Vierundzwanzigstes Kapitel

Der Schnee mochte einen noch so schönen, fröhlichen, weißen Schleier über alle Dinge breiten, er mochte das Dach, die Vortreppe, den Hof des Gefängnisses damit schmücken; dieses behielt mit seinen beiden roten Laternen, seiner Schildwache, trotzdem sein düsteres Aussehen.

Der Direktor mit der imposanten Miene empfing die Besucher selbst am Eingang des Thores. Beim Scheine der Laterne las er aufmerksam den Paß, den der Gouverneur Nechludoff, als sie von der Tafel aufgestanden waren, übergeben hatte; dann beschränkte er sich darauf, zum Zeichen der Ergebung in die Laune seines Vorgesetzten die Achseln zu zucken und forderte die Besucher auf, ihm in sein Bureau zu folgen. Als sie hier angelangt waren, fragte er sie, was sie eigentlich sehen wollten.

Nechludoff erklärte ihm, vor allem wünsche er eine Unterredung mit der Maslow, dann fügte er hinzu, sein Begleiter wünsche einige Fragen über das Gefängnissystem zu stellen, um die Säle dann mit größerem Nutzen besichtigen zu können.

Der Direktor befahl einem Aufseher, die Maslow zu holen und sie in das Bureau zu führen.

»Wieviel Personen kann das Gefängnis fassen?« fragte der Engländer, für den Nechludoff den Dolmetsch spielte, »Wieviel Personen enthält es augenblicklich? Wieviel Männer? wieviel Weiber? wieviel Kinder? Wieviel Sträflinge, wieviel Verschickte und wieviel freie Begleiter? und wieviel Kranke?«

Nechludoff übersetzte die Fragen des Engländers und die Antworten des Direktors; doch er hätte kaum sagen können, was diese Fragen und Antworten für einen Wert hatten, denn die Aussicht auf seine Unterredung mit Katuscha hatte ihn ganz außer sich gebracht. Und als er mitten in einem Satze, den er übersetzte, ein Geräusch von Schritten auf dem Korridor vernahm, als sich die Thür öffnete und er – wie es schon so oft seit drei Monaten passiert war – diesmal aber zweifellos zum letztenmale – einen Aufseher eintreten sah, der die weißgekleidete Katuscha mit ihrem Tuch auf dem Kopfe hereinführte, und, er Katuscha erblickte, da war es ihm, als stocke ihm plötzlich alles Blut in den Adern.

»Ich will leben, ich will eine Familie und Kinder haben; ich will am Glück teilnehmen,« murmelte eine Stimme in seinem Herzen, die er schon lange nicht mehr gehört hatte.

Er stand auf und ging Katuscha einige Schritte entgegen. Diese hatte noch nichts gesprochen; doch sie war ganz rot, aufgeregt, und betrachtete ihn mit einer Miene, von der er sich verletzt fühlte. Es war eine Miene, wie er sie an ihr noch nicht bemerkt, ein Gemisch von kühler Entschlossenheit und glühender Leidenschaft. Sie wurde rot und blaß; ihre Finger strichen am Saume ihrer Jacke auf und nieder, und bald sah sie ihm fest ins Gesicht, bald schlug sie schüchtern die Augen nieder.

»So weißt du die Neuigkeit schon?« fragte Nechludoff.

»Ja, ich habe sie schon erfahren … doch ich habe mich nun entschlossen; ich werde mich mit Wladimir Iwanowitsch verheiraten.«

Sie sprach sehr schnell, ohne innezuhalten. Offenbar hatte sie sich die Worte, die sie sprach, vorher zurechtgelegt.

