Neuntes Kapitel

Einer der beiden Gefangenen, die eben eingetreten waren, war ein noch junger, kleiner und trockener Mann mit kurzem Pelz und hohen Stiefeln. Er ging mit leichtem und raschem Schritte, trug in jeder Hand eine große Kanne mit kochendem Wasser und hielt unter jedem Arm ein in eine Serviette gewickeltes Brot.

»Ah, da ist ja auch wieder unser Fürst,« sagte er und setzte die Theekannen zu den Tassen, die die Rantzeff sorgfältig ausgewaschen hatte. »Wir haben ganz großartige Sachen gekauft,« fuhr er fort, nachdem er seinen Pelz ausgezogen und über die Köpfe der andern hinweg in einen Winkel des Zimmers geworfen hatte, in welchem sein Bett stand, »Markel bringt euch Milch und Eier mit. Ein wahres Festmahl, was! Und Emilja wird uns das alles servieren und es mit ihrer ästhetischen Sauberkeit noch verschönen,« fügte er mit einem an die Rantzeff gerichteten Lächeln hinzu.

Die ganze äußere Erscheinung dieses Mannes, seine Bewegungen, der Ton seiner Stimme, sein Blick, alles drückte bei ihm ein Gemisch von Mut und Fröhlichkeit aus. Dagegen hatte sein Gefährte ein düsteres und trauriges Aussehen. Auch er war ein Mann von kleiner Gestalt, doch knochig, mit einem grauen Gesicht und vorstehenden Kiefern. Er trug einen alten wattierten Mantel und Galoschen über den Stiefeln. Als er den Korb und den Topf abgesetzt, den er in der Hand hielt, begrüßte er Nechludoff sehr kühl mit einem Kopfnicken, indem er seine großen grünen Augen auf ihn richtete.

Diese beiden politischen Gefangenen stammten aus dem Volke. Der erste, ein gewisser Nabatoff, war ein Bauer; der andere, der Markel hieß, ein Fabrikarbeiter. Doch während ersterer seit fünf Jahren Revolutionär geworden war, war es Nabatoff schon fast seit seiner Kindheit. In der Schule seines Dorfes hatte er solche Anlagen gezeigt, daß man ihn aufs Gymnasium geschickt hatte; und auch hier hatte er wieder die ersten Plätze eingenommen. Er hatte es mit einer goldenen Medaille verlassen; doch anstatt dann die Universität zu besuchen, hatte er sich entschlossen, zum Volke zurückzukehren, denn er hielt es für seine Pflicht, das, was er gelernt, mit seinen Brüdern zu teilen. Er hatte sich in seinem Dorfe zum Schreiber ernennen lassen, hatte den Bauern allerlei Bücher geliehen oder ihnen vorgelesen, eine Art gegenseitiger Unterstützungskasse unter ihnen gegründet, und war bald verhaftet worden. Man hatte ihn, nachdem er acht Monate im Gefängnis gesessen, wieder freigelassen, doch von nun an hatte die Polizei ein Auge auf ihn. Kaum war er indessen in Freiheit gesetzt, als er in ein anderes Gouvernement gezogen war, wo er sich in einem Dorfe zum Schulmeister ernennen lassen und sein Apostolat von neuem begonnen hatte. Er wurde von neuem verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt; doch diese Strafe hatte ihn in seiner Ueberzeugung nur bestärkt.

Als er seine zweite Strafe verbüßt, war er in das Gouvernement Perm verschickt worden. Hier war er sieben Monate geblieben und war dann, weil er sich geweigert, dem neuen Zaren den Eid der Treue zu leisten, von neuem ins Gefängnis geworfen und zur Deportation nach dem Gouvernement Irkutsk, tief nach Sibirien, verurteilt worden. So hatte er die Hälfte seines Lebens in den Gefängnissen oder in der Verbannung zugebracht. Doch alle diese Prüfungen hatten ihm, anstatt ihn zu verbittern, mehr Lebenslust und Energie verliehen. Er war ein Mann von höchster Widerstandskraft, körperlich und moralisch durch und durch gesund. Wo er sich auch befand, stets war er gleich thätig, kraftvoll und heiter. Nie bereute er das Vergangene, nie suchte er die Zukunft vorherzusehen; alle Kräfte seines Verstandes, seiner Geschicklichkeit, seines politischen Sinnes wandte er im augenblicklichen Zeitpunkt an. Wenn er in Freiheit war, bemühte er sich, die Sache zu verfolgen, die er sich zum Ziele gesetzt, das heißt, die Bildung und Aufklärung der Bauern. Wurde ihm die Freiheit geraubt, so bemühte er sich, die Lebensbedingungen in den Grenzen der Möglichkeit, sowohl für sich wie für seine Umgebung zu verbessern.

Für andere zu leben war bei ihm übrigens eine natürliche Notwendigkeit. Da er für sich selbst kein Bedürfnis hatte, und das Essen ebenso gut wie den Schlaf entbehren konnte, so verwandte er instinktiv seine kräftige Bauernthätigkeit zum Wohle der andern. In allem war er ein richtiger Bauer geblieben; gewandt mit seinen Händen, leichtlebig, unermüdlich, rechtschaffen ohne Anstrengung, aufmerksam und bedacht auf die Gefühle und Gedanken eines jeden.

Seine alte Mutter, eine ungebildete und abergläubische Bäuerin, lebte noch; und jedesmal, wenn Nabatoff in Freiheit gesetzt wurde, besuchte er sie. Er half ihr in allen ihren häuslichen Sorgen, ging mit seinen früheren Mitschülern im Dorfe in die Schenke, begleitete sie auf die Felder, rauchte mit ihnen Cigaretten und schlug sich mit ihnen herum, um ihnen zu beweisen, welchen Schaden ihnen ihre Dummheit und ihre Schwäche verursachte.

Während er von ganzer Seele eine Revolution zum Nutzen des Volkes erträumte, wollte er doch nicht, daß diese Revolution das Volk in etwas anderes verwandele, als was es war, noch daß es seine Lebensbedingungen allzu stark verändere; würde sie Bauern zu Herren des Bodens machen und sie von den Gutsbesitzern und Beamten befreien, Die Revolution sollte – nach seiner Ansicht – und darin war er ganz anderer Ansicht als Nowodworoff – nicht vollständig mit der Vergangenheit brechen und die Sitten und Gewohnheiten von Grund auf erneuern, sondern nur den verehrungswürdigen und kostbaren Schatz der nationalen Tradition zur besseren Verteilung bringen.

Er war sogar in seinem Verhalten der Religion gegenüber Bauer. Nie kümmerte er sich um das metaphysische Problem, die ersten Grundlagen, das künftige Leben, Er wiederholte gern, Gott wäre für ihn, wie für Laplace, eine Hypothese, deren Notwendigkeit er nicht einsehe. Es kümmerte ihn wenig, wie das Weltall begonnen hatte; und der Darwinismus, den die meisten seiner Gefährten sehr ernsthaft auffaßten, war in seinen Augen nur eine ebenso müßige Spielerei wie die Erschaffung der Welt in sechs Tagen.

Was das künftige Leben betraf, so dachte er nie daran; doch im Grunde seines Herzens glaubte er, er trage einen Glauben in sich, den er von seinen Vätern ererbt, einen allen Menschen, die in der Berührung mit der Erde leben, gemeinsamen Glauben. Ebenso glaubte er, daß in der Tier- und Pflanzenwelt nichts umkommt und alles sich umwandelt, ebenso daß der Mensch nicht umkommt; er wechsle nur das Leben. Er glaubte das, und deshalb betrachtete er den Tod ohne Furcht oder Zorn. Doch er dachte nicht gern über diese Glaubensanschauung nach, und noch weniger sprach er gern darüber. Nur die Arbeiter waren ihm lieb, und stets beschäftigte er sich mit praktischen Fragen und bemühte sich, seine Gefährten dazu ebenfalls zu veranlassen.

Ganz anders geartet war sein Gefährte, der Arbeiter Markel. Dieser war mit fünfzehn Jahren in eine Fabrik eingetreten, und im Alter von fünfzehn Jahren hatte er zu rauchen und zu trinken angefangen, um das Gefühl der Demütigung, das in ihm lebte, zu ersticken. Dieses Gefühl war an einem Weihnachtsabend in ihm erwacht, als die Frau des Fabrikbesitzers ihn zu einem Feste eingeladen, das sie für die Kinder der Arbeiter veranstaltet hatte. Markel und seine Kameraden hatten als Geschenk, der eine eine Pfeife, der andere einen Apfel, der dritte eine vergoldete Nuß bekommen, während man den Kindern des Fabrikbesitzers wunderbares Spielzeug geschenkt hatte, das für jeden wenigstens fünfzig Rubel gekostet hatte.

Trotzdem hatte Markel noch zwanzig Jahre lang das gewöhnliche Leben des Arbeiters weitergeführt. Er zählte fünfunddreißig Jahre, als er mit einer revolutionären Studentin Bekanntschaft angeknüpft, die Arbeiterin geworden war, um Propaganda zu treiben. Diese junge Person hatte ihm Broschüren und Bücher geliehen, mit ihm zu diskutieren angefangen und ihm über seine Lage, die Ursachen dieser Lage und die Mittel, sie zu verbessern, die Augen geöffnet.

Als Markel die Möglichkeit gesehen hatte, sich und die andern von der grausamen Bedrückung, unter der er seit seiner Kindheit litt, zu befreien, war ihm die Ungerechtigkeit dieser Bedrückung noch klarer vor Augen getreten, und seinem Wunsch nach Befreiung hatte sich ein tiefer Wunsch nach Rache gegen diejenigen, die ihn ungerechterweise unterdrückt hatten, zugesellt.

Die Möglichkeit der Befreiung für sich selbst und die andern käme von der Wissenschaft – so hatte man ihm versichert, und Markel hatte sich mit Leidenschaft darauf geworfen, Wissen zu erwerben. Hatte ihm die Wissenschaft nicht schon die Ungerechtigkeit der Lage, in der er sich befand, vor Augen geführt? Offenbar konnte nur sie dazu beitragen dieser Ungerechtigkeit ein Ende zu bereiten. Und außerdem hatte die Wissenschaft in seinen Augen den Vorteil, ihn über die andern Menschen zu erheben, was stets sein geheimer Ehrgeiz gewesen war. Deshalb hatte er zu trinken und zu rauchen aufgehört, um alle seine freien Augenblicke dem Studium zu widmen.

Die Revolutionärin fuhr fort, mit ihm zu korrespondieren, und bewunderte mehr und mehr den erstaunlichen Eifer, mit dem er sich die verschiedenartigsten Kenntnisse zu eigen machte. Thatsächlich hatte Markel in kaum zwei Jahren Geometrie, Algebra, Geschichte gelernt, und alle möglichen kritischen und philosophischen Werke gelesen und vor allem die ganze moderne socialistische Litteratur in sich aufgenommen.

Dann war die Revolutionärin verhaftet worden; man hatte Briefe von Markel bei ihr gefunden, und dieser war ebenfalls verhaftet worden. In dem Gouvernement Wologda, wohin man ihn verschickt, hatte er die Bekanntschaft Nowodworoffs gemacht, hatte wieder eine Menge Bücher gelesen, eine Menge Dinge gelernt, die er nach und nach vergessen, und war in seinem Socialismus immer eifriger geworden. Als man ihm nach einigen Monaten erlaubte, in seine Heimat zurückzukehren, hatte er sich einen Streik in den Kopf gesetzt, der zum Brande der Fabrik und zur Ermordung des Direktors geführt hatte. Von neuem hatte man ihn verhaftet, und jetzt zog er, für den Rest seines Lebens zur Verschickung verurteilt, nach Sibirien. In Sachen der Religion zeigte er sich ebenso radikal, wie in Sachen der Wirtschaftspolitik. Da er von der Falschheit der Glaubensanschauungen, in denen er erzogen war, überzeugt war und sich davon freigemacht hatte, zuerst mit Furcht, dann mit Begeisterung, so empfand er gleichsam ein Verlangen, sich an allen denen zu rächen, die ihn im Irrtum erhalten hatten. Er sprach stets mit Haß von den Popen und verspottete die religiösen Dogmen auf das bitterste.

Er hatte die Gewohnheiten eines Asketen; und wie alle, die seit ihrer Kindheit zur Arbeit herangezogen werden, war er bei körperlichen Anstrengungen gewandt und unermüdlich. Noch im Gegensatz zu Nabatoff verachtete er die Anstrengungen und die Handarbeit unter allen Formen. Im Rasthause wie im Gefängnisse suchte er sich möglichst viele freie Zeit zu schaffen, um sich weiter zu unterrichten, was ihm stets mehr als die einzige ehrenhafte und nützliche Beschäftigung erschien. Er war im Begriff, in diesem Augenblick den ersten Band des Marxschen »Kapitals« zu studieren; er versteckte das Buch in seiner Reisetasche und bewachte es wie den allerkostbarsten Schatz.

