Ein türkisches Bad.


Ein türkisches Bad.

Wenn ich daran denke, wie ich durch Beschreibungen von Reisen im Orient beschwindelt worden bin, so könnte ich ganz rasend werden. Jahraus, jahrein habe ich von den Wundern des türkischen Bades geträumt, und jahraus, jahrein habe ich mir versprochen, ich solle noch eines zu genießen bekommen. Ach, wie oft habe ich in Gedanken in dem Marmorbade gelegen und die einschläfernden Düfte morgenländischer Gewürze, welche die Luft erfüllten, eingeatmet; habe dann eine geheimnisvolle und verwickelte Prozedur von Ziehen und Recken, Naßmachen und Abreiben durchgemacht, welche von einer Schar nackter Wilder ins Werk gesetzt wurde, die gleich Dämonen in den dampfenden Nebeln auftauchten; habe dann eine Weile auf einem Diwan, der sich für einen König paßte, ausgeruht; bin darauf durch eine zweite Feuerprobe und zwar durch eine furchtbarere als die erste hindurchgegangen und schließlich, in weiche Stoffe gehüllt, in einen fürstlichen Saal gebracht und auf ein Bett von Eiderdunen gelegt worden, wo Eunuchen in prachtvoller Tracht mir Kühlung zufächelten, während ich in träumerischem Halbschlummer dalag oder mit Behagen auf die reichen Behänge des Gemachs, die weichen Teppiche, die prächtigen Hausgeräte und Bilder hinschaute, köstlichen Kaffee trank, das beruhigende Nargileh rauchte und zuletzt, eingelullt von wollüstigen Düften aus ungesehenen Räucherpfannen, von dem sänftigenden Einflusse des persischen Tabaks und von der Musik plätschernder Springbrunnen, die das Tröpfeln eines Sommerregens nachahmten, in ruhigen Schlaf versank.

Es war ganz das Bild, wie es in den phantasievollen Reisebüchern steht. Aber es ist eine elende Täuschung.

Man empfing mich in einem großen Hofe, der mit Marmorplatten gepflastert war. Ringsherum liefen breite Galerien, eine über der andern, mit schmutzigen Matten statt mit Teppichen belegt, und von unangestrichenen Balustraden eingefaßt. Möbliert waren sie mit riesigen gichtbrüchigen Stühlen, darauf zerfressene alte Matratzen als Sitzkissen, eingebogen und ausgehöhlt durch die Eindrücke, welche die Formen von neun aufeinanderfolgenden Generationen, die auf ihnen geruht, zurückgelassen hatten. Der Raum war groß, kahl, öde, der Hof eine Scheune, die Galerien wie Pferdeställe. Die leichenhaften, halbnackten Knechte, die in dem Etablissement Dienste leisteten, hatten in ihrer Erscheinung nichts von Poesie, nichts von Romantik, nichts von morgenländischer Pracht. Sie verbreiteten keine entzückenden Düfte – vielmehr das Gegenteil. Ihre hungrigen Augen und ihre hageren Gestalten ließen einen fortwährend an eine sehr prosaische Tatsache denken, – daß sie Verlangen trugen nach dem, was man in Kalifornien »eine rechtschaffene Abfütterung« nennt.

Ich ging in eine von den Zellen und entkleidete mich. Ein unsauberer, verhungert aussehender Bursche umhüllte seine Lenden mit einem bunten Tischtuche und hing mir einen weißen Fetzen über die Schultern. Ich wurde sodann in den Hof hinabgeführt, der so feucht und schlüpfrig war, daß ich ausglitt und hinfiel. Mein Fall rief jedoch keinerlei Bemerkung hervor. Man hatte ihn ohne Zweifel erwartet. Er gehörte offenbar zu der Reihe sänftigender, wollüstiger Eindrücke, die dieser Heimstätte des morgenländischen Luxus eigentümlich sind. Man gab mir ein Paar hölzerne Pantoffeln oder vielmehr Brettchen, mit Lederstrippen daran, um sie an den Füßen festzuhalten (was sie auch getan haben würden, wenn ich eine andere Nummer trüge). Diese Dinge baumelten unbequem an den Strippen, wenn ich die Füße erhob, und wenn ich sie wieder niedersetzte, drehten sie sich seitwärts, daß meine Fußknöchel umknickten und schier aus dem Gelenke gingen. Indes war alles morgenländischer Luxus, und ich tat, was ich konnte, um mich seiner zu erfreuen.

Man brachte mich in einen andern Teil der Scheune und legte mich auf eine Art von Pritsche, die nicht etwa aus Goldbrokat oder persischen Schals bestand, sondern dasselbe einfache und anspruchslose Ding war, das ich in den Negerquartieren von Arkansas fand. In diesem düstern Marmorgefängnis befand sich weiter gar nichts als noch fünf von diesen Bahren. Es war ein sehr feierlicher Ort. Ich erwartete jetzt, die balsamischen Düfte Arabiens würden nunmehr meine Sinne gefangen nehmen, aber es war nichts. Ein kupferfarbenes Gerippe, das einen Fetzen umgehangen hatte, brachte mir eine bauchige Flasche mit Wasser, mit einer glimmenden Tabakspfeife obendrauf und einem biegsamen und langen Schlauch daran, der in ein messingenes Mundstück auslief.

Es war das berühmte Nargileh des Morgenlandes – das Ding, welches der Großtürke auf Bildern zu rauchen pflegt. Das fing in der Tat an, wie Luxus auszusehen. Ich tat einen Zug daraus, und der genügte mir; der Rauch drang mir in einer großen Wolke hinunter in den Magen, in die Lungen, ja bis in die äußersten Enden des Gebäudes meines Körpers. Ich platzte mit einem einzigen mächtigen Husten los, und es war, als ob der Vesuv ausgebrochen wäre. Die nächsten fünf Minuten qualmte ich aus allen Poren, wie ein Bretterhaus, das inwendig brennt. Ich danke schön für alle Zeit für den weiteren Genuß des Nargileh. Der Rauch hatte einen niederträchtigen Geschmack, und noch widerwärtiger war der Geschmack von Tausenden von ungläubigen Zungen, der an jenem messingenen Mundstück hing. Ich fing an den Mut zu verlieren. Wenn ich künftig wieder den Großtürken in vorgeblichem seligem Behagen außen auf einem Paket mit Connecticut-Tabak sein Nargileh schmauchen sehe, werde ich wissen, daß es nichts ist als schamloser Schwindel.

Mein Gefängnis war mit heißer Luft gefüllt. Als ich hinreichend durchwärmt war, um für eine noch wärmere Temperatur vorbereitet zu sein, führten sie mich in ein Marmorzimmer, feucht, schlüpfrig und voll Dampf, und legten mich auf eine erhöhte Plattform im Mittelpunkte. Es war hier sehr warm. Bald darauf setzte mich mein Mann neben einen Trog mit heißem Wasser, begoß mich tüchtig, zog über seine rechte Hand einen groben Badehandschuh und begann mich über und über mit demselben zu reiben. Ich fing an garstig zu riechen. Je mehr er rieb, desto garstiger roch ich. Es war beunruhigend. Ich sagte zu ihm:

»Ich merke jetzt, daß ich so ziemlich hin bin. Vernünftigerweise sollte man mich ohne allen unnötigen Zeitverlust begraben. Vielleicht täten Sie am besten, ohne Verzug zu meinen Freunden zu gehen, weil das Wetter heiß ist, und ich deshalb nicht lange halten werde.«

Er fuhr fort mich zu schaben, ohne auf meine Worte zu achten. Ich bemerkte bald, daß er meinen Umfang verkleinerte. Unter dem Druck seines Fausthandschuhs gingen kleine Würstchen von mir ab, die wie Makkaroni aussahen. Es konnte kein Schmutz sein; denn dazu war es zu weiß. Nachdem er mich eine geraume Zeit in dieser Weise abgehobelt hatte, sagte ich:

»Das ist ein langweiliges Verfahren. Es wird Stunden erfordern, um mich zu dem Umfang abzuschaben, den Sie mir zu geben gedenken. Gehen Sie und holen Sie lieber einen Schrubbhobel.«

Er gab durchaus keine Acht auf das, was ich sagte.

Nach einer Weile brachte er ein Becken, etwas Seife und ein Ding, das wie ein Pferdeschwanz aussah. Er schlug eine ungeheure Masse Seifenschaum, überflutete mich damit vom Kopf bis zu den Füßen, ohne mir vorher zu sagen, ich solle die Augen schließen, und fegte mich alsdann mit heimtückischer Heftigkeit vermittelst seines Pferdeschwanzes. Dann ließ er mich als schneeweiße Bildsäule von Seifenschaum zurück und ging seiner Wege. Als ich des Wartens überdrüssig war, ging ich ihm nach und spürte ihn auf. Er lehnte eingeschlafen an der Wand in einem andern Gemache. Ich weckte ihn auf. Dies brachte ihn keineswegs aus der Fassung. Er führte mich zurück, übergoß mich mit heißem Wasser, setzte mir einen Turban auf den Kopf, kleidete mich in trockene Tischtücher und geleitete mich zu einer Art Hühnerkäfig in einer der Galerien und zeigte auf eine jener vorhin beschriebenen Pritschen. Ich legte mich hinauf und gab mich wieder der unbestimmten Erwartung hin, jetzt würden sich die arabischen Wohlgerüche einstellen. Sie kamen nicht. Dafür kam ein dürrer Diener mit einem Nargileh. Ich bewog ihn, es ohne Zeitverlust wieder hinauszutragen. Darauf brachte er den weltberühmten türkischen Kaffee, den Poeten viele Generationen hindurch so hinreißend besungen haben, und ich warf mich auf ihn los als die letzte Hoffnung, die mir von meinen Träumen vom morgenländischen Luxus geblieben war. Es war wieder eine Täuschung. Von allen unchristlichen Getränken, die je über meine Lippen gingen, ist der türkische Kaffee das schlimmste. Die Tasse ist klein, mit Bodensatz beschmiert, der Kaffee schwarz, von unangenehmem Geruch und abscheulichem Geschmack. Am Boden der Tasse sitzt ein schlammiger Niederschlag, einen halben Zoll tief. Dieser geht die Kehle hinab und dabei bleiben Teilchen davon unterwegs hängen und bewirten ein unbehagliches, kitzelndes Gefühl, welches einen stundenlang bellen und husten läßt.

Hier endet meine Erfahrung von dem vielgerühmten türkischen Bade, und hier endigt auch mein Traum von dem seligen Behagen, in welchem der Sterbliche schwelgt, der ein solches durchmacht. Es ist ein boshafter Schwindel. Der Mensch, dem es gefällt, ist geeignet, sich alles gefallen zu lassen, was dem Gesichts- und Gefühlssinn widerwärtig ist, und der, welcher es mit dem Zauber der Poesie zu umgeben vermag, ist auch imstande, desgleichen zu tun mit allem andern in der Welt, was langweilig, erbärmlich, trübselig und garstig ist.

Ein Besuch des Niagara.


Ein Besuch des Niagara.

Das Städtchen ›Niagara Falls‹ ist ein sehr beliebter Vergnügungsort, die Gasthäuser sind vortrefflich und die Preise durchaus nicht übertrieben. Eine bessere Gelegenheit für den Fischfang gibt es im ganzen Lande nicht, ja, sie ist sogar nirgends auch nur annähernd so gut wie hier, denn, während anderswo gewisse Stromstellen den übrigen bedeutend vorzuziehen sind, ist am Niagara eine Stelle gerade so gut wie die andere. Der Fisch beißt hier nämlich nirgends an, und so ist es ganz überflüssig, daß man erst fünf Meilen weit geht, um zu fischen, weil man fest darauf rechnen kann, daß man näher am Hause ebensowenig Erfolg haben wird. Dieser Zustand der Dinge hat Vorzüge, welche dem Publikum noch niemals recht zu Gemüt geführt worden sind.

Das Wetter ist im Sommer kühl, die Ausflüge zu Fuß und zu Wagen alle angenehm und nicht ermüdend. Wenn man den Wasserfall ›abmachen‹ will, fährt man erst ungefähr eine Meile stromabwärts und bezahlt dann eine Kleinigkeit für die Berechtigung, von einem Felsvorsprung auf die schmalste Stelle des Niagaraflusses hinabzusehen. Ein Eisenbahndurchstich durch einen Berg würde ebenso hübsch sein, wenn in seiner Tiefe, wie hier, ein rasender Fluß seine Wogen tobend und schäumend vorüberwalzte. Man kann nun auf einer Treppe hundertundfünfzig Fuß hinabsteigen und am Rande des Wassers stehen. Nachdem man es getan, fragt man sich verwundert, warum man es getan hat – aber dann ist es zu spät.

Der Führer beschreibt uns darauf in seiner schauerlichen Weise, die einem das Blut in den Adern gerinnen macht, wie er den kleinen Dampfer, ›die Nebeljungfrau‹, die gräßlichen Stromschnellen hinunterfahren gesehen hat – wie erst ein Radkasten in den wütenden Wellen verschwand, dann der andere – an welcher Stelle ihr Dampfschlot über Bord stürzte, wo ihre Planken anfingen zu brechen und sich auseinanderzuspalten – und wie sie endlich dennoch mit dem Leben davonkam, nachdem sie das Ungeheuerliche geleistet hatte, siebzehn Meilen in sechs Minuten zurückzulegen – oder sechs Meilen in siebzehn Minuten – ich habe wirklich vergessen, welches von beiden. Aber jedenfalls war es etwas ganz Außerordentliches. Schon den Führer die Geschichte neunmal hintereinander verschiedenen Personen erzählen zu hören, ohne daß er jemals ein Wort ausläßt, einen Satz oder eine Gebärde verändert, ist das Eintrittsgeld wert. Dann fährt man über die Hängebrücke, wobei es einem ganz jämmerlich zumut wird, denn man stellt sich unwillkürlich vor, daß man hier entweder zweihundert Fuß tief in den Fluß hinunterstürzen oder den Eisenbahnzug über unserem Kopf auf uns niederschmettern könnte. Jede dieser Möglichkeiten ist an sich unbehaglich, aber beide zusammengenommen, versetzen uns in die elendeste Stimmung.

Auf der kanadischen Seite fahren wir an der Schlucht hin, zwischen langen Reihen von Photographen, welche hinter ihren Kasten Wache stehen, um uns und unser wackliges Fuhrwerk im Vordergrund ihres Bildes prangen zu lassen, wahrend der erhabene Niagara nur verkleinert und wesenlos im Hintergrunde erscheint. Sollte man es für möglich halten, daß eine Menge Leute aus unglaublicher Frechheit oder angeborener Nichtsnutzigkeit diese Art von Verbrechen anstiften oder denselben Vorschub leisten!?

Tagtäglich gehen aus den Händen dieser Photographen stolze Bilder von Papa und Mama, mit oder ohne Kindern, hervor, alle einfältig lächelnd, alle in gekünstelten, unbequemen Stellungen auf den Wagensitzen gruppiert, alle in blödsinniger Größe emporragend vor der in verkleinertem Maßstab übel zugestutzten Darstellung des majestätischen Naturwunders, des Falles, dessen dienende Geister die Regenbogen sind, dessen Stimme der Donner ist, dessen ehrfurchtgebietende Stirn sich in Wolken hüllt. Er war hier König vor vergangenen und vergessenen Zeitaltern, ehe dieses Menschengewürm geschaffen ward, um auf eine Spanne Zeit in den ungezählten Welten der Schöpfung eine Lücke auszufüllen. Und er wird hier herrschen, jahrhunderte- und jahrtausendelang, nachdem dies Geschlecht zu dem andern Gewürm, seinen Blutsverwandten, versammelt worden ist und sich mit ihrem toten Staub vermischt hat.

Es richtet zwar keinen Schaden an, wenn man den Niagara zum Hintergrunde wählt, um die eigene, wunderbare Bedeutungslosigkeit in gutes, starkes Licht zu stellen, aber es gehört eine übermenschliche Selbstgefälligkeit dazu, um so etwas zu tun.

Hat man den ungeheuern Hufeisen-Fall lange genug betrachtet, um sich zu überzeugen, daß nichts daran zu verbessern ist, so kehrt man über die neue Hängebrücke nach Amerika zurück und geht am Ufer entlang, wo die Höhle der Winde besichtigt werden muß.

Hier legte ich, wie man mir riet, meine sämtlichen Kleidungsstücke ab und zog eine wasserdichte Jacke und ebensolche Beinkleider an. Diese Tracht ist malerisch, aber nicht schön. Ein ähnlich gekleideter Führer ging uns auf einer Wendeltreppe voran, die sich hinab wand und wand und fortfuhr sich zu winden, lange nachdem das Ding aufgehört hatte, etwas Neues zu sein; ehe es aber noch anfing ein Vergnügen zu werden, ging es zu Ende. Wir waren jetzt unterhalb des Wassersturzes, aber noch immer in beträchtlicher Höhe über der Oberfläche des Stromes.

Nun begannen wir über unsichere Brücken, die aus einer einzigen Planke bestanden, behutsam weiterzuschreiten; vor dem Untergang schützte unsere Leiber nur ein gebrechliches Holzgeländer, an das ich mich mit beiden Händen anklammerte – nicht etwa aus Furcht, sondern weil es mir so gefiel. Es ging immer steiler hinab, die Brücke wurde immer gebrechlicher und der Sprühregen des amerikanischen Falles traf uns mit immer stärkeren Güssen, so daß wir bald nicht mehr aus den Augen sehen konnten. Von nun an drangen wir nur tastend weiter. Ein rasender Wind begann hinter dem Wasserfall hervorzubrausen und schien entschlossen, uns von der Brücke zu fegen, an dem Felsen zu zerstücken und unten in die Stromschnellen zu schleudern. – Ich sagte, ich wolle nach Hause – aber es war zu spät. Wir befanden uns beinahe unter der riesigen Wasserwand, die von oben herabdonnerte, das Reden war ganz vergeblich inmitten eines solchen Höllenlärms.

Im nächsten Augenblick verschwand der Führer hinter der Sündflut, und, von dem Donner betäubt, vom Winde hilflos weiter getrieben, von dem niederprasselnden Regensturm wie mit Geißeln gepeitscht, folgte ich ihm. Alles war Finsternis. Solch ein tolles Stürmen, Brüllen und Heulen von kämpfenden Winden und Wasserfluten hatte mir noch nie in den Ohren gedröhnt. Ich bückte den Kopf nieder und der Ozean schien mir auf den Nacken zu fallen. Der Weltuntergang schien gekommen. Die Flut goß so gewaltig hernieder, daß ich nicht das mindeste sehen konnte. Als ich den Kopf mit offenem Munde emporrichtete, lief mir der größte Teil des amerikanischen Katarakts die Kehle hinunter. Wenn ich jetzt einen Leck bekommen hätte, wäre ich verloren gewesen. In diesem Augenblick entdeckte ich, daß die Brücke zu Ende war und wir auf den schlüpfrigen, abschüssigen Felsen einen Halt für unsere Tritte suchen mußten. In meinem ganzen Leben hatte ich noch keine solche Angst ausgestanden, ohne daran zu sterben! – Endlich aber arbeiteten wir uns durch und kamen wieder ans Tageslicht, wo wir der brausenden, schäumenden und wallenden Wasserwelt gegenüber standen und sie anstaunen konnten. Als ich von vorn die große Masse sah, die es so furchtbar ernstlich betrieb, tat mir’s leid, daß ich dahinter gegangen war.

