Erwartung – »Gute, alte Kairo!« – Eine Notlüge – Kairo verfehlt! – Wir schwimmen ans Ufer!

16. Kapitel

Den ganzen nächsten Tag über schliefen wir bombenfest, die nächtlichen Abenteuer lagen uns wie Blei in den Gliedern. Am Abend machten wir uns dann wieder auf, immer hinter einem kolossal langen Floß her, das feierlich wie eine Prozession vor uns dahinzog. An Bord waren vier große Hütten, hohe Flaggenmasten an beiden Enden und in der Mitte ein freies lustig flackerndes Feuer, um das viele Männer rauchend, trinkend und Karten spielend lagerten. Es mochten wohl etwa dreißig Leute Bemannung darauf sein. Ja, das lohnte der Mühe, Steuermann an Bord eines solchen Ungeheuers zu werden, das war doch etwas! Unser kleines Ding kam mir dagegen vor wie eine Wasserfliege, die sich an den Schwanz einer Seeschlange klammert.

Wir kamen an eine starke Krümmung des Flusses, und allmählich bewölkte sich der Himmel, und es wurde sehr heiß. Der Strom war hier sehr breit, und dichte, hohe Wälder zogen sich an beiden Ufern hin, wie dicke schwarze Linien ohne jede Unterbrechung, ohne jeden Lichtstrahl. Wir sprachen über Kairo, unser nächstes Ziel, und meinten, ob wir es wohl erkennen würden, wenn wir dran kämen. Ich sagte nein, vielleicht nicht, denn ich hatte gehört, es seien überhaupt nur ein Dutzend Häuser da, und wenn sie die nicht ganz extra hell erleuchteten, wie sollten wir wissen, daß es eine Stadt war. Jim meinte, wo die beiden Ströme (der Mississippi und der Ohio), zusammenkämen, das müsse man doch gewiß sehen. Das schien mir gar nicht so sicher, denn wir konnten uns leicht einbilden, die Spitze einer Insel zu passieren und im Fahrwasser des alten Stromes zu sein. Dieser Gedanke beunruhigte Jim – und mich nicht minder. Was also tun? Ich schlug vor, daß ich ans Ufer fahre, sobald sich ein Licht zeigt, und sage, mein Alter käme nach mit seinem Warenschiff, wisse aber nicht recht Bescheid hier in der Gegend und wie weit’s wohl noch nach Kairo sein könne. Jim hielt die Idee für ausgezeichnet; wir rauchten drauf noch eine Pfeife und hielten dabei Ausschau.

Etwas anderes, als ordentlich die Augen offen zu halten, konnten wir im Moment nicht tun. Es galt, die Stadt zu sehen und nicht blind an ihr vorüberzufahren. Jim meinte, er sehe sie ganz sicher, denn im Augenblick, wo er sie sehe, sei er ein freier Mann, ein freier Nigger! Vorbeifahren hieße wieder in die Sklaverei gehen, nur über den Ohio könne er zur Freiheit gelangen, sonst sei’s aus und vorbei. Alle paar Augenblicke schnellte er auf: »Da sie sein!«

Aber niemals war’s wirklich so. Einmal war’s ein Irrlicht, dann ein paar Leuchtkäfer, die er für Lichter der Stadt hielt. Seufzend setzte ersieh wieder hin, um geduldig weiter auszuschauen. Es mache ihn ganz zitterig und fieberig, sagte der arme Kerl, der Freiheit nun so nahe zu sein. Mich machte es auch zitterig und fieberig, aber ganz was andres. Mir kam’s plötzlich durch den Kopf, daß Jim jetzt ja schon so gut wie frei sei – und wer war daran schuld? – Ich! Ich, ich – Huck Finn – verhalf einem Nigger dazu, seinem Herrn durchzubrennen! Zur Zeit der Sklaverei war das ein höchst strafbarer Frevel. Zum allererstenmal in der ganzen langen Zeit, die ich mit Jim zusammengewesen, wurde mir so recht klar, was ich eigentlich tat. Mir wurde siedend heiß bei dem Gedanken. Ich suchte mich bei mir selbst zu entschuldigen, ich war ja eigentlich gar nicht zu tadeln, ich hatte ja Jim nicht davonlaufen heißen von seiner rechtmäßigen Besitzerin! Das half mir aber nichts. Allemal regte sich wieder das Gewissen und sagte: Aber du hast ihm geholfen auf der Flucht und härtest doch nur ans Ufer zu rudern und jemandem davon zu sagen brauchen. Wahrhaftig, so war’s – da half keine Ausrede. Das gab mir einen Stich. Und weiter bohrt das Gewissen: Was hat dir denn Miss Watson getan, Huck Finn, daß du mit ansehen kannst, wie ihr einziger Nigger ihr sozusagen unter der Nase durchgeht, ohne daß du ein Sterbenswörtchen sagst? Was hat dir das arme, alte Ding getan, daß du ihr den Streich spielst, was? Sie wollte dich doch lesen lehren, wollte dir Anstand beibringen, wollte dein Bestes, so gut sie’s verstand! Das ist’s, was sie dir getan hat, Huck – Huck Finn!

