Tom Sawyer verwundet – Die Erzählung des Doktors – Jim profitiert etwas – Tom beichtet – Tante Polly kommt – »Briefe heraus!«

33. Kapitel

Doch vor dem Frühstück war Onkel Silas wieder in der Stadt gewesen, hatte aber natürlich wieder keine Spur von Tom entdecken können, und nun saßen die beiden am Tisch, ganz stumm und betrübt, sie schienen tief in Gedanken versunken zu sein, und keines sagte ein Wort, und der Kaffee wurde kalt, und essen konnten sie auch nichts.

Sagt da plötzlich der Alte: »Hab‘ ich dir den Brief gegeben, Sally?«

»Welchen Brief?«

»Den, den ich gestern auf der Post bekommen habe.«

»Nein, einen Brief hast du mir nicht gegeben!«

»Na, dann muß ich’s vergessen haben!«

Er kramte in allen Taschen, stand auf und holte den Brief irgendwo her, wo er ihn hingelegt hatte, und gab ihn ihr.

Sagt sie: »Ach, der ist ja von Petersburg, Das amerikanische Petersburg am Mississippi. der ist von der Schwester!«

Ich denk‘, nun wird dir wieder einmal ein kleiner Spaziergang guttun, konnte mich aber nicht vom Fleck rühren, so war mir der Schreck in alle Glieder gefahren. Ehe sie den Brief aber ganz geöffnet hatte, ließ sie ihn fallen und rannte der Türe zu – sie hatte durchs Fenster etwas gesehen. Ich aber auch. Dort wurde Tom Sawyer auf einer Matratze dahergeschleppt, und dahinter kamen der Doktor und dann Jim in ihrem Kattunkleid, mit den Händen auf den Rücken gebunden, und sonst noch eine Masse Leute. Ich stürzte erst auf den Brief los und warf ihn hinter ein Möbelstück. Tante Sally rannte indessen auf die Matratze los, stürzte sich über Tom und schrie und jammerte: »Ach Gott, er ist tot, er ist tot; gewiß ist er tot!«

Tom drehte jetzt den Kopf und murmelte etwas Unzusammenhängendes; man sah, er hatte Fieber, und da schlug sie die Hände überm Kopf zusammen und jubelte: »Er lebt, Gott sei Dank, er lebt! Weiter brauch‘ ich nichts zu wissen!« Und sie küßte Tom ganz flüchtig und rannte dann ins Haus zurück, um sein Bett zurechtzumachen; bei jedem Schritt, den sie vorwärts stürzte, flogen ihr die Befehle nur so nach rechts und links von den Lippen, und Nigger und Dienstleute und alles rannte hinter ihr drein wie die wilde Jagd.

Ich schlich hinter den Männern her, um zu sehen, was sie mit Jim anfangen würden, und der Doktor und Onkel Silas folgten Tom ins Haus. Die Männer schienen sehr aufgebracht, und einige sprachen sogar davon, Jim zu töten, ihn baumeln zu lassen, all den anderen Niggern zum warnenden Exempel, damit die sich’s nie einfallen ließen durchzubrennen, wie’s Jim getan, und dabei alles so durcheinanderzubringen und eine ganz ehrbare Familie wochenlang in Angst und Aufregung zu versetzen. Andere rieten davon ab und sagten: »Tut’s ja nicht, es ist ja nicht unser Nigger, und wenn sein Herr einmal auftaucht, der läßt ihn sich teuer bezahlen.« Das kühlte die Hitzköpfe ein wenig ab, denn die, die am schnellsten dabei sind, einen Nigger zu henken, wollen am wenigsten davon wissen, dafür bezahlen zu müssen, wenn einmal die Hitze verflogen ist.

