Das Floß – Sicherheitskomitee – Ein Dauerlauf – Jim rät zum Arzt

31. Kapitel

Eins hätt‘ ich fast vergessen zu erwähnen, nämlich daß wir bei all den Vorbereitungen nicht versäumt hatten, uns die Mittel zur Flucht auf dem Strom zu verschaffen. Nach und nach hatten wir angetriebenes Holz, Stämme aus der Sägmühle, Bretter, und was uns sonst in die Hände kam, gesammelt und damit allmählich ein ganz stattliches Floß gebaut. So fest und schön wie unser altes war’s freilich nicht geworden, konnte sich aber trotzdem sehen lassen, und wir dachten, es werde wohl einen Stoß vertragen können. Dieses Floß hatten wir an einer kleinen Insel im Fluß draußen im Binsendickicht in Sicherheit gebracht, und da lag’s zur Flucht bereit. Heute galt’s noch, letzte Hand anzulegen, und so ruderten wir auf Onkels Boot, das immer am Ufer lag, hinaus. Tante hatte uns ein Frühstück mitgegeben, und nachdem wir unser Werk vollendet, vertrieben wir uns die Zeit mit Fischen. Als wir spät am Abend nach Hause kamen, fanden wir alles in der größten Aufregung. Niemand schien mehr zu wissen, wo ihm der Kopf stand. Wir mußten denn auch sofort nach dem Essen hinauf in unser Zimmer und zu Bett, aber niemand sagte auch nur ein Wörtchen von dem neuen Brief oder von der Ursache des Wirrwarrs überhaupt. Es war auch nicht nötig, denn wir wußten alles so gut wie nur irgend jemand. Sobald wir die Treppe halb oben waren und niemand mehr um den Weg war, schlichen wir uns in den Keller zum Speiseschrank und packten uns gehörig Eßvorräte ein, die uns eine Woche reichen konnten, und dann ging’s hinauf und ins Bett. Wir schliefen bis halb zwölf Uhr und standen dann flink auf. Tom warf Tante Sallys Rock über und packte die Eßwaren zusammen. Auf einmal fuhr er mich scharf an: »Wo ist die Butter?«

»Na«, sagte ich, »ich hab‘ ein großes Stück abgeschnitten und auf ein Maisblatt gelegt.«

»Na, dann mußt du’s druntengelassen haben, hier ist’s nicht.«

»Dann tun wir’s eben ohne«, sag‘ ich.

»Nee, wir tun’s ganz schön mit und nicht ohne«, weist er mich zurecht; »du schleichst dich einfach noch einmal in den Keller und holst sie herauf, das ist schnell getan! Dann fährst du am Blitzableiter hinunter und kommst mir nach. Ich mach‘ mich jetzt gleich in die Hütte und stopfe Jims Kleider mit Stroh aus, das muß dann die Mutter vorstellen und sobald du da bist, blök‘ ich wie ein Schaf, und dann auf und davon, hast du nicht gesehen!«

Er also am Blitzableiter hinunter und ich zum Keller geschlichen. Richtig fand ich den Klumpen Butter, wo ich ihn gelassen, faßte ihn samt dem Blatt, auf dem er lag, blies mein Licht aus und schlich die Treppe leise wieder hinauf. Ich war glücklich über den Vorplatz gelangt, bis zur Treppe ins obere Stockwerk, wo ich in Sicherheit gewesen wäre, da muß der Kuckuck Tante Sally mit einer Kerze in der Hand herbeiführen. Ich nicht faul, werf die Butter in meine Mütze und stülp‘ sie auf den Kopf. Im nächsten Augenblick erblickte sie mich und stellt mich zur Rede.

»Du warst im Keller!«

»Ja-a!«

»Was hast du dort zu tun?«

»Nichts!«

»Nichts?«

»Nein!«

»Na, was in aller Welt treibt dich denn zur Nachtzeit, wenn alles schläft, da hinunter?«

»Ich weiß nicht!«

»Du weißt’s nicht! Jetzt verbitt ich mir diese Antworten, Tom, ich will wissen, was du drunten getan hast!«

»Ich hab‘ nichts, rein gar nichts getan, Tante Sally, gewiß und wahrhaftig – nichts!«

Unter anderen Umständen hätte sie mich darauf wohl laufen lassen, aber heut‘ ging alles so drunter und drüber, daß sie jedes bißchen reizte, was nicht ganz fadengrad war. Deshalb sagte sie sehr entschieden: »Da hinein mit dir ins Wohnzimmer, und daß du mir dort bleibst, bis ich komme. Du führst irgend etwas im Schild, was ich nicht wissen soll, aber ich schwör‘ dir, ich find’s heraus, ehe wir zwei uns gute Nacht sagen. Marsch!«

