Ratten – Lebhafte Bettgenossen – Die Strohpuppe
30. Kapitel
Am Morgen schlichen wir uns ins nächste Dorf und erhandelten eine große Rattenfalle, trugen sie in den Keller, öffneten das größte Rattenloch und hatten in vielleicht einer halben Stunde fünfzehn der fettesten, prächtigsten Ratten gefangen. Im Nu schleppten wir, der Sicherheit halber, die ganze Ladung in der Falle unter Tante Sallys Bett, was der unnahbarste und geheiligtste Ort im ganzen Hause war, dem sich so leicht keine der kleinen Rangen zu nahen wagte, und machten uns auf die Spinnenjagd. Während wir weg waren, muß das Unglück den kleinen Thomas Franklin Benjamin Jeffersohn Alexander Phelps in die Nähe des Rattenverstecks führen! Die Bescherung entdecken und die Falle öffnen, war bei ihm natürlich eins; und als wir zurückkamen, um unser mühsam erworbenes Eigentum an uns zu nehmen, stand Tante Sally auf dem Bett und schrie Mord und Totschlag, Diebe, Räuber, Feuer, und die Ratten führten den tollsten Kriegstanz vor ihr auf, tobten, pfiffen und rasten über Bett, Tische und Stühle, daß einem Hören und Sehen verging. Als sich die wilde Jagd durch die von uns offengelassene Tür etwas verzogen hatte, kriegte die arme abgehetzte Frau einen Rohrstock her und klopfte uns, ohne viel zu fragen, die Kleider am Leibe tüchtig aus, und wir brauchten dann zwei volle Stunden, um weitere fünfzehn oder sechzehn Ratten zu fangen, die den andern an Größe und Schönheit aber lange nicht gleichkamen. Es waren eben auserlesen schöne Exemplare, wie ich sie nie wieder gesehen habe.
Wir legten uns außerdem einen tüchtigen Vorrat von verschiedenen Spinnen, Käfern, Fröschen, Raupen und sonst noch allerlei an und hätten gerne noch ein Hornissen-Nest gehabt, aber daraus wurde nichts. Dann ging’s auf die Schlangenjagd, und wir hatten bald einige Dutzend Blindschleichen und Ringelnattern beisammen, die wir in einem zugebundenen Sack auf unser Zimmer legten. Mittlerweile war die Zeit zum Abendessen gekommen. Ein ordentliches Tagewerk lag hinter uns, und wir hatten riesigen Hunger. So hieben wir denn tüchtig ein, und als wir wieder auf unser Zimmer kamen, da – da war keine einzige Schlange mehr zu sehen, alle weg, wie weggeblasen. Wir hatten den Sack nicht fest genug zugebunden, und die Racker hatten sich durchgeringelt. Das focht uns aber nicht viel an, denn wir dachten, weit könnten sie doch nicht sein, und sie würden sich schon wieder einfangen lassen. Wahrhaftig, in der nächsten Zeit konnte man sich über Schlangenmangel im Hause nicht beklagen. Immer ab und zu fiel mal eine von irgendwo herunter und immer gerade in die Schüssel, vor der man eben saß, oder auf den Teller oder hinten auf den Nacken, wenn man den Kopf neigte, kurz, immer dahin, wo man sie am wenigsten brauchen konnte. Schön waren sie aber alle und fein gestreift, und mich hätte eine Million davon nicht geniert. Tante Sally aber dachte anders, die haßte alle ohn‘ Ansehen der Person und Familie, ob gestreift oder gefleckt: sie konnte sie nicht ausstehen. Und jedesmal, wenn ihr eine in den Weg kam, ob von oben oder von unten, ließ sie alles liegen und stehen und lief mit Windeseile davon, und ihr Geschrei konnte man in Jericho hören. Nicht einmal mit der Feuerzange getraute sie sich eine anzufassen. Und wenn sie sich nachts im Bett umdrehte und zufällig ein solch armes, unschuldiges Tierchen berührte, schlug sie ein Geheul an, als ob das Haus in Flammen stünde. Ich konnte die Frau gar nicht begreifen! Ihren alten Mann regte sie so auf mit der Sache, daß er einmal sagte, er wollte, unser Herrgott hätte die Schlangen zu erschaffen vergessen. Nachdem schon eine ganze Woche lang die letzte Schlange spurlos aus dem Haus verschwunden war, hatte Tante Sally die Angst vor ihnen noch nicht verloren, noch nicht halb verloren. Wenn sie so still dasaß und an nichts dachte, brauchte man sie nur mit einer Feder auf den Hals zu tippen, und sie fuhr erschrocken herum und beinahe aus ihrer Haut heraus. Es war zu komisch! Tom sagte aber, alle Frauen seien so; er sagte, die seien so erschaffen, aus irgendeiner besonderen Ursache, warum, wisse er. selber nicht, aber so sei’s.