Aber fluchen taten sie auf Jim, und immer ab und zu bekam er einen ordentlichen Puff an den Schädel oder einen Tritt oder sonst irgendeine liebenswürdige Aufmerksamkeit. Der aber sagte kein Wort, tat auch gar nicht, als ob er mich kennte, und sie schleppten ihn in seine alte Hütte, zogen ihm seine eigenen Kleider wieder an, brachten die Ketten und fesselten ihn, diesmal nicht an den Bettpfosten, sondern an einen schweren Block, der in den Boden der Hütte eingetrieben wurde, und banden seine Hände und beide Beine und sagten, er solle von jetzt an nichts bekommen als Brot und Wasser, bis sein Herr käme oder er versteigert werden würde, wenn der sich nicht zu rechter Zeit einstelle, und füllten unser Loch auf und meinten, ein paar Männer müßten nun immer nachts bei der Hütte Wache stehen, und bei Tage müsse eine Bulldogge an der Türe angebunden werden.

Als sie endlich fertig geworden waren, nahmen sie mit ihren Fußspitzen der Reihe nach Abschied von Jim; auf einmal erscheint der alte Doktor und sagt: »Hört, Leute, behandelt den Kerl nicht schlechter als nötig ist, denn es ist kein schlimmer und kein böser Nigger. Als ich dort aufs Floß kam und den Jungen fand und sah, daß ich ohne Hilfe die Kugel nicht herausbringen würde, und doch keine Hilfe nah und fern zu entdecken war, und ich den Burschen auch nicht allein lassen konnte, um zu sehen, ob ich jemanden auftreiben könnte, denn er wurde schlimmer und schlimmer und fing schließlich an zu toben und wollte mich nicht heranlassen und sagte, wenn ich mit Kreide ein Zeichen ans Floß machte, dann würde er mich töten und dergleichen Unsinn mehr; als ich mir da gar nicht mehr zu helfen wußte und schließlich laut vor mich hinspreche: ›nun muß ich Hilfe haben, koste es, was es wolle‹, da, Leute, da, sag‘ ich euch – stand plötzlich der Nigger dort vor mir, wie aus dem Boden gezaubert, und er hat mir geholfen, ohne viel zu reden, und zwar wacker geholfen! Natürlich wußte ich gleich, daß er irgendwo durchgebrannt sein müsse. Da saß ich nun! Was blieb mir übrig, als ruhig auszuharren den ganzen Tag über und die Nacht dazu. Das war eine Klemme, sag‘ ich euch! In der Stadt warteten meine Patienten auf mich, was sollten die denken, und doch mußte ich bleiben, denn ich wagte nicht wegzugehen, aus Furcht, der Nigger könnte ausreißen und ich bekäme hinterher Vorwürfe. Ein Schiff, das ich hätte anrufen können, wollte auch nicht in die Nähe kommen, und so ließ ich es denn bleiben und immer bleiben, bis zum Tagesanbruch, diesem Morgen. Nie aber habe ich einen Nigger gesehen, der treuer und besser gepflegt hätte als der dort, und doch setzte er dabei seine Freiheit aufs Spiel und schien so müde, so todmüde; er muß furchtbar abgearbeitet worden sein in den letzten Wochen. 1 Er war mehr als tausend Dollar wert und eine gute Behandlung obendrein. Ich hatte dort alles, was ich brauchte, und der Junge auch, besser vielleicht als zu Hause, denn es war so ruhig und still, wie gemacht für einen Kranken. Aber der Boden brannte mir doch unter den Füßen bei meiner Verantwortung für die beiden, und wochenlang konnte ich nicht bleiben; na, da kamen uns dann endlich ein paar Männer in einem Boot nahe genug, um sie anzurufen. Zum Glück saß der Nigger gerade am Steuer, mit dem Kopf auf den Knien, und war fest, fest eingeschlafen. So winkte ich ihnen denn, leise zu sein, und sie fielen leise über ihn her und banden ihn, ehe er noch recht die Augen offen hatte, und so hatten wir gar keine Last mit ihm. Und da der Junge gleichfalls schlief, machten wir das Floß leise los, ruderten es dem Ufer zu und legten’s dort fest, ohne daß einer von den beiden sich nur rührte, der Nigger hatte sich nicht gemuckst, keinen Laut von sich gegeben von Anfang an. Das ist kein schlimmer Kerl, meine Herren, glauben Sie mir’s, ich hab’s erprobt!«

»Das lautet alles sehr gut und schön, Doktor, das muß ich sagen!« meinte einer.

