Das Rastgebäude lag ebenso wie alle Gebäude, in denen auf halbe und ganze Tage gerastet wurde, an der großen sibirischen Landstraße, in einem Hof, der von spitzen Palisaden umstellt war. Es befanden sich hinter demselben die einstöckigen Häuser. In dem einen, und zwar dem größten, das vergitterte Fenster hatte, brachte man die schweren Verbrecher unter, in dem andern hielt sich das Wachkommando auf, während das dritte den Offizieren als Aufenthaltsort und als Kanzlei diente.

Sämtliche drei Häuser waren jetzt mit Lichtern beleuchtet, die wie stets, so auch hier, in den hellglänzenden Räumen den Anschein von Genuß und Behaglichkeit hervorriefen. Laternen brannten an den Eingängen, während der Hof von noch fünf andern erhellt wurde.

Nechludoff wurde von dem Unteroffizier, der ihn über ein schmales Brett führte, zu der Treppe des kleinsten der drei Häuser geleitet. Dann ließ er ihn drei Stufen hinaufsteigen und öffnete ein kleines, von einer qualmigen Lampe beleuchtetes Vorzimmer, das mit Rauch angefüllt war, und in das er ihn vorangehen ließ. Am Ofen saß ein Soldat in grobem Hemd und einer Halsbinde und schwarzen Hosen, der einen Stiefel in der Hand hielt und mit dem zusammengedrückten Schaft desselben, den er wie einen Blasebalg handhabte, das Feuer in einem Samowar anblies.

Als dieser Soldat Nechludoff bemerkte, wandte er sich von dem Samowar fort, half Nechludoff seinen schweren Mantel abnehmen und ging damit in das Nebenzimmer.

»Er ist da, Ew. Gnaden!«

»Na, dann bring‘ ihn doch ‚rein,« versetzte eine brummige Stimme.

»Treten Sie gefälligst ein,« sagte der Soldat und nahm gleich wieder seine vorige Thätigkeit am Samowar auf.

In dem zweiten Zimmer, das sein Licht von einer Hängelampe erhielt, saß ein Offizier mit großem, blondem Schnurrbart und stark aufgedunsenem Gesicht; er trug eine Jacke, die seine breite Brust und seine Schultern stark hervortreten ließ; vor ihm stand ein mit Speiseüberresten und zwei Weinflaschen bedeckter Tisch. Ein scharfer Tabaksrauch durchzog das warme Zimmer, und außerdem verspürte man noch einen andern übeln und durchdringenden Geruch.

Als der Offizier Nechludoff bemerkte, erhob er sich und musterte den Nähertretenden mit höhnischen und nichtachtenden Blicken.

»Was wollen Sie?« fragte er, und rief dann, ohne auch eine Antwort abzuwarten, zur Thür: »Bernoff, bring‘ den Samowar! Ist der Thee bald fertig?«

»Ja, gleich!«

»Warte! Ich werde dir dein »Ja, gleich!« anstreichen, daß du dran denken sollst!« schrie der Offizier mit zornfunkelnden Augen.

»Ich bring‘ ihn ja schon,« rief der Soldat und trat mit dem Samowar herein.

Nechludoff wartete, bis der Soldat den Samowar auf den Tisch gestellt hatte, und sah dabei den Offizier an, der den Soldaten mit seinen kleinen, boshaft blinzelnden Augen betrachtete, als wenn er etwas gegen ihn im Schilde führte und nur auf den geeigneten Moment wartete, um einen Streich gegen ihn zu führen.

Als der Samowar auf dem Tische stand, bereitete der Offizier Thee, dann holte er aus einem Reiseköfferchen eine viereckige Flasche Cognac und Albert-Cakes hervor, stellte alles auf die Tischdecke und fragte, sich wieder nach Nechludoff umwendend:

»Was wünschen Sie also?«

»Ich möchte Sie um die Erlaubnis bitten, mit einer Gefangenen sprechen zu dürfen,« sagte Nechludoff, der noch immer stand.

»Mit einer Politischen? Das ist gesetzlich verboten,« sagte der Offizier.

»Nein, diese Frau ist keine politisch Verurteilte,« versetzte Nechludoff.

»Aber setzen Sie sich doch, bitte!«

Nechludoff setzte sich.

»Sie ist keine politische Gefangene,« fuhr er fort: »doch auf meine Bitte hat ihr die Behörde gestattet, sich bei den Politischen aufzuhalten.«

»Ach ja, ich weiß,« versetzte der Offizier, »eine kleine Brünette, nicht wahr? Wirklich eine sehr niedliche Person. Na, meinetwegen sollen Sie sie sprechen. Wollen Sie rauchen?«

Er reichte Nechludoff ein Paket mit Cigaretten und schob ihm ein Glas mit Thee hin.