Mir war so erbärmlich, so elend zumute, daß ich wünschte, ich wäre tot. Ich rannte hin und her und machte mich immerzu in Gedanken vor mir selber schlecht, und Jim rannte mit, immer an mir vorbei. Keiner konnte ruhig bleiben. Jedesmal, wenn er wieder auffuhr: »Das sein Kairo!« ging es mir wie ein Schuß durchs Herz, und ich dachte, wenn’s wahr wäre, würde ich sterben vor Schreck. Jim sprach immer laut vor sich hin, während ich’s mit mir selber leise abmachte. Wenn er erst frei wäre – sagte er –, wolle er schaffen wie ein Pferd und sparen, sparen, bis er sein Weib loskaufen könne, das zu einer Farm in der Nähe von Miss Watson gehörte. Dann wollten sie beide für die Kinder sparen, und wenn ihr Herr diese nicht gegen Geld und gute Worte an sie abtreten wolle, so werde er irgendeinen Ablitionisten bitten, sie zu stehlen.

Mir gefror das Mark in den Knochen, als ich das Zeug hörte. Vorher hätte er nie, nie gewagt, so etwas je zu äußern. Wie doch der Gedanke, jeden Augenblick frei sein zu können, sein ganzes Wesen verändert hatte! Das alte Sprichwort hatte eben recht: ›Gib ’nem Nigger den kleinen Finger, und er nimmt die ganze Hand!‹ Denk‘ ich, das kommt davon! Hast du einem Nigger geholfen davonzulaufen, und, kaum am Ziel, sagt er dir ganz naiv und unverfroren, er wolle seine Kinder stehlen – Kinder, die einem Mann gehören, den ich nicht einmal kenne, der mir nie was zuleid getan hat!

Ich bedauerte, daß Jim dergleichen sagen konnte, es setzte ihn so tief herab in meinen Augen. Mein Gewissen rumorte in mir toller als je, bis ich ihm zuletzt zuflüstre: »Sei still, es ist ja noch nicht zu spät, sowie ich das erste Licht sehe, gehe ich ans Ufer und zeig’s an.« Danach war ich ruhig und zufrieden und fühlte mich so leicht wie eine Feder. Alles, was mich gequält, war mit einemmal verschwunden und wie weggeblasen. Ich spähe nach einem Licht aus und sing‘ mir dabei was vor.

Da zeigt sich eins und Jim schreit: »Sein gerettet, Huck, sein gerettet! Spring un sei froh, das sein gute, alte Kairo, endlich, endlich! Jim weiß ’s, Jim fühlt’s! Müssen sein Kairo! Gute, alte Kairo!«

Sag‘ ich: »Will doch lieber das Boot nehmen, Jim, und nachsehen, es könnt‘ am Ende doch nicht wahr sein!«

Er springt nach dem Boot, hat’s im Nu flott gemacht, legt mir noch seinen alten Rock auf die Bank, um den Sitz bequem zu machen, drückt mir das Ruder in die Hand und jauchst, indem ich abstoße: »Alte Jim bald wird singen vor Freud! Wird er sagen: Alles, alles danken Huck! Jim sein freie Mann, wären nie nix gewesen freie Mann ohne Huck, gute, alte, treue Huck! Jim nix vergessen das, Huck! Huck Finn sein arme, alte schwarze Nigger seine beste Freund, sein alte Jim seine einzigste Freund!«

