Welche sind die Rechten? – Handschriften – Probe – Tätowieren – Die Leiche wird ausgegraben – Fort! – Befreiung vom königlichen Joche – Jim wird verschachert
22. Kapitel
Die Auktion fand spät am Nachmittag statt und zog sich lange hin. Der Alte stand neben dem Auktionator, machte ein Armsündergesicht, warf hier und da einen Bibelvers dazwischen, oder auch dann und wann ein Schmeichelwort, und der Herzog gu-gu-te herum, um Teilnahme zu erregen.
Endlich ging’s zu Ende, und es war alles verkauft – alles, außer einem kleinen Begräbnisplatz auf dem Kirchhof, der auch noch verkauft werden mußte. Während noch darauf gesteigert wurde, landete ein Dampfboot, und in etwa zwei Minuten kam eine Menschenmenge schreiend und lachend daher, und viele riefen: ›Hurra, da sind neue Erben vom alten Wilks! Sie leben hoch!‹
Sie brachten einen fein aussehenden alten Herrn und einen netten jungen Mann, der den rechten Arm in einer Schlinge trug.
Das Volk umringte sie jubelnd und lachend. Mir war’s aber gar nicht lächerlich, und ich dachte, nun würde dem König und dem Herzog der Spaß vergehen. Doch weit gefehlt. Der Herzog ließ sich nicht das mindeste anmerken, sondern gu-gu-te drauflos, wie ein Krug mit engem Halse, aus dem man Buttermilch gießt. Der König aber blickte mitleidig auf die Neuankömmlinge herab, als bereite ihm der Gedanke, daß es solche Schurken und Betrüger auf der Welt geben könne, Magenschmerzen bis ins Herz hinein. Oh, er machte das bewundernswert. Eine Menge Leute umringten den König, um ihm zu zeigen, daß sie auf seiner Seite seien. Der eben angekommene alte Herr schaute ganz verdutzt drein. Bald jedoch fing er an zu reden, und ich konnte gleich hören, daß er wie ein Engländer sprach; nicht wie der König, obwohl der es ganz gut nachmachte. Des alten Herrn Worte kann ich nicht wiedergeben, aber er sagte etwa folgendes: »Das ist eine Überraschung, die ich nicht voraussah, und ich muß es leider frei gestehen: Ich bin schlecht vorbereitet, ihr zu begegnen, denn mein Bruder und ich haben Unglück gehabt; er hat den Arm gebrochen, und unser Gepäck wurde durch einen Irrtum letzte Nacht in einem Städtchen weiter oberhalb ans Land gesetzt. Ich bin Peter Wilks‘ Bruder Harry, und das ist sein Bruder William, der weder hören noch reden, und jetzt auch nicht einmal ordentlich Zeichen machen kann, da er nur eine Hand dazu frei hat. Wir sind, was wir zu sein vorgeben, und in ein bis zwei Tagen, wenn ich mein Gepäck erhalte, kann ich’s beweisen. Bis dahin will ich nichts weiter sagen, sondern ins Gasthaus gehen und warten.«
So gingen er und der neue Stumme ab; der König platzte folgendermaßen los: »Arm gebrochen – sehr wahrscheinlich, he? Und sehr rechtzeitig, zumal für einen, der Zeichen machen soll und es nicht gelernt hat. Gepäck verloren! Ausgezeichnet, vorzüglich ausgedacht unter den Verhältnissen!«
Dann lachte er und die andern auch, außer dreien oder vieren. Einer davon war der Arzt, ein anderer ein scharf dreinblickender Herr mit einer alten Reisetasche, der eben mit dem Dampfboot gekommen war und mit dem Arzt leise sprach. Sie sahen zum König hinüber und winkten einander zu – es war Levi Bell, der Advokat, der in Louisville gewesen war. Der dritte, der nicht mitgelacht hatte, war ein großer, rauher Kerl, der erst dem alten Herrn zugehört hatte und nun die Rede des Königs anhörte.
Er wartete, bis er geendet, und fuhr ihn dann wie folgt an: »Hör mal, wenn du Harry Wilks bist, wann kamst du hierher?«
»Den Tag vor der Beerdigung, Freund«, sprach der König.
