An dem nämlichen Tage, an welchem sich beim Abmarsch die Scene zwischen dem Offizier und dem Verbrecher wegen des kleinen Mädchens abgespielt hatte, erwachte Nechludoff, der die Nacht in einem Wirtshause zugebracht, ziemlich spät am Morgen, und hatte noch eine Zeit lang mit Briefen zu thun, die er nach der Kreisstadt schicken wollte. Auf diese Weise geschah es, daß er das Wirtshaus später als sonst verließ und den Zug nicht mehr auf der Landstraße antraf; er kam nämlich erst gegen Einbruch der Dämmerung in das Dorf, in welchem die nächste, auf einen halben Tag berechnete Rast abgehalten wurde.
Er säuberte sich in dem Gasthause, dessen Wirtin ein altes, beleibtes Weib mit ganz besonders weißem, dickem Hals war, und saß nun in einem saubern Zimmer, dessen Ausstattung in einer großen Anzahl von Heiligenbildern und andern Gemälden bestand. Hier nahm er den Thee zu sich und begab sich dann nach dem Rastgebäude, um den Offizier um die Erlaubnis zu bitten, den Gefangenen einen Besuch machen zu dürfen.
An den letzten sechs Rasttagen hatten sämtliche Offiziere, obwohl sie sich ablösten, Nechludoff keinen Eintritt in das Rastgebäude gewährt, so daß er Katuscha schon seit längerer Zeit nicht zu Gesicht bekommen hatte. Diese außergewöhnliche Strenge hatte darin ihre Erklärung, daß man eine Revision von seiten eines durchreisenden hohen Beamten in Sachen des Gefängniswesens erwartete. Jetzt aber war dieser hohe Beamte bereits durchgereist, ohne den Gefangenenzug auch nur eines Blickes zu würdigen, und Nechludoff hegte deshalb die Hoffnung, der Offizier, der das Kommando am Morgen angetreten, werde ihm ebenso wie seine Vorgänger die Erlaubnis erteilen, mit Katuscha sprechen zu dürfen.
Die Wirtin des Gasthauses wollte Nechludoff einen Tarantaß zur Verfügung stellen, mit dem er nach dem Rastgebäude fahren konnte, das am äußersten Ende des Dorfes lag, doch Nechludoff zog es vor, in Begleitung eines starkschultrigen Burschen, der ungeheuer große, mit Birkenharz geschmierte Stiefel trug, zu Fuß dorthin zu wandern.
Ein dichter, feuchter Nebel fiel hernieder, und die Dunkelheit wurde so stark, daß Nechludoff den Burschen nicht mehr zu sehen vermochte, wenn er sich nur drei Schritte weit entfernte und der Lichtschein aus den Fenstern nicht auf ihn fiel. Er hörte dann nur noch, wie der Bursche mit seinen großen Stiefeln durch den dicken Kot tappte. Zuerst kamen sie über einen Platz, auf dem eine Kirche stand, und durch eine lange Straße, in der viele Fenster hell erleuchtet waren, und endlich gelangte Nechludoff mit seinem Begleiter an das Ende des Dorfes, das in tiefe Finsternis gehüllt war.
Bald aber zuckten auch in dieser Dunkelheit rötliche Flämmchen auf, die den Nebel zerrissen. Das war das Licht der Laternen, die an dem Rastgebäude brannten. Diese rötlichen Flämmchen traten immer deutlicher hervor und vergrößerten sich, und bald zeigte sich auch die Umfriedigung und die dunkle Gestalt einer Schildwache, hinter der ein Laternenpfahl und ein Schilderhaus auftauchte. Wie üblich rief die Schildwache die Näherkommenden mit den Worten: »Wer da?« an, und als sich herausstellte, daß es Fremde waren, wurde sie so grob, daß sie Nechludoff nicht einmal gestatten wollte, neben der Umfriedung stehen zu bleiben. Doch sein Begleiter ließ sich durch den groben Ton der Schildwache nicht verblüffen, sondern sagte zu dem Soldaten:
»Na, was ist denn los? Warum wirst du denn so wütend? Ruf‘ mal den Unteroffizier! Wir werden so lange hier warten!«
Der Soldat erwiderte kein Wort, brüllte etwas in die Thür hinein und rührte sich nicht vom Flecke, sondern beobachtete mit aufmerksamem Blicke den stämmigen Burschen, der Nechludoffs Stiefel beim Scheine der Laterne mit einem Stückchen Holz von dem daran klebenden Schmutz säuberte.
