Die einzelstehende Hütte – Schändlich! –Der Blitzableiter als Beförderungsmittel – Eine ganz einfache Sache – Wieder die Hexen und Geister

25. Kapitel

Oben in unserem Zimmer angelangt, setzten wir uns auf die Betten, baumelten uns was mit den Beinen vor und erzählten uns unsere Erlebnisse von der Zeit meiner Ermordung an bis heute. Dann, als alles und jedes durchgenommen war und wir nichts mehr zu erzählen wußten, beschäftigten wir uns in Gedanken mit Jim.

Mit einemmal sagt Tom: »Huck, sind wir aber Narren, daß wir nicht früher daran dachten. Ich wett‘ meinen Kopf, ich weiß, wo Jim steckt!«

»Nein, wirklich?«

»Ei, doch natürlich in jener einzelnstehenden Hütte da drüben am Zaun, das ist doch klar! Erinnerst du dich nicht, daß ein Nigger etwas in einer Schüssel hineintrug, als wir beim Essen saßen? Was hast du dir dabei gedacht?«

»Ich, oh, weiter nichts, ich meinte, es sei für einen Hund!«

»Na, eben! So ging mir’s auch. Aber das war doch für keinen Hund!«

»Warum?«

»Weil ein Stück Melone dabei lag, die frißt doch kein Hundevieh. Na, siehst du?«

»Wahrhaftig, daran hab‘ ich gar nicht gedacht. Ja, es lag eine Melone dabei, das sah ich auch. Wie doch ein Mensch etwas sehen und doch wieder nicht sehen kann! So ein Maulwurf zu sein!«

»Und der Nigger, Huck, der schloß die Tür auffallend sorgfältig hinter sich zu, als er wieder herauskam, und lieferte Onkel nach Tisch einen Schlüssel ab, ganz gewiß den Hüttenschlüssel, Huck. Melone beweist Mensch, Schlüssel beweist Gefangenen, und zwei solche Vögel wird’s wohl kaum auf der kleinen Farm geben, wo alle Menschen so gutherzig sind, daß sie kein Wässerchen trüben können. Folglich ist also Jim jener Gefangene, das hätten wir heraus, Huck, wie der schlaueste Detektiv. Jetzt streng dich an und mach dir einen Plan, wie wir Jim befreien wollen, ich mach‘ auch einen, und dann nehmen wir den, der uns am besten gefällt.«

Großer Gott, was hatte der Junge für einen Kopf auf seinen Schultern! Wenn ich den hätte, ich gäbe ihn nicht her, und wenn ich dafür Herzog oder Steuermann oder Clown in einem Zirkus oder sonst was Großes werden sollte! Ich machte mich also dran, einen Plan auszuhecken, oder tat doch wenigstens so, nur um etwas zu tun, ich wußte ja doch, wer den besten liefern würde. Richtig fängt auch Tom bald drauf an: »Fertig?«

»Ja«, sag‘ ich.

»Gut, also los!«

»Na, ich würd‘ erst mal sehen, ob’s wirklich Jim ist, dann würd‘ ich irgendwo ein Floß zu kriegen oder zu machen suchen, in der ersten dunklen Nacht dem alten Onkel den Schlüssel aus den Hosen wegstibitzen, wenn er sich gelegt hat, Jim die Tür aufschließen, zum Fluß hinunterrennen aufs Floß, nachts fahren, tags schlafen, gerad‘ wie wir’s vorher auch getan haben. Das war‘ doch gewiß ein Plan, der sich ausführen ließe, nicht?«

»Ausführen?« dehnte Tom verächtlich, »ausführen, ja, so einfach und simpel, wie wenn man ein Butterbrot schluckt. Herr, du mein Himmel, hast du denn gar kein bißchen Phantasie, Huck? Das wäre ja so leicht wie Amen sagen oder Wasser trinken. Da krähte kein Hahn danach – nein, das muß anders gemacht werden!«

Ich sagte kein Wort, hatt’s ja vorher gewußt, daß es mir mit meinem Plan so gehen würde. Daß sein Plan, wenn er erst ans Licht käme, nicht so stümperhaft wäre, das war mir klar.