»Wie? mit Wladimir Iwanowitsch?« begann Nechludoff; doch sie unterbrach ihn:

»Nun, was? Da er es so will, daß ich bei ihm leben soll …«

Sie hielt, wie entsetzt, inne und fuhr dann fort: »Da er es so will, daß ich bei ihm leben soll! Was könnte ich mir Besseres wünschen? Vielleicht werde ich ihm Freude machen … Vielleicht werde ich mich nützlich machen können … Was kann ich …«

Von zwei Dingen war nur eins möglich: entweder hatte sie sich in diesen Simonson verliebt und bedurfte Nechludoffs Opfer wirklich nicht mehr; oder sie liebte Nechludoff noch immer, und vereinigte ihr Leben mit dem Simonsons, um ihn von dieser Last zu befreien.

Darüber war sich Nechludoff vollständig im Klaren, Er schämte sich und fühlte, wie er rot wurde.

»Wenn du ihn liebst …« sagte er.

»Ich? Nie habe ich derlei Menschen gekannt! – Wie sollte ich ihn nicht lieben? Und dann ist Wladimir Iwanowitsch auch so ganz anders, als die übrigen!«

»Gewiß,« versetzte Nechludoff mit zitternder Stimme. »Er ist ein ausgezeichneter Mensch, und ich glaube …«

Doch sie unterbrach ihn von neuem, als fürchte sie, ihn das aussprechen zu hören, was er sagen wollte. Oder vielleicht wollte sie ihm alles sagen.

»Nein, nein, Sie müssen uns verzeihen, daß wir nicht thun, was Sie wollen,« murmelte sie, »Denn Sie, Sie müssen leben!«

Was er sich gesagt, was er sich bereits im Kinderzimmer beim Gouverneur gesagt, das wiederholte ihm jetzt Katuscha!

Doch schon hatte er diesen Gedanken von sich gewiesen. Von alledem blieb nichts mehr in ihm zurück; er hatte wieder ganz andere Gedanken und ganz andere Gefühle. Er schämte sich, er hatte Furcht, und die Angst peinigte ihn.

»So ist also alles zwischen uns aus?« fragte er.

»Gewiß, gewiß!« versetzte sie mit seltsamem Lächeln.

»Ich wäre doch aber glücklich, dir dienlich zu sein.«

»Wir brauchen nichts!« (Sie sah Nechludoff fest ins Auge, als sie dieses »wir« aussprach,) »Ich schulde Ihnen so schon genug! … Ohne Sie …«

Sie wollte noch etwas hinzufügen; doch plötzlich erstarb ihre Stimme; sie senkte den Kopf und sagte nichts weiter.«

»Ich weiß nicht, wer von uns beiden dem andern am meisten schuldet, Gott wird zwischen uns abrechnen,« fuhr Nechludoff fort.

»Ja, ja, so ist’s! Gott sieht uns,« murmelte sie.

» Are you ready?« (Sind Sie bereit?) fragte der Engländer.

»Sofort!« versetzte Nechludoff und fragte Katuscha, indem er sich bemühte, seine Angst zu verbergen, nach Krülzoffs Gesundheit.

Auch Katuscha hatte sich gefaßt. Mit fast ruhigem Tone sagte sie, was sie wußte: daß Krülzoff auf der Fahrt viel hatte leiden müssen und gleich bei der Ankunft ins Lazareth gebracht worden war. Maria Pawlona hatte um die Erlaubnis gebeten, ihn pflegen zu dürfen, doch man hatte ihr erklärt, das wäre unmöglich.

»Und jetzt will ich dorthin zurückkehren,« sagte sie, als sie sah, daß der Engländer ungeduldig wurde.

»Sagen wir uns noch nicht Lebewohl; ich werde Sie wiedersehen,« sagte Nechludoff und reichte ihr die Hand.

»Nein, nein, adieu, adieu!« antwortete ihm Katuscha in entschlossenem Tone.