Wir bekamen jedesmal eine Tracht ab, wenn ihr eine Schlange über den Weg kroch, und sie bedeutete uns, es würde noch was ganz anderes setzen, wenn wir das Haus wieder damit bevölkerten. Daß wir’s gewesen, ließ sie sich trotz allen Zuredens nicht nehmen, ja, sie. war eine kluge Frau, die Tante Sally! Die Prügel genierten mich weiter nicht, ich war Besseres dieser Art gewöhnt, aber die Mühe, die wir hatten, um zu einem neuen Vorrat von Schlangen zu kommen, war verdrießlich. Na, uns gelang es doch, wieder eine Partie zusammenzubringen, und wir schafften sie nebst allem andern in Jims Hütte. Die hätte noch einmal so groß sein dürfen, um alle die‘ Einwohner bequem zu fassen. Das war ein Gewimmel! Aber lustig war’s, wenn sie bei der Musik alle um Jim herumschwärmten und ihm zu Leibe rückten. Die Spinnen machten ihm besonders heiß, die konnte er nicht leiden und sie ihn auch nicht, und so lag er mit ihnen immer im Kampfe. Er sagte, wegen all der Ratten und Schlangen und dem Mühlstein habe er gar keinen Platz mehr im Bett. Schlafen könne er ohnehin nicht mehr, selbst wenn er Platz hätte, so lebhaft gehe es bei ihm zu, und das immerwährend, ohne alle Unterbrechung, denn das Viehzeug schlafe nie zu gleicher Zeit; wenn die einen schliefen, wachten die andern. Seien die Schlangen einmal ruhig, dann machten’s die Ratten um so toller, und Spinnen und Käfer und das andre Getier ließen ihn überhaupt nie in Ruhe; kurz, er meinte, wenn er diesmal freikäme, wirklich und wahrhaftig frei, dann wolle er nie, nie mehr in seinem Leben Gefangener sein, und wenn ers’s bezahlt bekäme – lieber gleich auf einmal sterben! Na, nach Verlauf von drei Wochen war dann alles in bester Ordnung. Das Hemd war ebenfalls in einer Pastete hineingeschmuggelt worden, und wenn nun des Nachts Jim von einer Ratte gebissen wurde, benutzte er die Blutstropfen, um geschwind etwas in sein Tagebuch zu kritzeln, solange die Tinte noch frisch war. Die Federn waren gemacht, die Inschriften und was dazugehörte waren auf den Mühlstein geritzt, der Bettpfosten war durchsägt und das Sägmehl von uns aufgeleckt worden, wogegen unser Magen erstaunlich rebellierte, so daß wir meinten, alle sterben zu müssen, aber es ging noch gnädig vorüber. Wahrhaftig, das war das unverdaulichste Sägmehl, was mir je vorgekommen, und Tom meinte das auch. Also, wie gesagt, endlich war alles fertig; die Arbeit und Plage hatten uns freilich ziemlich mitgenommen, namentlich Jim, aber das tat nichts, wir waren stolz darauf! Onkel Silas hatte ein paarmal nach New Orleans geschrieben wegen des durchgebrannten Niggers, aber natürlich keine Antwort erhalten. Nun sprach er davon, Jim in den Zeitungen von St. Louis und New Orleans auszuschreiben. Als er die von St. Louis nannte, lief mir ein kalter Schauder über den Leib, und selbst Tom gab zu, daß nun keine Zeit mehr zu verlieren sei. Jetzt müssen die onnaniemen Briefe dran, sagte er.