»Zu welcher Tageszeit?«
»Am Abend, etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang.«
»Woher kamst du?«
»Von Cincinnati, mit Dampfer Susan Pawell.«
»So – ich hab‘ dich doch am Morgen in einem Kanu bei der Landzunge landen sehen.«
»Ich war am Morgen nicht bei der Landzunge.«
»Das ist gelogen!«
Mehrere sprangen auf und baten ihn, doch nicht so zu einem alten Mann und Prediger zu reden.
»Potz Prediger, ein Betrüger und Lügner ist er. Er war jenen Morgen auf der Landzunge. Ich wohne da – ich war da, und er war da. Ich sah ihn dort. Er kam in einem Kanu mit Tim Collins und einem Knaben.« – Da rief der Arzt: »Würdest du den Knaben erkennen, wenn du ihn siehst, Heinz?«
»Ich weiß nicht, aber ich glaube. – Da ist er ja, ich kenne ihn ganz gut.« Er wies dabei auf mich.
Der Arzt sprach:
»Nachbarn, ich weiß nicht, ob das neuangekommene Paar Betrüger sind oder nicht; aber wenn die hier keine sind, will ich ein Narr sein. Ich halte es für meine Pflicht, sie nicht fortzulassen, bis wir mehr in Erfahrung bringen. Komm, Heinz, kommt alle, wir nehmen dieses Paar ins Gasthaus und stellen es dem andern gegenüber. Wir werden dann bald dahinterkommen.«
Das war ein Spaß für die Menge, wenn auch nicht für des Königs Freunde. So gings denn los. Es war um Sonnenuntergang. Der Arzt führte mich bei der Hand; er war ganz freundlich, ließ aber meine Hand nie los.
Wir gingen ins große Zimmer des Gasthofs, zündeten Licht an und holten das neue Paar.
Erst sprach der Arzt: »Ich will mit diesen beiden Männern – er deutete auf den König und den Herzog – nicht zu hart verfahren, aber ich halte sie für Betrüger. Wenn sie keine Betrüger sind, so werden sie sich nicht weigern, das Säckchen herbeizuschaffen, das ihnen Wilks hinterlassen hat, und es von uns aufbewahren lassen, bis sie sich richtig ausgewiesen haben. – Hab‘ ich recht?«
Alle stimmten bei. So schien mir’s, daß sich unser Pärchen gleich in einer bösen Klemme befand. Doch der König machte nur eine bekümmerte Miene und sprach:
»Meine Herren, ich wünschte, das Geld wäre da, denn ich habe nichts gegen eine redliche, offene Untersuchung dieser traurigen Affäre; aber leider ist das Geld nicht mehr da.«
»Wo ist es denn?«
»Nun, als meine Nichte es mir zum Aufheben gab, verbarg ich es im Bettstroh, mit der Absicht, es während der wenigen Tage unseres Hierseins auf die Bank zu senden. Wir hielten das Bett für einen sicheren Platz. Nicht an Neger gewöhnt, hielten wir sie ebenso ehrlich wie unsere Domestiken in England. Die Neger stahlen es den nächsten Morgen, nachdem ich das Zimmer verlassen hatte. Als ich sie verkaufte, vermißte ich das Geld noch nicht, und so sind sie damit fort. Mein Diener hier kann Ihnen darüber berichten, meine Herren.«
Der Arzt und mehrere andere riefen: »Unsinn!«, und ich sah, daß niemand ihm wirklich glaubte. Einer fragte mich, ob ich’s die Neger hätte stehlen sehen. Ich entgegnete: Nein, aber ich hätte die Neger fortschleichen sehen und hätte mir nichts dabei gedacht, als daß sie meinen Herrn aufgeweckt und sich aus dem Staub gemacht hätten, ehe er sie anranzen konnte. Das war alles, was ich darüber gefragt wurde. Doch plötzlich wandte sich der Arzt zu mir und sagte: »Bist du etwa auch ein Engländer?«
Ich antwortete mit ja, und er und einige andere lachten und machten ihre Witze darüber.