Gegen seine Genossen zeigte er sich gleichgültig und zurückhaltend, bis auf Nowodworoff, an den er sich leidenschaftlich angeschlossen hatte und dessen Ansicht über alle Gegenstände er stets für die Quintessenz der Wahrheit selbst hielt.

Das Weib erschien ihm als das hauptsächliche Hindernis des sozialen Emancipationswerkes und der freien Entwicklung des Verstandes; daher empfand er für die Frauen eine absolute Verachtung. Nur bei der Maslow machte er eine Ausnahme, denn in ihr sah er ein typisches Beispiel der Ausbeutung der niedrigen Klassen von seiten der Begüterten. Er bezeugte ihr bei jeder Gelegenheit viel Rücksichten; und aus demselben Grunde verabsäumte er nie eine Gelegenheit, Nechludoff die ganze Abneigung, die er gegen ihn hegte, zu erkennen zu geben.

Drittes Kapitel

Auf der Reise von Nischni-Nowgorod war es Nechludoff nur zweimal gelungen, Katuscha zu sprechen. Das erste Mal war es in Nischni-Nowgorod gewesen, als man die Gefangenen auf eine mit einem Drahtnetz überflochtene Barke brachte, das andere Mal in Perm im Bureau des Gefängnisses; doch beide Male hatte sie sich schweigsam und zurückhaltend benommen.

Als er sie gefragt, ob sie sich wohl befände und ob sie denn gar nichts brauche, hatte sie ihm ausweichende, mürrische Antworten gegeben und ihm dasselbe vorwurfsvolle und brummige Wesen gezeigt, das er schon früher einmal an ihr wahrgenommen hatte.

Nechludoff bereitete diese ihre trübselige Stimmung, die ihren Grund einzig und allein in den zudringlichen Belästigungen von seiten der Männer hatte, unter denen sie gerade damals zu leiden gehabt, große Sorgen. Er hegte die Befürchtung, sie könnte unter der Einwirkung dieser Belästigungen und dieser entsittlichenden Zustände, denen sie während der ganzen Wanderung ausgesetzt war, wieder aufs neue in den vorigen Zustand der Verzweiflung und Vereinsamung zurücksinken, in welchem sie auf ihn im höchsten Grade erbittert gewesen, viel geraucht und im Branntwein Vergessenheit und Betäubung gesucht hatte.

Er hatte aber keine Ahnung, wie er ihr hilfreich zur Seite stehen konnte, denn während des ganzen ersten Teiles des Marsches war es ihm nicht möglich gewesen, mit ihr zusammenzukommen, und erst, als man sie der Abteilung der politischen Gefangenen zugewiesen hatte, konnte er sich nicht nur davon überführen, daß seine Befürchtungen vollständig unbegründet waren, nein, er machte auch sogar die Wahrnehmung, daß sich immer mehr und mehr jene Wandlung in ihr vollzog, die er so sehnsüchtig erhofft und erfleht hatte.

Schon als er sie das erste Mal in Tomsk wiedersah, war sie genau ebenso wie am Tage der Abreise. Ihr Gesicht ward nicht mürrisch und finster, wenn sie die Blicke auf ihn richtete, sondern sie trat ihm, ganz im Gegenteil, fröhlich und harmlos entgegen und sprach ihm ihren Dank dafür aus, was er für sie gethan, besonders aber war sie ihm dafür dankbar, daß er sie den Leuten zugeführt, unter denen sie sich jetzt aufhielt.

Nach ferneren zwei Monaten der Wanderung machte sich die Veränderung, die in ihr vorging, auch in ihrer äußeren Erscheinung bemerkbar. Sie magerte ab, ihr Gesicht wurde sonnenverbrannt, und sie machte den Eindruck, als wäre sie etwas gealtert. An den Schläfen und in den Mundwinkeln traten kleine Falten hervor; sie ließ die Haare nicht mehr in die Stirn hineinfallen, sondern trug ein Tuch um den Kopf; auch war weder in ihrer Kleidung, noch in ihrer Frisur oder in ihren Manieren die früher so stark hervortretende Koketterie zu entdecken. Diese Umwandlung aber, die sich in ihr vollzogen und sich jetzt noch in ihr vollzog, erfüllte Nechludoff mit hoher Freude.

Er hegte jetzt ein Gefühl für sie, wie er es ihr gegenüber bisher nie empfunden hatte. Dieses Gefühl hatte keinerlei Gemeinschaft mit seinen ersten poetischen Tändeleien und noch weniger mit der geschlechtlichen Liebe, die er später kennen gelernt; ebensowenig hatte es mit dem Bewußtsein der Pflichterfüllung und dem Wohlgefallen mit sich selbst, als er sich nach der Gerichtsverhandlung zu dem Entschlusse aufgerafft hatte, er müsse sie heiraten, etwas zu thun.

Das Gefühl, das er jetzt empfand, war dasselbe einfache Gefühl der Rührung und des Mitleids, das er zuerst kennen gelernt, als er sie im Gefängnis wiedergesehen hatte, das sich, mit erneuter Gewalt nach der Scene im Hospital wiederholt hatte, wo er seinen Abscheu besiegt und ihr das angebliche Verhältnis mit dem Krankenwärter vergeben hatte, das sich später als erlogen herausstellte.

Dasselbe Gefühl empfand er auch jetzt, doch mit dem Unterschied: früher war es nur oberflächlich, vorübergehend gewesen, jetzt aber hatte es sich dauernd gefestigt. Was er auch denken, was er auch thun mochte, stets bekam jenes Gefühl der Rührung, des Mitleids und der Zärtlichkeit die Oberhand, das er nicht allein für sie, sondern für alle Menschen empfand.

Es war gleichsam, als hätte diese Anschauungsweise in Nechludoffs Seele einem Strom von Liebe Durchgang gewährt, der sich früher nicht hatte ergießen können, der jetzt aber auf alle Menschen herabbrauste, mit denen er in Berührung kam.

Auf der ganzen Reise lebte Nechludoff in diesem Zustand der Ekstase, die ihn unbewußt gegen alle Menschen, mit denen er zusammenkam, vom Kutscher und gemeinen Soldaten bis zum Gefängnisinspektor und Gouverneur herauf, teilnahmsvoll und mitfühlend werden ließ.

Dadurch, daß man Katuscha der Abteilung der Politischen zugewiesen hatte, machte Nechludoff auch die Bekanntschaft vieler politischer Verbrecher, Ganz zuerst in Jekaterinenburg, wo man alle ganz harmlos zusammen in einer großen Stube eingesperrt hatte; dann machte er die nähere Bekanntschaft der fünf Männer und vier Frauen, denen man Katuscha überwiesen hatte.

Als Nechludoff in nähere Beziehungen zu ihnen trat, kam er bald zu der Ueberzeugung, daß das nicht alles durchgehends Schurken waren, wie so viele glaubten, und ebenso wenig Helden, wofür sich einige von ihnen ansahen, nein, es waren ganz gewöhnliche Menschen, und unter diesen gab es, wie auch überall sonst, gute, schlechte und mittelmäßige Menschen. Auch solche waren darunter, die von selbstsüchtigen, ruhmgierigen Motiven sich leiten ließen; die meisten aber waren von dem Verlangen fortgerissen worden, Gefahren zu bestehen, von dem Genusse, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, Gefühlen, die man täglich bei der kraftstrotzenden Jugend findet, und die Nechludoff noch von seiner militärischen Dienstzeit her kannte.

Als er näher mit ihnen bekannt wurde, kam Nechludoff zu der Erkenntnis, es wären genau solche Menschen wie alle andern, nur einzig und allein mit dem Unterschiede, daß die von ihnen, die den Durchschnitt überragten, bedeutend höher, die unter ihm standen, bedeutend niedriger zu werten waren, als die andern. Auch viele liederliche, prahlsüchtige, egoistische und hochmütige Menschen waren dabei, und so kam es, daß Nechludoff einzelne seiner neuen Bekannten sehr gleichgültig behandelte, während er andern wieder mit aufrichtiger Hochachtung entgegenkam.

In der Sektion, der man Katuscha zugewiesen hatte, wanderte auch ein an der Schwindsucht leidender Jüngling Namens Krülzoff, den man zur Zwangsarbeit verurteilt und den Nechludoff ganz besonders lieb gewonnen hatte. Er hatte ihn bereits in Jekaterinenburg kennen gelernt, war später auf dem weiten Marsche noch mehrmals mit ihm zusammengetroffen und hatte sich mit ihm in ein Gespräch eingelassen.

Eines Tages, im Sommer, als die Sektion gerade Rast hielt, hatte sich Nechludoff mehrere Stunden bei ihm aufgehalten, und bei dieser Gelegenheit hatte ihm Krülzoff seine ganze Geschichte erzählt, die bis zu seiner Einkerkerung sehr kurz war und folgendermaßen lautete:

Als er noch im zartesten Knabenalter stand, war sein Vater, ein Gutsbesitzer im südlichen Rußland, gestorben. Er war das einzige Kind seiner Eltern, und die Mutter übernahm die Erziehung. Sowohl auf dem Gymnasium wie auch auf der Universität lernte er sehr leicht und absolvierte seine Studien mit dem Zeugnis eines ersten Kandidaten der mathematischen Fakultät. Man machte ihm nun das Anerbieten, bei der Universität zu verbleiben und zu diesem Zwecke seine Studien noch weiter im Auslande fortzusetzen. Er schwankte und zögerte, denn er hatte sich in ein Mädchen verliebt, das er zu heiraten gedachte und mit dem er sich auf dem Lande niederlassen wollte. Er hatte allerlei im Sinne, konnte es aber nicht über sich gewinnen, sich zu irgend etwas zu entschließen. Gerade um diesen Zeitpunkt ersuchten ihn seine Studiengefährten um Geld für das »allgemeine Wohl«. Er wußte wohl, was unter dem »allgemeinen Wohl« zu verstehen war, hatte aber zu jener Zeit nicht das geringste Interesse dafür, und nur aus Rücksicht auf seine Freunde, aus Gründen der Eigenliebe, um nicht den Glauben in ihnen zu erwecken, er fürchte sich , steuerte er das Geld bei. Die Empfänger des Geldes wurden bald darauf verhaftet, man fand bei ihnen ein Schreiben, aus dem hervorging, daß Krülzoff das Geld gespendet hatte. So wurde auch dieser verhaftet und ins Gefängnis geworfen.

Er erzählte Nechludoff das alles, während er auf seinem hohen Lager, eine Decke auf den Knieen, dasaß und mit dem starren Blicke seiner großen schwarzen Augen gerade vor sich hin ins Leere starrte.

»In dem Gefängnis,« sagte er, »in das man mich geworfen hatte, war die Behandlung verhältnismäßig milde. Wir konnten uns nicht allein miteinander verständigen, sondern uns auch in den Korridoren treffen, uns unterhalten, unsere Eßwaren und unseren Tabak miteinander teilen und abends im Chore singen. Diese abendlichen Gesänge machten mir viel Vergnügen, denn ich hatte eine schöne Stimme. Hätte ich nicht an den Kummer meiner Mutter denken müssen, die meine Verhaftung in Verzweiflung versetzt hatte, so wäre ich vollkommen glücklich gewesen. Ich hatte die Bekanntschaft mehrerer sehr interessanter Personen gemacht, ganz besonders die des berühmten Petroff, der sich später mit einem Glasscherben die Kehle durchschnitt. Doch ich war nicht immer Revolutionär und fühlte auch nicht die geringste Anlage, es zu werden.

Eines Tages brachte man zwei junge Leute in das Gefängnis, die man nach Sibirien geschickt, weil sie polnische Proklamationen verteilt und während der Reise einen Fluchtversuch unternommen hatten. Der eine von ihnen war ein Pole, Lozinski, der andere hieß Rosenberg und war jüdischen Ursprungs. Dieser Rosenberg war noch ein Kind. Er behauptete, er wäre siebzehn Jahre, doch man sah, daß er kaum fünfzehn zählte. Klein, mager, mit feurigen, schwarzen Augen, war er beweglich, geschwätzig und wie alle Juden ein sehr guter Musiker. Seine Stimme hatte noch nicht mutiert, und es war ein Vergnügen, ihn singen zu hören.

Einige Tage nach ihrer Ankunft im Gefängnis wurde gegen sie verhandelt. Man holte sie morgens ab, und als sie abends zurückkehrten, teilten sie uns mit, man hätte sie zum Tode verurteilt. Das hatte niemand erwartet. Sie hatten wohl Widerstand zu leisten versucht, als man sie wiedergefangen hatte, doch niemanden verwundet, Uns wäre auch nie der Gedanke in den Kopf gekommen, man könne ein Kind, wie diesen Rosenberg, zum Tode verurteilen. Daher waren wir auch alle in dem Gefängnis der Meinung, diese Verurteilung sollte sie nur erschrecken, würde aber nie zur Ausführung gelangen. Die Aufregung, in die uns dieses Ereignis versetzt, beruhigte sich schließlich, und wir setzten unser Leben wie früher fort.

