustür, ließ sich am Gitter nieder, witschte in die Stadt, versetzte seinen neuen Rock für eine schwer geladene Schnapsflasche und stieg so bewaffnet wieder in sein warmes Nest und feierte die Bekehrung auf seine Weise. Gegen Morgen wollte er sich auf dem alten Weg aus dem Staub machen, war aber nicht fest auf den Beinen, fiel vom Dach und brach den Arm an zwei verschiedenen Stellen, konnte nicht weiter und wurde dann nach ein paar Stunden halb erfroren im Schnee aufgefunden. Man schaffte ihn zur Pflege ins Krankenhaus, wo ich ihn nun für einige Wochen wenigstens gut aufgehoben wußte. Im Gastzimmer bei Richters aber mußten sie eine Art Überschwemmung anstellen, ehe es wieder zu gebrauchen war.

Beim Ortsrichter selbst blieb die Bekehrung meines Alten ein wunder Punkt. Er meinte, die sei für die Dauer nur mit einem Flintenschuß ins Werk zu setzen, er wisse kein andres Mittel und, meiner Treu – ich glaub‘, er hat recht.

28. Kapitel

Das letzte Hemd – Jagd nach dem Verlorenen – Die Zauberpastete

28. Kapitel

Das mit der Pastete war also ausgemacht. So liefen wir denn weg und krochen in eine Art Rumpelkammer, die wir früher schon ausspioniert hatten und in der Haufen alter Stiefel und Lumpen, zerbrochene Flaschen, durchlöcherte Blechgefäße und lauter solch nützliches Zeug aufgespeichert lag. Wir kramten lange drin herum und fanden endlich eine etwas durchsichtige blecherne Waschschüssel, deren schadhafte Stellen wir, so gut es ging, zustopften, um die Pastete darin zu backen. Nun schlichen wir uns mit der Schüssel in den Keller und füllten sie voll Mehl, und dann rannten wir zum Frühstück und fanden unterwegs noch einige große, rostige Nägel, von denen Tom sagte, sie seien herrlich für einen Gefangenen, um damit seinen Namen und seine Leiden auf die Wände seines Kerkers zu kritzeln. Einen davon steckten wir in die Tasche von Tante Sallys Schürze, die auf einem Stuhl hing, und den andern in Onkels Hutband, weil wir die Kinder sagen hörten, daß Papa und Mama den durchgebrannten Nigger heute besuchen wollten. Das Frühstück kam noch nicht, und so praktizierte Tom den Zinnlöffel in der Zwischenzeit in Onkels Rocktasche; Tante Sally ließ ebenfalls lange auf sich warten, und als sie endlich kam, war sie ganz erhitzt und sah rot und zornig aus. Sie konnte kaum abwarten, bis das Gebet vorüber war, dann schenkte sie mit einer Hand den Kaffee ein und trommelte mit ihrem Fingerhut an der anderen Hand auf dem Kopf des ihr zunächst sitzenden Kindes herum und sprach zu Onkel Silas: »Ich hab‘ das ganze Haus durchsucht, vom Speicher bis zum Keller, und wahrhaftig, es geht über meinen Horizont, aber ich kann und kann dein zweites Hemd nicht finden!«

Plumps, da fiel mir das Herz in die Hosen und noch tiefer, und ein Stück Brotkrume rutschte die Gurgel hinunter und begegnete unterwegs einem gewaltigen Husten, der’s wieder rückwärts trieb, gerade über den Tisch, einem der Kinder ins Auge. Das krümmte sich wie ein Wurm und stieß das reinste indianische Kriegsgeheul aus, und Tom verfärbte sich ganz grünlich, und eine Minute lang schien uns allen der Atem stillzustehen. Dann ging’s wieder besser, es war nur die Überraschung, die uns so mitspielte und uns ordentlich den kalten Schweiß austrieb.

Onkel Silas überlegte ein wenig, fingerte an sich herum und sagte dann: »Das ist aber doch wirklich merkwürdig, das begreif ich nicht. Ich weiß gewiß, daß ich’s ausgezogen habe, weil …«

»Natürlich, weil du nur eins anhast! Hör einen den Mann! Ich weiß wohl, daß du’s ausgezogen hast, besser als du mit deinem Sieb von Gedächtnis, weil’s gestern noch auf der Leine war und ich’s dort selbst gesehen habe! Weg ist’s aber, soviel ist gewiß, und du mußt eben dein rotes Flanellhemd anziehen, bis ich Zeit habe, ein neues zu nähen. Das ist dann schon das dritte, das ich in den letzten zwei Jahren mache. Wahrhaftig, du könntest einer ganzen Armee von Näherinnen zu tun geben mit deinen Hemden! Und wie du es machst, daß sie dir wegkommen, ist mir ein wahres Rätsel! Man sollte doch denken, in deinem Alter hättest du endlich gelernt, auf deine Hemden aufzupassen!«

»Ja, ja, Sally, ich weiß es, aber siehst du, so ganz allein mein Fehler ist’s doch auch nicht, denn ich hab‘ doch eigentlich nichts mit den Hemden zu tun, sobald ich sie nicht mehr auf dem Leib habe, und vom Leib herunter hab‘ ich doch, glaub‘ ich, noch keins verloren!«

»Na, dein Verdienst ist das nicht, Silas, das brächtest du auch noch fertig, wenn’s möglich wäre! Und das Hemd ist’s noch gar nicht allein, was fehlt, nein, es fehlt auch ein Löffel. Zehn waren’s, und neun sind’s nur noch, einer ist weg. Wenn das Kalb das Hemd gefressen hat, wie sie mir vormachen wollen – den Löffel hat’s doch sicher nicht mit verschluckt! Soviel ist sicher!«

»Fehlt sonst noch was?«

»Ja, noch was! Sechs Talglichter; das ist doch was, denke ich. Die könnten die Ratten gefressen haben, das wär‘ möglich, wahrhaftig, es ist ja ein Wunder, daß sie noch nicht das ganze Haus verschluckt haben, du kümmerst dich ja keinen Pfifferling drum, Silas, ob ihre Löcher verstopft sind oder nicht. Sie könnten in deinen Haaren nisten, dir wär’s einerlei, ich glaub‘, du merktest gar nichts davon. Das Verschwinden des Löffels aber kann man auch den Ratten nicht in die Schuhe schieben, das ist doch klar!«

»Ja, Sally, du hast recht, das hab‘ ich wirklich versäumt, aber ich versprech‘ dir, daß ich noch vor heut‘ abend die Löcher alle selbst zustopfe, und ordentlich!«

»Oh, es hat ja keine Eile, nächstes Jahr ist auch noch Zeit!«

Plumps fällt der Fingerhut hörbar auf den Schädel eines Sprößlings, und heulend zieht der die Finger aus der Zuckerdose zurück, in der sie herumgekrabbelt sind. Da erscheint Liese, die Niggerfrau, die die Hausarbeit besorgt, unter der Türe: »Frau, es fehlt auch eine Bettuch!«

»Ein Bettuch? Herr, du mein Gott!«

»Jetzt stopf ich aber gleich die Rattenlöcher zu!« seufzt Onkel Silas und sieht sehr reuig und bekümmert aus.

»Oh, schweig still!« fährt Tante Sally auf ihn los, »denkst du denn vielleicht, die Ratten hätten das Bettuch verzehrt? Wo mag das Bettuch sein, Liese?«

»Ojemine! Liese das nix wissen! Waren auf der Leine gestern, sein weg heute – ganz, ganz weg!«

»Wahrhaftig, ich glaub‘, die Welt geht unter! So was hab‘ ich noch nicht erlebt, solang mich die Sonne bescheint! Ein Hemd und ein Bettuch und ein Löffel und sechs Talglich…«

»Kann den Messingleuchter nicht finden!« schreit eine kleine halbwüchsige Range und stürzt wie toll ins Zimmer. – »Willstwohl machen, daß du hinauskommst, du Balg? Marsch – oder!«

Nun war sie aber wie rasend. Wir alle duckten uns, zogen die Schultern ein und waren still wie die Mäuse, während sie wie ein Wirbelwind durchs Zimmer fuhr und bald hier, bald da etwas krachte und knackte. Ich sah mich schon nach einer Gelegenheit um, mich mit heiler Haut zu salvieren, als Onkel Silas plötzlich in die Tasche greift und mit der erstauntesten, ungläubigsten, dümmsten Miene von der Welt den Löffel vorzieht. Mitten im tollsten Redestrom blieb ihr der Mund offenstehen, und bei diesem Anblick wünschte ich mich nach Jerusalem oder sonstwohin.