Nach der Besichtigung der ›Fälle‹ begab ich mich in das nahe dabei gelegene Städtchen ›Niagara Falls‹. Als ich in den dortigen Läden die Ausstellung von allen möglichen Indianerartikeln sah: Perlarbeiten, Mokassins und Figürchen, welche menschliche Wesen darstellen sollten, da übermannte mich die Rührung. Ich dachte, daß ich nun endlich die edle Rothaut von Angesicht zu Angesicht zu sehen bekommen werde. Der Indianer ist immer ein Freund und Liebling von mir gewesen. Ich mag gern in Geschichten, Sagen und Romanen von dem Indianer lesen, von seinem angeborenen Scharfsinn, seiner Liebe zum wilden, freien Leben in Gebirge und Wald, von dem Adel seiner Gesinnung, von seiner bilderreichen Redeweise, seiner ritterlichen Liebe zu der braunen Maid und von seiner malerischen Tracht.

Von der Verkäuferin in einem Laden erfuhr ich, daß sämtliche Merkwürdigkeiten, die darin zur Schau gestellt waren, wirklich von den Indianern verfertigt seien. Sie sagte, man könne bei den Fällen stets viele antreffen, die friedlich und freundlich wären, so daß es durchaus nicht gefährlich sei, mit ihnen zu sprechen. Und richtig – als ich mich der Brücke näherte, die nach der Luna-Insel führt, stieß ich auf einen edlen Sohn der Wälder, welcher eifrig an einem Strickbeutel aus Glasperlen arbeitend unter einem Baume saß. Er trug einen Schlapphut und Holzschuhe und hatte eine kurze schwarze Pfeife im Munde. So sehr schwindet bei der verderblichen Berührung mit unserer verweichlichten Zivilisation die malerische Pracht, die dem Indianer natürlich ist, wenn er, fern von uns, in seinen heimatlichen Jagdgründen lebt! – Ich redete diese Ruine ihres Stammes also an:

»Ist der Wawhoo Wang des Whackawacks glücklich? Sehnt sich der große gefleckte Donner nach dem Kriegspfad – oder ist Sein Herz zufrieden, wenn es von dem braunen Mädchen, dem Stolz der Wälder, träumt? – Dürstet der mächtige Sachem danach, das Blut seiner Feinde zu trinken – oder genügt es Ihm, Arbeitsbeutel für die Töchter der Bleichgesichter zu machen? Sprich, herrlicher Nachkomme verschwundener Größe – ehrwürdige Reliquie, sprich!«

Hierauf die Reliquie:

»Was – mich, Dennis Hooligan, haltet Ihr vor so ’nen schmierigen Indianer, Ihr näselnder, hohlbackiger, spinnebeiniger Teufelskerl? Bei dem Pfeifer, der vor Moses spielte, ich mach‘ Euch den Garaus!«

Da fand ich für gut, mich zu entfernen.

Bald darauf traf ich beim Terrapin-Turm eine sanfte Tochter der Ureinwohner in befranzten und perlengestickten Mokassins und Gamaschen. Sie saß auf einer Bank, ihre zierlichen Waren um sich her ausgebreitet. Soeben hatte sie einen Häuptling aus Holz geschnitzt, der eine starke Familienähnlichkeit mit einer Waschklammer aufwies, und bohrte ihm nun ein Loch in den Unterleib, um seinen Bogen hindurchzustecken.

Ich zögerte einen Augenblick, dann redete ich sie an.

»Ist dem Mädchen der Wälder das Herz schwer? Fühlt sich die lachende Kaulquappe einsam? Trauert Sie über das erloschene Beratungsfeuer ihres Stammes und die entschwundene Herrlichkeit ihrer Vorfahren? Oder schweift Ihr schwermütiger Geist weit fort nach den Jagdgründen, zu denen Ihr tapferer Blitz-Verschlinger gezogen ist? – Warum schweigt meine Tochter? Ist Sie dem fremden Bleichgesicht nicht wohlgesinnt?«

Darauf das Mädchen:

»Na, so was! Mich, Biddy Malone, nimmt Er sich ‚raus zu schimpfen. Mach‘ Er sich davon, sonst schmeiß ich Sein dürres Gerippe in den Wasserfall, Er lumpiger Bummler!«

Auch hier ging ich von dannen.

»Hol‘ der Henker diese Indianer,« dachte ich. »Man hat mir doch erzählt, sie wären zahm – aber wenn der Schein nicht völlig trügt, sollte ich meinen, sie wären alle auf dem Kriegspfade.«

Noch einen Versuch machte ich – einen letzten – mich mit ihnen zu verbrüdern. Ich stieß auf eins ihrer Lager, wo ich sie im Schatten eines Baumes versammelt fand, beschäftigt, Wampum und Mokassins anzufertigen, und redete mit ihnen in der Sprache der Freundschaft:

»Edle Rothäute,« sagte ich, »tapfere, große Sachems, Kriegshäupter, Squaws und hohe Muckamucks, das Bleichgesicht vom Lande der untergehenden Sonne grüßt euch! du, Mildtätiger, Iltis – du, Berge-Verschlinger, – du, – brüllender Donnerschlag – du, Kampfhahn mit dem Glasauge – das Bleichgesicht von jenseits des großen Wassers bietet euch allen seinen Gruß. Krieg und Seuchen haben eure Reihen gelichtet und eure einst so stolze Nation dem Untergang geweiht; Poker, Sieben Oben1 und der eitle, neumodische Kostenaufwand für Seife, die euern ruhmvollen Ahnen unbekannt war, haben euern Beutel geleert. Daß ihr euch in eurer Einfalt das Eigentum anderer zugeeignet habt, brachte euch in Ungelegenheiten. Eine falsche Darstellung von Tatsachen, die eurer Harmlosigkeit entsprang, hat euern Ruf in den Augen des seelenlosen Bedrückers geschädigt. Ihr habt Tauschhandel getrieben, um Feuerwasser zu bekommen, euch zu betrinken, euch glücklich zu fühlen und eure Familien mit dem Tomahawk umzubringen. Das hat die malerische Pracht eurer Kleidung für alle Zeit zugrunde gerichtet. Da steht ihr nun, in der grellen Beleuchtung des neunzehnten Jahrhunderts, aufgeputzt wie die Haderlumpe und der Janhagel aus den Vorstädten von Neuyork! Schande über euch! Gedenket eurer Ahnen! Ruft euch ihre Großtaten zurück! Erinnert euch an Unkas, an die Rote Jacke, das Loch im Tage und Whoopdedoodledo! Eifert ihren Taten nach! Sammelt euch unter meinem Banner, edle Wilde, gefeierte Gurgelabschneider!«

»Nieder mit ihm!« – »Zerschlagt ihm das Großmaul!« – »Verbrennt ihn!« – »Hängt ihn!« – »Schmeißt ihn ins Wasser!«

Ein schnelleres Verfahren war noch nicht dagewesen. – Ich sah es nur plötzlich in der Luft aufblitzen von Knütteln, Backsteinen, Fäusten, Körben mit Glasperlen und Mokassins – wie ein einziger Strahl, denn das alles schien mich zu gleicher Zeit zu treffen, doch jedes auf einer anderen Stelle! Im nächsten Augenblick fiel der ganze Stamm über mich her. Sie rissen mir die Hälfte meiner Kleider vom Leibe; sie brachen mir Arme und Beine entzwei; sie versetzten mir einen Schlag auf den Kopf, der eine Einbucht in meine Schädeldecke machte, daß man hätte daraus Kaffee trinken können, wie aus einer Untertasse; und um ihr schändliches Werk zu krönen und zum Schimpf noch Schaden zu fügen, warfen sie mich in den Niagarafluß, daß ich naß wurde.

Ungefähr neunzig oder hundert Fuß vom oberen Rande blieb ich mit den Fetzen meiner Weste an einer vorspringenden Felsecke hängen und würde fast ertrunken sein, ehe ich loskommen konnte. Endlich fiel ich und tauchte am Fuß des Falles wieder auf, in einer Welt von weißem Schaum. Natürlich geriet ich in den Strudel. Ich kreiste darin vierundvierzigmal herum, hinter einem Holzspan her, dem ich immer näher kam – vierundvierzigmal griff ich nach demselben Busch am Ufer und verfehlte ihn jedesmal um eines Haares Breite.

Endlich kam ein Mann heruntergegangen, setzte sich dicht bei dem Busch nieder, steckte seine Pfeife in den Mund, strich ein Zündholz an und verfolgte mich mit einem Auge, während er das andere auf das Hölzchen richtete, das er mit den Händen vor dem Wind schützte. Aber ein Windstoß blies es aus. Als ich das nächste Mal herumkreiste, redete er mich an.

»Haben Sie ein Streichholz?«

»Ja, in meiner andern Westentasche; helfen Sie mir, bitte, heraus.«

»Für kein Geld!«

Als ich wieder herumkam, sagte ich:

»Entschuldigen Sie die anscheinend unbescheidene Neugier eines Ertrinkenden; aber wollen Sie mir gefälligst Ihr sonderbares Verhalten erklären?«

»Sehr gern. Ich bin der Leichenbeschauer. Beeilen Sie sich nicht um meinetwillen – ich kann auf Sie warten. Aber ich wollte, ich hätte ein Zündholz!«

Ich sagte: »Kommen Sie an meine Stelle und ich will Ihnen eins holen.«

Er ging auf diesen Vorschlag nicht ein, und dieser Mangel an Vertrauen seinerseits erzeugte eine Verstimmung zwischen uns. Von da ab vermied ich ihn und nahm mir vor, falls mir etwas zustieße, die Katastrophe so zu berechnen, daß meine Kundschaft dem Leichenbeschauer drüben auf der amerikanischen Seite zufiele.

Zuletzt kam ein Polizist des Weges, der mich verhaftete, weil ich durch mein Hilfegeschrei die öffentliche Ruhe am Ufer störe. Der Richter legte mir eine Geldbuße auf, aber da zog er den kürzeren. Mein Geld war in meinen Beinkleidern – und meine Beinkleider waren bei den Indianern.

So bin ich dem Tode entgangen. Ich liege aber jetzt hier in sehr kritischer Verfassung. Doch liege ich wenigstens, kritisch oder nicht kritisch. Ich bin am ganzen Leib voll Wunden, und der Doktor, der mich behandelt, meint, er werde vor heute abend mit der Aufnahme meiner Verletzungen nicht fertig sein. Indessen sagt er schon jetzt, daß nur sechzehn von meinen Wunden gefährlich sind – auf die übrigen lege ich keinen Wert.

Als ich wieder zum Bewußtsein kam, sagte ich:

»Das ist ein gräßlich wilder Indianerstamm, der die Perlarbeiten und Mokassins für ›Niagara Falls‹ macht, Doktor. Wo kommen die Leute wohl her?«

»Aus Limerick,2 mein Freund.«

  1. Kartenspiele.
  2. Die ›Wilden‹ sind Irländer, aus denen, wie bekannt, das rauflustigste Gesindel in den amerikanischen Städten besteht.

Herrn Blokes ›Eingesandt‹.


Herrn Blokes ›Eingesandt‹.

Unser verehrter Freund, Herr John William Bloke aus Virgina-City, trat gestern abend spät in unser Bureau ein, wo ich als zweiter Redakteur tätig war. Sein Gesicht war schmerzentstellt. Mit dem Ausdruck herzzerreißenden Jammers, unter schweren Seufzern legte er das nachfolgende ›Eingesandt‹ auf das Pult und wandte sich mit abgemessenem Schritt dem Ausgang zu. An der Tür hielt er inne, schien mit Gewalt seine Gefühle zu bemeistern, nickte dann nach seinem Manuskript hin und hauchte, in Tränen ausbrechend, mit zitternder Stimme die Worte:

»Einer meiner Freunde! ach, entsetzlich!« Sein Kummer rührte mich so sehr, daß ich ganz vergaß ihn zurückzurufen, um ihm Trost zuzusprechen, bis er fort und es zu spät war. Das Blatt befand sich schon in der Presse, aber da ich wußte, daß unser Freund der Veröffentlichung seiner Mitteilung große Wichtigkeit beilegte und hoffte, es würde seinem kummervollen Herzen einen traurigen Genuß bereiten, dasselbe im Druck vor Augen zu haben, ließ ich sofort die Maschine anhalten und den Artikel in unsere Spalten einfügen.

»Entsetzlicher Unglücksfall,

Gestern abend 6 Uhr, als Herr William Schuyler, ein alter, ehrenhafter Bürger aus South-Park, seine Wohnung verließ, um sich in die untere Stadt zu begeben, wie es seit Jahren seine Gewohnheit ist, von der er nur im Frühling 1850 für kurze Zeit eine Ausnahme machte, als er genötigt war, wegen einer Verletzung das Bett zu hüten, die er sich bei dem Versuch zugezogen, ein durchgegangenes Pferd aufzuhalten, indem er kopfloserweise mit heftigen Gebärden hinter ihm drein schrie, ein Verfahren, welches das Tier, selbst einen Augenblick früher, unfehlbar erschreckt statt aufgehalten haben würde, und das, obgleich für ihn unheilvoll genug, doch noch entsetzlicher gemacht wurde durch den Umstand, daß seine Schwiegermutter zur Stelle war und Augenzeugin des traurigen Ereignisses sein mußte, während sie doch möglicherweise, wenn auch nicht mit Sicherheit anzunehmen, ebensogut anderswo Umschau nach Unglücksfällen hätte halten können, was übrigens gar nicht in ihrer Natur lag, vielmehr gerade im Gegenteil, wie ihre eigene Mutter gesagt haben soll – Gott hab‘ sie selig, sie starb vor ungefähr drei Jahren im sechsundachtzigsten Jahr in der gewissen Hoffnung einer seligen Auferstehung, denn sie war eine christliche Frau, sozusagen ohne Falsch und ohne Vermögen, was dem großen Brand Anno 1849 zuzuschreiben ist, der ihr sämtliche Habe einäscherte. Aber so geht es im Leben! Diese schauervolle Begebenheit möge uns allen zur Warnung dienen und uns anspornen, so gut zu leben, daß wir, wenn es einst ans Sterben geht, wissen, was wir zu tun haben. Die Hand aufs Herz! Wir wollen von heute an aufrichtig und ernst danach streben, die verhängnisvolle Flasche zu meiden.

(Morgenausgabe der California.)«

Der Chefredakteur ist hier gewesen und hat einen wahren Höllenlärm vollführt. Er raufte sich das Haar, stieß die Möbel in alle Ecken und schimpfte auf mich, als wäre ich ein Taschendieb. Er sagte, jedesmal, wenn mir auch nur auf eine halbe Stunde die Redaktion des Blattes überlassen bliebe, ließe ich mich vom ersten besten Wickelkind oder Tollhäusler überlisten. Er besteht darauf, daß Herrn Blokes unseliger Artikel der tollste Mischmasch ohne Sinn und Verstand ist, aus dem der Leser nicht das geringste erfährt. Es sei ein Unsinn gewesen, deswegen den Satz zu ändern.

Das hat man davon, wenn man gutherzig ist. Wäre ich auch so ungefällig und teilnahmlos wie gewisse Leute, ich hätte Herrn Bloke einfach gesagt, zu so später Stunde würden keine Mitteilungen mehr angenommen. Aber nein! Sein tränenreicher Schmerz rührte mein weiches Gemüt und mit Freuden ergriff ich die Gelegenheit, seinen Kummer ein wenig zu lindern. Schnell einige Eingangszeilen zu dem Artikel geschrieben und fort damit in die Druckerei, ohne weiter zu untersuchen! Und was ernte ich für meine Guttat? Nichts als Scheltworte und allerliebste Ehrentitel.

Nun will ich aber doch den Artikel einmal selbst lesen und sehen, ob all der Spektakel begründet ist. Sollte es der Fall sein, dann wehe dem Verfasser!

Ich habe es gelesen und muß in der Tat gestehen, daß es zuerst etwas konfus erscheint. Aber ich probiere es noch einmal.

Ich habe es zum zweitenmal durchgegangen – es scheint verwirrter denn je.

Ich habe es nun fünfmal durchgelesen, aber ich will verdammt sein, wenn ich auch nur eine Silbe davon verstehe. Es verträgt keine nähere Untersuchung. Man kann keine Klarheit hineinbringen. Erfahren wir etwa, was aus William Schuyler geworden ist? Nur gerade unser Interesse für ihn wird geweckt – dann wird er fallen gelassen. Wer ist denn dieser William Schuyler überhaupt? In welchem Teil von South-Park lebt er eigentlich? Er verließ seine Wohnung um sechs Uhr – ist er aber auch in der unteren Stadt angekommen und ist ihm irgend etwas zugestoßen? Ist er es vielleicht, der mit dem ›entsetzlichen Unglücksfall‹ etwas zu tun hat? Wenn man den Wust von Einzelheiten in dem Artikel bedenkt, sollte man doch auch wirklich etwas mehr daraus erfahren können. Aber man erfährt nichts, es macht alles nur noch dunkler. War Herrn Schuylers Beinbruch vor fünfzehn Jahren der ›entsetzliche Unglücksfall‹, welcher Herrn Bloke in unaussprechlichen Jammer versetzte und ihn veranlaßte zur Nachtzeit hier anzurücken und den Betrieb zu stören, damit die Welt doch ja sogleich von dem interessanten Umstand in Kenntnis gesetzt würde? Oder bezieht sich der ›entsetzliche Unglücksfall‹ vielleicht auf die Mutter von Schuylers Schwiegermutter und ihr verlorenes Vermögen? Oder sollte ihr vor drei Jahren eingetretener Tod gemeint sein? (obgleich sich keine Andeutung findet, daß derselbe durch einen Unglücksfall herbeigeführt wurde). Um es kurz zu fassen: Worin bestand der ›entsetzliche Unglücksfall‹? Warum schrie der Eselskopf von Schuyler unter heftigen Gebärden hinter dem durchgebrannten Pferde her, wenn er es aufhalten wollte? Und wie zum Henker konnte er von einem Pferde umgeworfen werden, das schon an ihm vorbei war? Was sollen wir uns ›zur Warnung dienen lassen‹ und wie sollen wir uns aus diesem Schriftstück voll Unbegreiflichkeiten eine Lehre ziehen? Was kann vor allem die ›verhängnisvolle Flasche‹ damit zu tun haben? Es ist gar nicht gesagt, daß Schuyler ein Trunkenbold gewesen, oder daß seine Frau oder seine Schwiegermutter oder das Pferd sich dem Trunk ergeben hätten – wozu also die Erwähnung der ›verhängnisvollen Flasche‹? – Mir scheint fast, daß, wenn nur Herr Bloke selbst die ›verhängnisvolle Flasche‹ gemieden hätte, so würde er gar nicht in solche Aufregung über diesen widersinnigen eingebildeten Unglücksfall geraten sein. Ich habe dieses alberne ›Eingesandt‹ mit seinen scheinbaren Wahrscheinlichkeiten wieder und wieder gelesen, bis es mir ganz wirr im Kopfe war, und doch habe ich nichts herausgebracht. Es muß allerdings ein Unglücksfall irgend welcher Art stattgefunden haben, aber es ist unmöglich festzustellen, wen er betroffen hat oder was geschehen ist. So schwer es mir wird, es scheint mir Pflicht, zu verlangen, daß wenn Herrn Blokes Angehörige wieder etwas mit Unglücksfällen zu tun haben, er seinem Bericht jedenfalls einige aufklärende Notizen beifüge, damit man aus dem Unfall einigermaßen klug werden kann und erfährt, wer der Betroffene ist. Lieber würde ich schon seine sämtlichen Verwandten auf dem Totenbette sehen, als noch einmal bis an den Rand des Wahnsinns gebracht zu werden, in dem Bestreben, ein ähnliches Machwerk wie das obige zu entziffern.

Ein geheimnisvoller Besuch.


Ein geheimnisvoller Besuch.