Eines Tages aber nähert sich mir der Aufseher und teilt mir ganz geheimnisvoll mit, die Arbeiter wären gekommen, um den Galgen aufzurichten. Zuerst verstand ich gar nicht. Den Galgen? Was für einen Galgen? Selbst der alte Aufseher schien so aufgeregt, daß ich, als er mich ansah, alles begriff. Ich wollte Zeichen geben, meine Kameraden benachrichtigen, doch ich fürchtete, meine beiden Nachbarn könnten mich hören. Uebrigens mußten meine Kameraden wohl auch schon unterrichtet sein, denn in den Gängen und Zellen war plötzlich eine Totenstille eingetreten. Niemand war an diesem Abend zum Singen, ja nicht einmal zum Sprechen aufgelegt. Gegen zehn Uhr trat der alte Wärter wieder auf mich zu und teilte mir mit, der Henker wäre eben von Moskau angekommen. Er teilte mir das mit und entfernte sich. Ich rief ihn zurück, um noch weitere Erkundigungen einzuziehen, als ich hörte, wie Rosenberg mir aus seiner Zelle zurief:

»Was giebt’s denn, warum rufen Sie ihn denn?« Ich erwiderte ihm, ich wolle nur Tabak haben; doch Rosenberg mußte offenbar etwas ahnen, denn er fragte mich dann in aufgeregtem Tone, warum nicht gesungen würde und warum niemand spräche. Ich erinnere mich nicht mehr, was ich ihm erwiderte, und weiß nur, daß ich mich schlafend stellte, um dieser Unterhaltung ein Ende zu machen.

Ich schlief aber die ganze Nacht nicht. Eine entsetzliche Nacht! Nie werde ich diese furchtbaren Stunden vergessen können. Ich blieb unbeweglich auf meinem Bette liegen, lauschte auf das geringste Geräusch und zitterte, als sollte ich selbst gehängt werden. Bei Tagesanbruch hörte ich, wie die Thür des Korridors sich öffnete, und zahlreiche Schritte sich näherten. Ich stand auf und lief an das Guckfenster meiner Zelle. Zuerst sah ich den Gefängnisdirektor vorüberkommen. Er war ein großer, dicker, mit sich selbst sehr zufriedener Herr, der sonst den Kopf sehr hoch trug; doch an diesem Tage war er blaß, düster und ging mit gesenkten Augen. Hinter ihm kam ein Polizeileutnant, dem zwei Gendarmen folgten. Diese vier Personen schritten an meiner Zelle vorüber, um einige Schritte weiter stehen zu bleiben. Dann hörte ich den Offizier mit eigentümlicher Stimme rufen: »Lozinski, stehen Sie auf und ziehen Sie ein weißes Hemd an!« Dann lange Pause, dann höre ich die Schritte Lozinskis, wie er die Zelle verläßt. Durch mein Guckfenster konnte ich nur noch den Direktor sehen. Er stand bleich und entstellt da und drehte an seinem Schnurrbart, ohne den Kopf zu erheben. Plötzlich sehe ich aber, wie er ganz entsetzt zurückweicht. Lozinski ging nämlich an ihm vorüber, um sich der Thür meiner Zelle zu nähern. Ein schöner junger Mann, dieser Lozinski! Sie wissen doch, jener reizende polnische Typus: breite, gerade Stirn, feine blonde Härchen und große blaue Augen, wahre Kinderaugen. Ein junger Mensch voll Gesundheit und Leben, eine wahre menschliche Blüte! Er war an meinem Guckfenster stehen geblieben, so daß ich sein Gesicht vollständig sehen konnte. Dieses Gesicht war schrecklich anzusehen, dieses gleichzeitig düstere und lächelnde Gesicht. »Krülzoff, haben Sie eine Cigarette?« Ich wollte ihm eine geben, als der Direktor mit fieberhafter Eile sein Etui hervorholte und es ihm reichte.

Lozinski nahm eine Cigarette, der Offizier gab ihm Feuer, und er fing an, mit nachdenklicher Miene zu rauchen. Plötzlich aber erhob er den Kopf, als wenn er sich an etwas erinnerte und murmelte: »Das ist ungerecht, ich habe nichts Böses gethan, ich …« Ein Zittern erschütterte seinen jungen weißen Hals, und er schwieg.

In demselben Augenblick hörte ich, wie Rosenberg in seiner Zelle mit seiner scharfen jüdischen Stimme zu schreien anfing. Lozinski warf seine Cigarette fort und trat von meiner Thür weg. Jetzt stellte sich Rosenberg davor. Sein Kindergesicht mit seinen, kleinen schwarzen Augen war rot und mit Schweiß bedeckt. Auch er trug ein reines Hemd, seine Hose war zu weit; er hob sie fortwährend mit seinen beiden Händen hoch, und sein ganzer Körper zitterte beständig.

Er näherte meinem Guckfenster sein hageres Gesicht und sagte:

»Nicht wahr, Anatol Petrowitsch, ich bin krank, der Arzt hat mir Brustthee verordnet? Ich will noch Brustthee trinken.«

Niemand antwortete ihm, und er warf flehende Blicke bald auf mich, bald auf den Direktor. Was er mit seinem Brustthee eigentlich sagen wollte, habe ich niemals erfahren.

Von neuem erhob der Offizier die Stimme und sagte diesmal in strengem Tone:

»Na, machen Sie keine Witze, vorwärts!«

Aber Rosenberg war augenscheinlich außer stande, zu begreifen, was man von ihm wollte. Zuerst fing er an, durch, den Korridor zu laufen, dann blieb er stehen, und ich hörte sein Flehen und Schluchzen. Dann entfernten sich die Töne und wurden immer leiser, die Thür des Korridors schloß sich wieder, und ich hörte nur noch zeitweise das verzweifelte Geschrei des kleinen Rosenberg.

Sie wurden gehängt. Ein Aufseher, der der Prozedur beigewohnt, erzählte mir, Lozinski hätte alles mit sich ruhig geschehen lassen, doch Rosenberg hätte sich lange gesträubt, so daß man ihn auf das Schaffot tragen und ihm den Kopf mit Gewalt in die Schlinge stecken mußte. Dieser Aufseher war ein kleiner Mensch, den der Trunk heruntergebracht hatte.

»Man hatte mir immer gesagt, Herr, es wäre schrecklich anzusehen, aber nein, das war es gar nicht. Sobald sie den Kopf in der Schlinge hatten, haben sie nur noch zweimal mit den Schultern gezuckt. Dann hat der Henker den Knoten aufgelockert, und alles war aus; ich versichere Sie, es war gar nicht schrecklich.«

Noch lange Zeit blieb Krülzoff in tiefes Schweigen versunken, nachdem er seine Erzählung beendet hatte, Nechludoff sah, daß seine Hände zitterten und daß er an sich halten mußte, um sein Schluchzen zu unterdrücken.

»Seit diesem Tage bin ich Revolutionär geworden,« fuhr er fort, als er sich beruhigt hatte, und erzählte in einigen Worten das Ende seiner Geschichte.

Er hatte sich der Partei der »Populisten« angeschlossen und war der Anführer einer Gruppe geworden, die das Ziel verfolgte, die Regierung zu terrorisieren, damit diese auf die Macht verzichte und einzig und allein an das Volk appelliere. Im Namen seiner Gruppe hatte er sich nach Petersburg begeben, war im Auslande gereist, war nach Kiew und Odessa zurückgekehrt und hatte überall wirken können, ohne beunruhigt zu werden. Ein Mann, zu dem er volles Vertrauen hatte, hatte ihn denunciert; man hatte ihn verhaftet, zwei Jahre im Gefängnis behalten und endlich zum Tode verurteilt; doch war seine Strafe in lebenslängliche Zwangsarbeit umgewandelt worden.

Im Gefängnis war er schwindsüchtig geworden, und hatte jetzt, in den Verhältnissen, in denen er sich befand, kaum noch wenige Monate zu leben. Er wußte das und war darüber durchaus nicht bekümmert. Er sagte zu Nechludoff, hätte man ihm ein zweites Leben geschenkt, er hätte es genau in derselben Weise angewendet, nämlich, um an der Zerstörung eines Zustandes zu arbeiten, in dem so viel Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten erlaubt waren. Die Geschichte des Unglücklichen, sowie seine ganze Person klärten Nechludoff über viele Dinge auf, die er bis dahin nicht verstanden hatte.

Viertes Kapitel

An dem nämlichen Tage, an welchem sich beim Abmarsch die Scene zwischen dem Offizier und dem Verbrecher wegen des kleinen Mädchens abgespielt hatte, erwachte Nechludoff, der die Nacht in einem Wirtshause zugebracht, ziemlich spät am Morgen, und hatte noch eine Zeit lang mit Briefen zu thun, die er nach der Kreisstadt schicken wollte. Auf diese Weise geschah es, daß er das Wirtshaus später als sonst verließ und den Zug nicht mehr auf der Landstraße antraf; er kam nämlich erst gegen Einbruch der Dämmerung in das Dorf, in welchem die nächste, auf einen halben Tag berechnete Rast abgehalten wurde.

Er säuberte sich in dem Gasthause, dessen Wirtin ein altes, beleibtes Weib mit ganz besonders weißem, dickem Hals war, und saß nun in einem saubern Zimmer, dessen Ausstattung in einer großen Anzahl von Heiligenbildern und andern Gemälden bestand. Hier nahm er den Thee zu sich und begab sich dann nach dem Rastgebäude, um den Offizier um die Erlaubnis zu bitten, den Gefangenen einen Besuch machen zu dürfen.

An den letzten sechs Rasttagen hatten sämtliche Offiziere, obwohl sie sich ablösten, Nechludoff keinen Eintritt in das Rastgebäude gewährt, so daß er Katuscha schon seit längerer Zeit nicht zu Gesicht bekommen hatte. Diese außergewöhnliche Strenge hatte darin ihre Erklärung, daß man eine Revision von seiten eines durchreisenden hohen Beamten in Sachen des Gefängniswesens erwartete. Jetzt aber war dieser hohe Beamte bereits durchgereist, ohne den Gefangenenzug auch nur eines Blickes zu würdigen, und Nechludoff hegte deshalb die Hoffnung, der Offizier, der das Kommando am Morgen angetreten, werde ihm ebenso wie seine Vorgänger die Erlaubnis erteilen, mit Katuscha sprechen zu dürfen.

Die Wirtin des Gasthauses wollte Nechludoff einen Tarantaß zur Verfügung stellen, mit dem er nach dem Rastgebäude fahren konnte, das am äußersten Ende des Dorfes lag, doch Nechludoff zog es vor, in Begleitung eines starkschultrigen Burschen, der ungeheuer große, mit Birkenharz geschmierte Stiefel trug, zu Fuß dorthin zu wandern.

Ein dichter, feuchter Nebel fiel hernieder, und die Dunkelheit wurde so stark, daß Nechludoff den Burschen nicht mehr zu sehen vermochte, wenn er sich nur drei Schritte weit entfernte und der Lichtschein aus den Fenstern nicht auf ihn fiel. Er hörte dann nur noch, wie der Bursche mit seinen großen Stiefeln durch den dicken Kot tappte. Zuerst kamen sie über einen Platz, auf dem eine Kirche stand, und durch eine lange Straße, in der viele Fenster hell erleuchtet waren, und endlich gelangte Nechludoff mit seinem Begleiter an das Ende des Dorfes, das in tiefe Finsternis gehüllt war.

Bald aber zuckten auch in dieser Dunkelheit rötliche Flämmchen auf, die den Nebel zerrissen. Das war das Licht der Laternen, die an dem Rastgebäude brannten. Diese rötlichen Flämmchen traten immer deutlicher hervor und vergrößerten sich, und bald zeigte sich auch die Umfriedigung und die dunkle Gestalt einer Schildwache, hinter der ein Laternenpfahl und ein Schilderhaus auftauchte. Wie üblich rief die Schildwache die Näherkommenden mit den Worten: »Wer da?« an, und als sich herausstellte, daß es Fremde waren, wurde sie so grob, daß sie Nechludoff nicht einmal gestatten wollte, neben der Umfriedung stehen zu bleiben. Doch sein Begleiter ließ sich durch den groben Ton der Schildwache nicht verblüffen, sondern sagte zu dem Soldaten:

»Na, was ist denn los? Warum wirst du denn so wütend? Ruf‘ mal den Unteroffizier! Wir werden so lange hier warten!«

Der Soldat erwiderte kein Wort, brüllte etwas in die Thür hinein und rührte sich nicht vom Flecke, sondern beobachtete mit aufmerksamem Blicke den stämmigen Burschen, der Nechludoffs Stiefel beim Scheine der Laterne mit einem Stückchen Holz von dem daran klebenden Schmutz säuberte.