Aber bald ruft sie: »Grad‘ wie ich’s dachte! Genauso wie ich’s dachte! Hast du natürlich die ganze Zeit über den Löffel in deiner eignen Tasche und sagst kein Wort und läßt deine Frau sich bald tot ärgern. Ganz wie du bist! Vielleicht hast du die andern Sachen auch noch drin, wie? Sieh doch einmal nach! Wie ist er denn eigentlich hineingekommen?«

»Das weiß ich wahrlich nicht, Sally, ich würd’s dir doch gewiß sagen«, versetzt er, sich gleichsam entschuldigend. »Ich habe vor dem Frühstück meinen Text studiert für nächsten Sonntag und hab‘ mein Neues Testament auf dem Tisch gehabt, da hab‘ ich’s gewiß verwechselt und den Löffel statt dessen in die Tasche gesteckt, denn wie ich jetzt merke, ist mein Testament nicht drin. Ich will einmal gehen und nachsehen; wenn’s noch da liegt, wo ich’s vor dem Frühstück hatte, dann ist’s ganz sicher so, und ich hab’s nur verwechselt.«

»Herr, du mein Gott, kannst du nicht schweigen? Du machst einen ja halb tot mit deinem Geschwätz! Jetzt macht, daß ihr wegkommt, alle miteinander, marsch, fort, und kommt mir nicht wieder zu nahe, bis ich mich erholt habe, hört ihr? Ich rat’s euch im Guten!«

Ich hätt‘ sie verstanden, und wenn sie’s nur geflüstert, nur zu sich selbst gesagt, es nur gedacht hätte! Und ich hätt‘ ihr gehorcht, wenn ich tot und begraben gewesen wäre! Keiner war so flink wie ich, und als wir durchs Wohnzimmer kamen, stand dort der alte Mann und nahm gerade seinen Hut vom Nagel und setzte ihn auf. Der Nagel fiel zu Boden, und er bückte sich ganz matt danach und hob ihn auf, ohne ein Wort zu verlieren, legte ihn auf den Tisch und ging hinaus.

Tom hatte zugesehen, dachte an den Löffel und meinte: »Mit dem schicken wir lieber nichts mehr, auf den ist kein Verlaß! Mit dem Löffel aber hat er uns einen Dienst erwiesen, ohne es zu wollen, und das werden wir ihm vergelten, ohne daß er es weiß, und ihm seine Rattenlöcher zustopfen, der bringt’s doch nie zustande!«

Gesagt, getan! Es waren gerade genug drunten im Keller; wir hatten eine ganze Stunde damit zu tun, danach war’s aber auch getan, gut und fest und dauerhaft, und ’s sollte den Ratten schon schwer werden, durchzubrennen! Auf einmal hören wir Schritte auf der Treppe, blasen unser Licht aus, verstecken uns, und da kommt der alte Mann mit einem Licht in der einen Hand und mit einem Pack in der andern und sieht so abwesend aus wie das Jahr, das vorm letzten vergangen. Träumerisch schleicht er an jedes Loch, fingert ein bißchen dran herum, stopft ein bißchen was hinein, und fertig ist er. Lange steht er dann und schaut ins Licht, pickt den abgeflossenen Talg weg und denkt über was nach. Dann wendet‘ er sich langsam der Treppe zu und flüstert vor sich hin: »Ich mag mir den Kopf zerbrechen, wie ich will, und kann mich doch nicht besinnen, wann ich’s getan habe. Aber zugestopft sind die Löcher, und ich könnt‘ ihr jetzt beweisen, daß ich nicht schuld an den Ratten bin! Doch was liegt dran, ich laß es gut sein. Es würde doch nichts helfen!«

Und so kriecht er murmelnd und schleppenden Ganges die Treppe hinauf, und wir leise hinterdrein. Es war wirklich ein guter alter Mann und ist’s immer noch!

Tom war sehr in Verlegenheit, was er wegen des Löffels tun solle; wir müßten jedenfalls einen haben. Als er sich’s überlegt hatte, sagte er mir seinen Plan. Wir gingen dann ins Zimmer, drückten uns um den Löffelkorb herum, bis wir Tante Sally kommen sahen, und dann nahm Tom die Löffel heraus, legte sie neben den Korb und begann sie zu zählen, während ich einen davon in meinen Ärmel verschwinden lasse. Plötzlich ruft er: »Na, aber Tante Sally, es sind ja noch immer nur neun Löffel, sieh doch mal!«

Sie fährt ihn an: »Mach, daß du weiterkommst, spielt etwas und laßt mich in Ruhe. Ich weiß es besser, ich hab‘ sie ja vorhin selbst gezählt!«

»Na, ich hab‘ sie eben zweimal gezählt, Tantchen, und ich krieg‘ nur neun heraus!«

Sie sah furchtbar ungeduldig aus, kam aber doch her – jedes hätte da angebissen!

»Ja, wahrhaftig, so ist’s, so wahr ich lebe, es sind nur neun!« sagt sie. »Wie in aller Welt – da schlag doch gleich was drein, wart, ich will’s noch einmal zählen!«

Jetzt leg‘ ich den aus meinem Ärmel dazu, und wie sie mit dem Zählen fertig ist, sagt sie: »Das ist ja rein wie verhext! Jetzt sind’s wieder zehn!« Und sie sieht ganz ungeduldig und ärgerlich aus.

Meint Tom: »Aber Tantchen, ich glaub‘ doch nicht, daß es zehn sind!«

»Was, du Dickkopf, hab ich’s denn nicht grad‘ gezählt?«

»Ich weiß, aber …«

»Wart‘, ich zähl‘ sie noch einmal, daß du endlich zufrieden bist!«

Ich also wieder einen weggenommen, und so waren’s neun wie zuerst. Na, jetzt wurde sie aber wild – und wie wild! Sie zitterte am ganzen Körper und konnte sich kaum helfen. Aber sie zählte und zählte, bis sie so verwirrt war, daß sie den Korb als Löffel ansah und mitzählte, und dreimal waren’s zehn und dreimal nur neun – sie war ganz toll! Dann nahm sie den Korb, schleuderte ihn an die Wand, versetzte der Katze einen Tritt, daß die in die Luft flog, und schrie, wir sollten uns packen und sie in Ruhe lassen, und wenn wir uns noch einmal vor Tisch blicken ließen, wolle sie uns die Haut bei lebendigem Leibe abziehen. Wir aber hatten unsern Löffel wieder, und Jim erhielt ihn zusammen mit dem alten Nagel noch vor Mittag. Soweit waren wir ganz zufrieden und Tom meinte, der Spaß sei wohl der Mühe wert gewesen, denn nun könne sie die Löffel in ihrem ganzen Leben nie wieder richtig zählen und wisse sicher nie mehr, ob sie zehn oder nur neun habe, und zähle sie einmal richtig, so meine sie, es sei falsch, und umgekehrt, und wenn sie das Manöver nur drei Tage hintereinander fortsetze, so würde sie am vierten sicherlich jedem den Kopf abreißen, der sie dran erinnerte und nicht neun zehn, oder zehn neun sein lasse.

Am Abend hingen wir dann das Bettuch wieder auf die Leine und stahlen eins aus dem Schrank und machten so weiter mit nehmen und wieder hinlegen während einiger Tage, bis sie auch nicht mehr wußte, wie viele Tücher sie hatte, und sagte, es läge ihr auch gar nichts dran, sie wolle sich nicht zu Tod ärgern, nun zähle sie auch gar nicht mehr, um keinen Preis, lieber wolle sie gleich auf der Stelle sterben.