Und ich war eben im vollen Begriff, ihn zu verraten, um mein Gewissen zu beruhigen! Als er so zu mir redete, wurde ich weich wie ein Waschlappen, das Ruder schien mir wie Blei so schwer, und ich wußte nicht, soll ich mich freuen, daß ich abgefahren bin, oder nicht. Wie ich eine kleine Strecke weit entfernt bin, ruft Jim mir noch nach: »Da du gehen hin, alte, treue Huck! Einzigste weiße Mann, was hat nix gelogen mit arme, alte Jim! Gute, treue Huck!«

Mir war ganz elend zumut, ich sagte mir aber: Du mußt’s und mußt’s tun, da gibt’s keinen Ausweg, kannst dich nicht drum herumdrücken! Gerade in dem Moment kommt ein Nachen daher mit zwei Männern drin; sie halten an und ich auch.

Sagt der eine: »Was ist das dort?«

»Ein Stück Floß«, sag‘ ich.

»Gehörst du drauf?«

»Ja!«

»Sonst noch wer drauf?«

»Noch einer!«

»Es sind fünf Nigger durchgebrannt, da drüben von der Farm gerade an der Flußbiegung da hinten – dort! Ist euer Mann auf dem Floß weiß oder schwarz?«

Ich konnte nicht gleich antworten. Die Worte schienen mir in der Kehle kleben zu bleiben. Ein oder zwei Sekunden lang wollte ich Mut fassen und alles gestehen, war aber nicht Manns genug dazu – mir war nicht für einen Cent Courage geblieben! Als ich fühlte, wie ich weich wurde, gab ich denn auch gleich nach, wehrte mich nicht lang und fahre nur so heraus: »Weiß ist er!«

»Na, wollen doch lieber selber nachsehen!«

»Das war‘ mir sehr recht«, sag‘ ich, »denn der dort ist mein Alter. Ihr könntet mir vielleicht dann gleich helfen das Floß ans Ufer zu bringen. Er ist nicht ganz wohl, der Alte, und Mutter auch nicht und Annemarie!«

»Oh, geh zum Kuckuck, Junge, wir haben Eile. Doch – na schneid nur kein Gesicht, werden’s wohl tun müssen, soll ja doch immer ein Christenmensch dem andern helfen! Na, denn mal los, komm, vorwärts, schnell! Haben keine Zeit zu verlieren!«

Sie griffen nach den Rudern und ich auch, und als wir ein paarmal ausgezogen hatten, sag‘ ich: »Vater wird euch so dankbar sein! Jeder, den ich bis jetzt gebeten habe, mir zu helfen, ist davongelaufen, und allein kann ich das Floß nicht ans Land bringen.«

»Na, das ist aber recht scheußlich! Merkwürdig auch! Sag, Junge, was ist denn eigentlich los mit deinem Vater?«

»Nichts – nicht viel – er hat nur – ach – eigentlich gar nicht viel gar nichts!«

Sie hielten plötzlich an; wir waren nicht mehr weit vom Floß entfernt.

Sagt der eine: »Junge, du lügst! Was ist los mit deinem Vater? Schnell heraus damit, ohne Flunkern, es ist besser für dich!«

»Ich will’s ja gestehen, wahrhaftig, ich will’s, ihr Leute, aber laßt uns nicht stecken, bitte, bitte! Es sind die – die – ach, wenn ihr nur vorrudern wolltet, dann könnte ich euch die Leine zuwerfen und ihr müßtet gar nicht nahe kommen!«

»Halt an, John, zurück!« schreit der eine, und sie wenden in plötzlicher Hast. »Halt dich weg, Junge, dort nach rechts! Hol’s der Henker, ich glaub‘ der Wind bläst gerade vom Floß auf uns her! Dein Vater, Junge, hat gewiß die Blattern, und du weißt’s auch ganz gut! Warum hast du’s nicht ehrlich und offen gesagt, sondern fährst da herum und bringst andre ehrsame Leute in Gefahr?«