Die andern schienen auch ein wenig besänftigt, und ich war dem alten Mann herzlich dankbar für die Wohltat, die er Jim mit der Erzählung erwiesen, und ich freute mich, daß ich den armen Kerl von Anfang an richtig beurteilt hatte; ich wußte, er hatte ein gutes, ein weißes Herz in seiner schwarzen Brust. Und Jim profitierte auch davon, denn alle stimmten überein, er habe sich gut benommen und brav, und verdiene, daß man ihn drum lobe und belohne. Jeder versprach aufrichtig und von Herzen, dem armen Kerl keine Püffe mehr zu geben.

Das war aber vorerst aber auch alles. Ich hatte gehofft, sie würden ihm eine oder zwei von seinen verdammt schweren Ketten abnehmen oder ihm Fleisch und Gemüse zu seinem Brot und Wasser erlauben; daran aber schienen sie nicht zu denken, und ich wollte mich lieber nicht dreinmischen, nahm mir aber fest vor, Tante Sally bei nächster Gelegenheit von des Doktors Erzählung zu sagen. Bei nächster Gelegenheit, das heißt, wenn ich erst die bösen Klippen umschifft hätte, die in meinem Wege lagen. Mit den Klippen meine ich nämlich die Aufklärungen, die ich Tante Sally zu geben haben würde über Toms Wunde.

Zeit zum Besinnen hierüber hatte ich genug, Tante wich nicht vom Krankenbett, nicht bei Tag und nicht bei Nacht, und ich hielt mich in sicherer Entfernung, und sooft ich Onkel Silas irgendwo auftauchen sah, wich ich ihm schleunigst aus.

Am andern Morgen hörte ich, Tom gehe es viel besser und Tante habe sich ein wenig hingelegt. Ich schlüpf‘ also in das Krankenzimmer und hoffte, ihn wach zu treffen und mit ihm etwas zu ersinnen, das alle kommenden Kreuz- und Querfragen aushielt. Er aber schlief, und zwar ganz friedlich; sein Gesicht war blaß, nicht mehr so glutrot wie am Tag zuvor, als er ankam. So setzte ich mich also hin und wollte warten, bis er wach würde. Nach vielleicht einer Viertelstunde glitt Tante Sally plötzlich leise wie ein Geist herein, und da saß ich wieder fest! Sie winkte mir, still zu sein, und setzte sich zu mir und begann zu flüstern und sagte, wie dankbar wir alle sein könnten, Sid gehe es so viel besser und er schlafe nun schon lange so ruhig und so friedlich und sehe dabei immer besser und immer wohler aus und es sei zehn gegen eins zu wetten, daß er bei Besinnung wäre, wenn er nun erwache.

Da saßen wir denn und warteten. Auf einmal schlug er die Augen auf und sah ganz klar und frei um sich und sagte: »Herrje, wie ist denn das, ich bin ja zu Hause? Wo ist denn das Floß?«

»Das ist alles in Ordnung«, sag‘ ich.

»Und Jim?« fragt er.

»Der auch«, sag‘ ich; aber ganz so keck, wie ich beabsichtigt hatte, kam’s doch nicht heraus.