So war’s auch. Tom rückte damit heraus, und ich sah im Augenblick ein, daß sein Plan zehnmal mehr wert war als meiner. Er machte Jim ebenso zum freien Mann wie der meine und hatte außerdem das Gute für sich, daß wir beide dabei Gefahr liefen, samt Jim das Lebenslicht ausgeblasen zu kriegen. Ich war’s zufrieden und sagte nur: immer rein ins Vergnügen! Wie der Plan eigentlich war, will ich lieber gar nicht erzählen, denn ich wußte vorher, daß jede Stunde neue Änderungen bringen würde, und so war’s auch. Wo Tom konnte, brachte er mit Wonne noch neue Schwierigkeiten an, zur weiteren Ausschmückung.

Eins aber stand jetzt bombenfest, nämlich, daß Tom Sawyer, Tante Pollys und Tante Sallys Tom Sawyer, der immer in einem Hause wohnte, in einem Bette schlief, zur Schule, zur Kirche ging, kurz, daß Tom Sawyer wirklich und wahrhaftig daran dachte, einen Nigger befreien zu helfen! Das war zu hoch für mich! Er war doch ein anständiger, wohlerzogener Junge, der einen guten Namen zu verlieren hatte, und seine Leute waren angesehen daheim. Und er war gescheit und kein Dummkopf, hatte was gelernt, war dabei kein Duckmäuser, sondern freundlich und gutmütig, und doch besaß er jetzt nicht für einen Pfennig Stolz und Verständnis oder Gefühl für die Strafbarkeit der Handlung, die er eben im Begriff war zu begehen und die doch mir armem, elendem Teufel schon soviel Kopfzerbrechen und Herzweh bereitet hatte, mir, dem Huck Finn! Ich konnt’s nicht verstehen, auf keine Weise. Es war einfach schmählich, schändlich! Und ich hätt’s ihm sagen müssen, es ihm klarmachen, das weiß ich, als sein treuer Freund ihn bewahren vor der Schande, die er damit über sich und die Seinen bringen würde. Ich fang‘ auch an, was davon herzustottern, er aber hält mir den Mund zu und ruft: »Meinst du, ich weiß nicht, was ich zu tun habe? Weiß ich’s für gewöhnlich vielleicht nicht?«

»Ja, doch, aber …«

»Hab‘ ich dir nicht gesagt, ich helf‘ dir den Nigger frei machen, Huck Finn?«

»Freilich, aber –«

»Also damit basta!«

Mehr sagte er nicht, und mehr sagte auch ich nicht. Es hätte auch gar nichts mehr genützt, denn was er wollte, das wollte er! Ich kümmerte mich also nicht weiter drum und ließ ihm seinen Willen.

Im Hause war mittlerweile alles still und dunkel geworden. Wir öffneten das Fenster und suchten eine Gelegenheit, hinunterzukommen. Glücklicherweise war der Blitzableiter ganz in der Nähe, der diente uns zum Beförderungsmittel, so leicht und bequem wie eine breite Treppe von Marmor. Wir also hinuntergerutscht, schneller als der Blitz, und hin zur Hütte, um zu untersuchen, ob Tom recht gehabt mit seinen Vermutungen. Die Hunde hielten sich still, die kannten uns schon. Bei der Hütte angelangt, inspizierten wir zuerst die uns noch unbekannte Nordseite und fanden da etwa in Manneshöhe eine viereckige Öffnung, vor die ein leichtes Brett genagelt war.

»Hallo, Tom«, frohlocke ich, »da haben wir’s schon, das Brett weg, Jim kriecht durch, und frei ist er!«

»Ja, das ist simpel genug nach deinem Geschmack«, höhnt Tom, »so simpel wie: ›eins, zwei, drei, hicke hacke Heu‹, oder wie Kreiselschlagen. Nein, ich denk‘, wir finden schon was andres heraus, das sich mehr der Mühe lohnt als das!«

»Na, laß uns ihn heraussägen«, schlug ich vor, »so wie ich’s damals vor meinem Tod gemacht habe!«

»Das ging‘ schon eher«, stimmt er bei, »da ist doch was Geheimnisvolles und Umständliches dabei. Aber ich wette, wir finden noch etwas viel, viel Abenteuerlicheres heraus. Wir haben ja gar keine Eile. Laß uns nur mal weitersehen!«