Jetzt ließ sich hinter der Umfriedigung ein dumpfes Gemisch von männlichen und weiblichen Stimmen vernehmen. Etwa drei Minuten später wurde das Rasseln von Ketten hörbar, eine Thür wurde aufgerissen, und in den Lichtschein der Laterne trat aus der tiefen Finsternis ein Unteroffizier, der in einen Mantel gehüllt war. Er fragte, was man wünsche, und Nechludoff übergab ihm seine Karte, die er bereits hervorgezogen, und auf der er die Bitte aussprach, man möchte ihm in persönlichen Angelegenheiten den Eintritt in das Gebäude gewähren.

Der Unteroffizier war zwar nicht so grob wie die Schildwache, dafür zeigte er sich aber um so neugieriger, Er wollte um jeden Preis wissen, in welcher Angelegenheit Nechludoff den Offizier sprechen wollte, und wer er war. Nechludoff erklärte, er hätte eine rein persönliche Angelegenheit zu erledigen, fügte hinzu, er werde sich dankbar erweisen und bat, man möchte de Karte übergeben. Der Unteroffizier nahm sie an sich, nickte zustimmend mit dem Kopfe und verschwand.

Einige Zeit darauf knarrte die Thür von neuem, und es erschienen einige Weiber, die Körbe, aus Birkenrinde geflochtene Eimer, irdene Töpfe und Leinensäcke trugen. Sie unterhielten sich eifrig in ihrem sibirischen Dialekt, während sie die Schwelle der Thür überschritten. Einzelne waren bäuerisch, andere wieder nach städtischer Mode gekleidet und trugen Mäntel und Pelze; die Röcke hatten sie hochgeschürzt, und um den Kopf hatten sie Tücher gebunden.

Als sie Nechludoff und seinen Begleiter beim Scheine der Laterne erblickten, starrten sie sie mit neugierigen Augen an. Eine schien ganz besonders an dem kräftigen, stämmigen Burschen Wohlgefallen zu finden und überhäufte ihn im Spaß sofort mit einer Flut sibirischer Scheltworte.

»Was treibst du denn hier, du Schweinekerl?« schrie sie ihm zu.

»Ich habe einen Fremden hergeführt,« versetzte der Bursche. »Aber was trägst du denn da?«

»Weißen Käse! Wir sollen morgen früh wieder herkommen!«

»Na, aber über Nacht bleibt ihr doch nicht?« fragte der Bursche unter lautem Lachen.

»Hol‘ dich der Teufel, du frecher Schreihals!« versetzte sie ebenfalls lachend. »Komm‘ lieber mit uns ins Dorf mit!«

Der Bursche machte noch eine Bemerkung, über die nicht allein die Frauen, sondern auch die Schildwache in lautes Gelächter ausbrachen. Dann wandte er sich zu Nechludoff um und fragte:

»Finden Sie denn auch den Weg? Werden Sie sich auch nicht verirren?«

»Nein, nein; ich werde mich schon zurechtfinden.«

»Na, also, wenn Sie an der Kirche vorbei sind, dann ist es von dem zweistöckigen Hause auf der rechten Seite das zweite. Da haben Sie auch meinen Spazierstock,« meinte er und gab Nechludoff den dicken, etwa mannshohen Knüppel in die Hand, den er mitgebracht hatte, um dann gleichzeitig mit den Weibern zu verschwinden. Mit seinen langen Stiefeln tappte er durch den Kot, und man hörte noch hin und wieder seine Stimme und die der Weiber, als die Thür von neuem knarrte und ein Unteroffizier heraustrat, der Nechludoff aufforderte, sich zum Offizier zu begeben.

Fünftes Kapitel

Das Rastgebäude lag ebenso wie alle Gebäude, in denen auf halbe und ganze Tage gerastet wurde, an der großen sibirischen Landstraße, in einem Hof, der von spitzen Palisaden umstellt war. Es befanden sich hinter demselben die einstöckigen Häuser. In dem einen, und zwar dem größten, das vergitterte Fenster hatte, brachte man die schweren Verbrecher unter, in dem andern hielt sich das Wachkommando auf, während das dritte den Offizieren als Aufenthaltsort und als Kanzlei diente.

Sämtliche drei Häuser waren jetzt mit Lichtern beleuchtet, die wie stets, so auch hier, in den hellglänzenden Räumen den Anschein von Genuß und Behaglichkeit hervorriefen. Laternen brannten an den Eingängen, während der Hof von noch fünf andern erhellt wurde.

Nechludoff wurde von dem Unteroffizier, der ihn über ein schmales Brett führte, zu der Treppe des kleinsten der drei Häuser geleitet. Dann ließ er ihn drei Stufen hinaufsteigen und öffnete ein kleines, von einer qualmigen Lampe beleuchtetes Vorzimmer, das mit Rauch angefüllt war, und in das er ihn vorangehen ließ. Am Ofen saß ein Soldat in grobem Hemd und einer Halsbinde und schwarzen Hosen, der einen Stiefel in der Hand hielt und mit dem zusammengedrückten Schaft desselben, den er wie einen Blasebalg handhabte, das Feuer in einem Samowar anblies.

Als dieser Soldat Nechludoff bemerkte, wandte er sich von dem Samowar fort, half Nechludoff seinen schweren Mantel abnehmen und ging damit in das Nebenzimmer.

»Er ist da, Ew. Gnaden!«

»Na, dann bring‘ ihn doch ‚rein,« versetzte eine brummige Stimme.

»Treten Sie gefälligst ein,« sagte der Soldat und nahm gleich wieder seine vorige Thätigkeit am Samowar auf.

In dem zweiten Zimmer, das sein Licht von einer Hängelampe erhielt, saß ein Offizier mit großem, blondem Schnurrbart und stark aufgedunsenem Gesicht; er trug eine Jacke, die seine breite Brust und seine Schultern stark hervortreten ließ; vor ihm stand ein mit Speiseüberresten und zwei Weinflaschen bedeckter Tisch. Ein scharfer Tabaksrauch durchzog das warme Zimmer, und außerdem verspürte man noch einen andern übeln und durchdringenden Geruch.

Als der Offizier Nechludoff bemerkte, erhob er sich und musterte den Nähertretenden mit höhnischen und nichtachtenden Blicken.

»Was wollen Sie?« fragte er, und rief dann, ohne auch eine Antwort abzuwarten, zur Thür: »Bernoff, bring‘ den Samowar! Ist der Thee bald fertig?«

»Ja, gleich!«

»Warte! Ich werde dir dein »Ja, gleich!« anstreichen, daß du dran denken sollst!« schrie der Offizier mit zornfunkelnden Augen.

»Ich bring‘ ihn ja schon,« rief der Soldat und trat mit dem Samowar herein.

Nechludoff wartete, bis der Soldat den Samowar auf den Tisch gestellt hatte, und sah dabei den Offizier an, der den Soldaten mit seinen kleinen, boshaft blinzelnden Augen betrachtete, als wenn er etwas gegen ihn im Schilde führte und nur auf den geeigneten Moment wartete, um einen Streich gegen ihn zu führen.

Als der Samowar auf dem Tische stand, bereitete der Offizier Thee, dann holte er aus einem Reiseköfferchen eine viereckige Flasche Cognac und Albert-Cakes hervor, stellte alles auf die Tischdecke und fragte, sich wieder nach Nechludoff umwendend:

»Was wünschen Sie also?«

»Ich möchte Sie um die Erlaubnis bitten, mit einer Gefangenen sprechen zu dürfen,« sagte Nechludoff, der noch immer stand.

»Mit einer Politischen? Das ist gesetzlich verboten,« sagte der Offizier.

»Nein, diese Frau ist keine politisch Verurteilte,« versetzte Nechludoff.

»Aber setzen Sie sich doch, bitte!«

Nechludoff setzte sich.

»Sie ist keine politische Gefangene,« fuhr er fort: »doch auf meine Bitte hat ihr die Behörde gestattet, sich bei den Politischen aufzuhalten.«

»Ach ja, ich weiß,« versetzte der Offizier, »eine kleine Brünette, nicht wahr? Wirklich eine sehr niedliche Person. Na, meinetwegen sollen Sie sie sprechen. Wollen Sie rauchen?«

Er reichte Nechludoff ein Paket mit Cigaretten und schob ihm ein Glas mit Thee hin.

»Ich danke, ich möchte …«

»Der Abend ist lang, Sie haben ja noch Zeit, ich werde sie rufen lassen.«

»Könnte ich sie nicht, anstatt daß Sie sie rufen lassen, auf ihrem Zimmer sprechen?« fragte Nechludoff. »In der Abteilung der Politischen Gefangenen? Das ist verboten,«

»Man hat es mir schon mehrmals gestattet. Wenn man befürchten sollte, ich bringe Contrebande mit, so braucht man mich ja nur zu visitieren, und man wird sehen, daß ich nichts bei mir habe.«

»Es ist gut, es ist gut,« sagte der Offizier, »ich verlasse mich auf Sie,« fuhr er fort und goß Cognac in Nechludoffs Glas. – »Sie wollen keinen Cognac? Nun, nach Ihrem Belieben. Wenn man in diesem verdammten Sibirien lebt, so ist es ein wahres Vergnügen, einem Manne der guten Gesellschaft zu begegnen. Sehen Sie, unser Dienst ist sehr hart, und das Schlimmste dabei ist, daß ein Polizeileutnant für die meisten Menschen eine grobe, plumpe, schlecht erzogene und unwissende Person ist. Man hat keine Ahnung, daß es unter uns Leute von ganz anderem Schlage giebt.«

Das rote Gesicht des Offiziers, sein nach Branntwein duftender Atem, der ungeheure Stein seines Ringes und vor allem sein bösartiges Lachen verursachten Nechludoff einen tiefen Ekel. Doch an diesem Abend, wie auch während der ganzen Zeit seiner Reise, befand er sich in der ernsthaften Geistesverfassung, in der er sich nicht erlaubte, jemanden leichtfertig zu beurteilen, und wo er mit jedem von dem, was er zu sagen nötig fand, sprechen zu müssen glaubte. Als er die Bemerkungen des Offiziers zu Ende gehört, sagte er zu ihm in ernstem Tone:

»Ich glaube, Sie würden in Ihrem Dienste einen Trost finden, wenn Sie sich bemühen wollten, die Leiden der Gefangenen zu lindern.«

»Was für Leiden? Ich sehe schon, Sie kennen diese Sorte nicht.«

»Ist diese Sorte etwa von den andern Menschen verschieden?« fragte Nechludoff. »Es sind Menschen, genau so wie wir, und einzelne von ihnen sind ungerecht verurteilt worden.«

»Gewiß giebt es alle möglichen darunter, und sie thun mir auch leid, glauben Sie das nur. Andere lassen ihnen nichts hingehen, während ich mein Möglichstes thue, ihr Schicksal zu lindern. Oft setze ich mich sogar eigenen Unannehmlichkeiten aus, um ihnen einen Schmerz zu ersparen. Noch ein bißchen Thee?« fragte er, sich ein Glas einschenkend, »Was ist denn das eigentlich für ein Weib, das Sie zu sprechen wünschen?«

»Es ist ein unglückliches Geschöpf, man hat sie ungerecht wegen Mordes verurteilt. Eine Person, die wirklich hohe Vorzüge, besitzt.«

Der Offizier schüttelte den Kopf.

»Ja, ja, es giebt ganz niedliche darunter. In Kasan, lassen Sie sich das mal von mir erzählen, habe ich eine kennen gelernt, eine gewisse Emma. Sie stammte aus Ungarn, hatte aber die Augen einer Persierin,« fuhr er fort, indem er bei dieser Erinnerung vor sich hinlächelte, »und Chic hatte das Weib, wie eine richtige Gräfin!«

Nechludoff unterbrach ihn, um auf seinen Gegenstand zurückzukommen.

»Ich glaube, Sie haben die Macht, die Lage dieser Unglücklichen bedeutend lindern zu können, und ich hege die Ueberzeugung, Sie würden eine große Quelle der Freude darin finden.«

Der Offizier betrachtete Nechludoff mit seinen glänzenden Augen. Mit Ungeduld erwartete er, daß er seinen Sermon beendete, um wieder die Geschichte seiner Ungarin mit den persischen Augen ausnehmen zu können.