Der erste Mensch, welcher mich aufsuchte, nachdem ich mich in der Stadt niedergelassen hatte, war ein Herr, der sich damit einführte, daß er sagte, er sei Taxator und stehe mit der Abteilung für innere Einkünfte der Vereinigten Staaten in Verbindung. Ich sagte, ich hätte nie von diesem Geschäftszweig gehört, sei aber trotzdem sehr erfreut ihn zu sehen und bäte ihn, Platz zu nehmen. Er setzte sich. Mir fiel gerade nichts Besonderes ein, womit ich ihn unterhalten konnte, aber ich bedachte, daß, wer einem Hauswesen vorstehen will, auch die Pflicht hat, gesprächig, liebenswürdig und entgegenkommend zu sein. In Ermangelung von etwas anderem fragte ich ihn also, ob er seinen Laden in unserer Nachbarschaft eröffnen werde.

Er bejahte dieses, ohne jedoch, wie ich gehofft hatte, von selbst zu erwähnen was er verkaufe, und ich wollte doch nicht neugierig erscheinen.

Also versuchte ich es mit der Frage: »Geht das Geschäft gut?« und er erwiderte: »Hm, so so.«

Darauf sagte ich, wir würden bei ihm vorsprechen und wenn man uns in seinem Hause ebensogut bediene wie in anderen, so wollten wir ihm unsere Kundschaft zuwenden.

Er antwortete, sein Etablissement würde uns unzweifelhaft genügen. Ihm sei wenigstens noch nie jemand vorgekommen, der einen anderen Vertreter seines Faches aufgesucht hätte, nachdem er einmal mit ihm verhandelt habe.

Das klang ziemlich selbstbewußt, aber abgesehen von der natürlichen Schlechtigkeit, die uns allen im Gesicht geschrieben steht, sah der Mann ganz ehrlich aus.

Ich erinnere mich nicht mehr, wie es zuging, aber allmählich tauten wir auf und kamen in Fluß, das heißt unsere Unterhaltung, und nun ging es wie ein aufgezogenes Uhrwerk.

Es wurde geredet, geredet, geredet – wenigstens meinerseits, und gelacht, gelacht, gelacht – wenigstens seinerseits. Aber während der ganzen Zeit hatte ich die Geistesgegenwart nicht verloren, meine natürliche Schlauheit war auf ›vollen Dampf‹ gesetzt, wie die Maschinisten sagen. Ich war entschlossen alles zu erfahren, was sein Geschäft anging, trotz der dunkeln Antworten, die er gab, und zwar dachte ich es aus ihm herauszubekommen, ohne daß er es selbst gewahr wurde. Ich wollte ihn in eine tiefe, tiefe Falle locken, ihm alles über mein eigenes Geschäft erzählen und ihn dadurch so erwärmen und zutraulich machen, bis er nicht umhin konnte, mir ausführliche Mitteilungen über sein Geschäft zu machen, ehe er noch merkte, um was es mir zu tun war. »Du ahnst nicht, mein Sohn,« dachte ich bei mir selbst, »mit welchem schlauen Fuchs du es zu tun hast!«

»Können Sie wohl raten,« sagte ich, »wieviel ich im vergangenen Winter und Frühling mit meinen Vorlesungen eingenommen habe?«

»Nein, gewiß nicht – und wenn mein Kopf daran hinge! Erlauben Sie – etwa zweitausend Dollars, wie? – Aber nein, nein – so viel können Sie nicht verdient haben. Sagen wir siebzehnhundert.«

»Haha! das hab‘ ich mir gedacht! Meine Einnahmen für Vorlesungen letzten Winter und diesen Frühling betrugen vierzehntausendsiebenhundertundfünfzig Dollars. Was sagen Sie dazu?«

»Ja, das ist ja unglaublich, ganz unglaublich! Das werde ich mir merken. Und Sie meinten, das sei noch nicht einmal alles?«

»Alles! – kein Gedanke! Dazu kam noch mein Gehalt beim ›Täglichen Kriegsruf‹ auf vier Monate, ungefähr – ungefähr – nun, was würden Sie sagen, wenn ich es auf achttausend Dollars angäbe?«

»Was ich sagen würde? – Je nun – daß ich wohl auch in solchem Meer des Überflusses schwimmen möchte. Achttausend – das will ich mir merken! Und das ist alles noch nicht genug, Sie Glückspilz! Wenn ich Sie recht verstehe, haben Sie noch andere Einnahmen gehabt?«

»Hahaha! natürlich. Wir stehen erst beim Anfang sozusagen. Nun kommt noch mein Buch ›Unschuld auf Reifen‹ – Preis drei Dollars fünfzig Cents bis fünf Dollars, je nach dem Einband. Sehen Sie mir ins Auge und hören Sie: Während der letzten fünftehalb Monate – ganz abgesehen von allem, was vorher verkauft worden ist – nur während der letzten fünftehalb Monate haben wir fünfundneunzigtausend Exemplare von dem Buch abgesetzt. Fünfundneunzigtausend! Denken Sie einmal! Durchschnittlich vier Dollars das Exemplar, das macht vierhunderttausend Dollars, mein Freund – und ich bekomme die Hälfte!«

»Alle Wetter! Ich will das aufschreiben. Vierzehn – sieben – fünf – acht – zweihundert – Summa sagen wir – meiner Treu, die Gesamtsumme macht ungefähr zweihundertdreizehn oder vierzehntausend Dollars. Ist das möglich?«

»Möglich? Wenn irgend ein Fehler dabei ist, so habe ich zu wenig angegeben. Zweihundertvierzehntausend bar ist mein diesjähriges Einkommen, wenn ich überhaupt rechnen kann.«

Jetzt stand der Herr auf, um zu gehen. Mich überfiel der peinliche Gedanke, ob ich am Ende meine Enthüllungen umsonst gemacht habe. Noch dazu hatte ich mich durch seine laute Bewunderung verführen lassen, die Beträge recht ansehnlich zu vergrößern. Aber, nein, im letzten Augenblick überreichte mir der Herr ein großes Kuvert mit der Bemerkung, daß es seine Geschäftsanzeige enthalte, die mir jeden gewünschten Aufschluß geben könne, er würde stolz sein, einen Mann von so ungeheuerem Einkommen zum Kunden zu haben. Früher habe er gedacht, daß es mehrere wohlhabende Herren in der Stadt gäbe, aber sobald er geschäftlich mit ihnen in Verbindung getreten sei, habe es sich gezeigt, daß sie kaum genug besäßen, um davon leben zu können. Es sei wirklich eine solche Ewigkeit her, seit er einen reichen Mann von Angesicht gesehen, mit ihm gesprochen und ihm die Hand gereicht habe, daß er sich kaum enthalten könne, mir um den Hals zu fallen – ich würde ihn unendlich glücklich machen, wenn ich ihm die Erlaubnis gäbe, mich zu umarmen.

Das gefiel mir so gut, daß ich nicht versuchte Widerstand zu leisten, sondern dem biedern Fremdling gestattete, die Arme um meinen Hals zu schlingen und ein paar beruhigende Tränen zu vergießen, die mir den Nacken herabrieselten. Dann ging er seiner Wege.

Sobald er fort war, öffnete ich das Kuvert mit seiner ›Anzeige‹. Ich studierte sie aufmerksam vier Minuten lang, dann rief ich die Köchin herauf und sagte:

»Bitte, halten Sie mich – ich falle in Ohnmacht – Marie kann unterdessen die Pfannkuchen umwenden.«

Als ich wieder zur Besinnung gekommen war, schickte ich nach dem nächsten Schnapsladen und mietete mir um Wochenlohn einen Mann, der sich aufs Fluchen verstand, damit er die ganze Nacht aufsitzen und jenen Fremden verwünschen sollte, und mich am Tage manchmal dabei ablösen, wenn ich nicht weiter wußte.

Er war aber auch ein ganz abgefeimter Schurke. Seine ganze Geschäftsanzeige bestand aus weiter nichts als einem niederträchtigen Steuerzettel – einer Kette von unverschämten Fragen über meine Privatangelegenheiten, die beinahe vier engbedruckte Folioseiten einnahmen. Fragen, die mit so erstaunlicher Spitzfindigkeit zusammengesetzt waren, daß die ältesten Leute nicht herausgefunden hätten, was sie bedeuten sollten. Fragen, die so eingerichtet waren, daß man sein Einkommen ungefähr viermal so hoch angeben mußte, als es in Wirklichkeit war, aus lauter Angst, man könne eine Lüge beschwören. Ich suchte nach einem Ausweg, aber es schien keinen zu geben. Gleich die erste Frage paßte so vollkommen auf meinen Fall, wie ein Regenschirm auf einen Ameisenhaufen, wenn man ihn aufspannt:

»Wie hoch beliefen sich Ihre Einnahmen im vergangenen Jahr aus Ihrem Handel, Geschäft oder Beruf, gleichviel wo Sie denselben betrieben haben?«

Und diese Frage zog dreizehn andere von ebenso eindringlicher Art nach sich, von denen die bescheidenste Aufschluß darüber verlangte, ob ich einen Betrug oder Straßenraub verübt hätte oder durch Brandstiftung und andere geheime Erwerbsquellen zu Vermögen gelangt sei, das bei meiner Antwort auf Nr. 1 nicht mit angegeben wäre.

Es war klar, daß der Fremde mir Gelegenheit gegeben hatte, mich zu blamieren. Dies lag so sehr auf der Hand, daß ich ausging und mir noch einen Mann zum Fluchen mietete. Der Fremde hatte mich mit seinen Schmeicheleien verführt, ein Einkommen von zweihundertvierzehntausend Dollars anzugeben. Gesetzmäßig waren tausend davon steuerfrei, das war der einzige Abschlag, den ich entdecken konnte, und das war doch nur ein Tropfen im Ozean. Bei den gesetzlichen fünf Prozent mußte ich der Regierung die Summe von zehntausendsechshundertfünfzig Dollars Einkommensteuer bezahlen.

(Ich will hier gleich bemerken, daß ich es nicht getan habe.)

Ich bin mit einem sehr begüterten Manne bekannt, der einen Palast bewohnt und eine wahrhaft fürstliche Tafel hält, dessen Ausgaben ganz enorm sind und der doch kein Einkommen hat, wie ich oft an seinen Steuerzetteln gesehen habe. Zu diesem begab ich mich in meiner Not. Er nahm meine schreckliche Liste von Einnahmen zur Hand, setzte sich die Brille auf, tauchte die Feder ein, und – ehe ich mich’s versah, war ich ein Bettler. Es geschah auf die einfachste Weise von der Welt und ward durch die Geschicklichkeit, mit der er den Paragraphen ›Abzüge‹ benützte, ganz leicht zustande gebracht. Er setzte meine Staats- und meine städtischen Steuern auf so und so viel fest, meine Verluste durch Schiffbruch, Feuer usw., auf so und so viel; Verluste beim ›Verkauf von Landbesitz‹ – ›Verkauf von Viehstand‹ – ›Zahlungen für Miete des Anwesens‹ – ›Ausbesserungen, Umbauten, Zinsvergütung‹ – ›schon vorher besteuerter Gehalt als Offizier der Armee, der Flotte usw. usw.‹ und dergleichen mehr. Aus jedem dieser Punkte wußte er ganz erstaunliche Abzüge herauszuschlagen. Als er fertig war und mir das Blatt hinreichte, sah ich auf den ersten Blick, daß während des ganzen Jahres meine Einnahme, das heißt der Gewinn dabei, nur zwölfhundertfünfzig Dollars vierzig Cent betragen hatte.

»Dazu kommt,« sagte er, »daß tausend Dollars steuerfrei sind. Gehen Sie jetzt aufs Steueramt und beschwören Sie dies Dokument, dann bezahlen Sie Steuern von hundertfünfzig Dollars.«

(Während er sprach, zog sein Söhnchen, der kleine Willy, einen Zweidollarschein aus des Vaters Westentasche und verschwand damit. Ich möchte alles wetten, daß der Junge auch sein Einkommen falsch angeben würde, wenn mein fremder Herr ihn morgen besuchte.)

»Machen Sie die Abzüge immer auf diese Art?« fragte ich, »auch wenn Sie Ihre eigenen Steuern berechnen?«

»Natürlich, das versteht sich von selbst. Wenn unter der Rubrik ›Abzüge‹ nicht jene elf tröstlichen Klauseln ständen, müßte ich ja alljährlich an den Bettelstab kommen, nur um diese verhaßte, schlechte, geldgierige und tyrannische Regierung zu unterstützen.«

Dieser Herr gehört zu den allerbesten und solidesten Männern der Stadt, zu den Männern von moralischem Gewicht, von kaufmännischer Ehrenhaftigkeit, von zweifelloser, unantastbarer Zuverlässigkeit – folglich unterwarf ich mich seinem Urteil. Ich begab mich auf das Steueramt – und da stand ich, unter den Augen meines fremden Herrn, die mich schwer anklagten, und beschwor eine Lüge nach der anderen, eine Schlechtigkeit nach der anderen, bis meine Seele zolldick mit Meineiden überzogen war, und ich meine Selbstachtung auf ewige Zeiten verloren hatte.

Aber was schadet’s? Tun denn nicht Tausende der reichsten und stolzesten, der gerechtesten und gefeiertsten Männer in Amerika alljährlich dasselbe?

Der große Rindfleisch-Kontrakt.


Der große Rindfleisch-Kontrakt.

Mit so wenigen Worten wie möglich will ich der Nation über meine Beteiligung an einer Sache berichten, welche die öffentliche Meinung in hohem Grade beschäftigt und viel böses Blut erregt hat.

Die traurige Angelegenheit ist von den Zeitungen der alten und der neuen Welt mit den schrecklichsten Übertreibungen und Verzerrungen dargestellt worden; für alle Tatsachen, welche ich anführe, finden sich aber – das kann ich versichern – mehr als genügende urkundliche Beweise in den Staatsarchiven der Union vor. Der Verlauf der Sache war ursprünglich folgender:

John Wilson Mackenzie aus Rotterdam in der Grafschaft Chemung im Staate Neu-Jersey, jetzt verstorben, schloß etwa am 10. Oktober 1861 mit der Regierung der Vereinigten Staaten einen Kontrakt ab, nach welchem er dem General Sherman dreißig Faß eingepökeltes Rindfleisch zu liefern hatte.

Nun gut.

Er machte sich auf, um Sherman das Rindfleisch zu bringen, aber als er in Washington ankam, war der General nach Manassas unterwegs; er zog ihm daher mit dem Rindfleisch nach, kam aber zu spät. Nun folgte er ihm nach Nashville, von Nashville nach Chatanooga, von Chatanooga nach Atlanta – einholen konnte er ihn jedoch nicht. In Atlanta nahm er einen neuen Anlauf und zog auf dem ganzen Marsch nach der Meeresküste hinter Sherman drein. Wieder kam er um einige Tage zu spät; da er aber erfuhr, der General habe sich in der ›Quaker-City, nach dem Heiligen Lande eingeschifft, ging er nach Beirut unter Segel, überzeugt, er werde das andere Schiff einholen können. In Jerusalem angekommen, erhielt er die Nachricht, der General sei nicht mit der ›Quaker-City‹ abgesegelt, sondern nach der Prärie aufgebrochen, um gegen die Indianer zu kämpfen. Er kehrte daher nach Amerika zurück und zog in das Felsengebirge. Nach achtundsechzigtägiger, mühseliger Wanderung durch die Prärie, nur noch vier Meilen von Shermans Hauptquartier entfernt, fiel er den Indianern in die Hände, die ihn mit dem Tomahawk erschlugen, ihm die Kopfhaut abzogen und sich des Rindfleisches bemächtigten. Sie nahmen das ganze, bis auf ein Faß, welches Shermans Armee eroberte. Der kühne Reisende erfüllte also sogar im Tode noch seinen Kontrakt wenigstens zum Teil. In seinem Testament, das er wie ein Tagebuch führte, vermachte er den Kontrakt seinem Sohn Bartholomäus W. Dieser schrieb die folgende Rechnung auf – dann starb er:

Rechnung für die Ver. Staaten.
In Rechnung für John Wilson Mackenzie von Neu-Jersey, jetzt verstorben, 30 Faß eingepökeltes Rindfleisch für General Sherman
à 100 Dollars     3 000 Doll.
Reisespesen und Transport des Fleisches 14 000 Doll.

Summa     17 000 Doll.
Den Betrag empfangen zu haben bescheinigt
 

Bei seinem Ableben hinterließ er den Kontrakt dem Wm. I. Martin, welcher sich bemühte, die Summe zu erheben, aber darüber starb und seine Forderung an Barker I. Allen vermachte. Auch dieser erhielt bei seinen Lebzeiten keine Bezahlung und hinterließ die Schriftstücke Anson G. Rogers, der bei seinem Versuch, den Betrag einzukassieren, eben bis zum neunten Rechnungsführer gelangt war, als der Tod, der alles zum Abschluß bringt, ungerufen erschien, und ihm die ferneren Verhandlungen abschnitt. Die Papiere hinterließ er einem Verwandten in Connecticut, namens Vengeance Hopkins, welcher es vier Wochen und zwei Tage aushielt und unerhörten Erfolg hatte, denn fast wäre er bis zum zwölften Rechnungsführer gelangt. Er vermachte den Kontrakt testamentarisch seinem Onkel, der Freudenreich Johnson hieß. Aber Freudenreich ertrug es nicht lange. Seine letzten Worte waren: »Ich sterbe gern – weinet nicht über mich!« Und er starb wirklich gern, der arme Mann. Nach seinem Tode erbten noch sieben andere Leute Kontrakt und Rechnung, die alle bald starben. So kamen die Papiere zuletzt in meinen Besitz. Ich erhielt sie von meinem Verwandten Betlehem Hubbard aus Indiana, der schon lange einen Groll gegen mich hegte. Auf seinem Totenbette schickte er aber nach mir, verzieh mir alles, und übergab mir mit Tränen in den Augen den Rindfleisch-Kontrakt.

Dies ist die Vorgeschichte desselben, bis zu der Zeit, da er mein Eigentum wurde. Jetzt will ich den Versuch machen, mich angesichts der ganzen Nation wegen meines Anteils an der Sache zu rechtfertigen. Mit dem Kontrakt und der Rechnung über Reisespesen und Transport der gelieferten Ware begab ich mich zu dem Präsidenten der Vereinigten Staaten.

»Was wünschen Sie, mein Herr,« fragte er mich. Ich erwiderte: »Majestät, etwa am 10. Oktober des Jahres 1861 schloß John Wilson Mackenzie aus Rotterdam in der Grafschaft Chemung im Staate Neu-Jersey, jetzt verstorben, mit der Regierung der Vereinigten Staaten einen Kontrakt ab, nach welchem er dem General Sherman dreißig Faß eingepökeltes Rindfleisch – –«

Hier fiel er mir ins Wort, freundlich, aber mit fester Stimme, und entließ mich. Am nächsten Tage machte ich dem Staatssekretär meine Aufwartung.

»Ihr Begehr, mein Herr?« fragte dieser.

»Königliche Hoheit,« begann ich. »etwa am 10. Oktober des Jahres 1861 schloß John Wilson Mackenzie aus Rotterdam in der Grafschaft Chemung im Staate Neu-Jersey, jetzt verstorben, mit der Regierung der Vereinigten Staaten einen Kontrakt ab, nach welchem er dem General Sherman dreißig Faß eingepökeltes Rindfleisch – –«

»Genug, mein Herr – genug, sage ich! Wir haben in diesem Ministerium nichts mit Kontrakten über Rindfleisch zu schaffen.« Ich wurde hinauskomplimentiert. Nachdem ich mir die Sache reiflich überlegt hatte, stattete ich tags darauf dem Marineminister einen Besuch ab. Der sagte: »Rasch, mein Herr, bringen Sie Ihr Anliegen vor; lassen Sie mich nicht warten!«

»Königliche Hoheit,« sagte ich, »etwa am 10. Oktober des Jahres 1861 schloß John Wilson Mackenzie aus Rotterdam in der Grafschaft Chemung im Staate Neu-Jersey, jetzt verstorben, mit der Regierung der Vereinigten Staaten einen Kontrakt ab, nach welchem er dem General Sherman dreißig Faß eingepökeltes Rindfleisch – –«

Weiter kam ich nicht. Auch ihn gingen die Rindfleischlieferungen für General Sherman nichts an. Ich dachte, das sei doch eine recht kuriose Regierung! Es hatte ja fast den Anschein, als habe sie überhaupt keine Lust, das Rindfleisch zu bezahlen. Am nächsten Tage ging ich zum Minister des Innern.