Dann ging’s wieder an die allgemeine Untersuchung, die Geschichte ging auf und nieder, hin und her, Stunde über Stunde verstrich, und niemand dachte ans Abendessen. Sie ließen erst den König sein Teil erzählen, dann den alten Herrn seines, und wer nicht ein vorurteilsvoller Starrkopf war, mußte einsehen, daß der alte Herr die Wahrheit, der andere Lügen auftischte. Bald mußte auch ich erzählen, was ich wußte. Der König warf mir einen Blick aus seinem linken Augenwinkel zu, und das genügte, um auf seiner Seite zu bleiben. Aber ich war noch nicht weit gediehen, als der Arzt zu lachen begann und Levi Bell, der Advokat, sagte: »Setz dich, mein Junge, ich würde mich an deiner Stelle nicht anstrengen. Ich glaube, du bist das Lügen noch nicht gewöhnt, wenigstens geht’s dir nicht leicht von der Hand. Dir fehlt noch Übung; du machst’s noch zu plump.«
Das Kompliment war mir gleichgültig, doch war ich froh, auf so billige Art wegzukommen.
Der Arzt wollte eben wieder anfangen, da unterbrach er sich und sagte: »Wärst du gleich zu Anfang in der Stadt gewesen, Levi Bell…«
Da fiel ihm der König ins Wort, streckte seine Hand aus und sprach: »Oh, ist das meines armen verstorbenen Bruders alter Freund, von dem er mir so oft schrieb?« Dabei schüttelten sie einander die Hände, und der Advokat lächelte und schien erfreut. Sie sprachen eine Weile miteinander, gingen dann etwas beiseite und flüsterten.
Schließlich sagte der Advokat laut: »Das wird die Sache bald in Ordnung bringen. Ich schicke die Anweisung mit derjenigen Ihres Bruders hin, und dann sehen die Leute ja gleich, daß alles im reinen ist.«
Feder und Papier wurden gebracht; der König setzte sich, legte den Kopf auf die Seite, biß sich auf die Zunge und schmierte was hin. Dann ging die Feder an den Herzog, dem’s dabei recht unbehaglich zumute war. Doch ergriff er die Feder und schrieb.
Dann wandte sich der Advokat an den alten Herrn und sagte: »Ich bitte jetzt Sie und Ihren Bruder, einige Zeilen zu schreiben und Ihre Namen zu zeichnen.«
Der alte Herr schrieb, doch niemand konnte es lesen. Der Advokat machte ein erstauntes Gesicht und sprach: »Na, jetzt hört alles auf!« Dann zog er eine Anzahl Briefe aus der Tasche und verglich die Handschriften. »Diese alten Briefe«, fuhr er fort, »sind von Harry Wilks, hier sind die zwei Handschriften seiner angeblichen Brüder: des ersten Paares und man sieht sofort, daß sie die Briefe nicht geschrieben haben (König und Herzog sahen sehr verblüfft aus, als sie merkten, welche Falle ihnen der Anwalt gestellt hatte), dann ist hier die Handschrift des alten Herrn vom zweiten Paar, und man sieht auf den ersten Blick, daß er die Briefe auch nicht geschrieben hat. Sein Gekritzel ist überhaupt keine Handschrift zu nennen. Hier hab‘ ich noch einige Briefe von…«
Da rief der alte Herr: »Erlauben Sie mir gefälligst eine kleine Erklärung. Niemand außer meinem Bruder hier kann meine Handschrift lesen – darum kopiert er für mich. Sie haben in den Briefen seine Handschrift, nicht meine.«
»Na«, rief der Anwalt, »wo soll das hinaus? Ich habe einige von Williams Briefen; wenn Sie ihn ein paar Zeilen schreiben lassen, könnten wir ja vergl…«
»Er kann nicht mit der linken Hand schreiben«, entgegnete der alte Herr. »Könnte er die rechte Hand gebrauchen, so würden Sie gleich sehen, daß er seine eigenen und meine Briefe geschrieben hat. Vergleichen Sie die gefälligst, sie sind von derselben Hand.«
Der Anwalt tat es und sagte: »Das scheint so – jedenfalls erkenne ich jetzt eine viel größere Ähnlichkeit als vorher. Ei, ei! Ich hatte schon gedacht, ich sei auf der rechten Spur; nun ist’s wieder nichts. Soviel ist jedoch sicher bewiesen, daß diese zwei – er deutete auf König und Herzog – keine Wilkse sind.«