»Ja, ja, es ist wahr, Sie haben ganz recht,« unterbrach er, »und sie thun mir auch wirklich leid, das kann ich Sie versichern; aber um wieder auf diese Emma zurückzukommen, von der ich Ihnen erzählte, wissen Sie, was sie gemacht hat?«

»Ich habe nicht die geringste Lust, es zu erfahren,« erklärte Nechludoff in schneidendem Tone, »und ich will Ihnen auch ganz aufrichtig sagen, daß ich zuerst ein sehr unmoralisches Leben geführt habe und heute so weit gekommen bin, daß ich vor dieser Art von galanten Abenteuern Frauen gegenüber einen wahren Ekel habe.«

Der Offizier betrachtete Nechludoff mit unruhigen Blicken.

»Sie wollen also wirklich keinen Thee mehr?«

»Nein, ich danke!«

»Bernoff,« rief der Offizier, »führe den Herrn nach Wakuloff und lasse ihn zu den Politischen hinein. Er mag dort bis zum Thoresschluß bleiben.«

Sechstes Kapitel

Von dem Soldaten begleitet, befand sich Nechludoff wieder in dem Hofe, in dem nur hier und da die roten Feuer der Laternen leuchteten.

»Wo willst du denn hin?« fragte ein Aufseher, der vor der Thür des Mittelgebäudes stand.

»Nach dem fünften Saal,« verletzte der Soldat.

»Hier ist kein Durchgang, hier ist geschlossen, ihr müßt rund herumgehen.«

»Warum ist es denn geschlossen?«

»Der Oberaufseher ist fortgegangen und hat den Schlüssel mitgenommen.«

»Na gut, gehen wir herum, kommen Sie hier entlang,«

Der Soldat führte Nechludoff nach einem andern Thor, durch einen wahren Sumpf von Kot. Man hörte noch immer im Innern des Gebäudes dasselbe fortgesetzte Geräusch von Stimmen und Lachen. Kaum war Nechludoff eingetreten, als sich in dieses Geräusch der Ton der rasselnden Ketten mischte, während gleichzeitig ein dumpfer Gestank sich bemerkbar machte.

Diese beiden Sensationen, das Klirren der Ketten und der Gestank waren etwas Bekanntes für Nechludoff geworden, seit er unter den Gefangenen verkehrte; doch an diesem Abend wirkten sie auf ihn, genau wie am ersten Tage, mit unwiderstehlicher Heftigkeit, und er fühlte sich dem Ersticken nahe.

Das Erste, was Nechludoff in dem Korridor des Mittelgebäudes erblickte, war ein Weib, das mit hochgeschürzten Röcken auf dem Nachteimer saß. Ohne sich den geringsten Zwang aufzuerlegen, unterhielt sich dieses Geschöpf mit einem vor ihm stehenden Manne, einem Sträfling mit rasiertem Kopfe, der eine Kette am Fuße trug. Als der Sträfling Nechludoff bemerkte, blinzelte er mit den Augen und sagte:

»Der Zar muß das auch machen, wenn’s ihn packt.«

Das Weib richtete sich ruhig wieder auf und strich ihren Rock glatt.

Die Thüren der einzelnen Kammern führten auf den Korridor hinaus: zuerst kam die Kammer der von ihren Familien begleiteten Gefangenen, dann die der Junggesellen, und dann die der ledigen Frauenspersonen; während am Ende des Korridors zwei kleine Säle den politischen Gefangenen als Obdach dienten. Das Rastgebäude, das zur Aufnahme von hundertfünfzig Personen bestimmt war, enthielt an diesem Abend mehr als vierhundert. Die Gefangenen waren darin so zusammengepfercht, daß sie den ganzen Korridor einnahmen; die einen saßen oder lagen an der Erde; andere gingen hin und her und hielten Theegläser in der Hand.

»Unter dieser Zahl befand sich Taraß, Fedossjas Gatte, Er kam Nechludoff entgegen und begrüßte ihn freundlich. Sein gutmütiges Gesicht war vollständig mit blauen Flecken bedeckt, und er trug eine Binde über den Augen.

»Was ist dir denn zugestoßen?« fragte Nechludoff.

»Na, ich habe hier so ’ne Sache gehabt!« meinte Taraß lächelnd.

»Sie haben sich alle wütend geprügelt!« sagte der Aufseher, der Nechludoff begleitete.

»Und alles wegen dieser vermaledeiten Weiber!« fügte ein Gefangener hinzu, der sich ihnen zugesellt hatte. »Er kann noch von Glück sagen, wenn er ein Auge behält, Fedkas Mann!«

»Und Fedossja ist nichts Schlimmes widerfahren?«

»Ach nein, gar nichts; der geht’s ganz gut! Ich bringe ihr gerade den Thee,« sagte Taraß und trat in die Stube.

Nechludoff warf durch die halbgeöffnete Thür einen Blick in die Stube. Sie war mit Männern und Frauen angefüllt, die auf den Betten oder auf der Diele zwischen den Betten lagen. Doch das folgende Zimmer, das der Unverheirateten, war noch voller, so daß hier mehrere Gefangene auf demselben Bett lagen. Mitten im Zimmer umstand eine Gruppe einen alten Sträfling, der etwas an seine Umgebung zu verteilen schien. Der Aufseher erklärte Nechludoff, das wäre der Aelteste des Zuges, der die Summen, die sie im Kartenspiel gewonnen, unter sie verteile. Kaum aber hatten die Leute den Aufseher bemerkt, als alle verstummten, alle Hände niedersanken und alle Augen einen halb furchtsamen, halb bösartigen Ausdruck annahmen.

Nechludoff erkannte in dieser Gruppe den Sträfling Fedoroff, der ihn früher im Gefängnis ganz besonders interessiert hatte; derselbe hatte seinen Arm um den Hals eines blonden, bartlosen und aufgedunsenen jugendlichen Gefangenen gelegt, eines lasterhaften und abstoßenden kleinen Menschen, mit dem man ihn stets zusammensah. Ein anderer Sträfling, der auch dabei stand, ein Kahlkopf ohne Nase, war Nechludoff als eine Berühmtheit des Zuges vorgestellt worden; man erzählte, er hätte bei seiner Flucht aus dem Zuchthaus seinen Gefährten getötet, um ihn zu verzehren. Dieser Schurke, der am Eingang des Korridors stand, betrachtete Nechludoff mit kecker und spöttischer Miene, ohne ihn zu grüßen, wie es auch die meisten anderen Gefangenen thaten.

So vertraut Nechludoff dieses Schauspiel auch seit mehreren Monaten geworden war, so konnte er doch nie dieser Schar von Verurteilten gegenübertreten, ohne wie an diesem Abend ein grausames Gefühl der Scham und fast der Reue, das Gefühl seiner eigenen Schuld diesen Unglücklichen gegenüber zu empfinden. Und diese Scham und diese Gewissensbisse waren ihm um so furchtbarer, als sie bei ihm von einem ebenso unüberwindlichen Gefühl des Grauens und der Abneigung begleitet wurden. Er wußte, diese Unglücklichen mußten in der Lebenslage, in der sie sich seit ihrer Kindheit befunden hatten, notgedrungen das werden, was sie waren; und doch konnte er nicht umhin, sie zu verachten und zu hassen und einen tiefen Ekel vor ihnen zu empfinden.

»Dem sollte man mal die Taschen durchsuchen!« sagte eine heisere Stimme hinter Nechludoff gerade in dem Augenblick, als dieser sich bereits der Thür des Nebensaales näherte.

Die Schar der Verurteilten brach in Gelächter aus.

Siebentes Kapitel

Vor der Thür der für die politischen Gefangenen reservierten Stube verließ ihn der Aufseher, der ihn herbegleitet, und versprach ihm, wenn die Thore geschlossen würden, wolle er ihn wieder abholen. Kaum hatte er sich entfernt, als Nechludoff sah, daß ein Sträfling, so schnell es die an seinem Fuß befestigte Kette gestattete, auf ihn zugelaufen kam, sich zu seinem Ohr neigte und ihm mit geheimnisvoller Miene zuflüsterte:

»Sie müssen dazwischentreten, Herr. Sie haben den Kleinen ganz behext und ihn betrunken gemacht. Heut‘ hat er sich schon beim Appell unter dem Namen Karmanoff gemeldet. Sie allein können dazwischentreten. Wenn wir es versuchen wollten, würden sie uns totschlagen,«

Nachdem der Sträfling ihm diese Worte unter scheuen Blicken zugeflüstert, entfloh er schnell und verlor sich in der Menge, die den Korridor anfüllte.

Es handelte sich um folgendes:

Ein Sträfling, Namens Karmanoff, hatte einen Verschickten, der ihm ähnlich sah, veranlaßt, mit ihm den Namen zu tauschen, so daß der Sträfling verschickt wurde und zwar nur auf zwei Jahre, während der junge Bursche sein Leben lang seine Stellung im Zuchthaus einnehmen sollte.

Derselbe Gefangene hatte Nechludoff bereits in der vorigen Woche von den Vorbereitungen dieser Unterschiebung unterrichtet und ihn gebeten, dazwischen zu treten, wenn er könnte, um ein so ungeheuerliches Verbrechen zu verhindern. Dieser Gefangene war übrigens für Nechludoff, dem er schon bei der Abreise von Tomsk aufgefallen war, eine der merkwürdigsten Figuren des Zuges. Es war ein großer, kräftiger Bauer von etwa dreißig Jahren mit dicker Nase und kleinen Augen, der wegen Raubmordversuchs zur Zwangsarbeit verurteilt worden war. Er hieß Makar Djewkin und hatte Nechludoff erzählt, das Verbrechen, wegen dessen er verurteilt worden, wäre wirklich verübt worden, aber nicht er, Makar, hätte es begangen. Das Verbrechen wäre von jemand verübt worden, den er nur unter dem Namen »Er« bezeichnete, der aber offenbar der leibhaftige Teufel war.

Eines Tages war ein Fremder zu Makars Vater gekommen und hatte für zwei Rubel einen Schlitten gemietet, mit dem er nach einem vierzig Werst entfernt liegenden Dorfe hatte fahren wollen. Makar hatte sein Pferd angeschirrt, sich angekleidet und auf den Weg gemacht. Man hatte auf halbem Wege in einer Schenke Halt gemacht, um Thee zu trinken. Der Fremde hatte Makar mitgeteilt, er wolle sich mit einem jungen Mädchen aus dem Dorfe, nach welchem er fahre, verheiraten, und hätte in einer Brieftasche fünfhundert Rubel, sein ganzes Vermögen, bei sich. Sobald er das erfahren hatte, war Makar in den Hof der Schenke gegangen, hatte eine Axt ergriffen und sie im Schlitten unter dem Stroh versteckt.

»So wahr ich an Gott glaube, Barin,« erzählte er; »ich weiß nicht, warum ich diese Axt genommen habe. »Er« hat mir gesagt: »Nimm die Axt!« und da habe ich sie genommen. Man steigt wieder in den Schlitten und fährt los; ich denke nichts Böses. An die Axt dachte ich gar nicht mehr. Wir nähern uns dem Dorfe: noch sechs Werst. Wir müssen einen Hügel hinauffahren und durch einen Wald; ich steige ab, um das Pferd nicht anzustrengen, und nun flüstert er mir von neuem ins Ohr: »Na, woran denkst du denn? Oben auf dem Hügel, wenn du erst aus dem Walde heraus bist, sind doch Leute; da beginnt das Dorf. Dann nimmt er sein Geld mit! Na, verliere keine Zeit; der Augenblick ist gekommen! Ich neige mich zu dem Schlitten, als wollte ich das Stroh in Ordnung bringen, und die Axt fliegt mir von selbst in die Hand. Nun wendet sich der Mann nach mir um und sagt zu mir: »Was machst du denn da?« Da hebe ich die Axt; doch der Mann, ein kräftiger Bursch, wirft sich an die Erde und packt mich bei der Hand. »Hallunke,« ruft er mir zu, »was thust du da?« Dann wirft er mich in den Schnee, und ich, ich leiste keinen Widerstand, sondern lasse alles mit mir geschehen. Er bindet mir die Hände mit seinem Taschentuch, setzt mich in den Schlitten und führt mich geradeswegs zum Starosten. Man wirft mich ins Gefängnis und hält über mich Gericht. Das ganze Dorf giebt mir das Zeugnis, ich wäre ein ehrlicher Mann, und man hätte mir niemals einen Vorwurf machen können. Der Herr, bei dem ich diente, giebt mir auch ein gutes Zeugnis. Doch ich hatte nicht die Mittel, mir einen Advokaten zu leisten, und darum habe ich vier Jahre Zwangsarbeit bekommen.«

Und nun verriet dieser selbe Mann, um einen seiner Gefährten zu retten, Nechludoff ein Geheimnis, das ihm auf der Seele brannte; er setzte sich dabei der Gefahr aus, sein Leben einzubüßen, denn er wußte, die Gefangenen würden ihn zweifellos erdrosseln, wenn sie seinen Verrat entdeckten!