Jetzt ließ sich hinter der Umfriedigung ein dumpfes Gemisch von männlichen und weiblichen Stimmen vernehmen. Etwa drei Minuten später wurde das Rasseln von Ketten hörbar, eine Thür wurde aufgerissen, und in den Lichtschein der Laterne trat aus der tiefen Finsternis ein Unteroffizier, der in einen Mantel gehüllt war. Er fragte, was man wünsche, und Nechludoff übergab ihm seine Karte, die er bereits hervorgezogen, und auf der er die Bitte aussprach, man möchte ihm in persönlichen Angelegenheiten den Eintritt in das Gebäude gewähren.
Der Unteroffizier war zwar nicht so grob wie die Schildwache, dafür zeigte er sich aber um so neugieriger, Er wollte um jeden Preis wissen, in welcher Angelegenheit Nechludoff den Offizier sprechen wollte, und wer er war. Nechludoff erklärte, er hätte eine rein persönliche Angelegenheit zu erledigen, fügte hinzu, er werde sich dankbar erweisen und bat, man möchte de Karte übergeben. Der Unteroffizier nahm sie an sich, nickte zustimmend mit dem Kopfe und verschwand.
Einige Zeit darauf knarrte die Thür von neuem, und es erschienen einige Weiber, die Körbe, aus Birkenrinde geflochtene Eimer, irdene Töpfe und Leinensäcke trugen. Sie unterhielten sich eifrig in ihrem sibirischen Dialekt, während sie die Schwelle der Thür überschritten. Einzelne waren bäuerisch, andere wieder nach städtischer Mode gekleidet und trugen Mäntel und Pelze; die Röcke hatten sie hochgeschürzt, und um den Kopf hatten sie Tücher gebunden.
Als sie Nechludoff und seinen Begleiter beim Scheine der Laterne erblickten, starrten sie sie mit neugierigen Augen an. Eine schien ganz besonders an dem kräftigen, stämmigen Burschen Wohlgefallen zu finden und überhäufte ihn im Spaß sofort mit einer Flut sibirischer Scheltworte.
»Was treibst du denn hier, du Schweinekerl?« schrie sie ihm zu.
»Ich habe einen Fremden hergeführt,« versetzte der Bursche. »Aber was trägst du denn da?«
»Weißen Käse! Wir sollen morgen früh wieder herkommen!«
»Na, aber über Nacht bleibt ihr doch nicht?« fragte der Bursche unter lautem Lachen.
»Hol‘ dich der Teufel, du frecher Schreihals!« versetzte sie ebenfalls lachend. »Komm‘ lieber mit uns ins Dorf mit!«
Der Bursche machte noch eine Bemerkung, über die nicht allein die Frauen, sondern auch die Schildwache in lautes Gelächter ausbrachen. Dann wandte er sich zu Nechludoff um und fragte:
»Finden Sie denn auch den Weg? Werden Sie sich auch nicht verirren?«
»Nein, nein; ich werde mich schon zurechtfinden.«
»Na, also, wenn Sie an der Kirche vorbei sind, dann ist es von dem zweistöckigen Hause auf der rechten Seite das zweite. Da haben Sie auch meinen Spazierstock,« meinte er und gab Nechludoff den dicken, etwa mannshohen Knüppel in die Hand, den er mitgebracht hatte, um dann gleichzeitig mit den Weibern zu verschwinden. Mit seinen langen Stiefeln tappte er durch den Kot, und man hörte noch hin und wieder seine Stimme und die der Weiber, als die Thür von neuem knarrte und ein Unteroffizier heraustrat, der Nechludoff aufforderte, sich zum Offizier zu begeben.