Er merkte das aber gar nicht, sondern rief ganz vergnügt: »Na, dann ist alles gut, herrlich! Da ist uns ja allen geholfen! Hast du’s der Tante schon erzählt?«

Eben wollte ich auch dazu ›ja‹ sagen, als die sich selbst ins Mittel legte: »Erzählt, Sid – was?«

»Na, alles, Tantchen, wie wir die ganze Geschichte fertig gekriegt haben.«

»Welche Geschichte?«

»Na, die Geschichte, wie wir den Nigger befreit haben; ich und – Tom!«

»Herr des Himmels! Den Nigger befr… Was schwatzt der Junge da? Großer Gott, er phantasiert wieder!«

»O nein, ich phantasiere gar nicht, ich weiß recht gut, was ich sage Tante. Wir haben ihn befreit – ich und Tom. Das wollten wir tun von Anfang an und wir haben’s getan! Und haben’s gut gemacht, elegant gemacht, das muß jeder zugeben!« Und damit war er ins richtige Fahrwasser geraten, und sie probierte nicht mehr, ihn zu unterbrechen, sondern ließ ihn schwatzen und schwatzen. Sie saß da und starrte ihn nur an, und Mund und Augen wurden bei ihr immer größer, und ich ließ dem Unglück seinen Lauf, denn hier war nichts mehr zu machen. »Ja, Tantchen, das war eine Arbeit, da gab’s zu tun, Nacht für Nacht, Stunde um Stunde, alle die Wochen, während ihr ruhig im Bett lagt und schlieft. Und wir mußten die Kerzen stehlen, siehst du, und die Leuchter und das Leintuch und das Hemd und dein Kleid und Löffel und Zinnteller und Messer und die Pfanne, den Mühlstein und Mehl und sonst noch eine ganze Menge; du kannst dir gar nicht denken, was wir für Plage hatten mit den Sägen und den Federn und den Inschriften und all dem und noch viel weniger, was wir für einen Spaß dabei hatten. Und dann waren die onnaniemen Briefe zu schreiben und die Särge und Totenköpfe zu malen und das Loch in der Hütte zu graben und die Strickleiter zu machen und in die Pastete zu backen, und dann die Löffel, die wir in deine Schürzentasche steckten, und noch vieles andere mehr.«

»Allmächtiger!«

»… und die Ratten für die Hütte und die Schlangen und all das Zeug herbeizuschaffen für Jim zur Gesellschaft! Und dann hast du den Tom mit der Butter erwischt und ihn so lang aufgehalten, daß beinahe die ganze Geschichte verunglückt wäre, denn die Männer kamen, noch ehe wir weg waren, und wir mußten rennen, und sie hörten uns und schossen, und ich kriegte mein Teil ab, und wir ließen sie dann an uns vorbei, und die Hunde wollten auch nichts weiter von uns wissen, sondern liefen dem Geschrei nach, und wir schlichen zum Boot und ruderten zum Floß, das wir zwischendurch gemacht hatten, und waren dann in Sicherheit und Jim frei, und das haben wir alles allein fertig gebracht, und es war ein kapitaler Spaß, Tantchen!«

»Na, so was hab‘ ich in meinem Leben noch nicht gehört! Also ihr wart’s, ihr Bengel, ihr habt diese heillose Wirtschaft gemacht, ihr seid es gewesen, ihr habt uns alle beinahe um den Verstand gebracht und fast zu Tod erschreckt! Na, da sollt aber doch! Ich hätte gute Lust, es euch einmal gleich tüchtig zu zeigen, was ich davon denke! Ich, die ich Abend für Abend – na, werd‘ du nur erst einmal wieder gesund, du Racker, dann will ich euch das Leder so gerben und euch den Teufel austreiben, daß euch Hören und Sehen vergeht und ihr den Himmel für eine Baßgeige anseht, ihr, ihr –«

Aber Tom war so stolz auf seine Heldentaten und so glücklich, daß er nicht schweigen konnte, und er jubilierte und prahlte weiter, während sie dabei Feuer und Flamme spie. Während so eins das andre immer zu überbieten suchte, saß ich da und hörte das Ding mit an. Plötzlich sagt sie: »Na, freu dich jetzt noch drüber, so lang du kannst, Schlingel, aber das sag‘ ich dir, erwisch‘ ich euch nachher wieder drüben bei dem Kerl…«

»Bei welchem Kerl?« fragt Tom und sein Lächeln verschwindet.