Nun war alles in schönster Ordnung mit dem Hemd und dem Bettuch und dem Löffel und den Lichtern, Dank dem Kalb und den Ratten und dem etwas verwickelten Zählexperiment. Am Leuchter lag nicht so viel; dieser Sturm verwehte von selbst nach und nach.

Die Pastete aber, die berühmte Zauberpastete, machte uns viel, viel Arbeit. Wir hatten uns dazu alles Nötige hinaus in den Wald geschleppt, und dort buken wir sie auch. Endlich wurden wir fertig damit, und sie war auch recht gelungen, aber es hatte länger als einen Tag gedauert und wir brauchten statt einer drei Waschschüsseln voll Mehl, ehe wir soweit waren, und wir verbrannten uns beinahe überall, und die Augen liefen uns beinahe aus vor Rauch; wir wollten eben nur eine Kruste haben, und die wollte nicht stehenbleiben, sondern stürzte immer wieder nach der Mitte zu ein. Zuerst probierten wir, sie mit unsern Händen festzuhalten, dann aber fiel uns ein, wir können ja gleich die Strickleiter zum Ausfüllen hineintun. So ließen wir’s denn sein und machten uns erst an die Leiter. Wir blieben die Nacht über bei Jim, rissen das Bettuch in kleine Streifen, flochten diese zusammen und hatten lange vor Tagesanbruch ein herrliches Seil fertig, mit dem man einen Ochsen hätte hängen können. Wir taten dann so, als hätten wir neun Monate dazu gebraucht.

Anderntags nahmen wir’s mit in den Wald, aber es wollte nicht in die Pastete hineingehen. Man hätte damit vierzig Pasteten füllen können, wenn wir sie gebraucht hätten, und es wäre auch noch etwas übriggeblieben für Suppe oder Wurst oder was man sonst wollte. So ein Bettuch ist groß, es hätte für ein paar Mittagessen gereicht!

Das brauchten wir nun aber nicht. Wir brauchten nur genug für unsere Pastete, und den Rest warfen wir dann weg. Zum Backen konnten wir aber die Blechschüssel nicht gebrauchen, wir hatten Angst, der Boden käm‘ heraus und unsre ganze Herrlichkeit fiele ins Feuer. Aber Onkel Silas besaß eine feine eiserne Kohlenpfanne, auf die er sehr stolz war, denn sie war ein altes Erbstück mit einem langen hölzernen Griff und war von England mit Wilhelm dem Eroberer auf der Mayflower oder sonst einem der ersten Auswandererschiffe herübergekommen. Sie lag nun droben auf dem Speicher mit einer Menge anderen Gerümpels, das Onkel hochschätzte, nicht weil es wirklich Wert gehabt hatte, sondern weil es Relickjen waren, wie Onkel sagte, wovon ich aber nicht weiß, was es heißen soll. Nun, die eiserne Pfanne also, die Relickjen-Pfanne, kriegten wir vor, heimlich natürlich, und nahmen sie mit in den Wald. Die ersten Pasteten wollten nicht recht geraten, bis wir’s dann besser los hatten. Wir nahmen die Pfanne, füllten sie mit Teig aus, stopften dann das Seil hinein und legten Teig drauf; dann den Deckel zu, Kohlen drauf, Griff gepackt, aufs Feuer gehoben, und nach fünfzehn Minuten kam die schönste Pastete heraus, wie sie der beste Koch kaum hätte backen können. Wer die aber essen wollte, mußte sich mit Zahnstochern versehen, dem Zentner nach, denn das Seil, denk‘ ich mir, muß ziemlich zäh geblieben sein. Na, wir aßen sie ja nicht, mochte ein andrer Leibweh kriegen!

Sam sah sich nicht um, als wir die Pastete auf Jims Schüssel legten. Die drei Zinnteller verbargen wir zuunterst, häuften dann das ganze Essen drauf, und Jim bekam auch alles, und sobald er allein war, sprengte er die Pastetenhülle, steckte die Strickleiter in seinen Strohsack, kratzte etwas krumm und schief auf den einen Zinnteller und warf ihn zum Guckloch hinaus.

Tom war sehr zufrieden und sagte, Jim habe brav seine Schuldigkeit getan.

29. Kapitel

Das Wappen – Ein geschickter Aufseher – Unwillkommener Nachruhm – Ein reuiger Sünder

29. Kapitel

Das Herstellen der Schreibfedern war eine verteufelt schwierige Arbeit, und ebenso war’s mit der Säge, Jim aber meinte, das Einkratzen der Inschrift in die Wand sei noch das Schlimmste von allem. Das mußte aber geschehen, wohl oder übel, denn Tom sagte, nie in seinem Leben habe er noch von einem Staatsgefangenen gehört, der nicht eine Inschrift auf den Mauern seines Kerkers zurücklasse mit seinem Namen und seinem Wappen.

»Denk doch nur einmal an Lady Jane Grey und Gilford Dudley und den alten Northumberland! Wenn’s auch lange Zeit braucht und viel Arbeit macht, Huck, es muß eben sein, man kann sich nicht drumherumdrücken! Jim muß die Inschrift machen mit seinem Wappen, das tun sie alle!«

Sagt Jim: »Aber, junge Herr Tom, Jim haben gar keine Wappen nix, haben gar nix wie alte Hemd da, und Tom wissen selber, Jim sollen schreiben Tagebuch auf alte Hemd.«

»Ach, du verstehst mich nicht, Jim, ein Wappen ist ja ganz was anderes.«

»Na«, sag‘ ich »aber Jim hat doch jedenfalls recht, wenn er sagt, daß er kein Wappen hat, denn er hat einmal keins!«

»Das weiß ich selbst«, fährt mich Tom an, »das brauchst du mir nicht erst zu sagen, aber ich wett‘ mit dir, was du willst, er kriegt eins, eh‘ er hier herauskommt, denn – das versichere ich dir – es soll einmal später nicht heißen, daß so etwas versäumt worden sei!«

Während also Jim und ich, jeder auf einem Backstein, seine Feder schliff – Jim machte seine aus einem Stück Messing, ich die meine aus dem Blechlöffel –, saß Tom da und dachte sich ein Wappen aus.

Nach einiger Zeit sagte er, er habe so viele gute Ideen, daß er kaum wisse, welche er wählen solle, eine davon aber leuchte ihm ganz besonders ein: »Aufgepaßt«, erklärt er, »im Schild haben wir einen Querbalken und unten im rechten Feld ein dunkelrotes Andreaskreuz, unter dem ein Hund kauert und zu dessen Füßen eine zersprengte Kette liegt, Zeichen der Sklaverei, dann noch ein grüner Querbalken und in azurnem Feld eine siebenfach gezackte Krone. Gekreuzte Degen im andern Feld, drüber steht ein durchgebrannter Nigger in Zobel, der mühsam sein Bündel auf der Schulter trägt. Wappenhalter: zwei Säulen – das sind wir beide –, und als Motto: Maggiore fretta, minore atto. Das hab‘ ich aus meinem Buch, und das will sagen: Je mehr Hast, desto weniger Schnelligkeit. Was sagst du dazu?«

»Hui-i-i-i! Wundervoll! Aber verstehen tu ich’s nicht recht!«

»Na, damit können wir jetzt keine Zeit verlieren, Huck, jetzt müssen wir tüchtig an die Arbeit.«

»Was ist denn ein Feld zum Beispiel und ein Querbalken und ein Andreaskr…«

»Ach, plag mich doch nicht! Ein Feld? Na, ein Feld ist – wart, ich will’s Jim schon zeigen, wenn er drankommt.«

»Aber mir könntest du’s doch vorher sagen, Tom, nicht? Was ist ein Querbalken?«

»Ja, was weiß ich? Aber haben muß er’s, alle vom Adel haben’s!«

So war er immer. Wenn es ihm nicht paßte, einem etwas zu erklären, konnte man drei Wochen lang an ihm pumpen und erfuhr’s doch nie.