Selbst jetzt gab der bocksbeinige alte Narr, der König, nicht klein bei und sagte, es sei kein reeller Beweis. Sein Bruder William sei ein arger Spaßmacher und hätte eben einen seiner Spaße losgelassen und seine Handschrift verstellt. Er hätt‘ es ihm gleich angesehen. So plapperte der Kerl fort, bis er anfing, selbst an das zu glauben, was er sagte. Doch bald unterbrach ihn der alte Herr mit den Worten: »Mir ist was eingefallen. Ist irgend jemand unter den Anwesenden, der beim Aufbahren der Leiche meines Bruders, des verstorbenen Peter Wilks, zugegen war?«
»Ja«, rief jemand, »ich und Abel Turner besorgten das. Wir sind beide hier.«
Dann wandte sich der alte Herr zum König und sagte: »Vielleicht weiß der Herr dann, was auf seiner Brust tätowiert war?«
Da mußte der König sich rasch zusammennehmen, sonst wäre er zusammengestürzt wie ein Stück Flußufer, das die Strömung untergraben hat; es kam so plötzlich und unerwartet und war so recht eine Frage, die einen, der nicht darauf vorbereitet war, ganz aus der Fassung zu bringen vermochte. Wie konnte er wissen, was auf der Leiche tätowiert war?! Er erblaßte ein wenig, das konnte er nicht vermeiden. Es wurde sehr still, und alle beugten sich vor und starrten ihn an. Ich dachte, nun würde er den ungleichen Kampf aufgeben – was konnte er auch noch sagen? Aber nein; so unglaublich es scheint: Er blieb fest. Wahrscheinlich wollte er versuchen, die Leute müde zu machen, bis sich die Menge verkleinerte und er und der Herzog vielleicht Gelegenheit fänden zu entschlüpfen. Er verzog seinen Mund zum Lächeln und sagte: »Hm! Eine große Frage, nicht wahr? Ja, mein Herr, allerdings weiß ich, was auf seiner Brust tätowiert ist. Es ist ein kleiner, dünner, blauer Pfeil, den man kaum bemerkt, wenn man nicht scharf hinsieht.«
Solch ein Ausbund grenzenloser Frechheit war mir doch noch nie vorgekommen.
Der alte Herr wandte sich rasch zu Abel Turner und dessen Kameraden, und seine Augen glänzten so, als ob er den König jetzt festgenagelt hätte; er sagte: »Da haben Sie es gehört! War solch ein Zeichen auf Peter Wilks‘ Brust?«
»Wir haben kein solches Zeichen bemerkt.«
»Gut!« sagte der alte Herr. »Was ihr auf seiner Brust fandet, war ein kleines mattes P und ein B (der Anfangsbuchstabe eines Namens, den er schon jung aufgab) und ein W. Diese drei Buchstaben sind mit Strichen verbunden so: P-B-W« – er zeichnete sie auf ein Stück Papier. »Habt ihr davon nichts bemerkt?«
Beide antworteten: »Nein, wir sahen überhaupt gar keine Zeichen.«
Nun ging der Skandal los, und alles rief: »Die ganze Sippe sind Betrüger« – »Spießruten laufen« – »In den Fluß tauchen« – »Ersäuft die Bande.«
Da sprang der Anwalt auf den Tisch und schrie: »Meine Herren, meine Her-r-ren! Ein Wort, nur ein Wort, ich bitte. Lassen Sie uns den Sarg ausgraben und selbst nachsehen.«
Das wirkte.
»Hurra!« rief das Volk, das nun auseinanderging; aber Arzt und Anwalt riefen: »Halt, halt, ergreift erst die vier Männer und den Jungen und schleppt sie mit.«
»Jawohl, jawohl«, riefen alle, »und finden wir die Zeichen nicht, so hängen wir die ganze Sippschaft.«
Jetzt wurde mir bange, doch was half’s? Sie griffen uns und marschierten mit uns direkt zum Kirchhof, der anderthalb Meilen stromab lag. Die ganze Stadt zog hinter uns her, angelockt durch den Lärm, den wir machten und der nun immer ärger wurde.
Als wir an unserem Haus vorbeigingen, wünschte ich, ich hätte Mary Jane nicht fortgeschickt. Hätte ich ihr jetzt zuwinken können, so wäre sie gewiß erschienen, um mich zu retten und die Schurken zu überführen.