»Bei welchem Kerl? – Fragt der Bursche auch noch! Bei dem Nigger natürlich! Bei wem denn sonst?«

Tom sieht mich sehr ernst an und fragt: »Tom, hast du mir nicht eben gesagt, es sei alles in Ordnung? Ist er denn nicht frei?«

»Der?« sagt Tante Sally, »der Nigger? Den haben sie glücklich wieder hinter Schloß und Riegel in seiner Hütte bei Brot und Wasser, und man hat ihn angekettet, bis er reklamiert oder verkauft wird!«

Tom fährt im Bett in die Höhe, kerzengerade, seine Augen sprühen und seine Nasenflügel beben nur so hin und her, und er schreit mich an: »Dazu haben sie kein Recht! Dazu hat niemand das Recht, hörst du, niemand! Eil dich – renn – verlier‘ keine Sekunde! Laß ihn frei! Er ist kein Sklave, er ist so frei wie irgendeiner von uns! Geschwind – vorwärts!«

»Was in aller Welt meint der Junge?«

»Ich meine jedes Wort grad‘ so, wie ich’s sage, Tante, und wenn nicht gleich eins von euch geht, geh‘ ich selber. Ich hab‘ den armen Kerl mein ganzes Leben lang gekannt und ebenso Tom – gelt, Tom! Miss Watson, seine Herrin, ist vor zwei Monaten gestorben; es tat ihr so leid, daß sie ihn früher einmal hatte verkaufen wollen. Um das wieder gutzumachen, setzte sie ihn frei – in ihrem Testament!«

»Na, aber dann – das begreif einer! Warum hast du ihn denn befreien wollen, wenn er doch schon frei war?«

»Das ist wieder einmal eine Frage, so recht wie von einem Frauenzimmer, das muß ich sagen. Warum? Ei, ich wollte ein Abenteuer haben, so ein echtes, gerechtes Abenteuer! Was? Ich wäre fußtief im Blut gewatet, wenn – Herr des Himmels, Tante Polly!!«

Und da stand sie leibhaftig, mitten unter der Türe, und sah so strahlend und glücklich aus wie ein zuckriger Engel.

Tante Sally war mit einem Satz an ihrem Halse und riß ihr beinahe den Kopf ab vor lauter Liebe und Umarmen und lachte und weinte und wußte nicht, was sie tun sollte. Inzwischen hatte ich mir ein sicheres Plätzchen unter dem Bett ausgesucht, denn die Dinge schienen mir allmählich kritisch für uns beide zu werden.

Ich schielte unter dem Bett vor.

Nach einer kleinen Weile schüttelte Toms Tante ihre Schwester ab, stellte sich vor Tom hin und schaute ihn über ihre Brille hinweg an, als wolle sie ihn durchbohren.

Endlich beginnt sie: »Ja, du hast recht, wenn du den Kopf zur Wand drehst, Tom, ich tät’s auch an deiner Stelle!«

»Ach, du lieber Himmel«, fällt Tante Sally kläglich ein, »ist der Junge denn so verändert? Das ist ja Tom gar nicht, das ist Sid! Tom ist, Tom ist – ja, wo ist denn Tom? Der war ja eben noch da!«

»Du meinst wohl, wo ist Huck Finn? Das meinst du! Ich hab‘ nicht umsonst jahrelang so ’nen Bengel, wie meinen Tom, großgezogen, um nicht zu wissen, daß das Tom ist. Das war‘ mir noch schöner! Nur hervor unter dem Bett da, Huck Finn!«

Ich kroch vor, aber wohl war mir nicht dabei.