Da er mit dem Wappen jetzt im klaren war, fing er an und überlegte die Inschrift, die recht düster und schwermütig sein müsse. Jim müsse auch die haben, wie alle andern. Er hatte gleich eine Menge zur Auswahl fertig und schrieb sie auf ein Stück Papier. Dann las er uns vor:

  1. Hier barst ein gefangenes Herze
  2. Hier hauchte ein armer Gefangener, von Gott und den Menschen verlassen, sein trostloses Leben aus
  3. Hier brach ein einsames Herz, und ein müder, gequälter Geist ging zur ewigen Ruhe ein, nach siebenunddreißig langen Jahren martervollster Gefangenschaft
  4. Hier, heimat- und freundlos, nach siebenunddreißig bittren Jahren der Einkerkerung, hauchte ein edler Fremdling, natürlicher Sohn Ludwigs XIV., seinen großen Geist aus. Friede seiner Asche!

Toms Stimme zitterte und brach beinahe, als er las, so gerührt war er. Nachher konnte er sich für keine der vier Inschriften entscheiden, so lieb waren ihm alle, und gestattete schließlich, daß Jim alle vier an die Wand kritzle. Jim aber wehrte sich und sagte, er brauche ein Jahr, bis er all das Zeug hingekritzelt, und zudem könne er keinen Buchstaben machen; aber Tom versicherte, das wolle er ihm zeigen und alles erst für ihn hinmalen, dann habe er nur noch den Linien zu folgen.

Auf einmal sagt er: »Halt, was mir da einfällt! Wir haben ja hier Holzwände, und das ist ganz und gar nicht das Richtige. Fels muß es sein, richtiger, harter Fels, aus dem die Kerkermauern gemacht sind! Da müssen wir sehen, wie wir uns den verschaffen.«

Jim meinte, Fels sei noch schlimmer, da könne er vermodern, ehe er da alles hineinritze, da würde er nie frei; aber Tom sagte, ich dürfe ihm dabei helfen, und das tröstete Jim ein wenig. Dann sah Tom nach, wie weit wir mit unsern Federn seien. Das war eine ganz infam mühsame Arbeit, und meine armen Hände hatten wenig Aussicht, dabei die Blasen des Grabens loszuwerden, auch kamen wir gar nicht voran.

Sagt Tom: »Ich weiß, was wir tun! Wir müssen ja doch einen Felsen haben für das Wappen und die Trauer-Inschrift, und da können wir zwei Fliegen mit einer Klappe töten. Drunten bei der Mühle liegt ein prachtvoller alter Mühlstein, den schleppen wir her, und darauf machen wir Wappen und Inschrift und schleifen obendrein Federn und Säge!«

Das war mal eine grandiose Idee, der Mühlstein war aber auch grandios. Es war noch nicht Mitternacht, wir also hinaus zur Mühle, indes Jim bei der Arbeit blieb. Wir fanden den Mühlstein und brachten ihn auch ins Rollen, aber es war eine verteufelt schwierige Sache. Manchmal – wir mochten uns dagegenstemmen, soviel wir wollten – fiel der Stein zur Seite und hätte beinahe den einen oder andern zerquetscht; Tom meinte auch, das geschehe sicherlich noch, ehe wir an Ort und Stelle seien. Den halben Weg zur Hütte hatten wir den Kerl gelotst, dann waren unsre Kräfte ganz und gar zu Ende, und wir waren wie in Schweiß gebadet. Es half nichts, Jim mußte herbei und mit anpacken. Der hob also den Bettpfosten auf, machte die Kette los und wickelte sie dreifach um Hals und Leib; wir krochen also durch unser Loch und flink hinunter, und Jim und ich rollten den Stein spielend weiter, während Tom die Aufsicht führte. Darin war er stark, darin war er jedem Jungen überlegen. So was hab‘ ich nie wieder gesehen – er hatte eben Geschick zu allem!

Unser Loch war nun ziemlich groß, aber doch nicht groß genug, um den Stein durchzukriegen, aber Jim kam uns zu Hilfe, nahm Hacke und Schaufel, und bald war er samt dem Stein glücklich in der Hütte drin. Nun ritzte Tom mit einem Nagel ganz leicht die Buchstaben und das übrige auf den Stein, setzte dann Jim dran, mit dem Nagel als Meißel und einem Stück Eisen aus dem Schuppen als Hammer, und befahl ihm, an der Arbeit zu bleiben, solange sein Licht reiche, und erst dann zu Bett zu gehen, den Mühlstein aber unter seinem Strohsack zu verbergen und drauf zu schlafen. Dann halfen wir ihm die Kette wieder am Bettpfosten befestigen und wollten nun selbst schlafen gehen. Tom aber fiel noch etwas ein.

»Hast du Spinnen hier, Jim?«

»Nein, junge Herr, Jim danken dem Himmel, haben keine Spinnen nix!«

»Na, dann müssen wir dir welche verschaffen!«

»Aber, liebste Tom, Jim gar nix brauchen Spinnen, gar nix wollen haben Spinnen! Jim sich fürchten vor Spinnen, lieber noch wollen haben Klapperschlangen!«

Tom besann sich ein paar Minuten und sagte: »Das wär ’ne gute Idee, Jim, das war sicherlich auch schon da, es muß dagewesen sein. Das ist eine herrliche Idee! Jim, wo könntest du sie halten?«

»Halten was, Tom?«

»Ei, die Klapperschlangen!«

»Herr des Himmels! Wenn Klapperschlang kämen hier rein, Jim würden stoßen Loch in die Wand mit sein Kopf un springen durch, mit seine eigene, arme, alte Kopf zuerst. Oh, junge Herr Tom!«

»Was, Jim, du hast doch keine Angst davor, oder? Du könntest die Schlange ja zähmen!«

»Zähmen…?«

»Ja ganz leicht. Jedes Tier ist so dankbar, wenn man’s liebkost und freundlich mit ihm ist, und denkt nicht daran, jemanden zu verletzen, der gut mit ihm ist. Das kannst du in jedem Buch lesen! Probier’s doch einmal! Das ist alles, worum ich dich bitte, probier’s nur einmal zwei oder drei Tage lang. Ich bin überzeugt, du kriegst die Schlange noch so weit, daß sie dich wirklich lieb hat, und bei dir schlafen will, und dich keine Minute allein läßt, und es leidet, daß du sie dir um den Hals wickelst und ihren Kopf in deinen Mund nimmst.«

»Bitte, Massa Tom, nix das sagen, nix so sprechen. Jim nix wollen haben Kopf in Mund, Schlang können lang warten, bis Jim drum fragen! Un Jim auch nix wollen schlafen mit Schlang – nein, Jim gar nix wollen!«

»Jim, sei doch nicht so verrückt! Ein Gefangener muß ja irgendein zahmes Lieblingstier haben, und wenn sie’s bis jetzt noch nie mit einer Klapperschlange probiert haben, nun, dann ist’s um so mehr Ruhm und Ehre für dich, der erste zu sein, der das tut. Leichter wird es dir nie mehr im Leben gemacht werden, dir großen Nachruhm zu sichern!«

»Nein, nein, Massa Tom, Jim nix braueben solche Nachruhm! Schlang kommen un beißen Jim tot – nein, Jim nix brauchen Nachruhm!«

»Sei doch gescheit. Du sollst’s ja nur probieren, sag ich dir! Du kannst’s ja sein lassen, wenn’s wirklich nicht geht.«

»Oh, dann sein zu spät, wenn Schlang erst beißen arme Jim! Massa Tom, Jim wollen tun alles, was sein nix zu dumm und unvernünftig, aber wenn Massa Tom un Huck bringen Klapperschlang für Jim zu zähmen, Jim brennen durch, brennen gleich durch – sofort durch. Soviel sein sicher!«

»Na, dann laß es sein, wenn du so dickköpfig bist! Weißt du was, wir bringen dir ein paar Blindschleichen, und du bindest denen Knöpfe an den Schwanz, daß sie klappern, und tust, als wären’s Klapperschlangen – ja wahrhaftig, so machen wir’s!«

»Das können eher sein, Massa Tom, Jim nix haben Angst für Blindschleich, können aber gut sein ohne, das Jim sagen! Ach, was doch Gefangener für Geschäft un Plage machen; hätt’s nie gedacht.«

»Ja, das ist immer so, wenn’s die rechte Art haben soll. Ei, gibt’s hier Ratten?«