»Kaiserliche Hoheit,« sagte ich, »etwa am 10. Oktober des –«

»Sparen Sie sich die Mühe, mein Herr,« fuhr er auf; »ich habe schon von Ihnen gehört. Machen Sie, daß Sie mit Ihrem niederträchtigen Kontrakt aus dem Hause kommen. Mit der Verproviantierung der Armeen hat das Ministerium des Innern durchaus nichts zu tun.«

Ich entfernte mich; aber jetzt war ich wirklich aufgebracht. So leichten Kaufes sollten sie mich nicht los werden; ich nahm mir vor, jedes Departement dieser gottlosen Regierung heimzusuchen, bis das Geschäft mit dem Kontrakt geordnet sei. Entweder wollte ich das Geld einkassieren oder das Leben lassen bei dem Versuch, wie alle meine Vorgänger. Ich ging dem Generalpostmeister zu Leibe, ich belagerte das Ackerbauministerium, ich lauerte dem Sprecher des Repräsentantenhauses auf. Sie alle hatten nichts mit Armeelieferungen von Rindfleisch zu schaffen. Darauf wandte ich mich an den Vorsitzenden des Patentamts.

»Hochwohlgeborene Exzellenz,« sagte ich, »etwa am – –«

»Zum Henker, sind Sie mit Ihrem verfluchten Rindfleisch-Kontrakt endlich auch hierher gelangt! Ich versichere Sie, werter Herr, uns gehen weder die Armeelieferungen etwas an, noch Ihr Kontrakt.«

»O, das kann jeder sagen – – irgend jemand muß das Fleisch doch bezahlen! Die Sache wird jetzt auf der Stelle ins reine gebracht, sonst lege ich Beschlag auf dies alte Patentamt, mit allem was darin ist.«

»Aber bester Herr! –«

»Es ist mir alles einerlei. Das Patentamt ist verpflichtet, das Rindfleisch zu bezahlen. Darauf bestehe ich. Alle Ausreden sind umsonst; ich wanke und weiche nicht vom Platze, bis das Patentamt bezahlt hat.«

Die weiteren Einzelheiten tun nichts zu der Sache. Sie endete in einer Prügelei und das Patentamt behielt die Oberhand. Aber etwas hatte ich bei der Gelegenheit doch erfahren, was mir Vorteil brachte, nämlich, daß, wenn ich zur richtigen Behörde gehen wolle, ich mich an das Schatzamt wenden müsse. Ich begab mich dorthin und wartete drittehalb Stunden, dann ward ich beim ersten Lord der Schatzkammer vorgelassen.

»Alleredelster, würdigster und hochgeschätztester Signor,« sagte ich, »etwa am 10. Oktober des Jahres 1861 schloß John Wilson Macken – –«

»Nicht weiter, mein Herr – ich weiß, ich weiß! Gehen Sie zum ersten Rechnungsführer.«

Das tat ich und er schickte mich zum zweiten Rechnungsführer. Der zweite schickte mich zum Oberregistrator der Abteilung für Pökelfleisch. Das fing doch an geschäftsmäßig auszusehen! Er ging die Bücher durch, auch alle noch ungehefteten Akten, fand aber den Rindfleisch-Kontrakt nirgends eingetragen und schickte mich zum zweiten Registrator. Auch dieser sah seine Bücher und Papiere durch, aber ohne Erfolg. Jetzt schöpfte ich neuen Mut und kam im Lauf der Woche bis zum sechsten Registrator der Pökelfleisch-Abteilung. In der zweiten Woche machte ich die Abteilung für Schuldforderungen durch, in der dritten erledigte ich die Abteilung für unerfüllte Kontrakte und faßte Fuß in der Abteilung für unbezahlte Rechnungen. Dort waren meine Erkundigungen schon nach drei Tagen zu Ende.

Es gab jetzt nur noch einen Ort, wo ich nachfragen konnte. Ich belagerte den Kommissionär für Bagatellsachen. Das heißt, er selbst war nicht da, ich hielt mich an einen Schreiber. In dem Zimmer befanden sich sechzehn wunderhübsche Damen, welche die Bücher führten, und sieben Schreiber von wohlgefälligem Äußeren, die ihnen zeigten, wie sie es machen müßten. Die jungen Damen wandten den Kopf und lächelten über ihre Schultern nach oben, die Schreiber lächelten zu ihnen hinab und es ging so lustig her, wie wenn die Glocke zur Hochzeit läutet. Zwei oder drei andere Schreiber, welche die Zeitung lasen, sahen mich mit scharfen Blicken an, fuhren aber fort zu lesen, und niemand sprach ein Wort. An solche Zuvorkommenheit und bereitwillige Bedienung war ich aber in meiner ereignisreichen Laufbahn schon gewöhnt, da ich sie seit dem Tage, als ich das erste Bureau der Pökelfleisch-Abteilung betrat, bis ich das letzte verließ, um mich in die Abteilung für Bagatellsachen zu begeben, bei allen Schreibergehilfen der Registraturen angetroffen hatte. Durch viele Übung war ich schon so weit gekommen, daß ich, von meinem Eintritt ins Bureau an, bis zu dem Augenblick, daß der Schreiber mich anredete, auf einem Bein stehen konnte, ohne dasselbe mehr als zwei- oder höchstens dreimal zu wechseln.

Jetzt stand ich hier, bis ich das Bein viermal gewechselt hatte. Dann sagte ich zu einem der Schreiber, welche lasen:

»Erlauchter Bummler, wo ist der Großtürke?«

»Was meinen Sie, mein Herr? Wen meinen Sie? – Wenn Sie den Bureauchef meinen – der ist ausgegangen.«

»Wird er heute noch den Harem besuchen?«

Der junge Mann sah mich eine Weile grimmig an und vertiefte sich dann wieder in seine Zeitung. Aber das kümmerte mich nicht, ich kannte die Art dieser Schreiber und wußte, daß Hoffnung für mich vorhanden sei, wenn er eher fertig wurde, als die neuen Zeitungen aus Neuyork eintrafen. Er war jetzt schon bei dem vorvorletzten Tageblatt angekommen. Nach einer Weile hatte er alles durchgelesen, dann gähnte er und fragte nach meinem Begehr.

»Weltberühmter und hochverehrter Staatsmann, etwa am 10. –«

»Ah, Sie sind der Mann mit dem Rindfleisch-Kontrakt, Geben Sie mir Ihre Papiere.«

Er nahm sie in Empfang und wühlte dann lange Zeit in seinen Bagatellsachen herum. Endlich fand er die Nordwestpassage, oder was für mich dasselbe bedeutete, den lange verlorenen Vermerk über den Rindfleisch-Kontrakt – die Klippe, an welcher so viele meiner Vorgänger gescheitert waren, ohne sie je zu erreichen. Meine Rührung war groß und doch frohlockte ich im Herzen – denn ich lebte ja noch. Ich sagte mit bewegter Stimme:

»Geben Sie mir das Dokument! Die Regierung wird jetzt sicherlich die Schuld abtragen.«

Er bedeutete mir jedoch, ich solle mich gedulden, es sei vorher noch etwas zu erledigen.

»Wo ist jener John Wilson Mackenzie?« fragte er.

»Tot.«

»Wann ist er gestorben?«

»Gestorben ist er überhaupt nicht – man hat ihn totgeschlagen.«

»Wie das?«

»Mit einem Tomahawk erschlagen.«

»Wer hat ihn mit dem Tomahawk erschlagen?«

»Natürlich doch ein Indianer. Sie glaubten doch nicht, der Superintendent einer Sonntagsschule hätte es getan?«

»Nein. Also ein Indianer war es?«

»Jawohl.«

»Sein Name?«

»Sein Name? – Ich werde doch nicht seinen Namen wissen sollen!«

»Name unbedingt erforderlich. Wer hat denn gesehen, daß er mit dem Tomahawk erschlagen wurde?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sie selbst waren also nicht zugegen?«

»Nein – wie Sie an meinen Haaren sehen können.«

»Woher wissen Sie denn, daß Mackenzie tot ist?«

»Weil er zu jener Zeit wirklich gestorben und seitdem auch tot geblieben ist, wie ich allen Grund habe zu glauben. Ja, ich weiß es ganz bestimmt.«

»Wir müssen Beweise haben. Ist der Indianer zur Stelle?«

»Natürlich nicht.«

»Den müssen Sie herbeischaffen. Haben Sie den Tomahawk hier?«

»Bewahre, ich denke gar nicht daran.«

»Sie müssen den Tomahawk beibringen und ihn uns zusamt dem Indianer vorführen. Wenn sich hierdurch Mackenzies Tod beweisen läßt, haben Sie sich an die Kommission zu wenden, welche eingesetzt ist, um schwebende Forderungen zu prüfen. Vielleicht kommt dann Ihre Sache so in den Zug, daß Ihre Kinder die Bezahlung der Rechnung noch erleben und das Geld verzehren können. Aber vor allem muß der Tod jenes Mannes bewiesen werden. Übrigens kann ich Ihnen gleich noch sagen, daß die Regierung die Transport- und Reisespesen des seligen Mackenzie nimmermehr bezahlen wird. Möglicherweise wird sie das Faß Pökelfleisch bezahlen, welches Shermans Soldaten erobert haben, wenn Sie auf Schadenersatz klagen und der Kongreß Ihre Forderung anerkennt; aber die neunundzwanzig Faß, welche die Indianer aufgegessen haben, wird sie Ihnen nicht bezahlen.«

»Demnach hätte ich nur hundert Dollars zu beanspruchen und selbst diese sind mir nicht sicher! Und das nach Mackenzies endlosem Hin- und Herreisen mit dem Pökelfleisch in Europa, Asien und Amerika, nach allen Beschwerden, Prüfungen und Plackereien, die er erduldet hat, nach dem Hinsterben so vieler Unschuldiger, die bei dem Versuch, die Rechnung einzukassieren, ums Leben gekommen sind! Junger Mann, warum hat mir der Oberregistrator der Pökelfleisch-Abteilung das nicht gleich gesagt?«

»Er wußte nicht, daß Ihr Anspruch begründet war.«

»Warum hat es mir der zweite, der dritte nicht gesagt – warum erfuhr ich es in keiner einzigen der Abteilungen und Unterabteilungen?«

»Weil man nirgends etwas davon wußte. Bei uns geschieht alles nach dem Geschäftsgang. Dem sind Sie gefolgt und haben in Erfahrung gebracht, was Sie zu wissen wünschten. Es ist das der beste Weg. Er ist ganz ordnungsmäßig, man kommt dabei sehr langsam, aber sehr sicher zum Ziel.«

»Jawohl, zum sicheren Tode. Dahin hat er die meisten der Unsrigen geführt. Ich fühle, daß es auch mit mir zu Ende geht. – Junger Mann, Sie lieben jenes fröhliche Geschöpf da drüben mit den sanften, blauen Augen und dem Federhalter hinter dem Ohr – ich sehe das an Ihren schmachtenden Blicken. Sie wünschen sie zu heiraten – aber Sie sind arm. Hier – strecken Sie die Hand aus, hier ist der Rindfleisch-Kontrakt! Wohlan, nehmt euch, seid glücklich! Gott segne euch, meine Kinder!«

Das ist alles, was ich von dem großen Rindfleisch-Kontrakt weiß, der so viel Aufsehen in der Welt gemacht hat. Der Schreiber, dem ich ihn abgetreten habe, ist gestorben. Was weiter aus dem Kontrakte und seinen späteren Besitzern geworden ist, vermag ich nicht zu sagen. Nur so viel weiß ich, daß, wenn jemand lange genug am Leben bleibt, um seine Sache durch das ganze Umständlichkeitsamt in Washington hindurch zu verfolgen, er zuletzt, nach vieler Mühe, Arbeit und Verzögerung, das herausfinden wird, was er am ersten Tage hätte erfahren können, wenn der Geschäftsgang im Umständlichkeitsamt so geschickt und zweckentsprechend geregelt wäre wie in jedem großen kaufmännischen Institut.

Wie ich ein landwirtschaftliches Blatt herausgab.


Wie ich ein landwirtschaftliches Blatt herausgab.

Als ich aushilfsweise die Redaktion einer landwirtschaftlichen Zeitung übernahm, tat ich es nicht ohne bange Zweifel. Wenn jemand, der gewohnt ist auf dem Lande zu leben, plötzlich ein Schiff befehligen sollte, würde er wohl auch seine Besorgnis dabei haben. Ich befand mich jedoch in Verhältnissen, bei denen mir der Gehalt von Wichtigkeit war. Als daher der ständige Redakteur der Zeitung mir anbot, ihn während der Ferien zu vertreten, ging ich auf seine Bedingungen ein und nahm seine Stelle.

Wieder bei der Arbeit zu sein, war ein köstliches Gefühl, und ich schrieb die ganze Woche hindurch mit unablässigem Vergnügen. Nachdem alles in der Presse war, wartete ich einen Tag lang in großer Spannung auf irgend ein Anzeichen, daß meine Bemühung die Aufmerksamkeit des Publikums erregt habe. Bei Sonnenuntergang verließ ich das Bureau und sah, daß eine Gruppe von Männern und Knaben, die sich am Fuß der Treppe versammelt hatten, sobald ich erschien, wie auf gemeinsamen Antrieb auseinanderstob, um mich durchzulassen. »Das ist er!« hörte ich sie zueinander sagen. Der Vorfall war mir natürlich sehr schmeichelhaft. Am nächsten Morgen bemerkte ich eine ähnliche Gruppe an der Treppe; auch vereinzelt und zu zweien standen die Leute vor dem Hause und drüben auf der anderen Seite der Straße, mich mit großem Interesse beobachtend. Als ich näher kam, zerstreuten sie sich und wichen zurück, doch hörte ich noch, wie ein Mann sagte:

»Seht nur ‚mal seine Augen an.« – Ich tat, als wüßte ich nicht, was ich für Aufsehen machte, doch freute ich mich im stillen darüber und nahm mir vor, es meiner Tante zu schreiben.

Während ich die wenigen Treppenstufen hinaufstieg und mich der Tür näherte, vernahm ich fröhliche Stimmen und schallendes Gelächter. Beim Eintreten gewahrte ich einen Augenblick zwei junge Männer, die wie Landwirte aussahen; sobald sie meiner ansichtig wurden, erbleichten sie, machten lange Gesichter und sprangen plötzlich mit einem großen Krach zum Fenster hinaus. Darüber verwunderte ich mich sehr.

Etwa eine halbe Stunde später trat ein alter Herr mit lang herabwallendem Bart und feinen, aber strengen Gesichtszügen bei mir ein. Ich forderte ihn auf, Platz zu nehmen, und er setzte sich, schien jedoch etwas auf dem Herzen zu haben. Er nahm den Hut ab, stellte ihn auf den Boden und holte ein rotseidenes Taschentuch heraus, sowie ein Exemplar unserer Zeitung.

Das Blatt legte er auf seine Knie und fragte, wahrend er sich die Brille mit dem Taschentuch putzte: »Sind Sie der neue Redakteur?«

Ich bejahte dies.

»Haben Sie schon früher ein landwirtschaftliches Blatt redigiert?«

»Nein,« erwiderte ich, »dies ist mein erster Versuch.«

»Das dachte ich mir. Haben Sie die Landwirtschaft praktisch betrieben?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Ein gewisser Instinkt hat mir das gesagt,« meinte der alte Herr, setzte seine Brille auf und maß mich über dieselbe hinweg mit strengen Blicken, wobei er die Zeitung in ein bequemes Format zusammenfaltete. »Ich will Ihnen vorlesen, was diesen Instinkt bei mir erweckt hat. Es war die folgende Bemerkung. Hören Sie, ob sie aus Ihrer Feder stammt:

»Rüben sollte man niemals pflücken, weil ihnen das schadet. Es ist viel besser, einen Knaben auf den Baum klettern und sie herunterschütteln zu lassen.«

Nun, was sagen Sie dazu – denn ich bin fest überzeugt. Sie haben es geschrieben!«

»Was soll ich denn sagen? Ich glaube, es ist gut und verständig. Ohne Zweifel werden alljährlich im Umkreis dieser Stadt viele Millionen Scheffel Rüben verdorben, weil man sie in halbreifem Zustand abpflückt, während, wenn man sie durch einen Knaben vom Baum schütteln ließe –«

»Warum nicht gar von Ihrer Großmutter? Rüben wachsen doch nicht auf Bäumen.«

»O, wirklich tun sie das nicht! Wer hat denn schon gesagt, daß sie da wüchsen? – Es war ja natürlich bildlich gemeint, nur bildlich! Jeder, der überhaupt Sinn und Verstand hat, muß doch gleich wissen, daß ich meinte, der Knabe sollte die Ranke schütteln.«

Der alte Mann schnellte von seinem Sitze in die Höhe, zerriß die Zeitung in kleine Stücke, stampfte mit dem Fuß darauf, zerschlug allerlei Gegenstände mit seinem Stock und sagte, so viel wie ich wüßte auch eine Kuh. Dann ging er hinaus und warf die Tür hinter sich ins Schloß. Bei diesem Benehmen kam mir der Gedanke, es müsse etwas sein Mißfallen erregt haben. Da ich aber nicht wußte, was ihn verdrossen habe, konnte ich ihm auch nicht helfen.

Bald nachher kam ein langer, hagerer Mensch zur Tür hereingeschossen. Spärliche Locken hingen ihm bis auf die Schultern herab und sein Gesicht war in allen Höhen und Tiefen mit den stacheligen Bartstoppeln einer ganzen Woche bedeckt. Er blieb zuerst regungslos stehen und legte den Finger auf den Mund, dann beugte er sich lauschend vor. Kein Geräusch ließ sich hören. Noch immer horchte er. Als alles still blieb, drehte er den Schlüssel um, schlich behutsam auf den Zehen näher zu mir heran und stellte sich in gemessener Entfernung vor mich hin. Eine Weile forschte er mit großem Interesse in meinen Zügen, nahm dann ein zusammengefaltetes Exemplar unseres Blattes aus der Brusttasche und sagte:

»Sehen Sie hier – das haben Sie geschrieben. Lesen Sie es mir vor – rasch! Befreien Sie mich, Herr! Ich leide entsetzlich.«

Ich las was folgt, und während meine Lippen Satz für Satz aussprachen, schien er sich zusehends erleichtert zu fühlen; die starren Muskeln verloren ihre Spannung, die ängstliche Besorgnis wich aus seinem Gesicht und Friede und Ruhe verbreiteten sich über seine Züge, wie lindes Mondlicht über eine öde Landschaft.