»Ach«, stotter‘ ich und fang‘ an zu schluchzen, »ich hab’s ja vorher immer gesagt, und da ist jeder weggelaufen!«

»Armer Tropf! Du hast so unrecht nicht. Ja, siehst du, du tust uns leid, aber die Blattern – weißt du, das ist so eine Sache! Ich will dir mal sagen, wie du’s anfängst. Das Landen mußt du nicht probieren, das bringst du allein nicht fertig, ohne daß alles zuschanden geht. Treib also nur ruhig weiter, noch so ein paar Stunden, bis du zu einer Stadt kommst am linken Ufer. Bis dorthin ist dann die Sonne schon lang herauf, und wenn du Hilfe holst, sagst du, deine Leute hätten das Fieber. Sei nicht wieder solch‘ ein Narr und laß dir’s anmerken, was eigentlich los ist. Es würde dir auch gar nichts helfen, da drüben bei dem Licht anzulegen, das ist nur ein Zimmerplatz. Sag einmal, gelt, dein Vater ist recht arm und jetzt recht schlimm dran? Da – ich leg dir ein Zwanzigdollarstück auf das Brett, das fängst du dann auf, wenn’s an dir vorbeitreibt. Mir kommt’s scheußlich vor, daß wir dich so stecken lassen, armer Kerl, aber die Blattern, siehst du, das ist keine Kleinigkeit!«

»Wart mal, Parker«, ruft der andre, »da sind auch zwanzig Dollar von mir. Leg’s dazu auf’s Brett. Na, leb wohl, Junge, mach’s nur, wie der Parker dir’s gesagt hat, dann wird schon alles recht werden!«

»Das denk‘ ich auch, mein Junge, na, leb wohl, leb wohl! Wenn du was von den Niggern siehst, mach, daß du Hilfe kriegst und faß sie ab, da ist Geld dabei zu verdienen, viel Geld!«

»Schönen Dank, ihr Herren, schönen Dank! Wenn ich die Nigger kriegen kann, soll’s mir lieb sein, wollt‘, ’s wär‘ so, könnt’s brauchen und Vater auch!«

Fort waren sie, und ich ruderte zum Floß zurück, fühlte mich elend und erbärmlich, wußte wohl, wie unrecht ich getan, aber bei mir lohnt’s sich schon nicht mehr der Mühe, probieren zu wollen, anders und besser zu werden. Das muß man von Kind auf gewöhnt sein, sonst ist man nicht fest genug drin, und wenn man einmal in der Klemme sitzt, so ist man nicht stark genug sich herauszuziehen, sondern bleibt allemal drin hängen. Ich hatte eben wieder nicht einmal den Mut gehabt, das Rechte zu tun, wie andere ehrliche, brave Menschen! Dann denk‘ ich aber wieder, wenn du nun recht gehandelt hättest und den alten Jim verraten, wär‘ dir dann wohl jetzt besser zumut? Nein, sag‘ ich, nein, dann wär’s geradeso schlimm. Und, denk‘ ich, wozu besser werden und recht tun, wenn man davon nur Mühe hat, vom Unrechten aber keine, und der Lohn derselbe ist? Da saß ich fest! Eine Antwort konnte ich mir hierauf nicht geben. Wollt‘ mich auch nicht weiter damit plagen, sondern beschloß, in Zukunft immer das zu tun, was mir gerade am besten paßte – Recht oder Unrecht, einerlei!

Ich ging in die Hütte, Jim war nicht drin, ich stöberte jeden Winkel durch, er war nirgends.

Ruf ich: »Jim!«

»Hier sein Jim, Huck! Sein Männer ganz weg? Du nix reden laut!«

Er war im Wasser unter dem Steuerruder und guckte nur mit der Nase hervor. Als ich ihm sagte, sie seien schon weit weg, kroch er heraus und kam an Bord.