Achtes Kapitel

Die politischen Gefangenen hatten zwei kleine Zimmer inne, denen ein auf den Korridor hinausführendes Vorzimmer voranging. In diesem Vorzimmer fand Nechludoff Simonson, der an einem Ofen, mit einem Scheit Holz in der Hand, an der Erde kauerte und eifrig beschäftigt war, das Feuer anzuzünden.

Als er Nechludoff bemerkte, legte er das Holz einen Augenblick fort, um ihm die Hand zu reichen, ohne sich aber aus seiner hockenden Lage zu erheben.

»Ich bin glücklich, daß Sie gekommen sind, denn ich habe mit Ihnen zu sprechen,« sagte er mit seiner ernsthaften Miene, indem er Nechludoff gerade in die Augen sah.

»Was giebt’s denn?« fragte Nechludoff.

»Das werde ich Ihnen später sagen. Für den Augenblick bin ich beschäftigt!«

Mit diesen Worten nahm Simonson das Scheit wieder auf und begann, auf das Feuer aufzupassen, das er nach einer rationellen Methode eigenster Erfindung angezündet hatte.

Nechludoff wollte in die erste der beiden Stuben eintreten, als er die Maslow aus dem andern Zimmer treten sah, die in einer Schürze einen ungeheuren Packen Unrat und Staub trug, das sie in den Ofen werfen wollte. Sie trug ihre weiße Jacke und Holzschuhe an den Füßen. Ihren Kopf bedeckte ein weißes Tuch, das die Hälfte ihres Gesichts verbarg, und, um bequemer ausfegen zu können, hatte sie ihre Röcke sehr hoch aufgeschürzt. Als sie Nechludoff erblickte, wurde sie rot; dann legte sie ihren Packen an die Erde, wischte sich die Hände, indem sie sie an ihrem Rocke rieb, und trat mit sehr lebhaftem Gesicht auf Nechludoff zu.

»Sie räumen auf?« fragte Nechludoff, indem er ihr die Hand drückte.

»Ja, ich habe meinen alten Beruf wieder aufgenommen,« versetzte sie mit einem Lächeln. »Was hier für ein Schmutz herrscht, davon können Sie sich gar keinen Begriff machen! Seit einer Stunde fegen wir aus!«

Sie wandte sich nach Simonson um: »Na, ist das Plaid trocken?«

»Fast trocken!« versetzte Simonson, indem er einen Blick auf die Maslow warf, der Nechludoff auffiel.

»Ich werde ihn sofort holen und Ihnen noch andere Gegenstände zum Trocknen bringen,« sagte die Maslow und meinte dann, sich zu Nechludoff wendend und ihm das erste Zimmer zeigend:

»Sie sind alle da drin!«

Nechludoff öffnete die Thür dieses Zimmers und ging hinein.

Es war ein rechteckiges Zimmer, das von einer Metalllampe erleuchtet wurde. Es war darin im Vergleich zu den andern Sälen kalt, doch man atmete nicht einen so ,unerträglichen Geruch von Staub, Tabak und Feuchtigkeit. Die Lampe warf ein grelles Licht auf die Mitte des Zimmers und ließ die an den Wänden stehenden Betten im Dunkel; man konnte kaum die Gesichter der Verurteilten erblicken, die auf den Betten saßen.

In diesem Zimmer waren alle politischen Gefangenen des Zuges versammelt, mit Ausnahme von Simonson und zwei andern Männern, die für die Lebensmittel sorgten und das Essen einzuholen gegangen waren.

Hier befand sich auch Wera Efremowna Bogoduschoffska, die mit ihren großen, erschrockenen Augen und ihrer angeschwollenen Ader auf der Stirn noch magerer und gelber als im Gefängnis aussah. Sie trug eine graue Jacke, saß vor einer ausgebreiteten Zeitung und war damit beschäftigt, Tabak in Cigarettenhülsen zu stecken.

Es befand sich da noch eine andere Gefangene, die Nechludoff kannte, und die er sehr lieb hatte, eine gewisse Emilja Rantzeff. Sie hatte es übernommen, die Stuben in Ordnung zu halten, und verstand es ausgezeichnet, denselben selbst unter den schwierigsten Verhältnissen einen ganz eigentümlichen Zauber von Behaglichkeit und Intimität zu verleihen. Mit aufgestreiften Aermeln saß sie bei der Lampe und war damit beschäftigt, mit ihren schönen, feinen und leichten Händen Tassen und Näpfe abzutrocknen. Sie war noch jung, aber nicht hübsch, und trotzdem besaß ihr kluges und gütiges Gesicht die Eigentümlichkeit, sich vollständig zu verwandeln, wenn sie lächelte, und dann einen fröhlichen, kräftigen, ja sogar wahrhaft schönen Ausdruck anzunehmen. Mit einem solchen liebenswürdigen Lächeln empfing sie auch Nechludoff.

»Wir glaubten, Sie wären wieder nach Rußland zurückgereist,« sagte sie.

In einem Winkel erblickte Nechludoff Maria Pawlowna, die ein blondes kleines Mädchen auf den Knieen hielt, das fortwährend mit seiner sanften Kinderstimme etwas vor sich hinmurmelte.

»Wie schön, daß Sie gekommen sind! Haben Sie Katja gesehen?« fragte das junge Mädchen Nechludoff. »Unsere kleine Familie hat sich um ein neues Mitglied vermehrt,« fügte sie hinzu, indem sie auf das kleine Mädchen zeigte.

Anatole Krülzoff war auch da. Blaß und mager saß er, die Beine unter sich kreuzend, die Hände in den Aermeln seines Pelzes verborgen, auf seinem Lager, Mit seinen großen hohlen Augen, aus denen die Schwindsucht blickte, betrachtete er Nechludoff. Dieser wollte auf ihn zugehen, als er auf seinem Wege auf einen dicken, rothaarigen jungen Mann stieß, der in seiner Reisetasche wühlte und dabei mit einer hübschen jungen Frau plauderte, die ihm zulächelte und dabei alle ihre Zähne zeigte. Nechludoff schüttelte diesem jungen Manne zuerst die Hand, nicht weil er für ihn eine besondere Zuneigung hatte, sondern im Gegenteil, weil er der einzige von den politischen Gefangenen des Zuges war, der ihm in tiefster Seele und unbesieglich antipathisch war; er hielt daher die Notwendigkeit, ihn begrüßen zu müssen, für eine peinliche Pflicht, der er sich stets schnell entledigte. Der junge Mann, der Nowodworoff hieß, richtete seine kleinen Augen, die unter den Gläsern seines Lorgnons glänzten, auf ihn und reichte ihm seine lange, schmale Hand.

»Nun, sind Sie noch immer mit Ihrer Reise zufrieden?« fragte er mit einem sichtlichen Anklang von Ironie.

»Allerdings, das interessiert mich sehr,« versetzte Nechludoff und that, als habe er die verletzende Absicht nicht gemerkt, die in Nowodworoffs Frage lag. Deshalb beeilte er sich, zu Krülzoff zu gehen.

Er trug eine gleichgültige Miene zur Schau, doch thatsächlich hatten Nowodworoffs Worte und sein augenscheinliches Bemühen, ihm etwas Unangenehmes zu sagen, die optimistische Stimmung zerstört, in der er sich seit einigen Tagen befand. Er empfand jetzt ein Gefühl von Verlegenheit, in das sich eine gewisse Traurigkeit mischte, und es fehlte wenig, so hätte er bedauert, überhaupt gekommen zu sein.

»Und wie steht’s mit der Gesundheit?« fragte er Krülzoff, indem er seine eisige und im Fieber zitternde Hand drückte.

»Danke; ich fühle mich ziemlich wohl. Aber ich bin ganz durchnäßt, und es ist nicht möglich, warm zu werden,« sagte Krülzoff, indem er seine Hand schnell im Aermel seines Pelzes verbarg. – »Ganz abgesehen davon, daß hier in diesem Zimmer eine Hundekälte herrscht! Zwei Fenster sind zerbrochen; man hätte sich wohl die Mühe nehmen können, sie einzusetzen!«

Damit zeigte er Nechludoff zwei Fensterscheiben, die in dem Gitterfenster fehlten.

»Na, und Sie,« fuhr er fort, »warum sind Sie in den letzten Tagen nicht gekommen?«

»Man hat mich nicht hereingelassen. Erst heut‘ hat sich der neue Offizier zugänglicher gezeigt.«

»Zugänglich! Sie können gerade mitreden! – Fragen Sie nur Mascha, was er heut‘ morgen gethan hat!«

Ohne sich von ihrem am andern Ende des Saales belegenen Platze zu erheben, erzählte Maria Pawlowna Nechludoff die Scene, die sich wegen des kleinen Mädchens abgespielt hatte.

»Ich bin der Ansicht, wir haben alle die Pflicht, eine allgemeine Beschwerde zu unterzeichnen,« rief Wera Efremowna mit ihrer ruhigen Stimme, indem sie ihren erschrockenen Blick von einem ihrer Gefährten zum andern schweifen ließ. –

»Wladimir Simonson hat diesem rohen Patron den Standpunkt klar gemacht; doch ich meine, das genügt nicht!«

»Wozu sollen wir uns beschweren?« sagte Krülzoff mit ärgerlicher Grimasse. Man merkte, daß ihn der Mangel an Einfachheit bei Wera Bogoduschoffska schon lange ärgerte und ihm tatsächlich einen nervösen Schmerz verursachte.

»Sie suchen Katja?« fuhr er, sich nach Nechludoff umwendend, fort. »Sie arbeitet immer! Sie hat schon unsere Sachen gereinigt und bürstet jetzt die Mäntel der Frauen aus. Nur von den Flöhen wird sie uns wohl nie befreien; die schmutzigen Tiere fressen uns auf; es ist ein wahrer Jammer! Und was macht denn Mascha da drüben in ihrem Winkel?« fragte er und versuchte, sich aufzurichten, um nach Maria Pawlowna hinüberzusehen.

»Sie kämmt eben ihr Töchterchen!« erwiderte Emilja Rantzeff.

»Wenn sie uns nur nicht die Läuse zukommen läßt, die sie ihr abfängt,« versetzte Krülzoff.

»Nein, nein, haben Sie keine Angst, ich mache die Sache gewissenhaft! Uebrigens ist sie jetzt auch ganz sauber,« sagte Maria Pawlowna. »Na, Emilja, nehmen Sie sie zu sich herüber; ich werde jetzt gehen und Katja helfen.«

Die Rantzeff nahm das Kind, setzte es mit mütterlicher Sorgsamkeit auf ihren Schoß und gab ihm ein Stück Zucker.

Maria Pawlowna ging hinaus; und in demselben Augenblick traten die beiden Verurteilten, die das Abendessen holen gegangen waren, in das Zimmer.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Obwohl ihm der Gouverneur den Eintritt in das Gefängnis ausdrücklich untersagt hatte, wußte Nechludoff aus Erfahrung, daß man das, was man bei den oberen Behörden nicht durchsetzen konnte, bei den unteren Organen dagegen ohne allzu große Mühe erlangte. Deshalb hoffte er auch, der Gefängnisdirektor würde ihm die Erlaubnis erteilen, bis zur Maslow vorzudringen, um sie von der Bewilligung ihres Gnadengesuches zu unterrichten. Er hoffte gleichzeitig, sich nach der Gesundheit Krülzoffs erkundigen und ihm, sowie Maria Pawlowna das Resultat seiner Unterredung mit dem Gouverneur mitteilen zu können.

Der Direktor des Gefängnisses war ein großer, vierschrötiger Mann, mit imposantem Gesicht und langem Schnurr- und Vollbart. Er empfing Nechludoff äußerst streng und erklärte ihm sofort, der Zutritt für fremde Personen zu den Gefangenen wäre nur mit Erlaubnis des Gouverneurs möglich; und als Nechludoff ihm sagte, man hätte ihm sogar in den großen Städten, auf der Reise des Zuges bei den Gefangenen eingelassen, entgegnete der Direktor in trockenem Tone:

»Das ist schon möglich, aber ich kann Sie nicht hineinlassen.«

Dabei bedeutete sein Ton klar und deutlich:

»Ihr Herren aus der Hauptstadt bildet euch ein, ihr könntet uns in Erstaunen oder Verlegenheit setzen; aber nein, in Sibirien werden wir euch schon zeigen, daß wir die Vorschriften genügend kennen, um sie euch im Notfall ins Gedächtnis zurückrufen zu können.«

Nechludoff überreichte ihm die Ausfertigung des Dekrets, in welchem die Begnadigung der Maslow ausgesprochen war; und auch das machte nicht den geringsten Eindruck auf diesen schrecklichen Menschen. Er weigerte sich nicht nur hartnäckig, Nechludoff die Thore des Gefängnisses überschreiten zu lassen, sondern er wollte ihm auch nicht einmal sagen, ob der Zug schon angelangt wäre. Als Nechludoff ihn naiver Weise fragte, ob die Kopie, die er eben erhalten, zur Freilassung der Maslow genügte, lächelte er bei dieser Frage so verächtlich, daß Nechludoff sich seiner Naivetät schämte. Der Direktor war indessen so gefällig, ihm zu versprechen, er würde der Maslow von der Annahme ihres Gnadengesuches Mitteilung machen; er fügte sogar als Zeichen ganz besonderer Gunst hinzu, er würde sie, sobald seine Vorgesetzten ihm die Freilassungsordre übergeben würden, auch nicht eine Stunde länger zurückhalten.