»Der Guano ist ein schöner Vogel, aber es bedarf großer Sorgfalt, wenn man ihn aufziehen will. Man darf ihn nicht früher als im Juni und nicht später als im September bei uns einführen. Im Winter muß er an einen warmen Ort gebracht werden, um seine Jungen ausbrüten zu können.«

»Augenscheinlich werden wir mit unserer Getreideernte dies Jahr im Rückstand bleiben. Der Landmann wird daher wohl daran tun, die Maiskolben und Buchweizenkuchen schon im Juli statt im August zu pflanzen.«

»Vom Kürbis. Dies ist eine Lieblingsbeere der Eingeborenen von Neuengland. Bei der Bereitung von Obstkuchen zieht man sie dortzulande sogar der Stachelbeere vor. Sie ist vorteilhafter als die Himbeere zum Füttern der Kühe, da sie mehr füllt und stopft und ganz ebenso nahrhaft ist. Der Kürbis ist die einzige eßbare Abart der Familie Orangenpflanze, die im Norden gedeiht, ausgenommen die Melone und der Türkenbund. Man pflanzt ihn jedoch jetzt weniger häufig unter dem Buschwerk im Vordergarten an, da man allgemein die Ansicht hegt, daß der Kürbis kein Baum ist, welcher Schatten gibt.«

»Jetzt, bei Eintritt des warmen Wetters, beginnt der Gänserich zu laichen und –«

In höchster Aufregung trat der Zuhörer dicht vor mich hin, schüttelte mir die Hand und sagte:

»Schön, schön – das genügt. Jetzt weiß ich, daß ich bei richtigem Verstande bin, denn Sie haben es gerade so gelesen wie ich, Wort für Wort. Aber Fremdling, als ich es heute morgen zum erstenmal las, sagte ich zu mir: ›Nun und nimmermehr hätte ich es für möglich gehalten, trotzdem meine Verwandten mich so streng bewachten, aber jetzt glaube ich selbst, daß ich verrückt bin.‹ Dabei stieß ich ein Geheul aus, das man zwei Meilen weit hören mußte, und lief fort, um jemand totzuschlagen. Ich wußte ja, daß es früher oder später dazu kommen würde und wollte lieber gleich damit anfangen. Erst las ich noch einmal einen Ihrer Paragraphen durch, dann brannte ich mein Haus nieder und brach auf. Mehreren Leuten habe ich Arme und Beine entzwei geschlagen, und einen Menschen auf einen Baum gejagt, wo ich ihn kriegen kann, sobald ich will. Beim Vorbeigehen dachte ich aber erst einmal bei Ihnen vorzusprechen, um meiner Sache auch ganz sicher zu sein. Jetzt habe ich mir nun Gewißheit verschafft und ich sage Ihnen, es ist ein Glück für den Burschen, der auf dem Baume sitzt. Ich hätte ihn unfehlbar auf dem Rückwege umgebracht. Leben Sie wohl, leben Sie wohl! Sie haben mir eine schwere Last von der Seele genommen. Da mein Verstand Ihren landwirtschaftlichen Artikel hat aushalten können, wird er jetzt jeden Puff vertragen. Noch einmal, bester Herr, leben Sie wohl!«

Mir war wegen der Körperverletzungen und Brandstiftungen, mit welchen der Mensch sich unterhalten hatte, etwas unbehaglich zumute, da ich nicht umhin konnte mir einzugestehen, daß ich gewissermaßen daran beteiligt sei. Doch konnte ich diesen Gedanken nicht lange nachhängen, denn der ständige Redakteur trat jetzt ins Zimmer.

Er sah trübselig, verlegen und niedergeschlagen aus.

Er blickte auf die Zerstörung, welche die beiden jungen Landwirte und der alte Tumultuant angerichtet hatten und sagte: »Das ist eine böse Geschichte – eine sehr böse Geschichte. Die Flasche mit dem flüssigen Leim ist zerbrochen, sechs Fensterscheiben, ein Spucknapf und zwei Leuchter in Stücke geschlagen. Aber das ist noch lange nicht das Schlimmste. Der Ruf des Blattes hat gelitten – und wie ich fürchte für alle Zeit. Zwar ist die Nachfrage größer gewesen als jemals, noch nie ist eine so starke Auflage verkauft worden, nie zuvor hat das Blatt solche Berühmtheit erlangt – aber man will doch nicht wegen Verrücktheit berühmt sein und mit Geistesschwäche Geld erwerben! Ich versichere Sie, Freund, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin, drunten sitzen die Leute auf den Zäunen und wimmeln in der Straße, um zu warten, ob sie etwas von Ihnen zu sehen bekommen, weil sie Sie für verrückt halten. Das können sie auch mit gutem Grund, nachdem sie Ihre Artikel gelesen haben, die eine Schande für die ganze Presse sind. Wie in aller Welt sind Sie nur auf den Einfall gekommen, daß Sie imstande wären, ein solches Blatt zu redigieren? Sie scheinen ja nicht einmal von den ersten Anfangsgründen der Landwirtschaft eine Ahnung zu haben. Sie sprechen von einer Furche und einer Furt, als sei es ein und dasselbe; Sie reden von einer Mauserzeit der Kühe, und empfehlen den Iltis als Haustier, weil er voll Mutwillen sei und ein trefflicher Rattenfänger. Ihre Bemerkung, daß die Seeschnecken still zu liegen pflegen, wenn man ihnen Musik vormacht, war ganz und gar überflüssig. Seeschnecken lassen sich überhaupt nicht aus ihrer Ruhe bringen, sie liegen immer still und die Musik ist ihnen völlig gleichgültig. Sagen Sie nur um des Himmels willen, Freund, haben Sie etwa die Unwissenheit zu Ihrem Berufsstudium gemacht? Dann hätten Sie sich heute den Doktorhut erworben in allen Ehren. Etwas Ähnliches ist mir noch nicht vorgekommen. Ihre Bemerkung, daß die Roßkastanie sich als Handelsartikel einer stets wachsenden Gunst erfreut, ist ganz dazu angetan, das Blatt zugrunde zu richten. Ich bitte Sie, das Amt niederzulegen und Ihrer Wege zu gehen. Ich habe schon viel zu lange Ferien gehabt. Einen Genuß hätte ich doch nicht mehr davon, besonders wenn Sie meinen Platz inne haben und ich in beständiger Angst schweben müßte, was Sie den Leuten zunächst empfehlen würden. Wenn ich daran denke, daß Sie unter dem Titel ›Landschaftsgärtnerei‹ über Austernbänke geschrieben haben, möchte ich aus der Haut fahren. – Machen Sie, daß Sie fortkommen! Für nichts in der Welt würde ich wieder in die Ferien gehen. O, warum haben Sie mir nur nicht gesagt, daß Sie von der Landwirtschaft nicht das mindeste wissen!«

»Was wollen Sie denn eigentlich, Sie Maiskolben, Sie Krautkopf, Sie Rübensprößling?! Schämen Sie sich Ihrer unverständigen Worte. Seit vierzehn Jahren arbeite ich als Redakteur und noch niemals, das versichere ich Ihnen, habe ich gehört, daß man besondere Kenntnisse haben müsse, um eine Zeitung zu redigieren. Wer schreibt denn die Theaterkritiken für die Tagesblätter zweiten Ranges? Irgend ein gelehrter Schuster oder Apothekerlehrling, der von der Schauspielkunst nicht mehr und nicht weniger versteht, als ich von der Landwirtschaft. Wer bespricht die Bücher? Menschen, die nie eins geschrieben haben. Wer schreibt die größten Leitartikel über Staatsfinanzen? Diejenigen, welche die schönste Gelegenheit gehabt haben, gar nichts davon zu erfahren. Wer verfaßt die Berichte über den Indianerkrieg? Herren, die ein Wigwam nicht von einem Tamtam unterscheiden können, die nie in den Fall gekommen sind, mit einem Tomahawk um die Wette zu laufen oder irgend einem Glied ihrer Familie Pfeile auszuziehen, um ein Lagerfeuer anzumachen. Wer schreibt die Aufforderungen zur Mäßigkeit und jammert über die verführerische Flasche? – Burschen, die keinen nüchternen Atemzug mehr tun werden, bis sie im Grabe liegen. Wer redigiert meist die landwirtschaftlichen Blätter – Sie Runkelrübe? – Wer anders als verdorbene Redakteure städtischer Zeitungen, oder Menschen, die mit dem Poetenhandwerk kein Glück haben, mit Schauerdramen schlechte Geschäfte machen und ihre gelben Eisenbahnromane nicht anbringen können. Die werfen sich zuletzt auf die Landwirtschaft, um noch eine Zeitlang dem Armenhaus zu entrinnen. Wollen Sie mich etwa über das Redaktionswesen belehren? Das habe ich durchgemacht von A bis Z; und ich kann Ihnen sagen: je weniger ein Mensch weiß, um so größer ist das Geschrei, das er macht, und der Gehalt, den er bezieht. Beim Himmel – wäre ich nur unwissend statt gebildet, und unverschämt statt schüchtern gewesen, ich hätte mir einen Namen erwerben können in dieser kalten, selbstsüchtigen Welt! Herr, ich nehme meinen Abschied. Nachdem ich so behandelt worden bin, wie Sie mich behandelt haben, bin ich ganz bereit zu gehen. Meiner Pflicht habe ich genügt und meinen Kontrakt erfüllt, soweit man mir es gestattet hat. Ich versprach, Ihr Blatt interessant zu machen für alle Klassen – das habe ich getan. Ich sagte, ich könne Ihren Absatz auf zwanzigtausend Exemplare bringen – das wäre geschehen, wenn Sie mir noch vierzehn Tage Zeit gelassen hätten. Obendrein würde ich Ihnen die beste Klasse von Lesern verschafft haben, die sich ein landwirtschaftliches Blatt nur wünschen kann – kein einziger Landmann darunter, nicht ein Mensch, der einen Wassermelonenbaum von einer Pfirsichranke unterscheiden könnte. Sie verlieren bei diesem Bruch, Sie Pastetengewächs – nicht ich. Gehorsamer Diener!«

Dann ging ich.

Ein Tischgespräch.


Ein Tischgespräch.

Auf unserer Schweizerreise waren wir, ich und mein Reisebegleiter Harris, einmal im ›Schweizerhof‹ in Luzern abgestiegen, wo wir ein Tischgespräch hatten, an das ich zeitlebens denken werde.

Man ging um 7½ zur Tafel, an der sich eine Menge Angehöriger der verschiedensten Nationalitäten zusammenfanden; doch ließen sich an den ungeheuer langen Tischen besser Kleider als Menschen beobachten, da man die Gesichter meist nur in der Perspektive zu sehen bekam. Das Frühstück dagegen wurde an kleinen runden Tischen eingenommen, und wenn man das Glück hatte, einen Platz in der Mitte des Saales zu erhalten, konnte man so viele Gesichter studieren, als man wünschte.

Öfters versuchten wir zu erraten, zu welcher Nation die Leute gehörten, und dies gelang uns ziemlich gut, aber mit den Namen der Personen glückte es uns weniger; um diese zu raten, ist wahrscheinlich viele Übung nötig. So gaben wir dies denn auf und begnügten uns mit weniger schwierigen Versuchen.

Eines Morgens sagte ich: »Da sitzt eine Gesellschaft Amerikaner!«

»Ja,« meinte Harris, »aber aus welchem Staat?«

Ich nannte einen Staat, Harris einen anderen! Daß das junge Mädchen, welches zu der Gesellschaft gehörte, sehr schön sei und sehr geschmackvoll gekleidet, darin waren wir einerlei Meinung, über ihr Alter jedoch konnten wir uns nicht einigen: ich meinte, sie sei achtzehn, Harris hielt sie für zwanzig. Wir ereiferten uns darüber und ich sagte schließlich, als ob es mein Ernst wäre: »Die Sache läßt sich ja sehr leicht entscheiden, – ich will hingehen und sie fragen.«

Harris erwiderte in spöttischem Ton: »Ja, das wird wohl das beste sein. Du brauchst ja nur hinüberzugehen und mit der hier gebräuchlichen Formel zu sagen: ›Ich bin Amerikaner!‹ dann wird sie sich natürlich sehr freuen, dich zu sehen.« Dabei gab er mir zu verstehen, daß ich es wohl schwerlich wagen würde, sie anzureden.

»Ich habe nur so gedacht,« versetzte ich, »und es nicht im Ernst gemeint, aber du traust mir doch zu wenig Courage zu; ein Frauenzimmer macht mir nicht so leicht bange, und jetzt gehe ich hin und spreche mit dem Fräulein.«

Mein Vorhaben war sehr einfach: ich wollte sie höchst ehrerbietig anreden und um Entschuldigung bitten, wenn ihre große Ähnlichkeit mit einer früheren Bekannten mich getäuscht hätte. Wenn sie mir dann antwortete, der Name, den ich genannt habe, sei nicht der ihrige, so wollte ich mich abermals aufs höflichste entschuldigen, meine Verbeugung machen und mich wieder zurückziehen. Daraus konnte doch kein Unglück entstehen. – Ich ging also an den Tisch, verbeugte mich vor dem Herrn und wollte mich eben mit meiner Rede an sie wenden, als sie ausrief:

»Also habe ich mich doch nicht geirrt! – Ich sagte gleich zu John, daß Sie es waren; er wollte mir nicht glauben, aber ich wußte, daß ich recht hatte und sagte, Sie würden mich sehr bald erkennen und zu uns herüberkommen! Es freut mich sehr, daß Sie es getan haben, denn wenn Sie fortgegangen wären, ohne mich zu erkennen, hätte ich das nicht für sehr schmeichelhaft gefunden. Bitte, setzen Sie sich doch! – Wie merkwürdig! – Sie sind wirklich der letzte Mensch, den ich erwartet hätte jemals wiederzusehen!«

Das war eine Überraschung, die mich förmlich betäubte und mir einen Augenblick die Besinnung raubte. Indessen schüttelten wir uns herzlich die Hände und ich nahm neben ihr Platz; aber in einer solchen Klemme war ich wirklich noch nie gewesen. Mir dämmerte es dunkel, als ob ich die Züge des Mädchens schon einmal gesehen hätte, aber wo das gewesen war und welcher Name zu ihr gehörte, war mir gänzlich entfallen. Daher begann ich sogleich die Rede auf Schweizer Landschaften zu bringen, um mich nicht zu verraten; allein es half nichts, sie ging ohne Umschweife auf die Dinge los, die sie näher interessierten.

»Nein, was das für eine Nacht war, als der Sturm die vorderen Boote mit wegriß! Wissen Sie noch?«

»Wie sollte ich nicht!« sagte ich, aber ich hatte keine Ahnung. Ich wollte, der Sturm hätte auch das Steuer, den Schornstein und den Kapitän selbst mit weggerissen, – dann wäre mir vielleicht ein Licht aufgegangen, wo ich die Fragerin hintun sollte.

»Und erinnern Sie sich, wie bange die arme Marie war?«

»Jawohl,« sagte ich, »nein, wie einem alles wieder gegenwärtig wird.«

Das wünschte ich zwar aufs innigste, aber es war wie aus meinem Gedächtnis weggeblasen! Das klügste wäre gewesen, offen die Wahrheit zu gestehen, aber das konnte ich nicht übers Herz bringen, nachdem das junge Mädchen mir solches Lob gespendet, weil ich sie wiedererkannt hatte. So geriet ich denn immer tiefer hinein und hoffte vergebens auf einen rettenden Faden, um aus dem Labyrinth zu kommen.

Die Unerkennbare fuhr lebhaft fort: »Denken Sie, Georg hat doch noch Marie geheiratet!«

»Wirklich? Ist es möglich!«

»Jawohl; er sagte, er glaube, daß ihr Vater viel mehr schuld gewesen sei, als sie selbst; und ich glaube, er hatte recht, meinen Sie nicht auch?«

»Natürlich, es war ja ganz klar, ich habe es doch immer gesagt.«

»O nein, Sie waren ja anderer Meinung, wenigstens in jenem Sommer.«

»Im Sommer, da haben Sie ganz recht, aber im folgenden Winter sagte ich’s.«

»Nun, es stellte sich heraus, daß Marie gar nicht schuld war, sondern nur ihr Vater und der alte Darley.«

Um doch etwas zu erwidern, sagte ich:

»Ja, Darley habe ich immer als ein lästiges altes Geschöpf angesehen!«

»Das war er auch, aber trotz seiner Sonderbarkeiten waren sie ihm zärtlich zugetan; – wissen Sie noch, wie er immer versuchte, ins Haus zu kommen, sobald es nur im geringsten kalt war?«

Ich getraute mir nicht, weiter zu gehen. Offenbar war dieser Darley kein Zweifüßler, sondern irgend ein Vierfüßler, vielleicht ein Hund, möglicherweise ein Elefant. Da nun jedes Tier eine Haut hat, so fiel ich im Anschluß an ihre Frage mit der Bemerkung ein:

»Und was er für ein Fell hatte!«

Diese Bemerkung mußte passen, denn sie sagte zustimmend:

»Ja, ein sehr dickes – und erst seine Wolle!«

Das verblüffte mich, ich wußte nicht recht weiter und sagte nur: »Ja, an Wolle fehlte es ihm nicht!«

»Einen Neger mit solchem Wollhaar könnte man lange suchen,« meinte sie.

Das war ein Lichtblick, denn mir fing an schwül zu werden, und ich war froh, als sie fortfuhr:

»Er war doch selbst bequem genug einquartiert, aber wenn es kalt wurde, fand er sich stets bei der Familie ein und war nicht wieder aus dem Hause zu bringen. Man sah ihm manches nach, weil er vor Jahren Tom das Leben gerettet hatte. Erinnern Sie sich noch an Tom?«

»Ganz deutlich, er war ein so hübscher Mensch!«

»Jawohl, und das Kind ein so niedliches Ding.«

»Ein hübscheres Kind habe ich nie gesehen.«

»Ich tat nichts lieber, als mit ihm tändeln und spielen.«

»Und ich schaukelte es so gern auf den Knien.«

»Sie haben ihm auch den Namen ausgesucht, – wie war es doch?«

Jetzt kam ich aufs Glatteis! Hätte ich nur des Kindes Geschlecht gewußt. Zum guten Glück fiel mir ein Name ein, der für alle Fälle paßte. Ich sagte:

»Es wurde Fränzchen genannt.«

»Nach einem Verwandten vermutlich. Aber dem verstorbenen, das ich nie gesehen habe, gaben Sie auch den Namen; wie hieß denn das?«

Da das Kind tot war und sie es nie gesehen hatte, dachte ich, man könnte auf gut Glück einen Namen wagen und so antwortete ich:

»Es hieß Thomas Heinrich!«

Sie wurde nachdenklich und sagte: »Das ist doch sonderbar – sehr sonderbar!«

Ich saß ganz still und der kalte Schweiß lief an mir herunter. Aber, so arg meine Verlegenheit war, so hoffte ich doch, mich aus der Klemme zu ziehen, wenn sie nur nicht noch mehr Namen von Kindern wissen wollte. – Ich war begierig, wo der nächste Blitz einschlug. Sie war noch mit dem Namen des letzten Kindes beschäftigt, sagte aber plötzlich: »Es war recht schade, daß Sie gerade fort waren als mein Kind geboren wurde, sonst hatten Sie seinen Namen auch wählen müssen.«

»Ihr Kind? Sind Sie denn verheiratet?«

»Ich bin seit dreizehn Jahren verheiratet.«

»Getauft, meinen Sie wohl.«

»Nein, verheiratet, – dieser Knabe hier ist mein Sohn.«

»Das scheint ja ganz unglaublich, – fast unmöglich! Wenn Sie es nicht für unhöflich halten, möchte ich mir wirklich erlauben zu fragen, ob Sie älter als achtzehn sind?«

»Am Tag des Sturmes, von dem wir sprachen, war ich gerade neunzehn, das war mein Geburtstag.«

Dadurch wurde ich wenig klüger, da ich das Datum des Sturmes nicht wußte.