Sagt er: »Jim alles hören, Huck, alles, un Jim springen in die Wasser, um zu schwimmen an die Land, wenn Männer kommen. Dann Jim wollen schwimmen zurück, wenn Männer sein weg. Aber, Huck, du sie haben wundervoll angeführt! Sein gewesen die beste Streich, die Jim haben gehört all seine Leben! Ach, herrjemine, Huck, du haben Jim gerettet, Jim das wohl wissen, du haben Jim wieder gerettet, Jim das nie nix vergessen!«

Dann berieten wir uns über das Geld. Zwanzig Dollar für jeden von uns war nicht schlecht! Jim meinte, damit könnten wir, Gott weiß wie weit, Passage nehmen auf einem Ohio-Boot und behielten gewiß noch ein gutes Teilchen übrig, um drüben in den freien Staaten ein neues Leben zu beginnen. Noch ein paar Stunden weiter auf dem Floß zu bleiben, sagte er, sei nicht lang, aber er wollte doch, sie wären vorüber.

Gegen Tagesanbruch legten wir an, und Jim war diesmal ganz besonders drauf bedacht, das Floß gut zu verbergen. Dann beschäftigte er sich den ganzen Tag über damit, unsre Sachen in Bündel zu packen, um zum Verlassen des Bootes fertig zu sein.

Gegen zehn Uhr am andern Abend kamen endlich die Lichter einer Stadt am linken Ufer in Sicht.

Ich stieß im Boot ab, um Erkundigungen einzuziehen. Bald fand ich auch einen Mann in einem Nachen, der eine Leine auswarf.

»Ist das Kairo dort?« frag‘ ich.

»Kairo? Nein. Ich glaub‘, du bist nicht recht gescheit!«

»Wie heißt denn die Stadt?«

»Wenn du’s wissen willst, geh hin und frag! Wenn du noch eine Minute lang mir hier die Fische verjagst mit deinem dummen Gefrag, geb‘ ich dir was, nach dem du nicht verlangt hast!«

Ich also wieder zum Floß zurück. Jim war schrecklich enttäuscht, ich aber tröstete ihn und meinte, Kairo käme gewiß jetzt erst.

Vor Tagesanbruch noch kamen wir an einer andern Stadt vorbei, und ich wollte eben hin und fragen. Da sagte Jim, die Ufer seien zu steil, Kairo liege flach, das wisse er; so blieb ich denn. Wieder bargen wir unser Floß für den Tag. Allmählich dämmerte mir eine Ahnung, Jim desgleichen. Sag ich: »Jim, ich glaub‘, wir sind am Ende letzte Nacht im Nebel an Kairo vorübergefahren!«

Antwortet er: »Wir nix wollen reden mehr davon. Arme Nigger können nix haben Glück! Jim immer denken, Schlangenhaut von Insel hören noch nix auf zu bringen Unglück!«

»Wollt‘, ich hätt‘ die verd- Haut nie gesehen, Jim!«

»Sein nix deine Schuld, Huck, du nix konnten wissen von Schlangenhaut-Unglück!«

Als es Morgen wurde, sahen wir deutlich, wie sich das klare Ohio-Wasser mit dem schmutzigen Gelb des Mississippi mengte. Nun war’s also aus und vorbei, war verpaßt, soviel war sicher! An ein Zurückgehen, an ein Stromaufwärtsfahren mit dem Floß war nicht zu denken, es blieb uns nur übrig, unser Heil im Boot zu probieren. Im Augenblick ließ sich nichts anderes tun, als die Nacht abzuwarten. So schliefen wir denn den ganzen Tag im Weidendickicht, um uns fürs Kommende zu stärken, und als wir gegen Abend zum Floß gingen, war das Boot, unsre letzte Hoffnung – fort! Losgerissen, fortgeschwemmt von der Strömung!

Lange, lange sagten wir kein Wort, wir wußten, daß die Schlangenhaut nochmals dabei im Spiel gewesen war. Was ließ sich da also sagen? Das hätte am Ende nur noch mehr Unglück heraufbeschworen; es war daher das beste, geduldig stillzuhalten! –

Dann berieten wir uns, was wir nun anfangen wollten, und fanden, daß es ratsam sei, ruhig im Floß weiterzutreiben, bis wir uns einmal irgendwo ein Boot verschaffen, das heißt kaufen könnten. Auf meines Alten Art eins zu leihen, kam uns nicht in den Sinn, man hätte uns am Ende dabei fassen können.