Wir stürmten den Flußweg hinab wie Wildkatzen. Noch dazu stieg ein Gewitter am Himmel herauf, Blitze zuckten, und der Wind sauste in den Bäumen, wodurch alles noch unheimlicher wurde. Ich war noch nie in einer so fürchterlichen Lage und großen Gefahr gewesen, und ich war wie niedergeschmettert, alles war anders gegangen, als ich erwartete: Anstatt daß ich’s leiten konnte, wie ich vorhatte, in der Hoffnung, meinen Spaß daran zu haben und mich zur rechten Zeit von Mary Jane retten zu lassen, wenn der Spaß zuweit ging, bewahrte mich jetzt nichts in der Welt vor einem schmachvollen Tode, außer diese Tätowierungen. Wenn sie die nicht finden…!
Das war ein unerträglicher Gedanke, und doch vermochte ich an nichts anderes zu denken. Es wurde dunkler und dunkler, und ich hätte somit gute Gelegenheit zum Entwischen gehabt, aber der rücksichtslose Kerl, der Heinz, hielt mich am Handgelenk fest, und ich hätte mich eher vom Riesen Goliath losmachen können als von ihm. Er riß mich mit sich fort, und ich mußte immer aufpassen, daß ich nicht stürzte.
Als wir ankamen, war der Kirchhof von der Menge im Nu überflutet. Am Grab stellte sich heraus, daß hundertmal so viele Schaufeln mitgebracht waren, als man brauchte, aber niemand hatte an eine Laterne gedacht. Doch sie gruben darauflos beim unsteten Leuchten des Blitzes und schickten einen Mann zum nächsten Haus, eine halbe Meile entfernt, nach einer Laterne.
So gruben sie denn unaufhaltsam; es wurde schrecklich finster und regnete, der Wind sauste daher, und die Blitze zuckten rascher. Die Leute kümmerten sich aber nicht darum, sie waren voller Erwartung. Einen Augenblick konnte man jedes Gesicht der großen Menge unterscheiden und sehen, wie die Erde schaufelweise aus dem Grab emporsprang; dann, im nächsten Augenblick, löschte die Finsternis alles wieder aus, so daß man keinen Schritt weit sehen konnte.
Endlich holten sie den Sarg heraus und schraubten den Deckel los. Das war ein Drücken, Quetschen, Stoßen, Halsrecken – jeder wollte es sehen; bei dieser Finsternis war das ganz schrecklich. Heinz drängte sich auch vor und zog mich so heftig mit, daß ich beinahe geschrien hätte. Aber ich möchte wetten, daß er gar nicht mehr an mich dachte, so aufgeregt war er.
Plötzlich kam eine wahre Sintflut von Blitzen, und jemand rief: »Herr Gott, da liegt der Sack Gold auf seiner Brust!«
Heinz brüllte vor Erstaunen, die andern ebenfalls. Er ließ mich los und sprang vorwärts, um es auch zu sehen – die Eile aber, wie ich nach der anderen Richtung querfeldein sprang, kann sich kaum jemand vorstellen, der’s nicht selbst erlebt hat.
Im Städtchen angelangt, spähte ich umher und sah, daß niemand auf der Straße war, darum flog ich auch geradewegs durch die Hauptstraße. Als ich mich unserem Hause nahte, war kein Licht da – alles dunkel. Das betrübte mich sehr; ich weiß selbst nicht warum.
Aber zuletzt, gerade als ich vorbeieilte, erglänzte plötzlich ein Licht in Mary Janes Fenster, und mir schwoll das Herz, als wollte es zerspringen; im nächsten Moment war das Haus hinter mir im Dunkel für immer verschwunden. Sie war das beste Mädchen, das mir je vorgekommen.
Sobald ich weit genug vom Städtchen war und mich sicher fühlte, sah ich mich um, wo ein Kahn zu finden sei. Bald zeigte mir der Blitz einen, der nicht angekettet war. Ich hinein und fort war eins. Es war ein Kanu, das nur mit einem Strick angebunden war. Mein Floß war weit weg in der Mitte des Stromes an der kleinen Insel, und ich durfte deshalb keine Zeit verlieren. Als ich endlich hinkam, wäre ich vor Ermattung fast hingestürzt. Doch dürft ich’s noch nicht und tat’s auch nicht.