Ich dachte nach, was ich wohl Unverfängliches sagen könnte, um meinen Anteil an der Unterhaltung beizutragen und meinen Mangel an Erinnerungen weniger bemerklich zu machen. Aber nichts Unverfängliches wollte mir einfallen. Wenn ich sagte: ›Sie haben sich seitdem nicht im geringsten verändert!‹ so war das riskiert; meinte ich dagegen: ›Sie sehen jetzt viel besser aus,‹ so ging das auch nicht. Eben wollte ich einen Ausfall auf das Wetter machen, als meine Landsmännin mir zuvorkam und rief:

»Wie habe ich mich gefreut, einmal wieder von den lieben alten Zeiten zu sprechen! Sie nicht auch?«

»Gewiß, eine solche halbe Stunde habe ich noch nie erlebt,« versetzte ich voll Gefühl und hätte mit Wahrheit hinzufügen können: ›Lieber wollte ich mir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen lassen, als sie noch einmal durchzumachen.‹ Ich war von Herzen dankbar, mit der Feuerprobe fertig zu sein und wollte mich eben verabschieden, als sie fortfuhr:

»Nur eins geht mir im Kopf herum!«

»Was denn?«

»Der Name des verstorbenen Kindes. Wie sagten Sie doch, daß es hieß?«

Jetzt war ich übel daran; ich hatte des Kindes Namen ganz vergessen, wie konnte ich ahnen, daß ich ihn noch einmal brauchen würde. Ich ließ mir nichts‘ anmerken und sagte kühn:

»Joseph Wilhelm.«

Aber der Knabe neben mir verbesserte meinen Irrtum.

»Nein; Thomas Heinrich.«

Ich bedankte mich bei ihm und sagte: »Ach ja, ich habe es mit einem andern Kind verwechselt, richtig, Thomas Heinrich hieß das arme Kind; Thomas, hm – nach dem großen Thomas Carlyle, und Heinrich – hm – nach Heinrich VIII,, die Eltern waren sehr zufrieden mit den Namen.«

»Dadurch wird es nur noch sonderbarer,« murmelte meine schöne Freundin.

»Warum denn?«

»Weil die Eltern es immer Amalie Susanne nennen, wenn sie von ihm sprechen.«

Jetzt war meine Weisheit zu Ende; ich war wie auf den Mund geschlagen und wußte weder aus noch ein. Um die Sache fortzusetzen, hätte ich lügen müssen, und das wollte ich nicht. So saß ich stumm und ergeben da, und ließ mich von dem Feuer meiner eigenen Beschämung langsam zu Tode braten. Plötzlich aber lachte meine Gegnerin hell auf und sagte:

»Mir haben die Erinnerungen an alte Zeiten mehr Spaß gemacht als Ihnen. Ich merkte bald, daß Sie sich nur stellten, als ob Sie mich kennten, und nachdem ich mein Lob an Sie verschwendet hatte, beschloß ich, Sie zu strafen, was mir auch gelungen ist. Es war mir sehr angenehm, durch Sie Georg und Tom und Darley kennen zu lernen; denn ich hatte vorher nie etwas von ihnen gehört. Wenn man es nur richtig anzufangen weiß, kann man von Ihnen wirklich eine ganze Menge Neuigkeiten erfahren. Marie, und der Sturm, der die vorderen Boote wegriß, sind wahre Tatsachen, alles andere ist Dichtung. Marie war meine Schwester, ihr ganzer Name ist Marie X.; wissen Sie nun, wer ich bin?«

»Ja, jetzt erinnere ich mich Ihrer, – Sie sind gerade noch so hartherzig wie vor dreizehn Jahren auf dem Schiff, sonst wurden Sie mich nicht so bestraft haben. Sie sind noch ganz wie Sie waren, von innen und von außen. Sie sehen ebenso jung aus wie damals, Ihre Schönheit ist unverändert und findet ihr Abbild in Ihrem prächtigen Knaben! – Und nun – wenn diese Worte Sie gerührt haben, lassen Sie uns Frieden schließen, denn ich bekenne mich für besiegt und überwunden.«

Dies wurde zum Beschluß erhoben und auf der Stelle ausgeführt.

Als ich zu Harris zurückkam, sagte ich: »Nun siehst du, was Talent und Geschicklichkeit ausrichten können!«

»Bitte sehr, ich sehe, was riesige Unwissenheit und Einfalt zu tun imstande sind! Daß ein Mensch, der seine fünf Sinne bei sich hat, sich auf diese Weise fremden Leuten aufdrängt und eine halbe Stunde in sie hineinredet, so etwas ist noch nicht dagewesen! Was hast du ihnen nur gesagt?«

»Gar nichts Schlimmes! Ich habe das Mädchen gefragt, wie es hieße!«

»Meiner Treu, das sieht dir ähnlich! Du bist imstande, so etwas zu tun! Es war dumm von mir, – ich hätte nicht zugeben sollen, daß du hingehst, um dich zum Narren zu machen. Aber wie konnte ich mir vorstellen, daß du dich so weit vergessen würdest! Was werden die Leute von uns denken? Aber, wie hast du es gesagt? auf welche Weise? Ich hoffe, nicht ganz ohne Einleitung!«

»O nein, ich sagte: Mein Freund und ich, wir möchten gern wissen, wie Sie heißen, – wenn Sie nichts dagegen haben!«

»Nein, das war wirklich nicht mit der Tür ins Haus gefallen! – Du warst in der Tat von einer Höflichkeit, die dir Ehre macht, und ich danke dir noch besonders, daß du mich auch hineingemischt hast! Was tat sie aber?«

»Gar nichts Ungewöhnliches! Sie nannte mir einfach ihren Namen.« »Ist es möglich! – und zeigte auch gar keine Überraschung?«

»Doch – etwas hat sie gezeigt – vielleicht war es Überraschung – mir kam es aber vor, als sei es Freude.«

»Sehr wahrscheinlich … es muß natürlich Freude gewesen sein – wie hätte sie sich auch nicht freuen sollen, von einem Fremden mit einer solchen Frage angefallen zu werden. – Was tatest du weiter?«

»Ich reichte ihr die Hand und sie schüttelte sie.«

»Das habe ich gesehen – ich traute meinen Augen kaum! Hat der Herr denn nicht gesagt, er würde dir den Hals umdrehen?«

»Nein, mir schien es, als ob sie sich alle freuten, meine Bekanntschaft zu machen.«

»Das wird auch wohl der Fall gewesen sein; sie werden bei sich gedacht haben: dieser Ausstellungsgegenstand muß seinem Wärter entlaufen sein, wir wollen uns einen Spaß mit ihm machen! Das ist die einzige Erklärung für ihre Sanftmütigkeit. – Du nahmst Platz – haben sie dich dazu aufgefordert?«

»Nein, ich dachte, sie hätten es vergessen.«

»Welchen sicheren Instinkt du hast! Was hast du noch getan? Wovon hast du denn gesprochen?«

»Ich fragte das Mädchen, wie alt es wäre.«

»Nein, wirklich, dein Zartgefühl ist über alles Lob erhaben! Weiter – weiter – kümmere dich nicht um meine traurige Miene, – so sehe ich immer aus, wenn ich eine tiefe innere Freude empfinde. Sprich weiter! Sie gab dir ihr Alter an?«

»Ja, und dann erzählte sie mir von ihrer Mutter, ihrer Großmutter, den übrigen Verwandten und von ihren eigenen Angelegenheiten.«

»Alles von selbst?«

»Nein, das nicht gerade. Ich stellte die Fragen und sie gab mir die Antworten.«

»Das ist ja himmlisch! Hast du nicht auch nach ihren politischen Ansichten gefragt?« »Freilich – sie ist Demokratin und ihr Mann Republikaner.«

»Ihr Mann? Das Kind ist doch nicht verheiratet?«

»Sie ist kein Kind; sie ist verheiratet, und der Herr, der neben ihr sitzt, ist ihr Mann!«

»Hat sie auch Kinder?«

»Ja, sieben und ein halbes.«

»Das ist unmöglich!«

»Nein, es ist die reine Wahrheit. Sie hat es mir selbst gesagt.«

»Aber – sieben und ein halbes? – Was soll das halbe bedeuten?«

»Das ist aus einer anderen Ehe – solch ein Stiefkind wird nur halb gerechnet.«

»Aus einer anderen Ehe? So hat sie schon einmal einen Mann gehabt?«

»Ja, vier; dies ist der vierte.«

»Ich glaube kein Wort davon, die Unmöglichkeit liegt ja auf der Hand. Ist der Knabe ihr Bruder?«

»Nein, ihr Sohn und zwar der jüngste. Er ist nicht so alt, wie er aussieht, erst elf und ein halbes Jahr.«

»Das ist alles vollständig unmöglich! Die Sache scheint mir ganz klar: sie haben gesehen, wen sie vor sich hatten, und dich zum Narren gehalten. Ich bin froh, daß ich nichts damit zu schaffen habe; hoffentlich denken sie nicht, wir zwei seien Leute vom gleichen Schlage. Wollen sie denn lange hier bleiben?«

»Nein, sie reisen noch vor Mittag ab.«

»Ich kenne jemand, der herzlich froh darüber ist. Wo hast du es erfahren? Du hast sie wahrscheinlich gefragt?«

»Nein, zuerst fragte ich im allgemeinen nach ihren Plänen, und sie sagten, sie würden eine Woche hier bleiben und Ausflüge in die Umgegend machen. Gegen das Ende der Unterhaltung äußerte ich dann, wir würden sie gern auf ihren Touren begleiten und schlug vor, dich zu holen und ihnen vorzustellen. Dann zögerten sie ein wenig und fragten, ob du aus derselben Anstalt seiest wie ich. Ich sagte ja, worauf sie bemerkten, sie hätten sich anders besonnen und wollten sofort nach Sibirien abreisen, um einen kranken Verwandten zu besuchen.«

»Das setzt deiner Dummheit die Krone auf! So weit hat es noch niemand gebracht. Wenn du vor mir stirbst, setze ich dir ein Denkmal von Eselsköpfen, so hoch wie der Straßburger Kirchturm! Sie wollten wirklich wissen, ob ich aus derselben Anstalt wäre wie du? – Was für eine Anstalt meinten sie denn?«

»Ich weiß nicht, es fiel mir nicht ein, danach zu fragen.«

»Aber ich weiß es! – Sie meinten ein Irrenhaus, eine Anstalt für Blödsinnige. Und jetzt halten sie uns doch für zwei gleiche Narren, – Siehst du nun, was du angerichtet hast? Schämst du dich gar nicht?« –

»Weshalb auch? – Meine Seele dachte an nichts Böses; was schadet es denn? Es waren sehr nette Leute und ich schien ihnen zu gefallen.«

Harris machte einige grobe Bemerkungen und begab sich in sein Schlafzimmer – um Tische und Stühle kurz und klein zu schlagen, wie er sagte. Er ist ein merkwürdig cholerischer Mensch und die geringste Kleinigkeit bringt ihn ganz außer sich. –

Die junge Dame hatte mich schön in die Klemme gebracht, aber an Harris habe ich mich wieder schadlos gehalten. Man muß sein Mütchen immer auf eine oder die andere Weise kühlen, sonst schmerzt die wunde Stelle noch lange.

Berliner Eindrücke.


Berliner Eindrücke.

Berlin hat mich im höchsten Grade überrascht. Keine Beschreibung, die ich früher in Büchern gelesen habe, trifft mehr zu. Das Berlin, wie es im vorigen Jahrhundert und noch in der ersten Hälfte des jetzigen war, die schmutzige, einförmige, häßliche Stadt, ist wie vom Erdboden verschwunden. Nur der Grund, auf dem sie stand, hat noch eine Geschichte und alte Überlieferungen, – Berlin selbst ist ganz neu, die neueste Stadt, die mir jemals vorgekommen ist.

Sogar Chicago würde altersgrau daneben aussehen. Im übrigen gleichen sich diese beiden Städte, was die flache Umgebung, das rasche Wachstum und die Einwohnerzahl betrifft. Mit Bestimmtheit behaupten kann ich das freilich nicht, da ich nicht weiß, wie viele Einwohner Chicago heute hat, vorletzte Woche waren es etwa anderthalb Millionen. Auch wegen der vielen geraden Straßen und der ungeheuern Raumverschwendung kann man Berlin das europäische Chicago nennen; die Straßen sind fast durchgängig so breit angelegt, wie ich es noch in keiner Stadt irgend eines andern Landes gefunden habe. ›Unter den Linden‹ sind drei Straßen in einer; die Potsdamerstraße ist auf beiden Seiten von Bürgersteigen eingefaßt, die breiter sind als die berühmten Hauptstraßen der größten Städte Europas; auch hat Berlin einen Park von ungewöhnlicher Ausdehnung.

Für die Bauordnung bestehen die sonderbarsten Vorschriften. Die Stadt ist aus lauter Steinriesen aufgetürmt, man darf in Berlin keine unsicheren und unansehnlichen Häuser bauen, und so sind denn diese auffallend schönen und großartigen Gebäude entstanden, die weder mit Einsturz drohen, noch bei der geringsten Feuersbrunst ein Raub der Flammen werden. Die Baukommissäre nehmen ihre Besichtigung während des Baues vor; man hat gefunden, daß dies besser ist, als zu warten, bis das fertige Haus wieder einfällt. Bricht ein Brand aus, so herrscht dabei die größte Ordnung und Ruhe, die uniformierte Feuerwehr marschiert in Reih‘ und Glied, so ernst und gemessen in Miene und Haltung, als ginge es zu einem Begräbnis, man glaubt die Heilsarmee einherkommen zu sehen, in tiefer Zerknirschung über ihre Sünden. Da das Feuer sich in den steinernen Gebäuden immer nur auf ein Stockwerk beschränkt, brauchen die übrigen Bewohner des Hauses sich nicht weiter darum zu kümmern.

Allabendlich findet eine wahrhaft verschwenderische Beleuchtung mit Gas und elektrischem Licht statt, Berlin bietet daher zur Nachtzeit einen entzückenden Anblick. Überall hat man eine Doppelreihe glänzender Lichter vor sich, die nach allen Seiten in gerader Linie weit in die Nacht hinausläuft. Die dazwischenliegenden Plätze leuchten im Strahlenglanz, und zahllose Droschkenlaternen schießen wimmelnd in allen Richtungen hin und her, wie Schwärme von Leuchtkäfern an einem Sommerabend.

In keiner Stadt wird wohl so viel regiert wie in Berlin, aber ich wüßte auch keine, die besser regiert wäre. Methode und System machen sich allenthalben geltend, in großen wie in kleinen Dingen und selbst bei den geringfügigsten Einzelheiten. Die Verordnungen stehen aber nicht etwa bloß auf dem Papier, so daß es dabei sein Bewenden hat, nein, sie treten wirklich in Kraft und werden bei Armen und Reichen ohne Gunst und Ungunst auf gleiche Weise durchgeführt. Der mühevolle, emsige Fleiß, die Ausdauer und Pflichttreue, welche die Behörde bei jeder Gelegenheit entfaltet, erregt Bewunderung – zuweilen auch Leidwesen. Das Erstaunlichste, was ich diesseits des Ozeans gefunden habe, ist die höfliche, unerschütterliche, verfluchte Beharrlichkeit, mit welcher die Polizei ihren Willen durchsetzt und die Ordnung aufrecht erhält. Sie duldet keine Ansammlung von Menschen, weil daraus Ungehörigkeiten entstehen könnten; ja, träte plötzlich ein Erdbeben ein, so würde es die Berliner Polizei beaufsichtigen und ordnungsmäßig zu Ende führen.

Die Straßen werden sehr rein gehalten, aber nicht, wie es in Neuyork Sitte ist, mit schönen Worten und frommen Reden, sondern durch tägliche und stündliche Arbeit mit Kratzbürste und Besen. Kurz, man hat den Eindruck, daß hier eine Stadtverwaltung am Ruder ist, die vor keinen Kosten zurückscheut, wo die öffentliche Bequemlichkeit, Behaglichkeit und Gesundheit in Betracht kommt.

Nur eine Ausnahme muß ich erwähnen; das ist die Benennung der Straßen und die Numerierung der Häuser. Zuweilen ändert sich der Straßennamen mitten in der Häuserreihe; man merkt dies erst bei der nächsten Ecke und weiß natürlich nicht, wo der Wechsel angefangen hat. In betreff der Hausnummern herrscht ein Chaos wie vor Erschaffung der Welt. Unmöglich kann die weise Berliner Stadtregierung eine derartige Einrichtung getroffen haben. Sie ist eines Blödsinnigen würdig; allein, so mannigfaltige Arten Verwirrung und Unheil anzurichten, wäre ein Blödsinniger nicht imstande sich auszudenken. Oft dient eine Nummer für drei bis vier Häuser, und doch steht sie nur auf einem derselben; dann wieder wird ein Haus z. B. mit Nummer 4 bezeichnet und die folgenden mit 4a, 4b, 4c, so daß man alt und schwach geworden ist, bis man bei Nummer 5 anlangt. Die Folge dieses systemlosen Systems ist die, daß man bei Nr. 1 keine Ahnung hat, ob Nr. 150 ein Paar Meilen oder hundert Schritte weit sein mag. Obendrein steigen oder fallen die Zahlen ganz willkürlich; von 50 oder 60 gelangt man vielleicht plötzlich zu 140, 139 usw. und nur ein Pfeil gibt durch seinen Flug die veränderte Richtung an. Es ist um den Verstand zu verlieren, und bis hier nicht Abhilfe geschafft wird, muß man auf das Schlimmste gefaßt sein.

Als ich in Berlin war, fand eine Feier zu Ehren der berühmten Gelehrten Virchow und Helmholtz statt, welche beide fast zu gleicher Zeit ihr siebzigstes Lebensjahr erreichten. Schon seit Wochen war eine Deputation nach der andern eingetroffen, um den beiden Geistesheroen Glückwünsche, Ehrungen und Huldigungen darzubringen. Die fernsten Städte, die berühmtesten Hochschulen beteiligten sich an diesen Kundgebungen.

Den Schluß derselben bildete der große Studentenkommers, der in einem mit Fahnen und Standarten geschmückten, glänzend erleuchteten Riesensaal gehalten wurde. An jedem der zahllosen Tische, die den ganzen Raum erfüllten, hatten vierundzwanzig Personen Platz. Ich war hocherfreut, einen Sitz an der Mitteltafel zu erhalten, an welcher auch die beiden Helden des Abends saßen, obwohl ich durchaus nicht gelehrt genug bin, um eine derartige Ehre zu verdienen. Es bereitete mir ein seltsam angenehmes Gefühl, mich in solcher Gesellschaft zu befinden, mit dreiundzwanzig Männern zusammen zu sein, welche an einem Tage mehr vergessen, als ich je gewußt habe. In Verlegenheit geriet ich nicht; die Gelehrsamkeit steht dem Menschen selten im Gesicht geschrieben und ich konnte mit leichter Mühe Haltung und Gebärden der Herren so nachahmen, daß mich die Menge auch für einen Professor hielt.

In kurzer Zeit war der ganze Saal voll, es hieß, es seien gegen viertausend Personen anwesend; auch alle Zwischengänge waren dicht besetzt. An jeder Tafel stand ein Student im Wichs seiner Verbindung. Die Trachten sind alle von reichem Stoff in glänzenden Farben und außerordentlich malerisch.

Soweit mein Auge reichte, sahen alle die frischen, jugendlichen Gesichter nach einer Richtung hin; unverwandt hingen die Blicke sämtlicher Studenten an dem Platz, wo Virchow und Helmholtz saßen. Sie verschlangen die beiden Geistesriesen förmlich mit den Augen und die Verehrung der Herzen strahlte aus allen Mienen.

Mancher ausgezeichnete Gast war schon durch die Ehrengarde an seinen Platz geleitet worden, da erklangen noch einmal die drei Trompetenstöße und wieder fuhren die Rapiere aus den Scheiden. Vom fernen Eingang her blitzten die erhobenen Schläger – ›Mommsen!‹ ging es flüsternd durch die Reihen. Der ganze Saal erhob sich, rief, stampfte mit den Füßen, klatschte mit den Händen, rasselte mit den Biergläsern. Es war ein wirklicher Sturm. Dann drängte sich der kleine Mann mit dem langen Haar an uns vorbei und nahm seinen Sitz ein. Denkt euch meine Überraschung! Ich hatte ja nicht im Traum daran gedacht, daß ich den Mann leibhaftig vor mir haben würde, der die ganze römische Welt und alle Cäsaren in seinem lichtvollen Haupte trug. Meilenweit wäre ich gewandert, um ihn zu sehen, und hier saß er, ohne daß es mir die kleinste Mühe oder Reise oder sonst etwas gekostet hätte.