»Die was?« fragte ich.
»Die onnaniemen Briefe!« wiederholte er, »das sind Warnungen an die Leute, daß etwas los sei. Einmal wird’s so gemacht und einmal anders. Aber einer muß immer herumspionieren und den Befehlshaber des Schlosses von allem in Kenntnis setzen. Als Ludwig XIV. von den Twillerieen durchbrennen wollte, hat’s ein Dienstmädchen besorgt. So kann man’s auch machen, aber ein onnaniemer Brief ist ebensogut. Wir können ja beides benützen. Und gewöhnlich wechselt die Mutter des Gefangenen die Kleider mit ihm und bleibt im Kerker zurück, während er wegschleicht. Das müssen wir auch tun!«
»Aber, Tom, das ist doch Unsinn; wozu sollen wir die Leute warnen, daß etwas los ist? Das ist doch ihre Sache; sie sollen selber aufpassen!«
»Das ist freilich wahr, aber ich traue denen hier nicht, die sind zu dickfellig, haben uns ja von Anfang an alles allein tun lassen. Die sind so blind und vertrauensselig, daß man ihnen erst alles unter die Nase reiben muß. Wenn wir sie also nicht warnen, lassen sie uns ganz ruhig und still abziehen, und all unsre viele Last und Arbeit ist umsonst – rein umsonst. Jims Befreiung geht dann ohne Sang und Klang vor sich, wir könnten ihm einfach ebensogut die Tür aufschließen und ihn bei hellem Tage bitten, doch gefälligst herauszuspazieren. Kein Hahn krähte danach!«
»Na, mir wär’s schon lieber, wir kämen still durch, aber…«
»Natürlich!« wirft er verächtlich hin.
»Aber«, fahr‘ ich fort, ohne mich unterbrechen zu lassen, »ich will nichts gesagt haben; was dir recht ist, ist mir auch recht. Wie machen wir’s also mit dem Dienstmädchen, das uns verraten soll?«
»Das mußt du sein! Du schleichst dich in der Nacht hin und nimmst dir das Kleid von dem gelben, halbwüchsigen Ding in der Küche!«
»Na, aber Tom! Das wird einen ordentlichen Lärm am andern Morgen geben, denn die hat wahrscheinlich nicht mehr als eins!«
»Ich weiß, ich weiß. Aber du brauchst ja auch nicht länger als fünfzehn Minuten, um den onnaniemen Brief unter der großen Haustür durchzuschieben!« – »Gut, ich bin bereit, aber ich könnt’s gerad‘ so gut in meinen eignen Kleidern tun!«
»Würdest du dann vielleicht wie ein Dienstmädchen aussehen, Huck Finn, he?«
»Nein! Aber ’s ist ja auch keiner da, der mich sieht, dann ist’s doch gleich, ob ich so oder so aussehe.«
»Das hat gar nichts damit zu tun, Huck, gar nichts. Für uns handelt sich’s nur darum, unsere Schuldigkeit zu tun, ob’s einer sieht oder nicht. Hast du denn gar keine Moral in dir?«
»Schon gut, schon gut, ich sag‘ ja nichts weiter. Also, ich bin das Dienstmädchen – wer ist Jims Mutter?«
»Die will ich sein. Ich leih‘ mir eins von Tante Sallys Kleidern, das soll ’ne flotte Mutter werden!«
»Aber, dann mußt du ja in der Hütte bleiben, wenn Jim und ich durchgehen!«
»Lang aber nicht, das sag‘ ich dir. Ich stopfe Jims Kleider mit Stroh aus und leg‘ die Puppe aufs Bett, die mag dann die Mutter darstellen, und Jim zieht Tante Sallys Kleider von mir an, und wir entweichen alle zusammen. Wenn nämlich irgendein Gefangener von Rang und Stand durchbrennt, ein König zum Beispiel, so nennt man es eine Entweichung.«
Tom schrieb also den onnaniemen Brief, und ich krippste das Kleid von dem kleinen Küchenmädel in der folgenden Nacht, warf’s über und schob den Brief unter die Tür, ganz wie mich’s Tom geheißen hatte.
