Ein Nigger-Dieb – Südliche Gastfreundschaft – »Er unverschämter junger Flegel!« – Ein dauerhaftes Gebet

24. Kapitel

Ich also auf und mit dem Wagen der Stadt zugerast. Wie ich halbwegs dort bin, sehe ich ein andres Gefährt von der Stadt her auf mich zukommen, und wer sitzt drin, Tom Sawyer, der alte Tom, wie er leibt und lebt, und da halt‘ ich meinen Wagen an und warte, bis er dicht bei mir ist. Dann schrei ich: »Halt!«, und er hält, und wie er mich sieht, klappt sein Mund auf wie ein Scheunentor, bleibt auch so stehen, und er schluckt zwei- oder dreimal, als habe er einen ziemlich trockenen Hals gekriegt, und beginnt dann zu flehen: »Ich hab‘ dir ja nie was zuleid getan, Huck Finn, und das weißt du auch. Und ich war immer dein guter Kamerad, all mein Lebtag, und du, du kommst und spukst hier oben ‚rum ohne alle Ursache und willst mir Angst mach eh – mir, deinem alten Tom?«

Sag‘ ich: »Alter Narr! Wie kann ich spuken, wenn ich doch nie weggewesen bin vom Sonnenlicht?«

Meine Stimme schien ihn etwas zu beruhigen, aber ganz beruhigt war er noch nicht.

»Mach mir keinen Unsinn vor, Huck, gewiß und wahrhaftig, ich tät’s auch nicht an deiner Stelle. Also, Hand aufs Herz, du bist wirklich nicht dein Geist?«

»Hand aufs Herz, der bin ich nicht!«

»Na, ich – ich – ich sollte dir jetzt freilich glauben, aber siehst du, ich – ich kann’s nicht begreifen. Bist du denn damals überhaupt gar nicht ermordet worden?«

»Nee, das ist mir, Gott sei Dank, noch nie passiert! Tom, Dummerjan, merkst du’s denn nicht? Ich hab‘ ja nur so getan, um den Alten und alle loszuwerden. Na, glaubst du’s noch nicht? Steig mal ‚rüber zu mir und visitier mich, da wirst du schon fühlen, daß ich Fleisch und Knochen habe!«

Das tat er dann und gab sich danach zufrieden. Er schien furchtbar froh zu sein, daß er mich wiedersah, und wußte gar nicht, wie er es mir genug zeigen könnte. Dann wollte er genau den ganzen Hergang wissen. Es war ein geheimnisvolles Abenteuer, so recht nach seinem Geschmack. Ich aber vertröstete ihn auf später, nahm ihn erst einige Schritte weit beiseite, daß uns sein Kutscher nicht hören konnte, erzählte ihm von der Klemme, in der ich mich befand, und bat ihn, sich zu überlegen, wie wir uns heraushelfen könnten. Er sagte, ich solle mal ein bißchen still sein und ihn nachdenken lassen; er dachte und dachte und dann meinte er: »Jetzt hab‘ ich’s! Ich hab’s! So muß es gehen! Du nimmst meinen Koffer auf deinen Wagen und sagst, es sei deiner, und dann fährst du recht langsam zurück, so daß du nicht früher ankommst, als sie dich erwarten können. Ich fahr‘ wieder ein Stück zurück und komm‘ dann erst wieder, so etwa eine halbe Stunde nach dir, und das Weitere wirst du schon sehen, du brauchst zuerst gar nicht zu tun, als ob du mich kenntest.«

Sag‘ ich: »Ganz recht! Aber wart einmal, da ist noch etwas zu bedenken – etwas, das kein Mensch weiß, außer mir. Da ist nämlich noch ein Nigger gefangen dort bei deinen Verwandten, den ich gerne befreien möchte – es ist Jim, Miss Watsons Jim, weißt du?«

»Was? Jim ist ja …«

Er hält ein und sinnt nach, ich aber sage schnell: »Ich weiß, was du denkst, Tom! Du denkst, das sei ein recht gemeiner, elender Plan, und das ist’s auch! Aber was liegt mir dran? Ich bin auch gemein und elend, und ich will ihn freimachen und ihm helfen, und du darfst mich nicht verraten, gelt, das versprichst du mir, Tom?«

Seine Augen blitzten auf: »Ich – dich verraten? Helfen will ich dir!«

Mir fielen die Arme am Leib nieder, als hätte ich einen Schuß bekommen. Das war das Erstaunlichste, was ich je in meinem Leben gehört hatte, und, so leid es mir tut, ich muß sagen, Tom Sawyer sank dadurch ziemlich in meiner Achtung. Ich traute meinen Ohren kaum: Tom Sawyer, der Sohn ehrbarer Leute, ein Nigger-Dieb. Das war mehr, als ich fassen konnte!