Die Musik spielte einen kriegerischen Marsch; es folgte der Toast auf den Kaiser, bei dessen Schluß alle Gläser auf einmal geleert und mit einem Schlage auf den Tisch gestoßen wurden. Es klang täuschend wie Donnergetöse. Mächtige Weisen ertönten, immer höher schwoll die Luft, die Schläger krachten, die Biergläser rasselten, die Begeisterung wuchs und ließ sich bald nicht mehr überbieten. Ich wenigstens fühlte mich außerstande, noch mehr darin zu leisten.

Die Feier des Abends schloß mit zwei von Studenten gehaltenen Reden und der Erwiderung von Virchow und Helmholtz.

Virchow ist seit langer Zeit Mitglied der Berliner Stadtverwaltung, Er arbeitet ebenso eifrig für das Wohl der Stadt wie jeder andere Stadtrat und für den nämlichen Sold: für nichts. Ich weiß nicht, ob wir in Amerika es unserem berühmtesten Mitbürger zumuten könnten, sich an der städtischen Verwaltung zu beteiligen und ob, falls wir es wagten, wir seine Wahl durchsetzen würden. Aber hier ist das Munizipalsystem so vorzüglich, daß die besten Männer es sich zur Ehre rechnen, unentgeltlich als Stadträte dienen zu dürfen, und das Volk ist vernünftig genug, diese Männer zu bevorzugen und immer wieder zu wählen. Darum ist Berlin auch eine in jeder Beziehung gut und zweckmäßig verwaltete Stadt.

Tot oder lebendig.


Tot oder lebendig.

Im Jahre 1892 verbrachte ich den März in Mentone an der Riviera. An diesem ruhigen Ort erfreut man sich im stillen alle der Schönheit, die man in Monte Carlo oder Nizza öffentlich genießt. Das heißt, man hat die balsamische Luft, die glänzend blaue See, den alles überflutenden Sonnenschein, ohne die störenden Einflüsse des gesellschaftlichen Wirrwarrs, ohne Prunksucht und Mißbehagen.

Mentone ist still, einfach, ruhig, anspruchslos; die Reichen und die Vergnügungssüchtigen kommen nicht dahin – in der Regel meine ich. Zuweilen trifft man auch wohl einen Reichen, und mit einem solchen bin ich zufällig bekannt geworden. Ich nenne ihn Schmidt, um ihn unkenntlich zu machen. Eines Tages, beim zweiten Frühstück im Hotel des Anglais, faßt er mich plötzlich beim Arm und ruft aus:

»Geschwind! Sehen Sie den Herrn an, der eben zur Tür hinausgeht. Aber bitte, so genau wie möglich!«

»Warum denn?«

»Wissen Sie vielleicht, wer es ist?«

»Ja. Er war schon mehrere Tage hier, bevor Sie kamen. Es ist ein alter, sehr reicher Seidenwarenfabrikant aus Lyon, der sich von den Geschäften zurückgezogen hat und vermutlich allein auf der Welt steht; er schaut immer träumerisch und traurig darein und spricht mit keinem Menschen. Theophil Magnon heißt er.«

Ich erwartete nun, Schmidt würde mir sogleich das große Interesse, welches er an Herrn Magnon nahm, näher erklären; statt dessen versank er aber in tiefes Sinnen und war einige Minuten lang für mich und die übrige Welt verloren. Hin und wieder fuhr er mit den Fingern durch sein greises welliges Haar, als wollte er den Gedanken nachhelfen, und ließ unterdessen sein Frühstück kalt werden. Zuletzt sagte er:

»Nein, die Geschichte ist mir entfallen; ich kann mich nicht darauf besinnen.«

»Auf was denn nicht?«

»Ach, auf eine von Andersens hübschen kleinen Erzählungen. Ich weiß von dem Inhalt nur noch so viel: Ein Kind hat einen gefangenen Vogel, den es zwar liebt, jedoch aus Leichtsinn vernachlässigt. Das Lied des Vogels verhallt ungehört und unbeobachtet; bald wird das Tierchen auch von Hunger und Durst gequält, sein Gesang klingt traurig und schwach und hört endlich ganz auf – der Vogel stirbt. Das Kind kommt und möchte vor Reue und Schmerz vergehen. Dann ruft es unter bitteren Tränen und Klagen seine Spielgefährten, und sie begraben den Vogel mit großem Pomp und aufrichtigem Kummer, ohne zu ahnen, daß es nicht bloß die Kinder sind, die ihre Poeten zu Tode hungern lassen und dann so viel Aufwand für Leichenbegängnisse und Denkmäler machen, daß man jene damit hätte am Leben erhalten und vor jeder Entbehrung schützen können. Jetzt – –«

Aber hier wurden wir unterbrochen. Gegen zehn Uhr abends begegnete ich Schmidt von ungefähr, und er lud mich ein, mit ihm auf seinem Zimmer eine Zigarre zu rauchen und ein Glas heißen Whisky zu trinken. Der gemütliche Raum war hell erleuchtet, duftendes Olivenholz brannte in dem offenen Kamin, und, um unser Behagen vollkommen zu machen, klang von fern das Brausen der Brandung gedämpft an unser Ohr. Nachdem wir einige Zeit in harmlosem Gespräch verbracht hatten, schenkte mir Schmidt wieder ein.

»Stärken wir unsere Lebensgeister noch ein wenig,« sagte er, »und dann will ich Ihnen eine kleine, seltsame Geschichte erzählen, die jahrelang ein Geheimnis zwischen mir und drei anderen gewesen ist. Aber, ich darf jetzt den Siegel brechen. Wollen Sie mir zuhören?«

»Mit Vergnügen. Fangen Sie nur an!«

Er erzählte darauf wie folgt:

»Vor langer Zeit, als ich noch ein sehr junger Künstler war und in den verschiedenen Departements von Frankreich, bald hier bald dort skizzierend umherwanderte, verband mich der Zufall mit ein paar lieben jungen Franzosen, die denselben Beruf erwählt hatten wie ich. Wir waren alle drei blutarm, aber sehr glücklich bei unserer Armut. Claude Frère und Charles Boulanger, so hießen meine wackeren Kameraden, waren voller Lust und Heiterkeit; weder Sturm, noch Wetter, noch Entbehrungen aller Art vermochten ihnen die gute Laune zu verderben. Schließlich gerieten wir aber doch in einem Dorf der Bretagne hart auf den Grund und hätten buchstäblich verhungern müssen, wenn uns nicht ein Künstler, der ebenso arm war wie wir selber – François Millet – vom Tode errettet hätte – –«

»Was! Der große François Millet?«

»Groß war er damals noch keineswegs – nicht größer als wir. Von Ruhm war bei ihm noch keine Rede, selbst nicht in seinem eigenen Dorfe. Dabei war er so arm, daß er uns keine andere Speise zu bieten hatte als weiße Rüben, und sogar an diesen mangelte es zuweilen. Wir vier wurden schnell unzertrennliche Freunde. Wir malten zusammen drauf los, soviel wir konnten, und häuften ganze Stöße von Bildern auf, fanden aber höchst selten einen Liebhaber. Es waren schöne Zeiten! Aber, Gott im Himmel, wie mußten wir manchmal hungern! – Das ging so ungefähr zwei Jahre lang. Da sagte Claude eines Tages:

»›Jungens, mit uns geht es zu Ende. Versteht mich wohl: jetzt ist alles aus. Man hat ein förmliches Bündnis gegen uns geschlossen. Das ganze Nest bin ich abgelaufen, aber niemand will uns mehr Kredit geben, keinen einzigen Sou, bis alle Reste und Schulden bezahlt sind.‹

»Uns überlief es kalt; wir wurden alle bleich vor Schrecken. Unsere Lage war wirklich trostlos geworden. Nach langem Schweigen hob Millet endlich mit einem Seufzer an:

»›Mir fällt nichts ein, nichts, rein gar nichts. Erfindet ihr etwas, Kameraden!‹

»Aber keiner von uns wußte einen Ausweg, und unser bekümmertes Schweigen war die einzige Antwort, die er erhielt.

»Charles stand auf und ging eine Weile unruhig im Zimmer umher, dann sagte er:

»›Es ist eine Schande. Seht euch nur einmal diesen Haufen von Bildern an, die so gut sind, daß man sie in ganz Europa nicht besser gemalt bekommt. Das haben uns ja auch viele von den Fremden bestätigt, die hier immer herumlungern.‹

»›Ja, aber gekauft haben sie nichts,‹ wandte Millet ein.

»›Freilich wohl – aber sie sagten es doch. Und es ist wahr. Sieh nur, z. B. dein ›Angelus‹; kann irgend jemand behaupten –‹

»›Ja, mein ›Angelus‹! Fünf Franken hat man mir dafür geboten.‹

»›Wann?‹

»›Wer bot das?‹

»›Wo ist der Mann?‹

»›Warum nahmst du sie nicht?‹

»›Sprecht doch nicht alle auf einmal. Ich dachte, er würde mehr geben – ich hätte darauf geschworen – er sah das Bild in einer Weise an – kurz, ich forderte acht.‹

»›Sapperment! Aber François, warum in aller Welt …‹

»›O, ich weiß wohl, ich weiß! Ich hatte mich geirrt und war ein Narr. Glaubt mir, Jungens, ich meinte es wirklich gut, und wenn ich –‹

»›Sei nur ruhig – wir kennen ja dein gutes Herz; aber tue uns die Liebe an und sei ein andermal kein solcher Dummkopf.‹

»›Verlaßt euch drauf, das geschieht nicht wieder. Ich wünschte nur, es käme einer und böte mir einen Kohlkopf dafür – ihr solltet sehen –‹

»›Einen Kohlkopf? O, sprich nicht davon – das Wasser läuft mir bei dem bloßen Gedanken im Munde zusammen.‹

»›Jungens,‹ sagte Charles, ›seid einmal vernünftig und antwortet mir: haben diese Bilder etwa keinen Wert?‹

»›Doch, versteht sich!‹

»›Sogar großen und hohen Wert, nicht wahr?‹

»›Ohne alle Frage!‹

»›Sind sie nicht so vorzüglich, daß man sie zu unsinnigen Preisen verkaufen würde, wenn ein berühmter Name darauf geklext wäre?‹

»›Natürlich! Darüber besteht kein Zweifel!‹

»›Nun gut! So hört mir zu. Aber, nicht wahr, ihr wißt, ich meine es nicht im Scherz?‹

»›Versteht sich! Uns ist es auch bitterer Ernst. Also, heraus mit der Sprache. Was hast du ausgeheckt? Laß hören!‹

»›Nämlich … was meint ihr, Kameraden – wißt ihr was? – wir klexen eben einen berühmten Namen auf die Bilder.‹

»Das Gespräch stockte. Alle Blicke richteten sich fragend auf Charles. Wollte er uns ein Rätsel aufgeben? Wo sollten wir einen berühmten Namen hernehmen? Wer würde ihn uns leihen?

»Charles nahm jetzt Platz und sagte:

»›Mein Vorschlag ist vollkommen ernst gemeint. Ich weiß kein anderes Mittel, uns aus dieser Klemme zu befreien, doch halte ich es für untrüglich. Eine Menge Tatsachen, welche uns die Geschichte lehrt, bestärken mich in dieser Ansicht. Ich hoffe, mein Plan wird uns alle reich machen.‹

»›Reich? Du hast wohl den Verstand verloren.‹

»›Durchaus nicht.‹

»›Doch; ich glaube, du bist übergeschnappt. Was nennst du reich?‹

»›Hunderttausend Franken für jeden.‹

»›O weh, er ist wirklich verrückt geworden!‹

»›Armer Charles! Mangel und Not waren zu hart für dich!‹

»›Nimm ein niederschlagendes Pulver und gehe sofort zu Bette.‹

»›Macht ihm erst einen kalten Umschlag.‹

»›Nein, holt lieber eine Zwangsjacke. Jeden Augenblick kann die Tobsucht bei ihm ausbrechen.‹ »›Still,‹ rief Millet ungeduldig, ›laßt ihn doch erst ausreden.‹

»›Auch gut – so sprich, Charles! Was ist’s mit deinem Plan?‹

»›Ihr sollt ihn hören. Doch muß ich euch zuvor etwas fragen. Habe ich recht oder nicht, daß das Verdienst vieler großer Künstler nicht früher erkannt worden ist, als bis sie im Elend verkommen waren? Ihr wißt, dies hat sich in der Geschichte der Menschheit so oft zugetragen, daß ich glaube getrost ein Gesetz darauf gründen zu können, welches dahin lautet, daß das Verdienst eines jeden großen Künstlers, der namenlos und verkannt war, ans Licht kommt und seine Bilder hohe Preise erzielen – sobald der Mann tot ist. Mein Plan ist folgender: Wir wollen losen – einer von uns muß sterben.‹

»Das kam uns so unerwartet, und er sagte es so ruhig, daß wir im ersten Augenblick ganz still und verblüfft sitzen blieben. Dann aber brach ein wilder Chor der Entrüstung los, und es folgten allerlei medizinische Ratschläge, um dem kranken Gehirn unseres Freundes Heilung zu bringen. Er aber wartete geduldig, bis sich der Sturm zu legen begann, und fuhr dann unbeirrt fort:

»›Wie gesagt – einer von uns muß sterben, um die anderen zu retten und – sich selbst. Wir wollen losen. Der Gewählte soll berühmt werden, um uns alle reich zu machen. So seid doch still und unterbrecht mich nicht immer – ich weiß ganz genau, was ich sage. Der, welcher sterben muß, arbeitet während der drei nächsten Monate aus allen Kräften, um seinen Vorrat an Malereien zu vermehren; er macht keine Bilder, behüte! nur Skizzen, Studien, Bruchstücke, Teile von Studien, ein Dutzend Pinselstriche auf jedes Stück, so zusammenhanglos wie möglich, und auf jedes natürlich seinen Namenszug. Fünfzig solche Farbenklexereien liefert er den Tag, aber jede muß etwas Besonderes vorstellen, etwas von der Manier an sich haben, die sich leicht als die ›seine‹ kennzeichnet. Solche Sachen, das wißt ihr, werden zu fabelhaften Preisen gekauft und von allen großen Museen der Welt gesammelt, sobald der Mann erst aus dem Leben geschieden ist. Eine Unzahl Skizzen müssen fertig werden, mindestens ein Zentner. Während der Sterbende sie malt, unterstützen die übrigen ihn nach Kräften, treffen alle Vorkehrungen für das kommende Ereignis und bearbeiten Paris und die Händler. Ist das Feuer gehörig geschürt und das Eisen heiß, dann ist es Zeit, daß der Tod eintritt, und wir veranstalten ein pompöses Begräbnis. – Nun, was sagt ihr zu meinem Plan?‹

»›Ja, aber … das heißt … wie soll denn …?‹

»›Versteht mich recht. Der Mann soll in Wirklichkeit gar nicht sterben; er nimmt bloß einen anderen Namen an und verschwindet; wir begraben einen Strohmann und erheben ein Wehgeschrei über ihn, daß die ganze Welt davon widerhallen soll. Und dann – –‹

»Aber weiter kam er nicht. Wir brachen in ein gewaltiges Hurra! aus, schnellten von unseren Sitzen in die Höhe, sprangen wie toll in der Stube umher und fielen einander gerührt um den Hals. Stundenlang besprachen wir den Plan, ohne hungrig zu werden, und als zuletzt alles zur Zufriedenheit geordnet war, warfen wir die Lose in einen Hut, und der Gewählte war – Millet, der Todgeweihte, wie wir ihn nannten.

»Jeder suchte nun zusammen, was er an kleinen Schmucksachen und Andenken etwa noch besaß. Beim Pfandverleiher bekamen wir so viel Geld dafür, daß es zu einem bescheidenen Abendessen und Frühstück reichte. Auch behielten wir noch ein Paar Franken zur Reise übrig, nachdem wir mehrere Pfund Rüben und das Nötigste für Millet angeschafft hatten, womit er in den nächsten Tagen sein Leben fristen konnte.

Am anderen Morgen machten wir drei uns gleich nach dem Frühstück auf die Strümpfe, natürlich zu Fuß. Jeder von uns trug ein Dutzend kleiner Bilder von Millet in seinem Ranzen, mit dem festen Vorsatz, sie auf den Markt zu bringen. Charles ging geradeswegs nach Paris, wo er an Millets Ruhm bauen wollte, bis der große Tag gekommen war. Auch Claude und ich trennten uns, um denselben Zweck im übrigen Frankreich zu verfolgen.

»Es wird Sie vermutlich überraschen zu hören, wie leicht und bequem sich die Sache ausführen ließ. Nach zweitägiger Wanderung kam ich in die Nähe einer großen Stadt und begann eine Villa der Umgegend zu skizzieren – weil ich den Eigentümer auf der oberen Veranda des Hauses stehen sah. Er kam gleich herunter, mir zuzusehen; ich ahnte schon, daß er anbeißen würde. Um sein Interesse rege zu halten, arbeitete ich sehr schnell. Gelegentlich entschlüpfte ihm ein Ausruf des Wohlgefallens, nach und nach wurde er wärmer, geriet in Begeisterung und erklärte mir schließlich rund heraus, ich sei ein Meister in meinem Beruf.

»Da legte ich meinen Pinsel hin, langte in den Ranzen, holte einen Millet heraus und deutete stolz auf das Zeichen in der Ecke.

»›Sie kennen ihn ohne Zweifel. Er war mein Lehrer. Kein Wunder also, daß ich mich auf mein Handwerk verstehe.‹

»Der Mann geriet in eine leicht begreifliche Verlegenheit und blieb stumm.

»›Sie wollen mich doch nicht glauben machen, daß Sie Francois Millets Namenszug nicht kennen?‹ fragte ich erstaunt.

»Natürlich kannte er ihn nicht; aber er atmete erleichtert auf, wie jemand, der sich aus einer höchst unbequemen Lage befreit sieht. Mit der dankbarsten Miene von der Welt rief er ganz beglückt:

»›Wahrhaftig, ja, von Millet. Ich wußte zuerst nicht gleich, was ich vor mir hätte. Aber natürlich erkenne ich es jetzt.‹

»Er wollte nun das Bildchen kaufen, allein, ich weigerte mich lange es herzugeben; endlich ließ ich es ihm jedoch für achthundert Franken.«

»Achthundert!«

»Ja! Millet hätte es für ein Schweinerippchen hergegeben. Ich wollte, ich könnte es jetzt für achttausend zurückbekommen; aber jene Zeit ist vorüber. Ich machte von der Villa ein sehr hübsches Bild und hätte es dem Besitzer für zehn Franken gelassen, aber da er sah, daß ich der Schüler eines solchen Meisters war, ließ er sich’s hundert kosten. Die achthundert Franken schickte ich mit der Post sofort an Millet und machte mich am nächsten Tage rasch aus dem Staube.

»Aber ich ging nicht, nein, ich ritt. Seitdem bin ich immer geritten. Ich verkaufte jeden Tag ein Gemälde, daran ließ ich mir genügen. Zu den Käufern aber sagte ich stets:

»›Eigentlich ist es die größte Torheit, ein Bild von Francois Millet zu verkaufen. Der Mann lebt keine drei Monate mehr, und wenn er stirbt, wird man seine Arbeiten mit Gold aufwiegen.‹

»Ich gab nur alle erdenkliche Mühe, diese Tatsache soviel wie möglich zur allgemeinen Kenntnis zu bringen, um die Welt auf das kommende Ereignis vorzubereiten.