Sie schob mich zur Tür hinein und verschwand. Aber waren da viele Leute! An die fünfzehn Farmer aus der Umgegend und jeder mit einer Flinte bewaffnet. Mir wurde ordentlich schwach, und ich schlich mich zu einem Stuhl und setzte mich. Da saßen sie und standen sie im Zimmer herum, unterhielten sich mit leiser Stimme und sahen dabei ängstlich und unruhig aus; taten aber, als wäre nichts passiert. Aber ich merkt’s gleich, weil sie beständig ihre Hüte auf und ab nahmen, sich hinter den Ohren oder am Kopfe kratzten, immer die Sitze wechselten und mit ihren Knöpfen spielten. Mir war auch nicht wohl zumute, aber meine Mütze ließ ich trotzdem fest sitzen.

Ach, wie wünschte ich, die Tante käm‘ herbei und prügelte mich meinetwegen durch, ließe mich dann aber laufen, so daß ich Tom sagen könnte, in welch greuliches Wespennest wir gestochen und daß wir am besten täten, den Unsinn zu lassen und uns mit Jim schleunigst auf die Socken zu machen, bevor die bewaffnete Macht sich in Bewegung setzte. Ich saß wie auf Kohlen.

Endlich erschien Tante und begann ein Kreuzverhör mit mir anzustellen, ich aber konnte keine Frage beantworten, denn ich wußte kaum mehr, was ich sagte, da ich merkte, daß die Leute unruhig zu werden begannen und zum Aufbruch rüsteten. Ein Teil wallte sofort weg und den Räubern auflauern, da nur noch wenig bis Mitternacht fehle. Die andern mahnten zur Geduld und wollten auf das versprochene Signal warten. Und immer noch hackte Tante mit Fragen auf mich ein, und ich zitterte und bebte nur so an allen Gliedern und war dem Umsinken nahe vor Angst und Entsetzen, und das Zimmer wurde heißer und heißer, und die Butter auf meinem Kopf begann zu schmelzen und rieselte sanft an meinen Ohren und meinem Hals hinunter. Als bald darauf einer sagte: ›ich bin dafür, daß wir sofort direkt zur Hütte gehen und die Bande festnehmen, sobald sie kommt‹, fiel ich beinahe um. Ein kleiner Butterstrom beginnt jetzt leise an meiner Stirn niederzusickern, und wie Tante das sieht, wird sie so blaß wie ein Leintuch und schreit: »Herr, Gott des Himmels und der Erden, was fehlt dem Kind? Barmherziger Gott, er hat gewiß eine Gehirnerweichung, und sein armes Hirn fließt aus! Was fang ich an?«

Und alles rennt auf mich los und will sehen. Sie reißt mir den Hut vom Kopf und heraus fällt das Blatt mit dem Rest der Butter, worauf sie mich herzt und küßt und unter Tränen seufzt: »Ach, wie du mich erschreckt hast! Und wie dankbar und froh ich bin, daß es nichts andres ist; denn wir sind nun einmal im Unglück, und eins kommt selten allein! Als ich die Brühe sah, dacht‘ ich bestimmt, du seist verloren, denn in bezug auf Farbe und Durchsichtigkeit würde dein Gehirn gewiß gerade so aussehen, wenn… Gott, Gott, warum hast du mir’s nicht gleich gesagt, was hätte mir an der Butter gelegen! Jetzt mach‘ dich aber fort ins Bett und laß dich vor morgen früh nicht mehr blicken, merk dir’s, Bengel!«

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen! In einer Sekunde war ich oben, in der nächsten den Blitzableiter hinunter und rannte im Dunkeln dem Schuppen zu. Ich brachte vor Aufregung kaum ein Wort heraus; ich sagte Tom nur so geschwind wie möglich, wir müßten auf und davon, es sei keine Zeit übrig; das Haus sei voller Männer mit Flinten, mindestens fünfzehn!