»Unsinn«, ruf ich, »du willst mir was weismachen!«

»Nein, ganz im vollen Ernst, Huck, ich mach‘ dir nichts vor!«

»Na, gut«, sag‘ ich, »vormachen oder nicht vormachen, auf jeden Fall vergiß nicht, wenn du dort von einem durchgebrannten Nigger hören solltest, daß wir beide, weder du noch ich, etwas davon wissen!«

Das war denn abgemacht, und nun nahmen wir den Koffer und stellten ihn in meinen Wagen. Er fuhr seinen, ich meinen Weg, und sooft ich mich umdrehte, sah ich Toms verwundertes, noch halb und halb ungläubiges Gesicht mir nachstarren. Natürlich vergaß ich darüber ganz, daß ich langsam fahren sollte, um nicht zu früh wieder einzutreffen, fuhr in Gedanken immer drauflos und kam selbstverständlich etwa in der Hälfte der Zeit zurück, die ich für die Länge des Weges hätte brauchen müssen.

Der alte Mann stand am Tor und rief mir entgegen: »Nein, das ist wunderbar! Wer hätte je gedacht, daß die alte Mähre das leisten könnte. Die hab‘ ich tüchtig unterschätzt. Die geb‘ ich nun nicht für hundert Dollar her. Vorher hab‘ ich fünfzehn verlangt und gedacht, damit sei sie bis in die alte Haut hinein bezahlt. Sieh, sieh, wer hätte das gedacht. Und dabei ist ihr kein Haar naß geworden – nein, es ist wunderbar!«

Dabei half er mir kopfschüttelnd beim Ausschirren; es war die beste und argloseste Seele von der Welt! Das wunderte mich aber gar nicht, denn er war nicht nur Farmer, sondern auch Prediger. Er hatte seine kleine hölzerne Kirche, die zugleich Schulhaus war und an der Grenze der Plantage lag, selber und auf eigene Kosten errichtet; und auch für seine Predigten rechnete er nichts an. Da drunten im Süden gibt’s viele Prediger-Farmer oder Farmer-Prediger dieser Art.

Nach ungefähr einer Stunde kam Toms Wagen in Sicht. Tante Sally entdeckte ihn zuerst vom Fenster aus, als er noch etwa fünfzig Meter weit entfernt war.

»Ach, da kommt ja jemand! Wer das wohl sein mag? Ach herrje, das ist ein Fremder! Jimmy (das war eins von den Kindern), lauf mal schnell und sag der Liese, daß sie noch einen Teller mehr auf den Tisch stellt!«

Alles stürzte nun der Türe zu, denn ein Fremder zeigt sich hier nicht alle Jahre, und wenn mal einer kommt, interessiert man sich für ihn sogar noch mehr als für das gelbe Fieber! Tom war inzwischen vom Wagen gesprungen und befand sich schon auf halbem Weg zur Türe, während der Wagen wieder der Stadt entgegenrasselte. Wir drückten uns in der Türöffnung zusammen wie eine Herde Schafe, und eins suchte immer das andere zu verdrängen. Tom hatte seine besten Kleider an und ein Auditorium vor sich, und da fühlte er sich allemal ganz mächtig. Auch jetzt trug er sich mit der ganzen großen Würde, über die er verfügte. Er schlich sich nicht linkisch und verschämt heran, nein, stolz und aufrecht schritt er einher, wie ein Kalkutta-Hahn. Bei uns angelangt, lüftet er anmutig seinen Hut, als wäre es der Deckel einer Schachtel, in der ein seltener Schmetterling sitzt, und fragt: »Herrn Archibald Nichols habe ich wohl die Ehre vor mir zu sehen?«

»Nein, mein Junge«, erwiderte der alte Herr, »der bin ich nicht, das tut mir leid. Der Kutscher muß sich wohl geirrt haben. Nichols‘ Farm ist noch etwa drei Meilen weiter. Aber nur herein, nur herein!«

Tom blickte über die Schulter zurück dem Wagen nach, der eben dem Auge entschwand, und sagt: »Das ist zu spät – den hol‘ ich nicht mehr ein!«

