Vor der Thür der für die politischen Gefangenen reservierten Stube verließ ihn der Aufseher, der ihn herbegleitet, und versprach ihm, wenn die Thore geschlossen würden, wolle er ihn wieder abholen. Kaum hatte er sich entfernt, als Nechludoff sah, daß ein Sträfling, so schnell es die an seinem Fuß befestigte Kette gestattete, auf ihn zugelaufen kam, sich zu seinem Ohr neigte und ihm mit geheimnisvoller Miene zuflüsterte:

»Sie müssen dazwischentreten, Herr. Sie haben den Kleinen ganz behext und ihn betrunken gemacht. Heut‘ hat er sich schon beim Appell unter dem Namen Karmanoff gemeldet. Sie allein können dazwischentreten. Wenn wir es versuchen wollten, würden sie uns totschlagen,«

Nachdem der Sträfling ihm diese Worte unter scheuen Blicken zugeflüstert, entfloh er schnell und verlor sich in der Menge, die den Korridor anfüllte.

Es handelte sich um folgendes:

Ein Sträfling, Namens Karmanoff, hatte einen Verschickten, der ihm ähnlich sah, veranlaßt, mit ihm den Namen zu tauschen, so daß der Sträfling verschickt wurde und zwar nur auf zwei Jahre, während der junge Bursche sein Leben lang seine Stellung im Zuchthaus einnehmen sollte.

Derselbe Gefangene hatte Nechludoff bereits in der vorigen Woche von den Vorbereitungen dieser Unterschiebung unterrichtet und ihn gebeten, dazwischen zu treten, wenn er könnte, um ein so ungeheuerliches Verbrechen zu verhindern. Dieser Gefangene war übrigens für Nechludoff, dem er schon bei der Abreise von Tomsk aufgefallen war, eine der merkwürdigsten Figuren des Zuges. Es war ein großer, kräftiger Bauer von etwa dreißig Jahren mit dicker Nase und kleinen Augen, der wegen Raubmordversuchs zur Zwangsarbeit verurteilt worden war. Er hieß Makar Djewkin und hatte Nechludoff erzählt, das Verbrechen, wegen dessen er verurteilt worden, wäre wirklich verübt worden, aber nicht er, Makar, hätte es begangen. Das Verbrechen wäre von jemand verübt worden, den er nur unter dem Namen »Er« bezeichnete, der aber offenbar der leibhaftige Teufel war.

Eines Tages war ein Fremder zu Makars Vater gekommen und hatte für zwei Rubel einen Schlitten gemietet, mit dem er nach einem vierzig Werst entfernt liegenden Dorfe hatte fahren wollen. Makar hatte sein Pferd angeschirrt, sich angekleidet und auf den Weg gemacht. Man hatte auf halbem Wege in einer Schenke Halt gemacht, um Thee zu trinken. Der Fremde hatte Makar mitgeteilt, er wolle sich mit einem jungen Mädchen aus dem Dorfe, nach welchem er fahre, verheiraten, und hätte in einer Brieftasche fünfhundert Rubel, sein ganzes Vermögen, bei sich. Sobald er das erfahren hatte, war Makar in den Hof der Schenke gegangen, hatte eine Axt ergriffen und sie im Schlitten unter dem Stroh versteckt.

»So wahr ich an Gott glaube, Barin,« erzählte er; »ich weiß nicht, warum ich diese Axt genommen habe. »Er« hat mir gesagt: »Nimm die Axt!« und da habe ich sie genommen. Man steigt wieder in den Schlitten und fährt los; ich denke nichts Böses. An die Axt dachte ich gar nicht mehr. Wir nähern uns dem Dorfe: noch sechs Werst. Wir müssen einen Hügel hinauffahren und durch einen Wald; ich steige ab, um das Pferd nicht anzustrengen, und nun flüstert er mir von neuem ins Ohr: »Na, woran denkst du denn? Oben auf dem Hügel, wenn du erst aus dem Walde heraus bist, sind doch Leute; da beginnt das Dorf. Dann nimmt er sein Geld mit! Na, verliere keine Zeit; der Augenblick ist gekommen! Ich neige mich zu dem Schlitten, als wollte ich das Stroh in Ordnung bringen, und die Axt fliegt mir von selbst in die Hand. Nun wendet sich der Mann nach mir um und sagt zu mir: »Was machst du denn da?« Da hebe ich die Axt; doch der Mann, ein kräftiger Bursch, wirft sich an die Erde und packt mich bei der Hand. »Hallunke,« ruft er mir zu, »was thust du da?« Dann wirft er mich in den Schnee, und ich, ich leiste keinen Widerstand, sondern lasse alles mit mir geschehen. Er bindet mir die Hände mit seinem Taschentuch, setzt mich in den Schlitten und führt mich geradeswegs zum Starosten. Man wirft mich ins Gefängnis und hält über mich Gericht. Das ganze Dorf giebt mir das Zeugnis, ich wäre ein ehrlicher Mann, und man hätte mir niemals einen Vorwurf machen können. Der Herr, bei dem ich diente, giebt mir auch ein gutes Zeugnis. Doch ich hatte nicht die Mittel, mir einen Advokaten zu leisten, und darum habe ich vier Jahre Zwangsarbeit bekommen.«

Und nun verriet dieser selbe Mann, um einen seiner Gefährten zu retten, Nechludoff ein Geheimnis, das ihm auf der Seele brannte; er setzte sich dabei der Gefahr aus, sein Leben einzubüßen, denn er wußte, die Gefangenen würden ihn zweifellos erdrosseln, wenn sie seinen Verrat entdeckten!