»Jim nie nix sehen keine!«

»Also, dafür müssen wir auch sorgen!«

»Ratten, Massa Tom? Jim nix brauchen Ratten! Sein ganz abscheulich verd… Kreaturen, stören Leut in Schlaf. Rennen un laufen un springen auf Bett un beißen in Nas un beißen in Fuß un können nie nix schlafen mit Ratt. Nein, Massa Tom, ihr geben Blindschleich, wenn Jim müssen haben etwas, aber nix geben Ratt. Jim nix können tun mit Ratt, nix brauchen Ratt, zu nix, nie!«

»Aber Jim, die Ratten mußt du wirklich haben, die sind immer dabei. Drum sträub dich lieber nicht. Gefangene sind nie ohne Ratten! Ich weiß gar kein Beispiel dafür. Man zähmt sie und liebkost sie und lehrt sie alle möglichen Kunststücke, und zuletzt werden sie so zutraulich wie Fliegen. Aber Musik mußt du ihnen machen! Hast du was, um Musik drauf zu machen?«

»Jim gar nix haben als alte Kamm un Stück Papier, un – ja, un kleine Mundharmonika! Ratt aber wohl nix lieben Harmonika, oder?«

»Ach gewiß, denen ist das Instrument ganz einerlei, wenn’s nur Musik ist. Eine Mundharmonika ist gut genug für die! Alle Tiere lieben Musik – und im Gefängnis schwärmen sie dafür. Besonders traurige Musik, und dazu ist die Mundharmonika grad recht. Das interessiert sie, und sie kommen zum Vorschein, um zu sehen, was los ist. Du setzt dich also abends vor dem Schlafengehen auf dein Bett, ebenso frühmorgens, und spielst auf deiner Harmonika. Spiel letzte Rose oder sonst etwas Trübseliges, und du wirst sehen, nach zwei Minuten kriechen die Ratten und die Schlangen und die Spinnen und sonst alles Getier heraus und kommen zu dir und sind zutraulich; wart, die tanzen nur so um dich herum!«

»Ja, die werden’s, das Jim glauben, Massa Tom, aber arme Jim! Der sich nix fühlen wohl. Können nix sehen Gutes drin, können nix sehen Nutzen! Jim aber wollen’s tun, natürlich, wenn’s müssen sein. Wollen machen Tierzeug zufrieden mit Musik, dann er nix haben Plag von Biester!«

Tom schien noch über etwas nachzusinnen, vielleicht fiel ihm noch ein Tier ein für Jims Menagerie. Bald aber sagt er: »Oh, da hab‘ ich noch was vergessen! Glaubst du, daß du hier eine Blume ziehen könntest, Jim?«

»Weiß nix, aber vielleicht. Dunkel sein’s freilich hier, un Jim auch nix brauchen Blum‘, sein viel Arbeit, un Jim nix von verstehen.«

»Na, probieren kannst du’s aber doch, andre Gefangene haben’s auch getan.«

»So ’ne alte, stachelige Distel oder gelbe Kuhblum‘ können wachsen hier, Massa Tom, aber die sein nix wert die Arbeit, wo sie machen!«

»Sag das nicht, Jim, sag das nicht. Wir holen dir eine kleine Kuhblume, und du pflanzt sie dort in die Ecke und ziehst sie groß, und du darfst auch nicht Kuhblume sagen, sondern Picciola, so heißen alle Blumen im Gefängnis, und du mußt sie mit deinen Tränen begießen.«

»Oh, Jim haben Wasser genug dort im Krug!«

»Wasser tut’s nicht, Tränen müssen’s sein, so machen’s alle Eingekerkerten!«

»Aber, Massa Tom, Jim können großziehen zwanzig Kuhblum mit Wasser, eh die ein auch nur wird angehen mit Tränen!«

»Darauf kommt’s gar nicht an, die Hauptsache sind die Tränen!«

»Dann Kuhblum welken gleich, Massa Tom, Jim nie nix weinen – beinah‘ nie nix!«

Das schlug denn Tom, aber er grübelte ein bißchen nach und sagte dann, Jim müsse eben sein Bestes tun und Zwiebeln zu Hilfe nehmen. Er versprach, einige bei den Niggern auszuführen und sie in Jims Kaffeetopf zu stecken. Jim meinte, er wolle dann gleich Tabak im Kaffee haben, und rebellierte dermaßen dagegen, wie auch gegen alles übrige: die Zucht der Kuhblume, das Musizieren für die Ratten, das Zähmen von Schlangen und Spinnen und besonders gegen die verrückte Plage, wie er sich ausdrückte, mit den Federn, Inschriften, Tagebüchern und so weiter, wovon er mehr Geschäft und Verantwortung als Gefangener habe, als je zuvor in seinem ganzen Leben, so daß Tom sehr ungeduldig und böse auf ihn wurde und sagte, er solle sich schämen, er habe doch gewiß allen Grund, dankbar zu sein; mehr Gelegenheit als er, sich einen berühmten Namen zu machen, habe noch gar kein Gefangener in der weiten Welt gehabt, und er wisse das nicht besser zu schätzen und zu würdigen, als wenn er ein unvernünftiges Tier wäre: es sei alles an ihm verschwendet. Und Jim ging in sich, sah’s ein, und es tat ihm leid, und er sagte, er wolle nie wieder so sein. Dann schlichen wir uns befriedigt zu Bett.

3. Kapitel

Eine ordentliche Strafpredigt – Die Gnade triumphiert – Die Räuber Die Geister – ›Eine von Toms Lügen!‹

3. Kapitel

Das setzte am andern Morgen eine ordentliche Strafpredigt für mich von Miss Watson über meine schmutzigen Kleider! Die Witwe aber, die zankte gar nicht, sondern putzte nur den Schmutz und Lehm weg und sah so traurig dabei aus, daß ich dachte, ich wolle eine Weile brav sein, wenn ich’s fertigbrächte. Dann nahm mich Miss Watson mit in ihr Zimmer und betete für mich, aber ich spürte nichts davon. Sie sagte mir, ich solle jeden Tag ordentlich beten, und um was ich bete, das bekäme ich. Das glaub ein anderer! Ich nicht. Ich hab’s probiert, aber was kam dabei heraus! Einmal kriegte ich wohl eine Angelrute, aber keine Haken dazu, und ich betete und betete drei- oder viermal, aber die Haken kamen nicht. Da bat ich Miss Watson, es für mich zu tun, die wurde aber böse und schimpfte mich einen Narren. Warum weiß ich nicht, sie sagte es mir nicht, und ich selbst konnt’s nicht herausfinden.

Ich hab‘ dann lange im Wald gesessen und darüber nachgedacht. Sag‘ ich zu mir selber: Wenn einer alles bekommen kann, um was er betet, warum bekommt dann der Nachbar Winn sein Geld nicht zurück, das er an seinen Schweinen verloren hat? Und die Witwe ihre silberne Schnupftabaksdose, die ihr gestohlen wurde? Und warum wird die dürre Miss Watson nicht dick? Nein, sag‘ ich zu mir, da ist nichts dran, das ist Dunst. Und ich ging zur Witwe und sagte ihr’s, und die belehrte mich, man könne nur um geistliche Gaben beten! Da das viel zu hoch für mich war, so suchte sie mir’s deutlich zu machen: Ich müsse brav und gut sein und den andern helfen, wo ich könne, und nicht an mich, sondern immer nur an die andern denken. Damit war auch Miss Watson gemeint, wie mir’s schien. Ich ging hinaus in den Wald und überlegte mir die Sache noch einmal. Aber, meiner Seel‘, dabei kommt nur was für die andern heraus und gar nichts für mich, und so ließ ich denn das Denken sein und quälte mich nicht länger damit. Zuweilen nahm mich die Witwe vor und erzählte mir von der gütigen, milden Vorsehung, die’s so gut mit dem Menschen meine und wie sie sich meiner in Gnaden erbarmen wolle, bis mir der Mund wässerte und die Augen naß wurden. Nachher kam wieder Miss Watson und ließ ihre Vorsehung donnern und blitzen, daß ich mich ordentlich duckte und den Kopf einzog. Es muß zwei Vorsehungen geben, dachte ich mir, und ein armer Kerl wie ich hat’s sicher bei der Witwe ihrer besser, denn bei Miss Watson’s ihrer ist er verloren. So dachte und dachte ich und nahm mir vor, zu der Witwe ihrer Vorsehung zu beten, wenn die sich überhaupt aus so einem armen, unwissenden und elenden Kerl, wie ich einer bin, etwas macht und sich nicht viel wohler befindet ohne mich.