»Ja, der ist fort, mein Sohn, und du mußt nun eben mit uns vorliebnehmen. Nach dem Essen spann‘ ich dann an, und fahr‘ dich zu Nichols hinüber.«

»Ach, das kann ich aber doch kaum annehmen, mein Herr, ich kann Ihnen unmöglich diese Mühe machen. Könnte ich denn nicht gehen? Ich bin gut zu Fuß, und drei Meilen sind keine so große Entfernung!«

»Wir lassen dich nicht gehen! Das wäre mir eine schöne Gastfreundschaft. Wir im Süden halten da was drauf! Nur immer herein!«

»Oh, bitte«, sagte nun auch Tante Sally, »es ist uns gar keine Mühe, nur Freude. Du mußt bleiben! Wir können dich den langen, staubigen Weg nicht machen lassen. Als ich den Wagen kommen sah, habe ich gleich in der Küche gesagt, daß man einen Teller mehr hinstellt, es ist also alles in Ordnung. Bitte also hereinzukommen und sich’s bequem zu machen!«

Tom ließ sich erbitten, dankte den guten Leuten sehr höflich und schön und trat ein. Als er im Zimmer war, sagte er mit einer Verbeugung, er komme von Hicksville in Ohio, sein Name sei William Thomson, zum Schluß dienerte er nochmals.

Man setzte sich zusammen, und er erzählte über Hicksville, über die Leute dort, über sich, seine Reise; der Mund stand ihm keinen Augenblick still, und der Stoff schien ihm nur so zuzuströmen. Denk‘ ich bei mir, das ist alles recht und gut und schön, wie es mir aber aus der Patsche helfen soll, begreif ich doch nicht recht. Da plötzlich, mitten im Reden, beugt er sich vor und küßt Tante Sally, neben der er saß, herzhaft, so recht saftig auf den Mund, lehnt sich dann behaglich in seinen Stuhl zurück, als ob nichts geschehen sei, und schwatzt weiter. Entrüstet springt die gute Frau auf, wischt sich mit dem Rücken der Hand ein paarmal kräftig über den Mund und fährt Tom an: »Er unverschämter, junger Flegel!«

Der sieht beleidigt aus und sagt nur: »Ich bin wahrhaftig ganz erstaunt, liebe Frau!«

»Du? Erstaunt? Da hört denn doch alles auf! Ei, was soll man dazu sagen? Ich hätte gute Lust, einen Stock zu nehmen und doch, wie kommst du dazu, mich zu küssen? Heraus damit, ich will’s wissen! Was hast du dir dabei gedacht?«

Ganz demütig erwiderte er: »Gedacht? Gar nichts! Ich dachte nichts Schlimmes, ich, ich dachte, es wäre Ihnen angenehm!«

»Na – jetzt aber, verrückter Bursche, wart!« Sie griff nach einem Spazierstock ihres Mannes, und es sah beinahe so aus, als wolle der Stock durchaus auf Toms Rücken tanzen und sie könne ihn nur mit Mühe zurückhalten. »Was hat dich denn auf den tollen Gedanken gebracht, es könne mir angenehm sein?«

»Ich – ich weiß nicht. Man hatte mir so gesagt!«

»Man hatte dir so gesagt? Wer dir das gesagt hat, ist auch ein Narr wie du, ein Tollhäusler, ein, ein – wer ist denn dieser man?«

»Ach, jedermann! Alle haben das gesagt!«

Sie konnte kaum mehr an sich halten, ihre Augen sprühten Funken, und ihre Finger krümmten sich, als wolle sie ihm die Augen auskratzen. Ganz heiser stößt sie heraus: »Wer sind alle? Heraus mit den Namen, oder ich werde noch verrückt!«

Tom sprang auf und schien sehr bekümmert. Halb weinend stottert er: »Das tut mir leid, aber das hätt‘ ich nicht erwartet! Sie haben mir’s aufgetragen, alle! Alle sagten: Gib ihr einen herzhaften Kuß, das wird sie freuen, wird ihr angenehm sein. Alle sagten das jeder einzelne! Aber jetzt tut mir’s leid, gute Frau, daß ich’s getan, gewiß und wahrhaftig, und ich will’s nie, nie wieder tun!«

»Nie wieder tun? Nun, das will ich doch meinen!«

»Nein, gewiß und wahrhaftig, nie wieder, bis ich drum gebeten werde! Bis Ihr mich drum bittet!«