Ich sprang an Bord und rief: »Heraus, Jim, und schnell fort! Gott sei Dank, wir sind sie los!«
Jim sprang heraus und kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Als ich ihn beim Blitz erblickte, stand mir fast das Herz still, und ich fiel rücklings ins Wasser. Ich hatte ganz vergessen, daß er König Lear und ein ertrunkener Araber, alles in einem war; er hatte mich fast zu Tode erschreckt. Jim fischte mich wieder aus dem Wasser und wollte mich umarmen und herzen und so weiter. Er war so froh, mich wiederzusehen, ohne König und Herzog, aber ich rief: »Nicht jetzt – später, später, warte bis zum Frühstück, jetzt nur rasch fort!«
Im Augenblick waren wir los und trieben den Fluß hinab. Ach, es tat so wohl, wieder frei zusammen auf dem großen Strom zu sein ohne widerwärtige Gesellschaft. Vor Freude sprang ich einigemal empor und schlug meine Hacken zusammen, ich konnte nicht anders; aber da hörte ich einen Laut, den ich wohl kannte, ich hielt den Atem an und horchte – und wahrhaftig, als der nächste Blitzstrahl übers Wasser zuckte, da sah ich sie kommen! Sie ruderten drauf los wie toll, daß der Kahn nur so dahinsauste! Ich wäre fast zusammengesunken und konnte kaum das Weinen zurückhalten.
Sie kamen aufs Floß. Der König sprang auf mich zu, packte mich am Kragen und rief: »Wolltest uns entwischen, du Racker! Bist unser müde, he?«
Ich sagte: »Nein, Majestät, sicher nicht, lassen Sie mich los!«
»Schnell ‚raus damit, was hattest du vor, sprich, oder ich zermalme dich!«
»Ich will Ihnen ja alles ehrlich erzählen, Majestät, grad‘ wie es kam. Der Mann, der mich hielt, war recht freundlich und sagte, er hätte einen Sohn in meinem Alter letztes Jahr verloren; es täte ihm leid, einen Knaben in solcher Gefahr zu sehen. Als alle so erstaunt waren, das Gold zu finden, und auf den Sarg zusprangen, ließ er mich los und flüsterte: ›Jetzt lauf, was du kannst, oder du wirst sicher gehängt!‹ und ich lief. Warum hätte ich bleiben sollen, da ich doch nichts nützen konnte, und wozu sollte ich mich hängen lassen, wenn ich entwischen konnte? So lief ich, bis ich das Kanu fand, und als ich hier ankam, mahnte ich Jim zur Eile, sonst würden sie mich fangen und doch hängen. Ich sagte ihm auch, ich fürchtete, daß Sie beide nicht mehr am Leben wären und wie leid mir das täte; Jim tat’s auch leid, und wir freuten uns so, als wir Sie ankommen sahen. Fragen Sie nur Jim selbst, ob’s nicht wahr ist.«
Jim bestätigte alles, doch der König gebot ihm zu schweigen und sagte: »Nun, das klingt freilich höchst wahrscheinlich.« Dann schüttelte er mich wieder und sagte, er würde mich ins Wasser werfen und ersaufen lassen.
Da rief der Herzog: »Laß den Jungen los, du alter Esel! Hättest du es anders gemacht? Hast du nach ihm gefragt, als du ausgerissen bist? Meines Wissens nicht!«
Da ließ mich der König los und begann auf die Stadt und alle ihre Bewohner zu fluchen, aber der Herzog rief: »Du tätest besser daran, auf dich selbst zu fluchen, du hast das beste Anrecht darauf, von dir selbst verflucht zu werden. Du hast von Anfang an nichts Gescheites getan, außer daß du kühn und frech mit dem erdichteten blauen Pfeil herauskamst. Das war ein glanzvoller Gedanke und das einzige, was uns rettete. Sonst hätten sie uns eingesperrt, bis das Gepäck der Engländer angekommen wäre, und dann stünde uns das Zuchthaus offen. Aber der Streich hetzte das Volk zum Kirchhof, und dann half uns das Gold erst recht. Denn wenn die aufgeregten Narren uns nicht losgelassen hätten, um das Gold zu sehen, hätten wir die Nacht in Halsbändern geschlafen, die uns länger gehalten hätten, als uns lieb gewesen wäre.«
Sie schwiegen eine Minute, dann sprach der König, wie in Gedanken: »Hm, und wir dachten, die Neger hätten es gestohlen.«
Da wurde mir ängstlich zumute.