Also vorwärts auf dem Floß und gute Miene zum bösen Spiel gemacht! Nach Einbruch der Dunkelheit setzten wir denn auch unsern Weg fort.

Wer bis jetzt vielleicht noch nicht fest an das Unglück geglaubt hat, das das Anfassen einer Schlangenhaut bringt, der wird’s nun unfehlbar tun, wenn er hört, wie es uns weiter ergangen!

Nirgends konnten wir eine Gelegenheit entdecken, uns ein Boot zu verschaffen, soviel wir auch ausspähten. Sonst begegnet man doch immer Flößen oder dergleichen, die ein übriges Boot haben und es gerne abgeben, aber nein, wir sollten kein Glück haben! Die Nacht wurde schwärzer und schwärzer, es war beinahe so schlimm wie Nebel, man konnte die Hand kaum vor den Augen sehen, geschweige denn den Strom überblicken. Allmählich war’s spät geworden und sehr still, und da hören wir ein Dampfboot in der Entfernung heranbrausen. Wir zündeten unsere Laterne an, damit man uns sehen könne. Wir hörten das Schnauben und Keuchen der Maschine näher und näher, konnten aber erst etwas entdecken, als das Ungetüm schon ganz dicht bei uns war und wir merkten, daß es direkt auf uns lossteuerte. Das tun die großen Dampfer manchmal, um zu zeigen, wie geschickt sie im Lenken des Kolosses sind. Wenn sie nun so dicht an einem vorbeistreifen und das Rad ein Ruder faßt und abknackst, da streckt dann wohl der Steuermann lachend den Kopf heraus und meint wunder welche Heldentat er vollbracht hat. Wir dachten, sie wollten das auch bei uns probieren und waren selbst voller Erwartung, wie es gelingen würde. Das Ungetüm kam aber näher und näher, furchtbar schnell, und sah aus wie eine dicke, pechschwarze Wolke mit kleinen Glühwürmchen gespickt. Und ehe wir uns nur besinnen konnten, glühten schon dicht über uns die weitoffenen Luken des Maschinenraums wie feurige Schlünde, bereit, uns zu verschlingen. Man schrie uns zu, gellendes Pfeifen ertönte, Dampf zischte und qualmte, Jim wälzte sich von der einen, ich von der anderen Seite über Bord, und im selben Moment krachten und splitterten die Planken unseres Floßes, in Fetzen gerissen, auseinander.

Ich tauchte unter und suchte möglichst auf den Grund zu kommen, um das Rad des Dampfers, das über mich wegrauschte, nicht zu genieren. Eine Minute hab‘ ich’s immer unter Wasser aushalten können, diesmal blieb ich wohl anderthalb, aber dann schoß ich auch nur so nach oben, sonst wäre ich im nächsten Moment geborsten. Als ich bis an die Schultern wieder an der Luft war, blies ich erst das Wasser aus den Nüstern und prustete und keuchte mich zurecht. Vom Dampfer konnte ich nichts mehr sehen in der argen Finsternis, hörte nur noch das Schnauben und Stampfen und fühlte die wilden Wellen. Man hatte nach ein paar Sekunden Aufenthalt die Maschine wieder in Gang gesetzt und dampfte nun davon, ohne sich weiter um das elende kleine Floß zu kümmern.

Ich rief nach Jim, wieder und wieder, aber vergebens. Weiß Gott, was aus dem armen Kerl geworden war! Eine Planke trieb auf mich zu, ich faßte sie und ließ mich eine Weile treiben, um zu ruhen und nach Jim auszuspähen. Ich konnte aber nichts entdecken, vielleicht war er doch dem Ufer zugeschwommen. Die Strömung trieb nach der linken Seite, so überließ ich mich ihr, in der Hoffnung, daß Jim es ebenso machte, und so erreichte ich denn auch nach einiger Anstrengung sicher das Ufer.

Hier lief ich hin und her und schrie: »Jim, Jim!« Aber kein Jim war zu hören und zu sehen, und endlich fiel ich todmüde und elend an einem Baum zu Boden und weinte mich in Schlaf – mir war gar so einsam und allein zumute! So öde – so verlassen von aller Welt!