Im Brief stand:
»Hütet euch! Unheil naht! Seid auf der Wacht!
Ein unbekannter Freund.«
In der nächsten Nacht befestigten wir eine von Tom mit Blut verfertigte Zeichnung, die einen Totenschädel über gekreuzten Gebeinen darstellte, an der Haupttüre und in der darauffolgenden Nacht die eines Sarges an der Hintertür.
Nie sah ich eine Familie in solcher Aufregung. Sie hätten nicht mehr in Angst sein können, wenn das ganze Haus voller Geister gewesen wäre und hinter jedem Schrank, hinter jeder Tür ein Totengerippe geklappert und geisterhaftes Seufzen und Stöhnen beständig durch die Luft gezittert hätte. Wurde eine Tür irgendwo zugeschlagen, so fuhr Tante Sally mit einem Wehruf in die Höhe, fiel etwas zu Boden, sprang sie wie von einer Feder geschnellt auf und schrie: »Herrje!« Kam man ihr zufällig nahe, ohne daß sie’s merkte, geschah dasselbe. Nie konnte sie ruhig bleiben, immer fuhr der Kopf nach hinten, um zu sehen, ob da alles in Ordnung sei. So drehte sie sich beständig um sich selbst und stieß ihr »Herrje« heraus, und ehe sie halbwegs mit einer Drehung fertig war, so fuhr sie schon wie besessen nach der anderen Seite herum. Sie fürchtete sich, zu Bett zu gehen, und hatte Angst aufzubleiben. Unser Schreckschuß hatte also seine Wirkung getan, Tom meinte, er habe noch nie eine befriedigendere erzielt. Er sagte, man sähe daraus, wie richtig wir gehandelt hatten.
»Jetzt zur letzten Bombe!« rief er. Die Zeit zum Haupt- und Schlußakt sei gekommen! Vor Anbruch des nächsten Tages hatten wir also einen zweiten Brief fertig und überlegten, was wir damit beginnen sollten, denn wir hatten sie beim Abendessen sagen hören, daß diese Nacht ein Nigger die Türen bewachen müsse. Tom ließ sich dann am Blitzableiter hinunter und spähte umher, und da er den Nigger an der Hintertüre schlafend fand, steckte er ihm den Brief hinten in seinen Halskragen.
Der Brief lautete:
»Verratet mich nicht, ich möchte Euer Freund sein! Eine mordgierige Räuberbande drüben aus den Indianergebieten plant diese Nacht, Euren gefangenen Nigger zu befreien, und sie haben versucht, Euch einzuschüchtern, damit sich niemand aus dem Hause wagt und ihnen so freie Hand bleibt. Ich selbst gehöre der Bande an, mein edler Sinn aber erlaubt mir nicht, dieser Schandtat beizuwohnen, ohne wenigstens den Versuch einer Warnung zu wagen. Mein heißester Wunsch ist, die Räuber und Mörder zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. So verrat‘ ich denn den höllischen Plan! Sie werden von Norden her einbrechen und mit einem falschen Schlüssel die Tür der Hütte öffnen, um den Nigger zu befreien. Ich selbst bin als Wache ausgestellt und soll auf einem Horn blasen, sobald Gefahr im Anzug ist. Statt dessen werde ich wie ein Schaf blöken, sobald sie in die Hütte eindringen. Dann – während sie die Ketten lösen – könnt Ihr die Türe schließen und sie nach Belieben töten. Tut genau, wie ich Euch sage, sonst riechen sie Lunte, und alles ist Essig! Belohnung verlange ich keine; das Bewußtsein, meine Pflicht getan zu haben, genügt mir.
Ein unbekannter Freund.«