Toms Augen strahlten förmlich, und entzückt ruft er aus: »Nein, wahrhaftig? Herr Gott, ist das ein Spaß! Ich glaub‘, wenn ich’s noch einmal zu tun hätte, Huck, brächt‘ ich hundert zur Stelle! Wollen wir’s aufschieben und…«

»Eil dich, eil dich«, unterbrech ich ihn, »wo ist Jim?«

»Dicht neben dir, du berührst ihn beinahe. Er ist angezogen, die Mutter ebenfalls, und alles ist bereit. Nun wollen wir uns leise hinausmachen und das Signal geben!«

Aber gerad‘ in diesem Augenblick kommt das Geräusch von vielen Fußtritten auf die Türe zu; man hört sie am Schloß hantieren, und eine Stimme spricht: »Ich sagt’s euch ja, daß wir zu früh dran sind. Sie sind noch gar nicht da, die Türe ist geschlossen. Ich mach‘ auf, da können ein paar von euch hineinkriechen und im Dunkeln auf die Kerle warten und sie dann niedermachen. Wir andern halten draußen Wacht und geben euch ein Zeichen, wenn sie nahen!«

Gesagt, getan! Und ehe wir uns noch besinnen konnten, waren sie schon in der Hütte, sahen uns aber glücklicherweise im Dunkeln nicht und stolperten beinahe über uns hinweg, während wir unters Bett und ins Loch krochen. Wir kamen gut durch; leise und schnell, Jim zuerst, dann ich, Tom zuletzt: So lautete die Order. Jetzt waren wir im Schuppen und hörten draußen ganz in der Nähe Fußtritte. Wir krochen leise der Türe zu, Tom gebot uns Halt und legte sein Auge an eine Spalte, konnte aber nichts entdecken, so dunkel war es, und flüsterte uns zu, er wolle horchen und warten, bis sich die Schritte da draußen entfernten, und wenn er uns stoße, solle zuerst Jim und dann ich ganz leise hinausschleichen und er komme hinterdrein. So legte er denn sein Ohr an die Spalte und horchte und horchte, und die Schritte tönten immer gleich nahe. Mit einemmal aber stößt er uns an, und wir öffnen leise die Tür, gleiten hindurch, bücken uns, wobei wir kaum zu atmen wagen, und schlüpfen ohne jedes Geräusch, einer hinter dem andern, dem Zaun zu, kommen dort sicher an, setzen drüber, das heißt Jim und ich, Tom aber bleibt mit den Hosen an einem Splitter hängen, und wie er sich losreißen will, kracht es, und Schritte nähern sich; er reißt sich nun mit Gewalt los und setzt hinter uns her, aber da hören wir auch schon: »Wer ist da? Steht, oder ich schieße!«

Wir aber standen nicht, sondern rannten drauflos wie toll. Dann kam ein sonderbares Geräusch und bum, bum, bum! sausten die Kugeln um unsere Köpfe. Noch hörten wir, wie sie riefen: »Da sind sie, da sind sie! Dem Strom zu! Ihnen nach, die Hunde los!«

Dann kam eine atemlose Pause, und dann setzte die ganze Bande hinter uns her. Wir hörten sie, weil sie dicke Stiefel trugen und gehörig kreischten, wir aber waren barfuß und gaben keinen Laut von uns. Wir befanden uns auf dem Pfad zur Mühle, und als uns die Verfolger nahe kamen, schlugen wir uns seitwärts in den Wald, und ließen sie vorüberrasen, um dann gemächlich hinter ihnen dreinzukommen. Die Hunde hatten sie schlauerweise alle eingesperrt, und bis sie einer losgelassen, verging ein gut Teil Zeit. Jetzt aber kamen sie einhergehetzt mit Gebell und Geheul, genug für dreitausend. Es waren aber gottlob unsre Hunde, und als sie herankamen und merkten, daß nur wir es waren und alles so still und friedlich bei uns zuging, da umschnoberten sie uns nur kurz und setzten dann mit erneuter Kraft hinter dem schreienden, stampfenden Haufen unserer Verfolger drein. Wir aber weiter, immer hinterher bis zur Mühle, und dann rechts hinunter dem Strom zu, da, wo wir des Onkels Boot am Abend befestigt hatten. Im Nu war es losgemacht und wir hineingesprungen. Dann ruderten wir bis zur Mitte des Stromes, als gelte es unser Leben, immer mit möglichst wenig Geräusch. Von da an hielten wir gemächlich auf die Insel zu, wo das Floß verborgen lag, und wir konnten unsere Verfolger fortwährend schreien und johlen und die Vierfüßler dazwischen bellen hören, am ganzen Ufer entlang, bis wir schließlich so weit weg waren, daß die Töne in der Entfernung erstarben.