So stieg denn Nechludoff, ohne etwas erreicht zu haben, wieder in seinen Fiaker und fuhr nach dem Hotel zurück.

Hier erfuhr er dagegen aus dem Munde des Kutschers, daß der Zug bereits seit einer halben Stunde angelangt war, und er erfuhr auch aus derselben Quelle das Motiv der unbeugsamen Strenge des Gefängnisdirektors. Diese Strenge stammte daher, daß in dem überfüllten Gefängnis eine Typhusepidemie ausgebrochen war.

»Das ist gar nicht so wunderbar,« erklärte der Kutscher, indem er sich auf seinem Bock umdrehte; »es sind zweimal mehr Gefangene da, als das Gefängnis zu fassen vermag. Es geht toll genug darin zu, es sterben jeden Tag mehr als zwanzig.«

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Der Mißerfolg von Nechludoffs Bemühungen bei dem Gefängnisdirektor hatte das Thätigkeitsfieber, das er an diesem Tage empfand, nicht beruhigt. Anstatt, wie er zuerst beabsichtigt hatte, in sein Zimmer hinaufzugehen, beschloß er, in den Palast des Gouverneurs zurückzukehren, um in den Bureaus nachzufragen, ob die Nachricht von der Begnadigung der Maslow noch nicht eingetroffen wäre. Er machte den Weg zu Fuß und fühlte sich glücklich, einen neuen Vorwand gefunden zu haben, um den Gedanken, der ihn quälte, zu verscheuchen; und als er in den Bureaus erfuhr, es wäre noch keine Nachricht eingetroffen, da war er glücklich, noch über eine Stunde mit Briefschreiben verbringen zu können. Er schrieb an Selenin, seine Tante, seinen Advokaten, und erzählte ihnen von seiner Unruhe über eine Verzögerung, die doch im Grunde genommen ganz natürlich war.

Als er die Briefe beendet hatte, blickte er auf seine Uhr und entdeckte mit Freuden, daß er kaum Zeit hatte, seine Toilette zu beendigen, wenn er nicht zu spät zum Gouverneur kommen wollte.

Aber jetzt ergriff die unangenehme Empfindung auf der Straße von neuem Besitz von ihm. Wie würde Katuscha die Umwandlung ihrer Strafe wohl aufnehmen? Wo würde sie sich niederlassen, was würde Simonson thun? Und was dachte sie wohl von ihm, welche Gefühle empfand sie für ihn?

Nechludoff erinnerte sich, welche Veränderung sich in ihr vollzogen hatte. Er erinnerte sich an seine Besuche im Gefängnis und an das Lächeln, welches sie ihm hatte zu teil werden lassen, als sie mit dem Zuge abreiste.

»Ich muß das alles vergessen und in mir ausrotten,« sagte er sich und nahm sich von neuem vor, nicht mehr an das junge Weib zu denken. »Bald werde ich sie wiedersehen, dann wird sich alles entscheiden.«

Nach diesen Worten begann er darüber nachzudenken, wie er es bei dem Gouverneur wohl anzustellen habe, um in das Gefängnis hineinzukommen.

Das Diner des Gouverneurs, das mit dem gewöhnlichen Luxus solcher Feste veranstaltet war, machte Nechludoff an jenem Abend nach den langen Monaten, in welchen er sich nicht allein jedes Luxus, sondern auch der allergewöhnlichsten Bequemlichkeit hatte berauben müssen, ein ganz besonderes Vergnügen.

Die Gattin des Gouverneurs, eine frühere Ehrendame am Hofe des Zaren Nikolaus, war eine vornehme Petersburger Dame der alten Schule, die vorzüglich französisch und nur sehr mangelhaft russisch sprach. Sie hielt sich sehr gerade und bemühte sich in ihren Bewegungen, die Ellenbogen nie von ihrer Taille zu entfernen. Ihrem Manne gegenüber trug sie ein ruhiges und etwas verächtliches Benehmen zur Schau, doch gegen ihre Gäste war sie ganz besonders liebenswürdig, ohne es jedoch zu verabsäumen, ihre Gunst dem Grade ihrer Bedeutung anzupassen.

Sie empfing Nechludoff wie einen Mann ihrer Gesellschaft und ließ ihm jene leichten, kaum merklichen Huldigungen zu teil werden, die ihm wieder einmal das volle Bewußtsein seiner Vollkommenheiten verliehen, und von denen er sich vollauf befriedigt fühlte. Sie gab ihm sehr diskret zu verstehen, sie kenne die etwas eigentümlichen, aber um so ehrenhafteren Gefühle, die ihn nach Sibirien geführt, und er erkannte, daß sie ihn für einen außergewöhnlichen Menschen hielt.

Diese leichten Huldigungen, die Atmosphäre des Wohlbehagens und des Luxus, die das Haus des Gouverneurs erfüllte, das alles hatte die Wirkung, daß Nechludoff sich vollständig dem Vergnügen hingab, ein ausgezeichnetes Diner in Gesellschaft vornehmer und liebenswürdiger Personen mitmachen zu können. Er hatte die Empfindung, er befinde sich wieder in einem ihm vertrauten Milieu, in seinem wahren Milieu; es schien ihm, als wäre alles, was er in der letzten Zeit erlebt und gesehen, nur ein Traum gewesen, aus dem er plötzlich erwachte.

Außer dem General, seiner Frau, seinem Schwiegersohn und seiner Tochter war bei der Tafel ein reicher Goldminenbesitzer, ein pensionierter Bureauchef und der englische Reisende, von dem der Gouverneur am Morgen mit Nechludoff gesprochen hatte, und Nechludoff war entzückt, mit jedem dieser drei Gäste Bekanntschaft anknüpfen zu können.

Der englische Reisende war ein rothaariger, gesunder Mann, der sehr schlecht französisch sprach, aber sehr beredt, wurde, sobald er sich auf englisch ausdrücken konnte. Er wußte sehr viel und hatte auch vielerlei gesehen; er interessierte Nechludoff ganz besonders, als er ihm von seinen Erlebnissen erzählte, die sich an Amerika, Indien, Japan und Sibirien knüpften.

Der junge Goldminenbesitzer, ein Bauernsohn, der einen Frack nach der letzten Mode und Brillantknöpfe in seinem Hemdeinsatz trug, war ebenfalls ein reizender Mensch. Er hatte eine Leidenschaft für Bücher, opferte große Summen für wohlthätige Stiftungen und hielt sich sorgfältig über alle Fortschritte der liberalen Stimmung in Europa auf dem Laufenden. Nechludoff war entzückt, ihn kennen zu lernen. Er interessierte ihn gleichzeitig, weil er sehr angenehm plauderte und weil er ein neues und durchaus sympathisches soziales Phänomen verkörperte: das Phänomen eines glücklichen Pfropfreises der europäischen Zivilisation auf dem kräftigen Stamm der russischen Natur.

Der pensionierte Bureauchef war ein kleiner, aufgedunsener Mensch mit spärlichen, sorgfältig frisierten Haaren, blauen, stets feuchten Augen, einem Spitzbauch und einem gutmütigen Lächeln. Er sprach wenig, und es fehlte ihm an hervorstechenden Eigenschaften, doch der Gouverneur schätzte ihn, weil er bei seinem Amte eine gewisse Rechtschaffenheit gezeigt hatte; noch mehr aber schätzte ihn die Frau des Gouverneurs, eine vorzügliche Pianistin, weil er ein ausgezeichneter Musiker war, und mit ihr vierhändig spielte, und Nechludoffs Stimmung war eine so wohlwollende, daß er sogar entzückt war, mit diesem kleinen, pensionierten Bureauchef Bekanntschaft zu machen.

Keiner dieser drei Gäste brachte aber einen so reizenden Eindruck auf Nechludoff hervor, als das liebenswürdige junge Paar, die Tochter des Gouverneurs und ihr Gatte. Die Tochter des Gouverneurs war nicht hübsch, aber ihr Gesicht drückte eine naive Sanftmut aus. Alle ihre Gedanken auf der Welt galten nur ihren beiden Kindern. Ihr Gatte, den sie aus Liebe und sogar ein wenig gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet hatte, war ein früherer Kandidat der Universität Moskau. Bescheiden, schüchtern, aber durchaus nicht unintelligent, erholte er sich von dem eintönigen Dienste, indem er sich mit Statistik beschäftigte, und niemand war über die Bewegung der fremden Bevölkerung in Sibirien so gut unterrichtet, als er.

Diese ganze kleine Gesellschaft empfing Nechludoff mit um so größerer Höflichkeit und Liebenswürdigkeit, als sie wirklich aufrichtig entzückt waren, ihn bei sich zu sehen, denn man hatte hier selten Gelegenheit, neuen Gesichtern zu begegnen. Der Gouverneur, der große Militäruniform mit einem weißen Kreuze auf der Brust angelegt, unterhielt sich mit ihm sogleich, wie mit einem alten Freunde. Er fragte ihn, sobald er sich gesetzt, was er seit dem Morgen gethan; doch als Nechludoff die Gelegenheit benutzte und ihm antwortete, daß er auf der Post die Begnadigung der Verurteilten erfahren, für die er sich interessierte, und dann von neuem darauf drang, sie im Gefängnis zu sprechen, zog der Gouverneur die Stirn kraus und that, als habe er nicht gehört. Offenbar sprach er beim Essen nicht gern von ernsten Geschäften.

»Noch ein bischen Wein?« fragte er den englischen Reisenden auf französisch.

Der Engländer hielt sein Glas hin und erzählte, er habe am Vormittag die Kathedrale und zwei Fabriken besichtigt; dann fügte er hinzu, er würde glücklich sein, auch das große Gefängnis besuchen zu können.

»Nun, das trifft sich ja wunderbar,« rief der Gouverneur, sich zu Nechludoff wendend, »gehen Sie zusammen hin; ich werde Ihnen einen Paß ausstellen.«

»Möchten Sie das Gefängnis nicht noch heute Abend besuchen?« fragte Nechludoff den Reisenden.

»Ja, ich wollte Sie gerade darum bitten, das Gefängnis heute Abend in Augenschein nehmen zu dürfen,« sagte der Engländer zu dem Gouverneur. »Alle Gefangenen sind dann in ihren Zimmern, und ich kann sie in ihrem Leben und Treiben beobachten.«

»Haha, Sie Schlauberger, Sie wollen das Fest in seinem vollen Glanze sehen,« rief der Gouverneur, der seinen betrunkenen Zustand bis dahin sehr gut geheim gehalten hatte. »Haha; na gut, Sie sollen’s sehen. Ich habe wohl zwanzigmal, um zu reklamieren, nach St. Petersburg geschrieben, doch man hat nicht auf mich gehört. Vielleicht wird man sich zum Handeln entschließen, wenn man dieselben Reklamationen in der fremdländischen Presse gelesen hat.«

Dann wandte sich die Unterhaltung einem anderen Stoffe zu. Man sprach von Indien, von der Tonkin-Expedition, mit der sich die russischen Zeitungen damals beschäftigten; man sprach von Sibirien, und der Gouverneur führte einige merkwürdige Fälle von der allgemeinen Korruption der sibirischen Beamten an.

Gegen Ende des Diners ließ die Unterhaltung nach, wenigstens fand Nechludoff, daß sie nachließ. Doch nach dem Diner, als man in den Salon gegangen war, um den Kaffee einzunehmen, kam die Hausfrau auf den Gedanken, den englischen Reisenden nach Gladstone auszufragen, und Nechludoff hatte die Empfindung, daß die Antworten des Engländers sehr verständig waren. Als er nach dem guten Diner und den guten Weinen in Gesellschaft guter Leute von vollendeter Erziehung in einem guten Sessel saß, fühlte sich Nechludoff immer behaglicher, und als sich die Hausfrau auf Bitten des Engländers mit dem pensionierten Bureauchef ans Piano setzte und Beethovens Symphonie in C-moll zu spielen begann, empfand Nechludoff ein Gefühl der Selbstzufriedenheit, wie er es seit langer Zeit nicht mehr empfunden hatte. Das Gefühl seines eigenen Wertes war gleichsam plötzlich in ihm aufgegangen.

Das Piano war ausgezeichnet, und Nechludoff, der die Symphonie Beethovens auswendig kannte, mußte zugeben, daß er sie selten so gut hatte spielen hören. Bei dem wunderbaren Andante hatte er Mühe, seine Thränen zurückzuhalten. Es ergriff ihn Rührung über sich selbst, über Katuscha, über seine Schwester Natalie, die ihn so sehr geliebt hatte.