»Ja«, sagte der Herzog langsam und sarkastisch, »wir dachten’s.«
Eine halbe Minute später brummte der König: »Wenigstens ich dachte es.«
Da entgegnete der Herzog im selben Ton: »Im Gegenteil – ich dachte es.«
Da rief der König ärgerlich: »Hör mal, Sommerfett, was willst du damit sagen?«
Der Herzog entgegnete rasch: »Wenn’s erlaubt ist, so möchte ich mir die Frage erlauben, was du damit meinst.«
»Hm«, rief der König sarkastisch, »vielleicht tatst du es im Schlafe und wußtest es selbst nicht.«
Da sagte der Herzog auffahrend: »Kerl, laß den Unsinn, hältst du mich für einen Narren? Meinst du vielleicht, ich wüßte nicht, wer das Geld in den Sarg gelegt hat?«
»Natürlich weiß ich, daß du es weißt, denn wer sollte es getan haben als du selber?«
»Du lügst«, schrie der Herzog und packte ihn.
Da rief der König: »Laß mich los! Laß meine Kehle los! – Ich nehme alles zurück.«
Der Herzog schrie: »Erst gestehe, daß du das Geld dort versteckt hast in der Absicht, mich loszuwerden, es später auszugraben und alles selbst zu behalten.«
»Wart einen Augenblick, Herzog, und beantworte diese eine Frage, ob du das Geld nicht hintastet, ehrlich, und ich will dir glauben und alles zurücknehmen, was ich gesagt.«
»Du alter Schurke, ich tat’s nicht, und du weißt es wohl!«
»Nun denn, ich glaube dir. Aber beantworte mir noch das eine – werd nicht böse: Hattest du nicht im Sinn, das Geld zu entwenden und zu verstecken?«
Der Herzog schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Was ich im Sinn hatte, ist ganz gleich. Ich hab’s nicht getan. Aber du hattest es nicht nur im Sinn, sondern tatest es auch.«
»So wahr ich lebe, Herzog, ich tat es nicht, wahrhaftig. Ich will nicht leugnen, daß ich es beabsichtigte, aber getan hab‘ ich’s nicht, denn du – ich meine irgend jemand kam mir damit zuvor.«
»Du lügst, du tatest es und mußt es gestehen, oder…«
Der König, den der Herzog immer noch an der Kehle hatte, begann zu röcheln und rief dann halb erstickt: »Genug – ich gestehe!«
Ich war froh, es ihn sagen zu hören; ich fühlte mich um ein gut Teil leichter.
Der Herzog ließ ihn los und rief: »Wenn du es je wieder leugnest, ersäuf ich dich. – Ja, sitz nur da und plärre wie ein Kind, das paßt ganz zu einem Kerl, der so handelt wie du. Meiner Lebtage habe ich keinen solch alten Gauner gesehen, der alles verschlingt, wenn’s darauf ankommt, und ich verließ mich auf dich, als seiest du mein eigener Vater. Du solltest dich schämen, dabeizustehen und es auf die armen Neger kommen zu lassen, ohne ein Wort zu ihren Gunsten zu sagen. Es ärgert mich immer noch, daß ich so dumm war, es zu glauben. Verdammt, jetzt verstehe ich, warum du das Defizit gutmachen wolltest: Du hast das Geld, das beim Nonplusultra verdient war, und alles andere allein einsacken wollen.«
Der König sagte ängstlich und halb röchelnd: »Nein, Herzog, du wolltest ja das Defizit decken, nicht ich.«
»Ruhe! Ich will davon nichts mehr hören«, rief der Herzog. »Du siehst nun die Folgen. Sie haben all ihr eigen Geld zurück und all unseres dazu, bis auf einige Silberstücke. Mach, daß du zu Bett kommst, und schaffe mir keine Defizits mehr, solange du lebst.«
Der König kroch unters Zelt und suchte Trost bei seiner Flasche; bald tat der Herzog ein Gleiches. In einer halben Stunde waren sie wieder die dicksten Freunde, und je trunkener sie wurden, desto mehr liebkosten sie sich, und bald schnarchten sie in gegenseitiger Umarmung. Sie waren riesig angeheitert, aber wie ich bemerkte, hütete sich der König wohl, darauf zurückzukommen, daß er das Gold nicht versteckt habe. Das war für mich eine wahre Erleichterung. Als die beiden schnarchten, erzählte ich natürlich Jim alles.