Da waren wir auch schon am Floß angelangt, und ich sage: »Jim, jetzt bist du wieder ein freier Mann, und ich wette, von nun an für immer und immer!«

»Un schön seins gewesen, un schön seins gegangen, Huck! Alte Jim nie nix haben gesehen so schöne, gute Plan für zu machen frei arme Nigger! Sein gewesen beste Plan, den man können erfinden. So viel Arbeit und so schwer und so lang Zeit un so durchnander! Sein aber auch gewesen Massa Tom, gute Massa Tom seine Plan!«

Wir waren alle so froh und vergnügt, wie wir nur sein konnten, und Tom war der Glückseligste von uns, denn er hatte eine Kugel, eine wirkliche und wahrhaftige Kugel in den Schenkel gekriegt.

Als Jim und ich das hörten, fühlten wir uns nicht mehr halb so wohl wie vorher. Es tat ihm ziemlich weh und blutete, und wir legten, ihn unter das kleine Bretterhäuschen, das wir zum Schutt gegen Regen errichtet hatten. Ich riß mein Hemd herunter, teilte es in Streifen und schickte mich an, die Wunde zu verbinden.

Er aber stößt mich weg und sagt: »Nein, gib mir die Lumpen, ich besorg‘ das selbst. Steht doch nicht so herum. Die Ruder her und abgestoßen! – Aber gelt, das haben wir fein gemacht, Jungens, fein, kolossal fein, sag‘ ich euch! Na, ich wollt nur, wir hätten die Flucht von Ludwig XVI. zu beaufsichtigen gehabt; alles war‘ anders gekommen und kein Kopfabhauen und keine Guillotine und nichts dergleichen hätt’s gegeben! Nein, nichts davon! Den hätten wir flott beiseite geschafft, elegant, sag‘ ich euch! Aber nun alle Mann an Bord, vorwärts! Los!«

Jim und ich aber berieten uns und überlegten, was wir zu tun hätten, und nach ein paar Minuten sag‘ ich: »Jim«, sag‘ ich, »sprich du!«

Und Jim sagt: »Du, Huck, alte Jim nur eins wollen sagen. Wenn junge Mr. Tom wären worden gerettet und befreit vom Jim un Huck, un Jim hätten gekriegt Kugel in Bein, Tom Sawyer hätten nie gesagt: Kugel nix machen für alte Jim sein Bein – nur vorwärts, weiter, Jim nix brauchen Doktor, Tom wollen erst sein frei. Nein, junge Mr. Tom nie nix würde sagen so! Un alte Jim auch wissen, was er haben zu tun. Alte Jim nix gehen von die Fleck, eh‘ Doktor sein da, zu sehen nach Kugel, alte Jim nie nix gehen eine Schritt weiter, und wenn er müssen warten vierzig Jahr!«

Ich wußt’s ja, inwendig war Jim ein Weißer, so weiß wie irgendeiner, wenn auch von außen nichts davon zu sehen war. Ich wußt’s, daß er so sprechen würde, und nun war alles gut und mir selbst eine Last vom Herzen genommen. Wir teilten nun Tom unsern Entschluß mit, der natürlich nichts davon wissen wollte und schalt und tobte und schließlich selbst probierte, herauszukriechen aus dem Bretterverschlag und das Floß flott zu machen, was wir ihn aber nicht tun ließen. Als er sah, daß wir fest blieben und daß ich das Boot zur Fahrt ins Städtchen fertig machte, meinte er: »Na, wenn ihr denn durchaus so dickköpfig sein wollt, so ist’s am Ende besser, ich sag‘ dir, Huck, was du tun mußt, wenn du zum Doktor kommst. Du verriegelst die Tür hinter dir, fesselst den Mann und verbindest ihm gut die Augen. Dann läßt du ihn schwören, daß er stumm sein will wie das Grab, steckst ihm einen Beutel mit Geld in die Hand und führst ihn dann durch lauter Hintertüren und Seitenwege, immer im Dunkeln, bis zum Boot, ruderst die kreuz und quer um alle Inseln herum, um ihn irre zu führen, durchsuchst ihm dann die Taschen nach Kreide, nimmst ihm die weg und gibst sie ihm erst wieder, wenn du mit ihm ins Städtchen zurückkommst, denn sonst macht er sich mit der Kreide ein Zeichen an unser Floß, um’s später wiederzufinden. – Das tun sie nämlich alle.«

Ich versprach’s, genauso zu machen, und Jim wollte sich im Wald verstecken, wenn er mich mit dem Doktor kommen sehe, und warten bis er wieder weg wäre, und so stieß ich denn ab und ruderte flink dem Städtchen zu.