Tante Sally sah so verwirrt und so verständnislos und wie geistesgestört drein, wie ich nie wieder jemand gesehen habe, ausgenommen Onkel Silas, als sie ihm später die Geschichte erzählte. Es machte ihn wie betrunken, denn er wußte den ganzen Tag über kein Ding vom andern zu unterscheiden und lief umher wie im Traum, und am Abend ließ er eine Predigt los, die ihm einen großen Ruf machte in der Gegend, denn der Älteste und Klügste wäre nicht imstande gewesen, sie zu verstehen. Toms Tante Polly aber erzählte nun alles, wer und was ich sei, und ich mußte dann beichten, wie ich in die Klemme geraten sei, daß ich mir nicht anders zu helfen gewußt hätte, als ›ja‹ zu sagen, als mich Mrs. Phelps als Tom Sawyer bewillkommnete. Hier unterbrach mich Mrs. Phelps und meinte: »Sag du nur immer Tante Sally, ich bin’s nun schon gewohnt, und es macht mir weiter nichts aus.« – Daß mich also, erzählte ich weiter, Tante Sally als Tom Sawyer begrüßte und ich mich nicht dagegen wehren konnte, denn ich fand keinen Ausweg und wußte auch, daß Tom selbst nichts dagegen haben würde, im Gegenteil, denn ein solches Geheimnis wäre ihm gerade recht, er würde sich nur drüber freuen und ein Abenteuer draus machen, wie’s ja auch dann geschehen sei, denn er ging gleich drauf ein und spielte sich als Sid auf und machte mir alles so leicht und bequem, wie er nur konnte.

Seine Tante Polly sagte, mit Miss Watson und ihrem Testament habe Tom ganz recht, die habe den Jim freigelassen. So war’s denn wahrhaftig wahr: Tom Sawyer hatte sich und uns allen die Mühe und Not gemacht, nur um einen alten Nigger freizumachen – der schon frei war! Und nun verstand ich auch erst, wie sich einer von Toms Erziehung dazu hergeben konnte, einem durchgebrannten Nigger weiterzuhelfen. Bis dahin war mir das immer unfaßlich geblieben.

Tante Polly erzählte dann weiter, als sie Tante Sallys Brief bekommen habe, worin es hieß, daß Tom und Sid angekommen seien, habe sie sofort Unrat gewittert und zu sich selbst gesagt: »Na, da sieh mal einer«, habe sie gesagt, »ich hätt’s mir denken können, als ich den Burschen alleine fortließ. Was bleibt mir nun übrig, als selbst hinter dem Bürschchen herzureisen, den ganzen weiten Weg, um herauszukriegen, was diesmal wieder los ist, denn aus dir, Sally, war ja gar nicht klug zu werden!«

»Was? – Ei, du hast mich ja nie darüber gefragt!«

»Na, so was! Zweimal hab‘ ich dir geschrieben und gefragt, was du mit dem Sid, der auch zu Besuch gekommen sein soll, eigentlich meinst.«

»Geschrieben? Zweimal? Ich hab‘ nie auch nur eine Zeile gekriegt!«

Ohne ein Wort zu sagen, wendet sich Tante Polly langsam zu Tom und schaut diesen fest an. – »Na, Tom!«

»W-was?« fragt der, unwillig und verdrießlich.

»Komm du mir nicht mit ›was?‹, du Racker, wart! Heraus die Briefe!« – »Welche Briefe?«

»Die Briefe! Wart, ich will dir …!«

»Sie sind im Koffer! Dort! Da und ganz unversehrt, grad‘ wie sie waren, als ich sie von der Post holte. Ich hab‘ nicht einmal hineingesehen. Dachte mir, sie hätten am Ende keine Eile und könnten hier nur Unheil stiften, und da hab‘ ich sie…«

»Na, wenn dir nicht eine tüchtige Tracht Prügel gehört, so weiß ich nicht, wem sonst. Dann hab‘ ich noch einmal geschrieben, um zu sagen, daß ich kommen wolle, und der Brief wird auch…«

»Mit dem ist alles in Ordnung«, sagt Tante Sally, »der ist gestern gekommen, den hab‘ ich!«

Gern hätt‘ ich nun zwei Dollar gewettet, daß dem nicht so sei, denn ich wußte das besser, aber ich dachte, es ist doch klüger, du hältst den Mund, und tat es auch!

  1. An dieser Stelle fehlen einige Worte im Buch. Sinngemäß ergänzt. Re.