»Bis ich dich drum bitte? Hat man je so etwas gehört? Junger Mensch, ich sag‘ dir, du kannst so alt werden wie ein Methusalem, ehe ich dich oder deinesgleichen um so etwas bitte!«

Tom schüttelt zweifelnd den Kopf und sagt vor sich hin: »Mich wundert’s, wundert’s grenzenlos, ich kann gar nicht klug daraus werden! Sie haben mir’s doch alle gesagt, und ich hab’s auch selbst gedacht! Aber –«, er hielt ein und sah sich langsam rings nach allen Gesichtern um, als wolle er irgendwo eine Zustimmung entdecken. Am Auge des alten Mannes blieb sein Blick hängen, und er fragte nun ihn: »Haben auch Sie nicht gedacht, es wäre ihr lieb, wenn ich sie küßte?«

»Ich – ich? Nein, der Gedanke ist mir wirklich nicht gekommen!«

Tom forscht nun weiter in den Gesichtern, und bei mir angelangt, fragt er: »Und du, Tom, hast du nicht auch geglaubt, Tante Sally werde die Arme öffnen und rufen: ›Sid Sawyer‹!«

»Herr des Himmels!« schreit diese und fährt auf ihn zu, »du Taugenichts, du Schlingel du! So seine arme, alte Tante anzuführen, wart!«

Sie will ihn an sich ziehen, er aber wehrt sie ab: »Nicht, erst wenn du mich drum bittest, Tante Sally«, neckte er.

Und sie verliert keine Zeit und bittet und umarmt und küßt ihn wieder und wieder, und dann liefert sie ihn dem alten Manne aus, und der nimmt auch sein Teil. Dann, als die guten Leutchen wieder ruhig geworden, sagte sie: »Ei, du lieber Himmel, nein, diese Überraschung! Wir haben nur Tom erwartet! Tante Polly schrieb nie von dir, Sid, nur immer von Tom. Wie kam denn nur alles so?«

»Ja, es war auch immer nur von Tom die Rede. Da habe ich aber gebettelt und gefleht bis zur letzten Minute, ich wolle mit, und endlich bekam ich’s auch erlaubt. Auf dem Boot nun haben wir ausgemacht – Tom und ich –, es würde ein Kapitalspaß sein, wenn er erst allein käme und ich hintennach als Fremder ins Haus fiele und euch überraschte. Darin haben wir uns aber verrechnet, Tantchen; denn für Fremde ist der Ort nicht geschaffen.«

»Nein, nicht für unverschämte Flegel, Sid. Ich sollte dir jetzt noch die Ohren zausen! So geärgert habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht wie vorhin! Aber was liegt daran! Ich will mich gerne ärgern, wenn ich nur euch beiden Bengels bei mir habe, dafür kann ich tausend solcher Scherze vertragen. Na, es war ja die reine Komödie! Ich muß sagen, ich war wie versteinert, als ich den Schmatz abkriegte!«

Die Mahlzeit wurde draußen im breiten offenen Gang zwischen dem Haus und der Küche aufgetragen, und es stand so viel auf dem Tisch, daß es für sieben Familien gereicht hätte; und alles schön heiß, kein solch elendes Zeug von Fleisch, das zuerst drei Tage im dumpfen Keller gelegen hat und dann wie der Schenkel eines alten gerösteten Kannibalen schmeckt. Onkel Silas sprach ein kräftiges Gebet darüber; das Essen war’s auch wahrhaftig wert, es wurde nicht einmal kalt davon, wie ich’s schon so manchmal bei dieser Art von Aufenthalt erlebt habe.

Nach dem Essen wurde immerzu geschwatzt und erzählt, und Tom und ich waren immer auf der Hut, um uns nicht zu verplappern. Von einem durchgebrannten Nigger aber war nie die Rede, soviel wir auch aufpaßten, und wir selbst scheuten uns, davon zu beginnen.

Tom und ich brannten vor Begierde, nun einmal ein paar Stunden ungestört plaudern zu können. Wir sagten daher, wir seien müde, was uns die guten Leute gerne glaubten und uns mit dem herzlichsten Gute Nacht entließen. In Wahrheit aber sehnten wir uns danach, einmal ungestört zusammen reden zu können über unsre gegenseitigen Erlebnisse, von meiner Ermordung von damals an bis jetzt, und dann auch, um uns unsern Plan, Jims wegen, zurechtzulegen.