Mein Alter war nun schon seit einem Jahre nicht mehr gesehen worden, was für mich nur eine Wohltat war; ich hatte wahrhaftig kein Heimweh nach ihm. Gewöhnlich walkte er mich durch, wenn er nüchtern war und mich erwischen konnte; ich versteckte mich deshalb meistens im Wald, sobald er wieder auftauchte. Eines Tages sagten die Leute, man habe meinen Vater im Flusse, etwas oberhalb der Stadt, ertrunken gefunden. Sie meinten wenigstens, er müsse es sein. Sie sagten, der Ertrunkene sei gerade so groß, so zerlumpt gewesen und habe so ungewöhnlich langes Haar gehabt, genau wie mein Alter, das Gesicht war nicht zu erkennen gewesen, es hatte zu lange im Wasser gelegen. Sie verscharrten ihn am Ufer, aber ich war nicht ruhig, glaubte nicht an den Tod des alten Mannes und dachte, der würde schon mal wieder irgendwo auftauchen, um mich zu quälen und zu hauen.

Wir spielten hie und da einmal Räuber, vielleicht einen Monat lang, und dann verzichtete ich auf das Vergnügen – die anderen auch. Wir hatten keinen einzigen Menschen beraubt, keinen getötet, sondern immer nur so getan. Wir sprangen aus dem Wald, und jagten Sautreibern nach oder hinter Frauen her, die Gemüse in Karren zum Markte führten, nahmen aber nie irgend etwas oder irgend jemand in unsre Höhle mit. Tom Sawyer nannte das Zeug, das auf den Karren lag, Goldbarren und Edelsteine und ’s waren doch nur Rüben und Kartoffeln, und wir gingen dann zur Höhle zurück und nahmen den Mund voll und prahlten, was wir alles getan hätten, wieviel Kostbarkeiten geraubt und Leute getötet und Kreuze in die Brust geritzt. Aber allmählich fing die Sache an langweilig zu werden.

Eines Tages sandte Tom einen Jungen mit einem brennenden Kienspan, einem Feuerbrand, wie er es nannte, durch die Straßen der Stadt, das war das Zeichen für die Bande, sich zu versammeln. Als wir alle beieinander waren, teilte er uns mit, er habe gehört, daß anderntags ein ganzer Haufen spanischer Kaufleute und reicher Ah-raber, wie er sagte, samt zweihundert Elefanten und sechshundert Kamelen und über tausend Saumtieren – was das für Tiere waren, wußte er selber nicht –, alle schwer mit Diamanten beladen im Höhlen-Grunde lagern wollten. Da nur eine kleine Bewachung von vielleicht vierhundert Soldaten dabei sei, sollten wir uns in Hinterhalt legen, die Mannschaft töten und die Diamanten rauben. Er gebot uns unsere Schwerter zu wetzen, die Flinten zu laden und uns bereitzuhalten. Er konnte niemals auch nur hinter einem alten Rübenkarren hersetzen, ohne daß die Schwerter und Flinten, die doch nur Holzlatten und Besenstiele waren, mit dabei sein mußten. Ich für meinen Teil glaubte nun nicht, daß wir es mit einem solchen Haufen Spanier und Ah-raber aufnehmen könnten, hatte aber große Lust, die Kamele und Elefanten zu sehen. Ich stellte mich also am Sonnabend zur bestimmten Stunde ein und legte mich mit in Hinterhalt. Tom kommandierte und wir brachen los, stürmten aus dem Wald und rannten den Hügel hinunter. Mit den Spaniern, den Ah-rabern, Kamelen, Elefanten aber war’s Essig. Nur eine Sonntags-Schulklasse hatte einen Ausflug gemacht und sich im Gras gelagert und noch dazu nichts als die allerkleinsten Mädchen. Wir jagten sie auf und rannten hinter den Kindern her, eroberten aber nur etwas Eingemachtes und ein paar Stückchen Kuchen, Ben griff nach einer Puppe und Joe nach einem Gesangbuch, aber als die Lehrerin kam, warfen wir die Sachen weg und rannten davon. Diamanten hatte ich ebensowenig gesehen und sagte das Tom auch. Es seien doch massenhaft dagewesen, erwiderte er, desgleichen Ah-raber und Kamele und alles. Warum haben wir’s dann aber nicht gesehen? fragte ich. Er sagte, wenn ich kein solcher Dummkopf wäre und ein Buch gelesen hätte, das Domkuischote oder ähnlich hieß, so wüßte ich warum, ohne ihn zu fragen. Er sagte, es sei alles nur Zauberei gewesen. Es wären Hunderte von Soldaten und Elefanten und Schätze dort gewesen, aber wir hätten mächtige Feinde, Zauberer, die uns zum Trotz alles in eine Kleinkinder-Sonntagsschule verwandelt hätten. Darauf meinte ich, das sei alles ganz schön, dann wollten wir einmal ordentlich gegen die Zauberer losgehen. Tom Sawyer sagte, ich sei ein Esel.

»So ein Zauberer«, sagte er, »würde ein ganzes Heer von Geistern zur Hilfe rufen, und die würden dich in Stücke hauen, ehe du Amen sagen könntest. Die sind so groß wie Bäume und so dick wie Kirchtürme.«

»Gut«, sagte ich, »laß uns doch ein paar Geister nehmen, die uns helfen, dann wollen wir die andern schon zwingen.«

»Wie willst du sie denn bekommen?«

»Das weiß ich nicht. Wie kriegen die sie denn?«

»Die? Oh, ganz einfach. Die reiben eine alte Blechlampe oder einen eisernen Ring, und dann kommen die Geister angesaust mit Donner und Blitz und Rauch, und was man ihnen befiehlt, das tun sie. Es ist ihnen eine Kleinigkeit, einen Kirchturm aus der Erde zu reißen und ihn dem nächsten besten um den Kopf zu hauen.«

»Wer befiehlt ihnen denn?«

»Nun, der Zauberer, der die Lampe oder den Ring reibt, und sie müssen tun, was er sagt. Wenn er ihnen sagt, sie sollen einen Palast bauen, vierzig Meilen lang und ganz aus Diamanten und ihn mit Brustzucker oder Hustenleder oder irgend etwas füllen und dann die Tochter vom Kaiser von China holen zum Heiraten und – Gott weiß was noch – sie müssen alles tun. Und wenn man den Palast woanders hingestellt haben will, müssen sie ihn rings im Lande herumschleppen, bis er an der rechten Stelle ist und …«

»Aber«, sag‘ ich, »warum sind sie denn solche Esel und behalten den Palast nicht für sich selber, anstatt damit herum zukutschieren für andre. Wegen mir könnte, wer wollte, eine alte Blechlampe oder einen eisernen Ring reiben, bis er schwarz würde, mir fiel’s gar nicht ein, deswegen zu ihm zu laufen und mir befehlen zu lassen.«

»Wie du jetzt wieder redest, Huck Finn, du müßtest eben kommen, wenn du ein Geist wärst und einer riebe den Ring, ob du wolltest oder nicht.«

»Was? Und dabei war‘ ich so groß wie ein Baum und so dick wie ein Turm? Gut, ich käme, aber der riefe mich nicht zum zweitenmal, das kannst du mir glauben.«

»Pah, mit dir ist nicht zu reden, Huck Finn, du weißt und verstehst nicht» – du bist der vollkommenste Hohlkopf!«

Zwei oder drei Tage lang überlegte ich mir nun die Sache, und dann beschloß ich zu probieren, ob wirklich etwas dran sei. Ich verschaffte mir eine alte Blechlampe und einen eisernen Ring, ging hinaus in den Wald und rieb und rieb bis ich schwitzte wie ein Dampfkessel – ich hätte so gerne einen Palast zum Verkaufen gehabt. Aber es war alles umsonst, es kam kein Donner und kein Blitz und kein Dampf und kein Rauch und am allerwenigsten ein Geist. Da begriff ich denn, daß all‘ der Unsinn wieder einmal eine von Toms Lügen gewesen war. Er glaubt vielleicht an die Ah-raber und die Elefanten, ich aber denke anders – es schmeckte alles zu sehr nach der Sonntagsschule.