Nachdem er der Wirtin für den künstlerischen Genuß, den sie ihm bereitet, gedankt, stand er auf, um Abschied zu nehmen, als die Tochter des Gouverneurs sich ihm errötend näherte und zu ihm sagte:

»Sie hatten die Güte, sich für meine Kinder zu interessieren, wollen Sie sie sehen?«

»Sie bildet sich ein, es wäre für jedermann ein großes Glück, ihre Kinder zu sehen,« sagte die Mutter mit nachsichtigem Lächeln für den mangelnden Takt ihrer Tochter. »Der Fürst hat keine Lust, sie zu sehen.«

»Aber Verzeihung, im Gegenteil; ich werde sehr glücklich sein,« versetzte Nechludoff, von diesem Zuge mütterlicher Liebe tief gerührt, »Im Gegenteil, ich bitte Sie, sie mir zu zeigen,«

»Sie nimmt den Fürsten mit, um ihn ihre Jöhren bewundern zu lassen,« rief der Gouverneur lachend aus dem Hintergrunde des Salons, wo er mit seinem Schwiegersohn und dem Besitzer der Goldminen Whist spielte, »Na, gut, mein Freund, machen Sie diesen langweiligen Besuch ab.«

Indessen verließ die junge Frau, die bei dem Gedanken, man würde ein Urteil über ihre Kinder fällen, sichtlich erregt war, in aller Eile den Salon, indem sie Nechludoff hinter sich herzog, In einem großen, ganz weiß ausgeschlagenen Zimmer, das von einer Lampe erhellt wurde, deren scharfes Licht ein dunkler Schirm milderte, standen zwei kleine Kinderbetten nebeneinander; neben ihnen saß eine Amme in weißer Pelerine, mit gutem, dicken Gesicht. Sie erhob sich, um ihre Herrin zu begrüßen.

Sobald sie eingetreten war, beugte sich die junge Mutter über eins der Betten.

»Das ist meine Katja,« sagte sie, indem sie den Vorhang bei Seite schob, um den reizenden, mit langen Haaren bedeckten Kopf eines kleinen zweijährigen Mädchens sehen zu lassen, das ruhig mit offenem Munde schlief.

»Sie ist hübsch, nicht wahr, und denken Sie, sie ist erst zwei Jahre!«

»Entzückend!«

»Und das ist Waska, wie ihn sein Großvater nennt. Ein ganz anderer Typus, ein richtiger Sibirier, nicht wahr?«

»Ja, ein prächtiger Knabe,« sagte Nechludoff, indem er ein dickes, rotes Baby betrachtete.

Die Mutter, die neben ihm stand, lächelte sanft. Plötzlich aber erinnerte sich Nechludoff wieder an die Ketten, an die rasierten Köpfe, die Faustschläge in die Augen, an den sterbenden Krülzoff und an Katuscha. Er empfand einen entsetzlichen Schmerz und bedauerte, daß ihm nicht auch ein so reines und ruhiges Glück beschieden war, wie das, das er vor sich sah.

Nachdem er die Schönheit der beiden Kinder nach Möglichkeit gelobt, kehrte er mit der Mutter in den Salon zurück, wo der Engländer auf ihn wartete, um sich, wie es verabredet war, mit ihm nach dem Gefängnis zu begeben. Man sagte sich Lebewohl und tauschte Wünsche und Danksagungen aus; dann verließ Nechludoff in Begleitung des Engländers das gastfreundliche Haus des Gouverneurs.

Das Wetter hatte sich geändert, ein dichter Schnee fiel hernieder und hatte bereits das Pflaster des Hofes, die Bäume des Gartens, die Stufen der Freitreppe, das Deck des Wagens und den Rücken der Pferde bedeckt. Nechludoff stieg mit seinen Gefährten in den Wagen und befahl dem Kutscher, nach dem Gefängnis zu fahren.

Vierundzwanzigstes Kapitel

Der Schnee mochte einen noch so schönen, fröhlichen, weißen Schleier über alle Dinge breiten, er mochte das Dach, die Vortreppe, den Hof des Gefängnisses damit schmücken; dieses behielt mit seinen beiden roten Laternen, seiner Schildwache, trotzdem sein düsteres Aussehen.

Der Direktor mit der imposanten Miene empfing die Besucher selbst am Eingang des Thores. Beim Scheine der Laterne las er aufmerksam den Paß, den der Gouverneur Nechludoff, als sie von der Tafel aufgestanden waren, übergeben hatte; dann beschränkte er sich darauf, zum Zeichen der Ergebung in die Laune seines Vorgesetzten die Achseln zu zucken und forderte die Besucher auf, ihm in sein Bureau zu folgen. Als sie hier angelangt waren, fragte er sie, was sie eigentlich sehen wollten.

Nechludoff erklärte ihm, vor allem wünsche er eine Unterredung mit der Maslow, dann fügte er hinzu, sein Begleiter wünsche einige Fragen über das Gefängnissystem zu stellen, um die Säle dann mit größerem Nutzen besichtigen zu können.

Der Direktor befahl einem Aufseher, die Maslow zu holen und sie in das Bureau zu führen.

»Wieviel Personen kann das Gefängnis fassen?« fragte der Engländer, für den Nechludoff den Dolmetsch spielte, »Wieviel Personen enthält es augenblicklich? Wieviel Männer? wieviel Weiber? wieviel Kinder? Wieviel Sträflinge, wieviel Verschickte und wieviel freie Begleiter? und wieviel Kranke?«

Nechludoff übersetzte die Fragen des Engländers und die Antworten des Direktors; doch er hätte kaum sagen können, was diese Fragen und Antworten für einen Wert hatten, denn die Aussicht auf seine Unterredung mit Katuscha hatte ihn ganz außer sich gebracht. Und als er mitten in einem Satze, den er übersetzte, ein Geräusch von Schritten auf dem Korridor vernahm, als sich die Thür öffnete und er – wie es schon so oft seit drei Monaten passiert war – diesmal aber zweifellos zum letztenmale – einen Aufseher eintreten sah, der die weißgekleidete Katuscha mit ihrem Tuch auf dem Kopfe hereinführte, und, er Katuscha erblickte, da war es ihm, als stocke ihm plötzlich alles Blut in den Adern.

»Ich will leben, ich will eine Familie und Kinder haben; ich will am Glück teilnehmen,« murmelte eine Stimme in seinem Herzen, die er schon lange nicht mehr gehört hatte.

Er stand auf und ging Katuscha einige Schritte entgegen. Diese hatte noch nichts gesprochen; doch sie war ganz rot, aufgeregt, und betrachtete ihn mit einer Miene, von der er sich verletzt fühlte. Es war eine Miene, wie er sie an ihr noch nicht bemerkt, ein Gemisch von kühler Entschlossenheit und glühender Leidenschaft. Sie wurde rot und blaß; ihre Finger strichen am Saume ihrer Jacke auf und nieder, und bald sah sie ihm fest ins Gesicht, bald schlug sie schüchtern die Augen nieder.

»So weißt du die Neuigkeit schon?« fragte Nechludoff.

»Ja, ich habe sie schon erfahren … doch ich habe mich nun entschlossen; ich werde mich mit Wladimir Iwanowitsch verheiraten.«

Sie sprach sehr schnell, ohne innezuhalten. Offenbar hatte sie sich die Worte, die sie sprach, vorher zurechtgelegt.

»Wie? mit Wladimir Iwanowitsch?« begann Nechludoff; doch sie unterbrach ihn:

»Nun, was? Da er es so will, daß ich bei ihm leben soll …«

Sie hielt, wie entsetzt, inne und fuhr dann fort: »Da er es so will, daß ich bei ihm leben soll! Was könnte ich mir Besseres wünschen? Vielleicht werde ich ihm Freude machen … Vielleicht werde ich mich nützlich machen können … Was kann ich …«

Von zwei Dingen war nur eins möglich: entweder hatte sie sich in diesen Simonson verliebt und bedurfte Nechludoffs Opfer wirklich nicht mehr; oder sie liebte Nechludoff noch immer, und vereinigte ihr Leben mit dem Simonsons, um ihn von dieser Last zu befreien.

Darüber war sich Nechludoff vollständig im Klaren, Er schämte sich und fühlte, wie er rot wurde.

»Wenn du ihn liebst …« sagte er.

»Ich? Nie habe ich derlei Menschen gekannt! – Wie sollte ich ihn nicht lieben? Und dann ist Wladimir Iwanowitsch auch so ganz anders, als die übrigen!«

»Gewiß,« versetzte Nechludoff mit zitternder Stimme. »Er ist ein ausgezeichneter Mensch, und ich glaube …«

Doch sie unterbrach ihn von neuem, als fürchte sie, ihn das aussprechen zu hören, was er sagen wollte. Oder vielleicht wollte sie ihm alles sagen.

»Nein, nein, Sie müssen uns verzeihen, daß wir nicht thun, was Sie wollen,« murmelte sie, »Denn Sie, Sie müssen leben!«

Was er sich gesagt, was er sich bereits im Kinderzimmer beim Gouverneur gesagt, das wiederholte ihm jetzt Katuscha!

Doch schon hatte er diesen Gedanken von sich gewiesen. Von alledem blieb nichts mehr in ihm zurück; er hatte wieder ganz andere Gedanken und ganz andere Gefühle. Er schämte sich, er hatte Furcht, und die Angst peinigte ihn.

»So ist also alles zwischen uns aus?« fragte er.

»Gewiß, gewiß!« versetzte sie mit seltsamem Lächeln.

»Ich wäre doch aber glücklich, dir dienlich zu sein.«

»Wir brauchen nichts!« (Sie sah Nechludoff fest ins Auge, als sie dieses »wir« aussprach,) »Ich schulde Ihnen so schon genug! … Ohne Sie …«

Sie wollte noch etwas hinzufügen; doch plötzlich erstarb ihre Stimme; sie senkte den Kopf und sagte nichts weiter.«

»Ich weiß nicht, wer von uns beiden dem andern am meisten schuldet, Gott wird zwischen uns abrechnen,« fuhr Nechludoff fort.

»Ja, ja, so ist’s! Gott sieht uns,« murmelte sie.

» Are you ready?« (Sind Sie bereit?) fragte der Engländer.

»Sofort!« versetzte Nechludoff und fragte Katuscha, indem er sich bemühte, seine Angst zu verbergen, nach Krülzoffs Gesundheit.

Auch Katuscha hatte sich gefaßt. Mit fast ruhigem Tone sagte sie, was sie wußte: daß Krülzoff auf der Fahrt viel hatte leiden müssen und gleich bei der Ankunft ins Lazareth gebracht worden war. Maria Pawlona hatte um die Erlaubnis gebeten, ihn pflegen zu dürfen, doch man hatte ihr erklärt, das wäre unmöglich.

»Und jetzt will ich dorthin zurückkehren,« sagte sie, als sie sah, daß der Engländer ungeduldig wurde.

»Sagen wir uns noch nicht Lebewohl; ich werde Sie wiedersehen,« sagte Nechludoff und reichte ihr die Hand.

»Nein, nein, adieu, adieu!« antwortete ihm Katuscha in entschlossenem Tone.

Nun begegneten sich ihre Augen, und in dem Blick ihrer etwas schielenden Augen, in ihrem traurigen Lächeln, in der Art, wie sie das Wort »Adieu« aussprach, sah Nechludoff klar und deutlich, daß von den beiden für ihr Verhalten maßgebenden Erklärungen die zweite die allein richtige war. Er erkannte, daß sie ihn liebte, daß sie ihn von ganzem holzen liebte, wie an dem Abend, da er sie, als sie aus der Kirche kam, umarmt. Er begriff, daß sie sich gesagt: wenn sie sich mit ihm verheirate, so erlege sie ihm ein Opfer auf und richte ihn zu Grunde; wenn sie sich dagegen mit Simonson verheiratete, so befreie sie ihn.

Sie schüttelte die Hand, die er ihm reichte, wandte sich plötzlich um und verließ das Zimmer.

Der Engländer wollte die Besichtigung der Säle sofort vornehmen, doch als er sah, daß Nechludoffs Hände vor Erregung zitterten, kam ihn ein Bedenken an und er schickte sich an, sich zunächst verschiedene Einzelheiten in seinem Notizbuch zu notieren, Nechludoff setzte sich in einiger Entfernung auf eine Holzbank. Verzweiflung und Scham erfüllte sein Herz, und hier blieb er einige Minuten wie betäubt sitzen.

»Nun, meine Herren, wollen wir jetzt die Stuben besichtigen?« fragte der Direktor.

Nechludoff sprang schnell empor, der Engländer klappte sein Notizbuch zu, und man machte sich auf den Weg.