Als Nechludoff von dem Gouverneur Abschied genommen, begab er sich nach der Post. Er fühlte sich in besserer Stimmung und mehr zur Thätigkeit aufgelegt, als er es seit langer Zeit gewesen war.

Das Postbureau befand sich in einem großen gewölbten, dunklen und feuchten Saale. Hinter den Gittern saßen etwa ein Dutzend Beamte; die meisten plauderten miteinander, während sich in dem für das Publikumbestimmten Raum eine ungeduldige Menge stieß und drängte. An der Thür brachte ein alter Beamter seine ganze Zeit damit zu, unzählige Couverts abzustempeln, die ihm einer seiner Kollegen hinreichte.

Nechludoff brauchte nicht lange zu warten. In diesem Bureau, wie überall, verschaffte ihm seine vornehme Kleidung einen Vorzug, und einer der schwatzenden Beamten gab ihm sofort ein Zeichen, er könne nähertreten. Nechludoff reichte seine Karte, und der Beamte übergab ihm ehrfurchtsvoll die umfangreiche Post, die für ihn lagerte.

Unter dieser Post waren mehrere Wertbriefe und andere Briefe, einige Bücher, Broschüren und Zeitungen. Um wenigstens auf alles einen Blick werfen zu können, setzte sich Nechludoff auf eine Holzbank neben einen Soldaten, der hier mit einem Register in der Hand wartete. Unter den Briefkouverts fiel ihm ganz besonders eins auf, ein großes Kouvert mit höchst imposantem großem Siegel. Er öffnete das Kouvert, blickte nach der Unterschrift, und sofort fühlte er, wie das Blut ihm ins Gesicht schoß und sein Herz zum Zerspringen klopfte. Der Brief trug die Unterschrift Selenins, des früheren Freundes Nechludoffs, der jetzt Staatsanwalt am Senat war; und dem Briefe war ein amtliches Schreiben beigefügt. Es war die Antwort auf das Gnadengesuch der Maslow.

Wie lautete diese Antwort? War es eine Verwerfung? Nechludoff brannte darauf, es zu erfahren, und doch wagte er nicht, den Brief zu lesen, aus dem er es ersehen mußte. Endlich fand er die Kraft, die wenigen Zeilen zu entziffern, die ihm Selenin schrieb, und nun stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Das Gnadengesuch der Maslow war bewilligt!

»Lieber Freund!« – schrieb ihm Selenin – »unsere letzte Unterredung hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, Du hattest hinsichtlich der Maslow Recht. Ich habe ihre Angelegenheit genau studiert, und bemerkt, daß ihre Verurteilung das Ergebnis eines offenbaren Irrtums war. Leider war es unmöglich, das Urteil kassieren zu lassen; deshalb habe ich mich an die Begnadigungskommission gewendet und mit Freuden erfahren, daß das Gesuch deines Schützlings sich schon dort befand. Gott sei Dank, habe ich die Sache durchsetzen können und schicke dir angeschlossen die Kopie des Dekrets; ich schicke es dir unter der Adresse, die mir die Gräfin Katharina Iwanowna eben gegeben. Was das Dekret selbst betrifft, so ist es an die Maslow nach der Stadt geschickt worden, in der das Urteil gefällt wurde; doch ich glaube, man hat es ihr nachgesandt, und es dürfte deinem Schützling wohl bald zugestellt werden. Ich will dir jedenfalls diese gute Nachricht schnell mitteilen und schüttle dir freundschaftlich die Hand. Dein Sclenin.«

Was Dekret, dessen Abschrift Selenin Nechludoff schickte, lautete folgendermaßen:

»Kanzlei Sr. Kaiserlichen Majestät, Begnadigungskommission. Auf Befehl Seiner Kaiserlichen Majestät wird die p. p. Katharina Maslow benachrichtigt, daß Seine Kaiserliche Majestät von ihrem Gesuche Kenntnis genommen und geruht haben, die ihr zuerkannte Strafe von vier Jahren Zwangsarbeit in vier Jahre Verschickung in irgend ein Gouvernement an der Grenze von Sibirien umzuwandeln.«

Glückliche, glückliche Nachricht! Damit ging alles in Erfüllung, was Nechludoff für Katuscha und für sich selbst wünschen konnte. Doch er dachte dann daran, daß diese Veränderung in Katuschas Lage auch die Bedingungen seiner Beziehungen zu ihr umgestalten würde. So lange sie zur Zwangsarbeit verurteilt blieb, so lange war die Ehe, die er mit ihr einzugehen gedachte, eine rein fiktive Verbindung und hatte nur dadurch Bedeutung, daß sie das Schicksal der Verurteilten linderte. Doch jetzt wurde die Ehe etwas Ernsthafteres, jetzt hinderte Nechludoff und Katuscha nichts mehr, das gemeinsame Leben zu führen, wie es Mann und Frau führen sollen. Und Nechludoff fühlte sich bei diesem Gedanken wieder von seiner früheren Angst ergriffen. Er fragte sich ängstlich, ob er auf dieses gemeinsame Leben auch vorbereitet wäre, und er mußte sich selbst die Antwort geben, daß er es durchaus nicht war.

Dann kamen ihm Katuschas Beziehungen mit Simonson wieder in den Sinn. Was bedeuteten die Worte, die sie ihm am vorigen Tage gesagt? Und wenn sie wirklich einwilligte, sich mit Simonson zu verheiraten, war diese Heirat ein Glück für sie? Würde sie für ihn, für Nechludoff, ein Glück sein?

Alle diese Fragen drängten sich in seinem Hirne, und er wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Deshalb nahm er wieder einmal zu seinem gewöhnlichen Verfahren seine Zuflucht. »Ich werde das alles später entscheiden,« sagte er sich; »jetzt muß ich vor allem Katuscha wiederzusehen suchen, ihr die glückliche Nachricht mitteilen und die Formalitäten ihrer Freilassung beschleunigen.«

Die Kopie, die ihm Selenin geschickt, genügte dazu zweifellos, bis die öffentliche Bekanntmachung des Dekretes eintraf.

Nechludoff verließ das Polizeibureau und fuhr nach dem Gefängnis, in welchem die Mitglieder des Transportes sicherlich untergebracht waren.