Zwischen der Hütte und dem Zaun befand sich eine Art Schuppen, aus rohen Brettern zusammengenagelt, so lang wie die Hütte selbst, aber viel schmäler, nur etwa fünf bis sechs Fuß breit. Dieser Schuppen stieß mit dem einen Ende an die Hütte und die Tür dazu war mit einem Vorlegeschloß verwahrt. Tom fand eine alte Eisenstange und zog damit einen der eisernen Krampen heraus; die Tür ging auf, und wir krochen in den Schuppen, langsam und vorsichtig. Beim Schein eines Schwefelhölzchens sahen wir, daß der Raum nur mit alten Schippen, Spaten, Hacken und einem wackligen, ausgedienten Pflug gefüllt war. Eine Verbindung zur Hütte gab’s nicht, und der Boden bestand aus gestampftem Lehm. Die Flamme des Zündhölzchens empfahl sich, wir taten desgleichen und drückten den herausgezogenen Krampen wieder hinein, so daß der Verschluß aussah wie vorher. Tom frohlockte.

Kaum waren wir heraus, so rief er: »Jetzt ist alles gut! Jetzt weiß ich, was wir zu tun haben: Wir graben ihn heraus! Dazu brauchen wir mindestens eine Woche!«

Soweit war’s also abgemacht, und wir wandten uns wieder dem Hause zu. Ich ging direkt auf die Hintertür zu, die nur mit einem Lederriemen befestigt war. Mir schien es der einfachste Weg, aber dem Tom war’s lang nicht romantisch genug. Das mußte abenteuerlicher gemacht werden, und er bestand darauf, am Blitzableiter in die Höhe zu klettern. Na, mir war’s recht. Einstweilen aber wollte ich mir das Ding erst einmal ansehen, ehe ich mich zur Nachfolge entschloß. Dreimal war Tom halbwegs oben und dreimal kam er blitzschnell wieder unten an. Das letztemal hätte er sich beinahe den Schädel entzweigeschlagen. Tom ließ sich aber durch so eine Kleinigkeit nicht abschrecken. Er probierte es ein viertes Mal, nachdem er sich vorher ausgeruht, und diesmal blieb er Sieger und kletterte triumphierend durchs Fenster. Ich aber machte mich ganz behaglich zur Treppe hinauf, ich bin einmal kein solcher Held wie Tom und habe auch gar keine Lust dazu, einer zu werden, das Ding kommt mir gar zu mühsam vor.

Am Morgen waren wir mit der Sonne auf und sprangen in den Hof, um uns mit den Niggern und Hunden zu befreunden. Hauptsächlich lag uns dran, den Nigger kennenzulernen, der Jim sein Futter brachte, wenn es wirklich Jim war, der da gefüttert wurde. Sie waren gerade alle beim Frühstück und brachen dann zur Arbeit auf, und Jims Nigger häufte Brot und Fleisch und sonst allerlei auf eine Zinnschüssel. Und da, während die andern weggingen, wurde auch der Schlüssel zur Hütte gebracht.

Jims Nigger hatte ein gutmütiges, rundes Gesicht, und seine Wolle auf dem Kopf war in lauter kleine Bündelchen zusammengebunden, um die Hexen und Geister fernzuhalten, wie er uns erzählte. Nie in seinem Leben sei er von den Unholden so gequält worden wie eben in den letzten Nächten. Er sehe und höre ganz furchtbare Dinge, die gar nicht da seien, Geräusche, Stimmen, kurz, er wisse sich kaum mehr zu helfen. Dabei wurde er so aufgeregt bei der Erzählung seiner Leiden, daß er ganz vergaß, was er im Begriff gewesen war zu tun.

Sagt Tom: »Wozu steht denn das viele Essen da, sollen’s die Hunde kriegen?«

Der Nigger grinste ein wenig, dann allmählich mit dem ganzen Gesicht, so wie wenn der Mond ganz langsam Stückchen für Stückchen hinter einer Wolke hervorkommt, und antwortet: »Ja, junger Herr, sein eine Hund, un sein ganz merkwürdige Hund das! Du ihr wollen sehen?« – »Ja, natürlich!«

Ich stieß Tom in die Rippen und flüstre ihm zu: »Du willst hin, am hellen Tag? So war’s aber doch nicht ausgemacht!«

»Meinetwegen – dann ist’s jetzt!«

So trotteten wir also wahrhaftig hinter dem Nigger her, direkt auf die Hütte los. Mir war’s gar nicht behaglich dabei. Als wir hineinkamen, war alles stockfinster, und wir konnten zuerst gar nichts sehen. Jim aber sah uns und platzte heraus: »Warraftig, da sein Huck! Un, gute, gnädige Himmelsherr, sein das nicht Herr Tom, junge Herr Tom?«