Wir trieben mehrere Tage stromab, ohne irgendwo anzuhalten, bis wir so weit südlich waren, wo das lange spanische Moos von den Bäumen hängt, als ob sie lange graue Barte hätten. Dann hielten wir wieder hier und da an. Die beiden versuchten ihr Glück mit Predigen, Wahrsagen, Mesmerismus, kurz mit allerlei, aber nichts wollte recht glücken. Sie wurden sehr mürrisch, und wir konnten ihnen nichts recht machen. Sie steckten viel beieinander und hatten manches zu flüstern, so daß Jim und ich anfingen zu fürchten, sie brüteten irgendeine Teufelei aus. Bald legten wir nicht weit von einem Städtchen an. Der König sagte, er wolle hingehen und sehen, ob Gelegenheit fürs Nonplusultra wäre, und wenn er bis Mittag nicht zurück sei, sollten der Herzog und ich nachkommen, und Jim sollte, wie gewöhnlich, das Floß hüten. Zu Mittag kam er nicht zurück. Der Herzog und ich gingen also zum Städtchen und fanden den König betrunken in einer Kneipe. Er und der Herzog fingen an sich zu streiten; da dachte ich, meine Gelegenheit sei gekommen, und rannte zum Floß zurück, rief Jim, erhielt aber keine Antwort. Ich rief zwei-, dreimal, bekam aber keine Antwort. Da ging ich ein Stück Weges ins Land und begegnete einem Jungen, den ich fragte, ob er einen Neger gesehen hätte, und beschrieb ihm Jim. »Ja, den haben die Leute vor einer halben Stunde zur Sägmühle des alten Silas Phelps geschleppt«, sagte der Junge. Ich erfuhr auch von ihm, daß ihn ein kahlköpfiger alter Kerl für eine Belohnung von zweihundert Dollars gefangen und sein Anrecht darauf einem Farmer für vierzig Dollars abgetreten habe. Der Anschlagzettel habe den Neger beschrieben und er sei auf dem Floß gefangen worden.
Jetzt ging mir ein Licht auf. Der König hatte Jim für vierzig Dollar verschachert, während er allein in der Stadt war, und als der Herzog und ich den König am Nachmittag aufsuchten, wurde Jim unterdessen weggeführt.
Mir stand das Herz fast still. Dieser verräterische Schurkenstreich setzte der Handlungsweise der Majestät vollends die Krone auf. Ich dachte einen Augenblick daran, umzukehren und dem Schurken die Meinung zu sagen. Doch er und der Herzog hätten nur neue Schurkereien gegen mich ausgebrütet, und Jim wäre dadurch nicht geholfen gewesen. Armer, alter Jim, wie mochte ihm zumute sein! Nein, ich wollte die Kerle gar nicht wiedersehen, da brauchte ich der Vorsehung nicht ins Handwerk zu pfuschen, diese Kerle würde ihr Schicksal ohne mich ereilen, früher oder später, das wußte ich gewiß. Und darin hab‘ ich recht gehabt, das will ich nur gleich jetzt erzählen, damit ich gar nicht noch einmal an die Lumpenbrut zu denken brauche. Ein paar Tage später, als ich mit Tom … Ja so, da verplappre ich mich, das gehört ja hier noch gar nicht hin! – Also, kurz und gut: Ein paar Tage später brachten Schiffsleute aus einem weiter stromab gelegenen Städtchen die Nachricht, es seien dort ein paar Gauner geteert, gefedert und von einer großen Volksmenge begleitet durch die Straßen gehetzt worden. Die Beschreibung, die man von ihnen machte, paßte genau auf meine hohen Herrschaften von früher. Sie hatten das Nonplusultra einmal zuviel aufgeführt. Dieser Lohn war gerecht. Warum hatten sie den armen Jim verraten, der ihnen nie was zuleide getan? Später hab‘ ich nichts mehr von ihnen gehört und gesehen und hoffe sehr, daß es auch nie mehr der Fall sein wird!