»Ich danke, ich möchte …«

»Der Abend ist lang, Sie haben ja noch Zeit, ich werde sie rufen lassen.«

»Könnte ich sie nicht, anstatt daß Sie sie rufen lassen, auf ihrem Zimmer sprechen?« fragte Nechludoff. »In der Abteilung der Politischen Gefangenen? Das ist verboten,«

»Man hat es mir schon mehrmals gestattet. Wenn man befürchten sollte, ich bringe Contrebande mit, so braucht man mich ja nur zu visitieren, und man wird sehen, daß ich nichts bei mir habe.«

»Es ist gut, es ist gut,« sagte der Offizier, »ich verlasse mich auf Sie,« fuhr er fort und goß Cognac in Nechludoffs Glas. – »Sie wollen keinen Cognac? Nun, nach Ihrem Belieben. Wenn man in diesem verdammten Sibirien lebt, so ist es ein wahres Vergnügen, einem Manne der guten Gesellschaft zu begegnen. Sehen Sie, unser Dienst ist sehr hart, und das Schlimmste dabei ist, daß ein Polizeileutnant für die meisten Menschen eine grobe, plumpe, schlecht erzogene und unwissende Person ist. Man hat keine Ahnung, daß es unter uns Leute von ganz anderem Schlage giebt.«

Das rote Gesicht des Offiziers, sein nach Branntwein duftender Atem, der ungeheure Stein seines Ringes und vor allem sein bösartiges Lachen verursachten Nechludoff einen tiefen Ekel. Doch an diesem Abend, wie auch während der ganzen Zeit seiner Reise, befand er sich in der ernsthaften Geistesverfassung, in der er sich nicht erlaubte, jemanden leichtfertig zu beurteilen, und wo er mit jedem von dem, was er zu sagen nötig fand, sprechen zu müssen glaubte. Als er die Bemerkungen des Offiziers zu Ende gehört, sagte er zu ihm in ernstem Tone:

»Ich glaube, Sie würden in Ihrem Dienste einen Trost finden, wenn Sie sich bemühen wollten, die Leiden der Gefangenen zu lindern.«

»Was für Leiden? Ich sehe schon, Sie kennen diese Sorte nicht.«

»Ist diese Sorte etwa von den andern Menschen verschieden?« fragte Nechludoff. »Es sind Menschen, genau so wie wir, und einzelne von ihnen sind ungerecht verurteilt worden.«

»Gewiß giebt es alle möglichen darunter, und sie thun mir auch leid, glauben Sie das nur. Andere lassen ihnen nichts hingehen, während ich mein Möglichstes thue, ihr Schicksal zu lindern. Oft setze ich mich sogar eigenen Unannehmlichkeiten aus, um ihnen einen Schmerz zu ersparen. Noch ein bißchen Thee?« fragte er, sich ein Glas einschenkend, »Was ist denn das eigentlich für ein Weib, das Sie zu sprechen wünschen?«

»Es ist ein unglückliches Geschöpf, man hat sie ungerecht wegen Mordes verurteilt. Eine Person, die wirklich hohe Vorzüge, besitzt.«

Der Offizier schüttelte den Kopf.

»Ja, ja, es giebt ganz niedliche darunter. In Kasan, lassen Sie sich das mal von mir erzählen, habe ich eine kennen gelernt, eine gewisse Emma. Sie stammte aus Ungarn, hatte aber die Augen einer Persierin,« fuhr er fort, indem er bei dieser Erinnerung vor sich hinlächelte, »und Chic hatte das Weib, wie eine richtige Gräfin!«

Nechludoff unterbrach ihn, um auf seinen Gegenstand zurückzukommen.

»Ich glaube, Sie haben die Macht, die Lage dieser Unglücklichen bedeutend lindern zu können, und ich hege die Ueberzeugung, Sie würden eine große Quelle der Freude darin finden.«

Der Offizier betrachtete Nechludoff mit seinen glänzenden Augen. Mit Ungeduld erwartete er, daß er seinen Sermon beendete, um wieder die Geschichte seiner Ungarin mit den persischen Augen ausnehmen zu können.

»Ja, ja, es ist wahr, Sie haben ganz recht,« unterbrach er, »und sie thun mir auch wirklich leid, das kann ich Sie versichern; aber um wieder auf diese Emma zurückzukommen, von der ich Ihnen erzählte, wissen Sie, was sie gemacht hat?«

»Ich habe nicht die geringste Lust, es zu erfahren,« erklärte Nechludoff in schneidendem Tone, »und ich will Ihnen auch ganz aufrichtig sagen, daß ich zuerst ein sehr unmoralisches Leben geführt habe und heute so weit gekommen bin, daß ich vor dieser Art von galanten Abenteuern Frauen gegenüber einen wahren Ekel habe.«

Der Offizier betrachtete Nechludoff mit unruhigen Blicken.

»Sie wollen also wirklich keinen Thee mehr?«

»Nein, ich danke!«

»Bernoff,« rief der Offizier, »führe den Herrn nach Wakuloff und lasse ihn zu den Politischen hinein. Er mag dort bis zum Thoresschluß bleiben.«