»Den Plan, die Bilder auf solche Weise an den Mann zu bringen, rechne ich mir hoch an, denn, unter uns gesagt, er stammte von mir und gelang uns allen vortrefflich. Claude war gleichfalls zwei Tage gewandert, ehe er den Verkauf begann, denn er fürchtete wie ich, Millets Ruhm möchte zu schnell bis in sein Heimatdorf dringen. Der hübsche, leichtsinnige Charles aber fing das Geschäft schon nach einem halben Tage an und reiste so vornehm wie ein Herzog.

»Dann und wann traten wir auch in ein Zeitungsbureau und bewarben uns um die Gunst der Presse. Nirgends war zu lesen, daß ein neuer Maler entdeckt worden sei; man nahm einfach an, daß alle Welt Francois Millet kenne; auch priesen die Blätter sein Verdienst auf keine Weise, sie brachten nur Andeutungen über das gegenwärtige Befinden des ›Meisters‹ – manchmal hoffnungsvoll, manchmal verzweifelnd, aber immer das Schlimmste befürchtend, und das reichte vollkommen hin. Wir strichen diese Zeitungsnotizen mit Rotstift an und sandten die Nummern gewissenhaft allen Leuten zu, die uns Bilder abgekauft hatten.

»Sobald Charles in Paris war, nahm er die Sache geschickt in die Hand. Er knüpfte Beziehungen zu auswärtigen Korrespondenten an und ließ Millets Bedeutung in England, über den Kontinent, in Amerika und allerorten ausposaunen.»

Sechs Wochen nach unserem Aufbruch trafen wir drei uns wieder in Paris, riefen einander ›Halt‹ zu, und ließen uns auch keine Bilder mehr von Millet schicken. Der Baum seines Ruhmes war so hoch und die Früchte so reif geworden, daß uns der rechte Zeitpunkt gekommen schien, um die Arbeit einzustellen. So schrieben wir denn an Millet, er möchte sich unverweilt zu Bette legen, denn wir wünschten ihn in zehn Tagen sterben zu lassen, wenn er bis dahin fertig werden könne.

»Nun machten wir Kasse und fanden, daß wir inzwischen fünfundachtzig kleine Bilder und Studien verkauft und neunundsechzigtausend Franken dafür eingenommen hatten. Charles machte noch zuletzt das glänzendste Geschäft von allen, er verkaufte nämlich den ›Angelus‹ für zweitausendzweihundert Franken. Wie feierten wir ihn für diese Tat, ohne vorauszusehen, daß Frankreich eines Tages um den Besitz dieses Gemäldes mit einem Fremden kämpfen würde, der es uns schließlich für bare Fünfmalhundertfünfzigtausend geraubt hat.

»Am selben Abend hielten wir noch einen Abschiedsschmaus mit Champagner, und tags darauf packten Claude und ich unsere Habseligkeiten und reisten ab, um Millet während seiner letzten Tage zu Pflegen, alle Neugierigen vom Hause fern zu halten und täglich Berichte an Charles nach Paris zu senden, die in den Blättern aller Erdteile veröffentlicht wurden, um die voll Spannung harrende Welt von den Vorgängen in Kenntnis zu setzen. Das traurige Ende ließ nun nicht lange auf sich warten, und auch Charles war zugegen, um bei den letzten Feierlichkeiten zu helfen.

»Sie erinnern sich ohne Zweifel, welches ungeheure Aufsehen jenes große Leichenbegängnis machte; die bedeutendsten Persönlichkeiten aus aller Herren Länder kamen damals herbeigeströmt, um ihre Teilnahme zu bezeugen. Wir vier – noch immer unzertrennlich – trugen den Sarg, und wollten uns von keinem dabei helfen lassen. Mit gutem Grund, denn es befand sich nichts darin als eine Wachspuppe. Anderen Sargträgern würde das geringe Gewicht ohne Zweifel aufgefallen sein. Wir vier, die wir alle Entbehrungen der schweren, jetzt auf ewig vergangenen Zeit mit treuer Freundschaft geteilt hatten, haben nun auch den Sarg …«

»Vier? Welche vier?«

»Nun, wir vier – denn Millet half seinen eigenen Sarg tragen. Verkleidet natürlich. Er galt für einen entfernten Verwandten.«

»Merkwürdig!«

»Aber wahr, buchstäblich wahr! Sie werden sich auch erinnern, wie die Bilder Millets im Preise stiegen. Wir wußten kaum, was wir mit all dem Gelde anfangen sollten. In Paris lebt ein Mann, der siebzig Stück Millets besitzt. Er hat uns zwei Millionen dafür bezahlt. Und was die Unmenge von Skizzen und Studien betrifft, die Millet in den sechs Wochen, während wir unterwegs waren, zusammengemalt hat, so würden Sie staunen, für welche Preise wir sie heute noch verkaufen, das heißt, wenn wir uns überhaupt dazu verstehen sie herzugeben.«

»Das ist wirklich eine wunderbare Geschichte.«

»Ja, sie hat einen ganz hübschen Schluß.«

»Was ist denn aber aus Millet geworden?«

»Können Sie ein Geheimnis bewahren?«

»Versteht sich!«

»Erinnern Sie sich des Mannes, auf den ich Sie heute im Speisesaal aufmerksam machte? Das war Francois Millet.«

»Nicht möglich!«

»Ja – er selbst. Das war einmal ein genialer Mann, der sich nicht zu Tode gehungert hat, um dann den Lohn, der ihm gebührte, in die Taschen anderer fließen zu lassen. Diesem Singvogel war es nicht bestimmt, sich das Herz umsonst aus dem Leibe zu pfeifen, um den kalten Pomp einer großen Leichenfeier als einzige Bezahlung zu erhalten. Dafür haben wir Sorge getragen!«

Mehr Glück als Verstand.


Mehr Glück als Verstand.

(Anm. Dies ist keine erfundene Geschichte. Ein Geistlicher, der vor vierzig Jahren Lehrer an der englischen Kriegsschule in Woolwich war, hat sie mir erzählt und sich für die Wahrheit verbürgt. – M. T.)

Es war in London bei dem Festmahl, das zu Ehren einer der wenigen großen militärischen Berühmtheiten der Gegenwart gegeben wurde, welche England besitzt. Den wahren Namen und Titel dieses Kriegshelden und Inhabers der höchsten Orden verschweige ich aus Gründen, welche jedem sofort einleuchten werden. Ich will ihn Generalleutnant Artur Scoresby nennen.

Welcher Reiz doch in einem berühmten Namen liegt! Dort saß der Mann in Fleisch und Blut, von dem ich viel tausendmal gehört hatte, seit jenem Tage vor über dreißig Jahren, als der Glanz seines Ruhmes plötzlich von einem Schlachtfeld der Krim bis zu den Sternen emporstieg, um nie wieder zu verblassen! Ich verwandte kein Auge von dem Halbgott; sein Anblick war mir wie eine wahre Herzenserquickung, ich konnte mich nicht satt an ihm sehen. Nichts entging meiner scharfen Beobachtung: ich sah die Ruhe, die Zurückhaltung, den edlen Ernst seines Antlitzes, die biedere Redlichkeit, die sich in seinem ganzen Wesen ausprägte. Dabei schien er weder ein Bewußtsein von seiner eigenen Größe zu haben, noch zu bemerken, wie viele bewundernde Blicke auf ihn gerichtet waren, mit wie tiefer, aufrichtiger, liebevoller Verehrung die Herzen der Versammelten ihm entgegenschlugen.

Zu meiner Linken saß ein alter Bekannter von mir. Er war jetzt Pfarrer, hatte jedoch nicht immer ein geistliches Amt bekleidet, sondern sein halbes Leben als Lehrer in der Militärschule zu Woolwich und im Feldlager zugebracht. In seinen Augen schimmerte ein seltsam verschleierter Glanz, als er sich jetzt zu mir herabbog und auf den Helden deutend, dem die Feier galt, mir verstohlen zuflüsterte:

»Im Vertrauen gesagt – er ist ein Dummkopf, wie es keinen zweiten gibt.«

Dieses Urteil überraschte mich aufs höchste. Wäre es über Napoleon, Sokrates oder Salomo gefällt worden, mein Staunen hätte nicht größer sein können. An der Wahrheitsliebe des Pfarrers zweifelte ich keinen Augenblick, auch wußte ich, daß er große Menschenkenntnis besaß. Daher stand es für mich sofort mit unumstößlicher Sicherheit fest, daß sich die Welt in betreff dieses Helden im Irrtum befinden müsse: er war wirklich ein Dummkopf. Mich interessierte nur noch, zu wissen, wie der Pfarrer ganz allein und auf eigene Hand dies Geheimnis entdeckt habe. Ich beschloß, mich bei nächster Gelegenheit danach zu erkundigen.

Einige Tage später tat ich das und der Pfarrer erzählte folgendes:

»Vor vierzig Jahren war ich als Lehrer an der Militärschule zu Woolwich und hörte in der Abteilung, bei welcher sich der junge Scoresby befand, dem Probeexamen zu. Mit aufrichtigem Mitleid bemerkte ich, daß, während seine Klassengefährten kluge und richtige Antworten gaben, er sozusagen gar nichts wußte. Er machte den Eindruck eines guten, freundlichen, harmlosen und liebenswürdigen jungen Menschen, und es war mir höchst peinlich, ihn mit der größten Unbefangenheit Antworten geben zu hören, die eine wahrhaft beispiellose Unwissenheit und Dummheit verrieten. Voll innigem Mitgefühl sagte ich mir, daß er zwar beim Examen bestimmt durchfallen müsse, es aber doch menschenfreundlich wäre, ihm beizustehen, damit seine Niederlage ihn nicht völlig zu Boden schmettere.

»So nahm ich ihn denn besonders vor und entdeckte, daß er mit Cäsars Geschichte einigermaßen vertraut war; da er im übrigen gar nichts wußte, machte ich mich ans Werk und trichterte ihm, im Schweiße meines Angesichts, ein Dutzend Antworten auf die herkömmlichen Fragen über Cäsar ein. Und mit Hilfe dieser ganz oberflächlichen Einpaukerei – sollte man sich so etwas vorstellen – bestand er nicht nur sein Examen glänzend, sondern erntete noch Lobsprüche obendrein, während andere, die tausendmal mehr wußten als er, einfach durchfielen. Ein merkwürdig glücklicher Zufall, wie er vielleicht im Laufe eines Jahrhunderts nicht zum zweitenmal vorkommt, hatte nämlich gewollt, daß keine Frage an ihn gerichtet wurde, auf welche ich ihm die Antwort nicht eingepaukt hatte.

»So ging es auch mit den übrigen Fächern; ich lieh ihm meine Hilfe, denn ich hatte Erbarmen mit ihm, wie eine Mutter mit ihrem schwächlichen Kinde – und siehe da – jedesmal rettete er sich wie durch ein Wunder vor dem Untergang.

»An der Mathematik mußte er jedoch schließlich Schiffbruch leiden, das war klar. Ich beschloß, ihm den Sturz so erträglich zu machen, wie es ging. Ich richtete ihn ab und stopfte in ihn hinein soviel ich konnte, paukte ihm die Antworten ein, die der Examinator aller Wahrscheinlichkeit nach verlangen würde, und überließ ihn dann seinem Schicksal. Nun denken Sie sich meine Verwunderung und Bestürzung, als er den ersten Preis erhielt und alle Anwesenden seines Lobes voll waren.

»Mein Gewissen ließ mir Tag und Nacht keine Ruhe. Mir lag eine Last auf der Seele, als hätte ich ein Verbrechen begangen. Eine Woche lang tat ich kein Auge zu – und doch hatte ich nur aus reinstem Mitleid dem armen Jungen beigestanden, damit seine Niederlage nicht gar zu kläglich werden möchte. Der Gedanke an ein so unerhörtes Ergebnis, wie das vorliegende, wäre mir auch nicht im Traume gekommen. Es konnte die verhängnisvollsten Folgen nach sich ziehen. Ich hatte einem völlig vernagelten Menschen den Weg zur glänzendsten Laufbahn eröffnet, vielleicht zu einer Stellung von der höchsten Verantwortlichkeit. Vertraute man ihm aber einen solchen Posten an, so war er und seine Sache bei dem ersten besten Anlaß unrettbar verloren.

»Der Krimkrieg war gerade ausgebrochen. Natürlich – dachte ich bei mir – muß ein Krieg kommen, um jenem Dummkopf Gelegenheit zu geben, sich totschießen zu lassen, bevor seine Unfähigkeit ans Licht kam. Ich zitterte vor einem großen Krach – und er blieb nicht aus. In der Zeitung las ich, daß der Mensch zum Hauptmann ernannt worden war und mit seinem Regiment ausrücken sollte. Andere Leute können alt und grau werden, ehe sie zu solcher Höhe emporklimmen. Wie war es nur möglich, daß man einer so unerfahrenen und ungeprüften Kraft eine derartige Verantwortung auflud? – Hätte man ihn zum Fähnrich gemacht, ich würde mich vielleicht beruhigt haben – aber zum Hauptmann – das war unerhört. Ich glaubte, mich solle der Schlag rühren.

»Nun hören Sie, was ich tat – ich, der ich Ruhe und Beschaulichkeit über alles liebe. Ich sagte mir, daß ich mein Vaterland in diese Gefahr gebracht habe und es daher meine Pflicht sei, es, soweit es in meiner Macht stehe, vor Scoresby zu schützen. So beschloß ich denn, ihm nicht von der Seite zu weichen; ich nahm seufzend mein kleines Kapital zur Hand, das ich mit jahrelanger harter Arbeit und strengster Sparsamkeit erworben hatte, kaufte mir ein Fähnrichpatent in seiner Kompagnie und fort ging es auf den Kriegsschauplatz.

»Aber dort – du lieber Himmel – was mußte ich erleben! Daß er einen Mißgriff nach dem anderen begehen würde, verstand sich von selbst. Allein, niemand wußte um sein Geheimnis; man umgab ihn mit einem falschen Nimbus und beurteilte alle seine Taten von einem verkehrten Gesichtspunkt aus – die größten Dummheiten, die er machte, galten für geniale Eingebungen. Es war entsetzlich! Er ließ sich Versehen zuschulden kommen, von denen das geringste derart war, daß, wer nur den gewöhnlichsten Menschenverstand besaß, darüber hätte weinen mögen. Das tat ich denn auch im geheimen; ja, ich weinte nicht nur, ich raste und schäumte vor Wut.

»Was mich aber in förmlichen Angstschweiß versetzte, war die Beobachtung, daß jeder neue Irrtum, in den er geriet, den Glanz seines Namens nur vermehrte. ›Er wird so hoch steigen,‹ sagte ich mir, ›daß man meint, die Sonne falle vom Himmel herunter, wenn die unausbleibliche Entdeckung schließlich erfolgt.‹

»Über die Leichen seiner Vorgesetzten hinweg ward er von einer Stufe zur anderen befördert, bis endlich, im wildesten Gewühl der Schlacht bei *** unser Oberst vom Pferde sank. Alles Blut strömte mir zum Herzen – denn Scoresby war ihm im Rang der nächste. ›Jetzt ist der Augenblick da,‹ dachte ich, ›noch zehn Minuten und wir sind alle zum Teufel.‹

»Die Schlacht tobte fürchterlich, überall gerieten die Verbündeten ins Wanken. Unser Regiment nahm eine der wichtigsten Stellungen ein – geschah jetzt ein Mißgriff, so waren wir vernichtet.

»Was aber tat der Narr aller Narren in diesem entscheidungsvollen Augenblick? – Er ließ das Regiment ausrücken, um einen benachbarten Hügel zu besetzen, auf welchem auch nicht die geringste Spur feindlicher Truppen zu entdecken war.

»›Nur immer zu,‹ dachte ich bei mir, ›jetzt läufst du sicher in dein Verderben!‹

»Fort stürmten wir und hatten schon den Gipfel des Hügels erreicht, bevor noch das wahnwitzige Unternehmen entdeckt und verhindert werden konnte. Was aber fanden wir? – Eine ganze russische Reservearmee, von der kein Mensch etwas ahnte. Und was geschah? – Wurden wir in Stücke gehauen? Das wäre in neunundneunzig Fällen unter hundert unfehlbar geschehen. Doch nein – die Russen sagten sich, daß, wie die Sachen standen, unmöglich ein einziges Regiment den Angriff wagen könne, die ganze englische Armee müsse im Anzug – die geplante Kriegslist entdeckt und vereitelt sein. Sie machten rechtsumkehrt und stürzten sich über Hals und Kopf in wildem Durcheinander den Hügel hinab auf das Schlachtfeld – wir immer hinter ihnen drein. Sie selbst durchbrachen die feste russische Schlachtordnung und richteten die heilloseste Verwirrung an. Die Niederlage der Verbündeten verwandelte sich in einen entscheidenden, glänzenden Sieg.

»Marschall Canrobert, welcher, überwältigt von Staunen, Bewunderung und Entzücken, den Angriff beobachtet hatte, sandte sofort nach Scoresby, schloß ihn gerührt in die Arme und schmückte ihm eigenhändig, im Angesicht sämtlicher Heere, die Brust mit dem höchsten Orden.

»Was aber war die eigentliche Veranlassung zu Scoresbys Mißgriff gewesen? Diesmal weiter nichts, als daß er rechts und links verwechselt hatte. Ihm war Befehl erteilt worden, sich zurückzuziehen, um den rechten Flügel zu verstärken; statt dessen rückte er vor und zog sich nach links, den Hügel hinauf. Der Ruhm seines militärischen Genies aber ist seit jenem Tage in alle Welt hinausgeflogen und wird für ewige Zeiten in den Büchern der Geschichte leuchten.

»Liebenswürdig ist er, freundlich, gut und anspruchslos, wie nur ein Mensch sein kann, aber er versteht gar nichts, in keiner Lage weiß er sich zu helfen und würde sich ruhig naß regnen lassen, statt unter Dach zu gehen. Ich versichere Sie, es ist die reinste Wahrheit: einen größeren Dummkopf wie ihn gibt es nicht auf der Welt. Noch vor einer halben Stunde aber war ich, außer ihm selbst, der einzige Mensch, der das wußte. Jahraus, jahrein und Tag für Tag ist er von einem ganz unerhörten und beispiellosen Glück förmlich verfolgt worden. Er hat sich ein Menschenalter hindurch in allen unseren Kriegen mit Glanz hervorgetan. Seine militärische Laufbahn wimmelt von Mißgriffen aller Art, aber für jeden Fehler, den er beging, hat er entweder ein Ehrenzeichen erhalten, oder er ist zum Lord, zum Baron oder zu sonst etwas gemacht worden. Sie haben ja neulich bei dem Festmahl gesehen, wie seine Brust mit fremden und einheimischen Orden über und über bedeckt war; jeden einzigen, das können Sie mir glauben, trägt er zum Andenken an irgend einen haarsträubenden Irrtum, alle zusammengenommen aber bilden den schlagendsten Beweis, daß Glück das beste Angebinde ist, welches einem Menschenkinde in die Wiege gelegt werden kann.«

Bald nach Erscheinen dieser Satire in Harpers Monatsschrift kam Mark Twain nach England. Seine Freunde dort gaben ihm den dringenden Rat, dem General Wolseley aus dem Wege zu gehen, und es entspann sich darob folgendes Gespräch: Mark Twain: Warum denn? Ich bin ihm nichts schuldig.

Seine Freunde: Das mag sein, aber vielleicht er Ihnen!

Mark Twain: Wieso? Ich verstehe nicht.

Seine Freunde: Nun, – für Ihre Geschichte im letzten Harperschen Monatsheft.

Mark Twain: Ach was! Für die bin ich längst bezahlt! Was geht ihn das an?

Seine Freunde: O nichts – nur insofern, als er der Held dieser Geschichte ist.

Es scheint, daß diese Gründe auf Mark Twain doch einen gewissen Eindruck gemacht haben, denn es heißt, daß er auf seiner Reise in England sich angelegen sein ließ, dem berühmten General aus dem Wege zu gehen.