Da hatten wir’s! Ich wußte ja, wie’s kommen würde, ich hatt’s vorher gewußt, nun war’s verraten! Und was jetzt tun? Mir fiel nichts ein, ich stand mit offenem Munde da, und wenn ich auch etwas hätte sagen wollen, ich hätt‘ gar keine Zeit dazu gehabt, denn der Nigger drehte sich ganz starr nach uns um und rief: »Was, gute Gott, junge Herrn kennen alte Nigger?«

Inzwischen hatten sich unsere Augen an das Dunkle gewöhnt, und wir konnten nun die Gegenstände erkennen. Tom starrt den Nigger wieder an, unverwandt und furchtbar verwundert, und fragt: »Kennen wir wen?«

»Ei, alte durchgebrannte Nigger hier vor uns!«

»Woher sollten wir den kennen? Wie kommst du darauf, Alter?«

»Wie kommen Sam drauf? Sein Sam taub? Haben alte Nigger nix eben Namen gesagt von junge Herrn?«

»Na, das ist aber doch merkwürdig! Wer hat was gesagt? Wann hat er’s gesagt? Was hat er gesagt?« Ganz ruhig wendet Tom sich jetzt zu mir: »Hast du jemanden was sagen hören?«

»Ich? Nee, ich hab‘ gar nichts gehört!«

Dann wendet er sich zu Jim, mustert ihn erst eine Weile, als habe er ihn nie gesehen, und fragte dann: »Hast du was gesagt?« »Jim, Herr?« fragt dieser ganz unschuldig, »nein, Jim haben gar nix gesagt!«

Und er schüttelt den dicken Kopf, daß er nur so hin und her fliegt.

»Kein Wort?« fragt Tom noch einmal.

»Kein eine Wort, junge Herr!« beteuert Jim.

»Hast du uns jemals vorher gesehen?«

»Kann nix sein, Herr, Jim haben junge Herrn nie nix gesehen nie nix!«

Jetzt wendet sich Tom zum Nigger, der ganz verwirrt und eingeschüchtert dabei steht, blickt ihn streng an und fragt: »Was ist denn mit dir eigentlich los, Alter? Rappelt’s bei dir? Wie kommst du drauf, der Nigger dort habe was gesagt, habe uns gekannt?«

»Oh, das sein nur alte, schreckliche Geister, junge Herr. Sam wünschen, er wären tot! Geister ihn immerfort so grausam plagen. Ach, junge Herr, junge Herr, ihr nix sagen Master Silas, alte Sam sonst soviel zanken. Er sagen, sein keine Geister nix, sein keine Hexen nix auf der Welt, un alte Sam sie doch immer hören un sehen. Wenn er nur gewesen jetzt hier, er müssen glauben. Aber das sein immer so. Leute, was wollen nix glauben dran, glauben nix. Wollen nix sehen un hören und wenn’s annre Leute ihnen sagen, sie nix wollen wissen.«

Tom gab ihm einen Cent und sagte zu ihm, wir würden ihn nicht verraten, er solle sich für das Geld noch mehr Bindfaden kaufen, um seine Wolle besser zusammenzubinden, es sei offenbar so noch nicht genug.

Dann blickt er Jim noch einmal fest an und sagt: »Ich möchte nur wissen, ob Onkel Silas den Kerl nicht baumeln läßt! Ich tät’s an seiner Stelle. So ’nen undankbaren Hund, der seinem Herrn durchbrennt!« Und während der Nigger mit seinem Geldstückchen zur Tür schleicht, um’s zu betasten und auf seine Echtheit hin zu prüfen, nähert sich Tom Jim und flüstert ihm leise zu: »Verrat ja nie, daß du uns kennst. Und wenn du bei Nacht graben hörst, so sind wir es, wir wollen dich befreien!«

Jim hatte nur Zeit, nach unsern Händen zu fassen und sie zu drücken, dann kam der behexte Nigger wieder auf uns zu, und wir versprachen, bald wieder mit ihm herzukommen, wenn er es wolle; er meinte, es sei ihm sehr lieb, besonders im Dunkeln, wo ihn die Geister am meisten plagten, je mehr Menschen da seien, desto besser. So schieden wir von Jim, dem Wiedergefundenen!