30. Kapitel

Ratten – Lebhafte Bettgenossen – Die Strohpuppe

30. Kapitel

Am Morgen schlichen wir uns ins nächste Dorf und erhandelten eine große Rattenfalle, trugen sie in den Keller, öffneten das größte Rattenloch und hatten in vielleicht einer halben Stunde fünfzehn der fettesten, prächtigsten Ratten gefangen. Im Nu schleppten wir, der Sicherheit halber, die ganze Ladung in der Falle unter Tante Sallys Bett, was der unnahbarste und geheiligtste Ort im ganzen Hause war, dem sich so leicht keine der kleinen Rangen zu nahen wagte, und machten uns auf die Spinnenjagd. Während wir weg waren, muß das Unglück den kleinen Thomas Franklin Benjamin Jeffersohn Alexander Phelps in die Nähe des Rattenverstecks führen! Die Bescherung entdecken und die Falle öffnen, war bei ihm natürlich eins; und als wir zurückkamen, um unser mühsam erworbenes Eigentum an uns zu nehmen, stand Tante Sally auf dem Bett und schrie Mord und Totschlag, Diebe, Räuber, Feuer, und die Ratten führten den tollsten Kriegstanz vor ihr auf, tobten, pfiffen und rasten über Bett, Tische und Stühle, daß einem Hören und Sehen verging. Als sich die wilde Jagd durch die von uns offengelassene Tür etwas verzogen hatte, kriegte die arme abgehetzte Frau einen Rohrstock her und klopfte uns, ohne viel zu fragen, die Kleider am Leibe tüchtig aus, und wir brauchten dann zwei volle Stunden, um weitere fünfzehn oder sechzehn Ratten zu fangen, die den andern an Größe und Schönheit aber lange nicht gleichkamen. Es waren eben auserlesen schöne Exemplare, wie ich sie nie wieder gesehen habe.

Wir legten uns außerdem einen tüchtigen Vorrat von verschiedenen Spinnen, Käfern, Fröschen, Raupen und sonst noch allerlei an und hätten gerne noch ein Hornissen-Nest gehabt, aber daraus wurde nichts. Dann ging’s auf die Schlangenjagd, und wir hatten bald einige Dutzend Blindschleichen und Ringelnattern beisammen, die wir in einem zugebundenen Sack auf unser Zimmer legten. Mittlerweile war die Zeit zum Abendessen gekommen. Ein ordentliches Tagewerk lag hinter uns, und wir hatten riesigen Hunger. So hieben wir denn tüchtig ein, und als wir wieder auf unser Zimmer kamen, da – da war keine einzige Schlange mehr zu sehen, alle weg, wie weggeblasen. Wir hatten den Sack nicht fest genug zugebunden, und die Racker hatten sich durchgeringelt. Das focht uns aber nicht viel an, denn wir dachten, weit könnten sie doch nicht sein, und sie würden sich schon wieder einfangen lassen. Wahrhaftig, in der nächsten Zeit konnte man sich über Schlangenmangel im Hause nicht beklagen. Immer ab und zu fiel mal eine von irgendwo herunter und immer gerade in die Schüssel, vor der man eben saß, oder auf den Teller oder hinten auf den Nacken, wenn man den Kopf neigte, kurz, immer dahin, wo man sie am wenigsten brauchen konnte. Schön waren sie aber alle und fein gestreift, und mich hätte eine Million davon nicht geniert. Tante Sally aber dachte anders, die haßte alle ohn‘ Ansehen der Person und Familie, ob gestreift oder gefleckt: sie konnte sie nicht ausstehen. Und jedesmal, wenn ihr eine in den Weg kam, ob von oben oder von unten, ließ sie alles liegen und stehen und lief mit Windeseile davon, und ihr Geschrei konnte man in Jericho hören. Nicht einmal mit der Feuerzange getraute sie sich eine anzufassen. Und wenn sie sich nachts im Bett umdrehte und zufällig ein solch armes, unschuldiges Tierchen berührte, schlug sie ein Geheul an, als ob das Haus in Flammen stünde. Ich konnte die Frau gar nicht begreifen! Ihren alten Mann regte sie so auf mit der Sache, daß er einmal sagte, er wollte, unser Herrgott hätte die Schlangen zu erschaffen vergessen. Nachdem schon eine ganze Woche lang die letzte Schlange spurlos aus dem Haus verschwunden war, hatte Tante Sally die Angst vor ihnen noch nicht verloren, noch nicht halb verloren. Wenn sie so still dasaß und an nichts dachte, brauchte man sie nur mit einer Feder auf den Hals zu tippen, und sie fuhr erschrocken herum und beinahe aus ihrer Haut heraus. Es war zu komisch! Tom sagte aber, alle Frauen seien so; er sagte, die seien so erschaffen, aus irgendeiner besonderen Ursache, warum, wisse er. selber nicht, aber so sei’s.

Wir bekamen jedesmal eine Tracht ab, wenn ihr eine Schlange über den Weg kroch, und sie bedeutete uns, es würde noch was ganz anderes setzen, wenn wir das Haus wieder damit bevölkerten. Daß wir’s gewesen, ließ sie sich trotz allen Zuredens nicht nehmen, ja, sie. war eine kluge Frau, die Tante Sally! Die Prügel genierten mich weiter nicht, ich war Besseres dieser Art gewöhnt, aber die Mühe, die wir hatten, um zu einem neuen Vorrat von Schlangen zu kommen, war verdrießlich. Na, uns gelang es doch, wieder eine Partie zusammenzubringen, und wir schafften sie nebst allem andern in Jims Hütte. Die hätte noch einmal so groß sein dürfen, um alle die‘ Einwohner bequem zu fassen. Das war ein Gewimmel! Aber lustig war’s, wenn sie bei der Musik alle um Jim herumschwärmten und ihm zu Leibe rückten. Die Spinnen machten ihm besonders heiß, die konnte er nicht leiden und sie ihn auch nicht, und so lag er mit ihnen immer im Kampfe. Er sagte, wegen all der Ratten und Schlangen und dem Mühlstein habe er gar keinen Platz mehr im Bett. Schlafen könne er ohnehin nicht mehr, selbst wenn er Platz hätte, so lebhaft gehe es bei ihm zu, und das immerwährend, ohne alle Unterbrechung, denn das Viehzeug schlafe nie zu gleicher Zeit; wenn die einen schliefen, wachten die andern. Seien die Schlangen einmal ruhig, dann machten’s die Ratten um so toller, und Spinnen und Käfer und das andre Getier ließen ihn überhaupt nie in Ruhe; kurz, er meinte, wenn er diesmal freikäme, wirklich und wahrhaftig frei, dann wolle er nie, nie mehr in seinem Leben Gefangener sein, und wenn ers’s bezahlt bekäme – lieber gleich auf einmal sterben! Na, nach Verlauf von drei Wochen war dann alles in bester Ordnung. Das Hemd war ebenfalls in einer Pastete hineingeschmuggelt worden, und wenn nun des Nachts Jim von einer Ratte gebissen wurde, benutzte er die Blutstropfen, um geschwind etwas in sein Tagebuch zu kritzeln, solange die Tinte noch frisch war. Die Federn waren gemacht, die Inschriften und was dazugehörte waren auf den Mühlstein geritzt, der Bettpfosten war durchsägt und das Sägmehl von uns aufgeleckt worden, wogegen unser Magen erstaunlich rebellierte, so daß wir meinten, alle sterben zu müssen, aber es ging noch gnädig vorüber. Wahrhaftig, das war das unverdaulichste Sägmehl, was mir je vorgekommen, und Tom meinte das auch. Also, wie gesagt, endlich war alles fertig; die Arbeit und Plage hatten uns freilich ziemlich mitgenommen, namentlich Jim, aber das tat nichts, wir waren stolz darauf! Onkel Silas hatte ein paarmal nach New Orleans geschrieben wegen des durchgebrannten Niggers, aber natürlich keine Antwort erhalten. Nun sprach er davon, Jim in den Zeitungen von St. Louis und New Orleans auszuschreiben. Als er die von St. Louis nannte, lief mir ein kalter Schauder über den Leib, und selbst Tom gab zu, daß nun keine Zeit mehr zu verlieren sei. Jetzt müssen die onnaniemen Briefe dran, sagte er.

»Die was?« fragte ich.

»Die onnaniemen Briefe!« wiederholte er, »das sind Warnungen an die Leute, daß etwas los sei. Einmal wird’s so gemacht und einmal anders. Aber einer muß immer herumspionieren und den Befehlshaber des Schlosses von allem in Kenntnis setzen. Als Ludwig XIV. von den Twillerieen durchbrennen wollte, hat’s ein Dienstmädchen besorgt. So kann man’s auch machen, aber ein onnaniemer Brief ist ebensogut. Wir können ja beides benützen. Und gewöhnlich wechselt die Mutter des Gefangenen die Kleider mit ihm und bleibt im Kerker zurück, während er wegschleicht. Das müssen wir auch tun!«

»Aber, Tom, das ist doch Unsinn; wozu sollen wir die Leute warnen, daß etwas los ist? Das ist doch ihre Sache; sie sollen selber aufpassen!«

»Das ist freilich wahr, aber ich traue denen hier nicht, die sind zu dickfellig, haben uns ja von Anfang an alles allein tun lassen. Die sind so blind und vertrauensselig, daß man ihnen erst alles unter die Nase reiben muß. Wenn wir sie also nicht warnen, lassen sie uns ganz ruhig und still abziehen, und all unsre viele Last und Arbeit ist umsonst – rein umsonst. Jims Befreiung geht dann ohne Sang und Klang vor sich, wir könnten ihm einfach ebensogut die Tür aufschließen und ihn bei hellem Tage bitten, doch gefälligst herauszuspazieren. Kein Hahn krähte danach!«

»Na, mir wär’s schon lieber, wir kämen still durch, aber…«

»Natürlich!« wirft er verächtlich hin.

»Aber«, fahr‘ ich fort, ohne mich unterbrechen zu lassen, »ich will nichts gesagt haben; was dir recht ist, ist mir auch recht. Wie machen wir’s also mit dem Dienstmädchen, das uns verraten soll?«

»Das mußt du sein! Du schleichst dich in der Nacht hin und nimmst dir das Kleid von dem gelben, halbwüchsigen Ding in der Küche!«

»Na, aber Tom! Das wird einen ordentlichen Lärm am andern Morgen geben, denn die hat wahrscheinlich nicht mehr als eins!«

»Ich weiß, ich weiß. Aber du brauchst ja auch nicht länger als fünfzehn Minuten, um den onnaniemen Brief unter der großen Haustür durchzuschieben!« – »Gut, ich bin bereit, aber ich könnt’s gerad‘ so gut in meinen eignen Kleidern tun!«

»Würdest du dann vielleicht wie ein Dienstmädchen aussehen, Huck Finn, he?«

»Nein! Aber ’s ist ja auch keiner da, der mich sieht, dann ist’s doch gleich, ob ich so oder so aussehe.«

»Das hat gar nichts damit zu tun, Huck, gar nichts. Für uns handelt sich’s nur darum, unsere Schuldigkeit zu tun, ob’s einer sieht oder nicht. Hast du denn gar keine Moral in dir?«

»Schon gut, schon gut, ich sag‘ ja nichts weiter. Also, ich bin das Dienstmädchen – wer ist Jims Mutter?«

»Die will ich sein. Ich leih‘ mir eins von Tante Sallys Kleidern, das soll ’ne flotte Mutter werden!«

»Aber, dann mußt du ja in der Hütte bleiben, wenn Jim und ich durchgehen!«

»Lang aber nicht, das sag‘ ich dir. Ich stopfe Jims Kleider mit Stroh aus und leg‘ die Puppe aufs Bett, die mag dann die Mutter darstellen, und Jim zieht Tante Sallys Kleider von mir an, und wir entweichen alle zusammen. Wenn nämlich irgendein Gefangener von Rang und Stand durchbrennt, ein König zum Beispiel, so nennt man es eine Entweichung

Tom schrieb also den onnaniemen Brief, und ich krippste das Kleid von dem kleinen Küchenmädel in der folgenden Nacht, warf’s über und schob den Brief unter die Tür, ganz wie mich’s Tom geheißen hatte.

Im Brief stand:

»Hütet euch! Unheil naht! Seid auf der Wacht!
Ein unbekannter Freund.«

In der nächsten Nacht befestigten wir eine von Tom mit Blut verfertigte Zeichnung, die einen Totenschädel über gekreuzten Gebeinen darstellte, an der Haupttüre und in der darauffolgenden Nacht die eines Sarges an der Hintertür.

Nie sah ich eine Familie in solcher Aufregung. Sie hätten nicht mehr in Angst sein können, wenn das ganze Haus voller Geister gewesen wäre und hinter jedem Schrank, hinter jeder Tür ein Totengerippe geklappert und geisterhaftes Seufzen und Stöhnen beständig durch die Luft gezittert hätte. Wurde eine Tür irgendwo zugeschlagen, so fuhr Tante Sally mit einem Wehruf in die Höhe, fiel etwas zu Boden, sprang sie wie von einer Feder geschnellt auf und schrie: »Herrje!« Kam man ihr zufällig nahe, ohne daß sie’s merkte, geschah dasselbe. Nie konnte sie ruhig bleiben, immer fuhr der Kopf nach hinten, um zu sehen, ob da alles in Ordnung sei. So drehte sie sich beständig um sich selbst und stieß ihr »Herrje« heraus, und ehe sie halbwegs mit einer Drehung fertig war, so fuhr sie schon wie besessen nach der anderen Seite herum. Sie fürchtete sich, zu Bett zu gehen, und hatte Angst aufzubleiben. Unser Schreckschuß hatte also seine Wirkung getan, Tom meinte, er habe noch nie eine befriedigendere erzielt. Er sagte, man sähe daraus, wie richtig wir gehandelt hatten.

»Jetzt zur letzten Bombe!« rief er. Die Zeit zum Haupt- und Schlußakt sei gekommen! Vor Anbruch des nächsten Tages hatten wir also einen zweiten Brief fertig und überlegten, was wir damit beginnen sollten, denn wir hatten sie beim Abendessen sagen hören, daß diese Nacht ein Nigger die Türen bewachen müsse. Tom ließ sich dann am Blitzableiter hinunter und spähte umher, und da er den Nigger an der Hintertüre schlafend fand, steckte er ihm den Brief hinten in seinen Halskragen.

Der Brief lautete:

»Verratet mich nicht, ich möchte Euer Freund sein! Eine mordgierige Räuberbande drüben aus den Indianergebieten plant diese Nacht, Euren gefangenen Nigger zu befreien, und sie haben versucht, Euch einzuschüchtern, damit sich niemand aus dem Hause wagt und ihnen so freie Hand bleibt. Ich selbst gehöre der Bande an, mein edler Sinn aber erlaubt mir nicht, dieser Schandtat beizuwohnen, ohne wenigstens den Versuch einer Warnung zu wagen. Mein heißester Wunsch ist, die Räuber und Mörder zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. So verrat‘ ich denn den höllischen Plan! Sie werden von Norden her einbrechen und mit einem falschen Schlüssel die Tür der Hütte öffnen, um den Nigger zu befreien. Ich selbst bin als Wache ausgestellt und soll auf einem Horn blasen, sobald Gefahr im Anzug ist. Statt dessen werde ich wie ein Schaf blöken, sobald sie in die Hütte eindringen. Dann – während sie die Ketten lösen – könnt Ihr die Türe schließen und sie nach Belieben töten. Tut genau, wie ich Euch sage, sonst riechen sie Lunte, und alles ist Essig! Belohnung verlange ich keine; das Bewußtsein, meine Pflicht getan zu haben, genügt mir.

Ein unbekannter Freund.«