Nun begegneten sich ihre Augen, und in dem Blick ihrer etwas schielenden Augen, in ihrem traurigen Lächeln, in der Art, wie sie das Wort »Adieu« aussprach, sah Nechludoff klar und deutlich, daß von den beiden für ihr Verhalten maßgebenden Erklärungen die zweite die allein richtige war. Er erkannte, daß sie ihn liebte, daß sie ihn von ganzem holzen liebte, wie an dem Abend, da er sie, als sie aus der Kirche kam, umarmt. Er begriff, daß sie sich gesagt: wenn sie sich mit ihm verheirate, so erlege sie ihm ein Opfer auf und richte ihn zu Grunde; wenn sie sich dagegen mit Simonson verheiratete, so befreie sie ihn.

Sie schüttelte die Hand, die er ihm reichte, wandte sich plötzlich um und verließ das Zimmer.

Der Engländer wollte die Besichtigung der Säle sofort vornehmen, doch als er sah, daß Nechludoffs Hände vor Erregung zitterten, kam ihn ein Bedenken an und er schickte sich an, sich zunächst verschiedene Einzelheiten in seinem Notizbuch zu notieren, Nechludoff setzte sich in einiger Entfernung auf eine Holzbank. Verzweiflung und Scham erfüllte sein Herz, und hier blieb er einige Minuten wie betäubt sitzen.

»Nun, meine Herren, wollen wir jetzt die Stuben besichtigen?« fragte der Direktor.

Nechludoff sprang schnell empor, der Engländer klappte sein Notizbuch zu, und man machte sich auf den Weg.

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Nachdem sie einen düstern und stinkenden Korridor durchschritten, traten Nechludoff und der Engländer unter Führung des Direktors in den ersten Saal der zur Zwangsarbeit Verurteilten. Hier erblickten sie ungefähr siebzig Gefangene, von denen die meisten sich schon zur Nachtruhe niedergelegt hatten. Man hatte alle Betten in der Mitte des Saales zusammengeschoben, so daß die Gefangenen nebeneinander lagen.

Beim Eintritt der Besucher erhoben sich alle plötzlich, unter lautem Kettengerassel, und Nechludoff war von dem Leuchten ihrer kahlen, neuerdings rasierten Schädel betroffen.

Zwei von ihnen standen jedoch nicht auf. Der eine war ein ganz junger Mann mit rotem Gesicht, der vor Fieber zitterte; der andere, der älter war, stöhnte fortwährend.

Der Engländer fragte, ob dieser junge Gefangene schon lange krank wäre. Er war es erst seit dem Morgen; doch der andere Gefangene litt schon seit längerer Zeit an einer Magenkrankheit, und man wartete nur darauf, daß ein Platz im Lazaret frei wurde, um ihn dahin zu schicken.

Dann bat der Engländer Nechludoff, er möchte den Gefangenen einige Worte übersetzen, die er an sie richten wollte, und sofort teilte er ihnen mit, er reise durch Sibirien, um das Verschickungssystem zu studieren, auch hätte er es übernommen, das gute evangelische Wort unter den Verschickten zu verbreiten.

»Ich möchte Ihnen sagen, daß Christus gestorben ist, um Sie zu retten. Sie sollen an ihn glauben, und Sie werden gerettet werden! hier ist das Buch, in dem das geschrieben steht!«

Er bat Nechludoff, diese kleine Rede zu übersetzen; dann zog er ein Päckchen in verschiedene Farben gebundener Neuer Testamente aus der Tasche. Sogleich streckten sich eine Reihe grober Hände mit schwarzen Nägeln nach ihm aus, die sich gegenseitig zurückstießen. Er verteilte an sie einige Exemplare des kleinen Buches und ging hinaus, um sich in einen andern Saal zu begeben.

In dem zweiten Saal spielte sich dieselbe Scene ab. Derselbe Mangel an frischer Luft, derselbe Gestank. Wie im ersten Saale hing ein Heiligenbild zwischen den Fenstern, gegenüber stand der Nachteimer. Wie im ersten Saal lagen sechzig Männer nebeneinander, die beim Eintritt der Besucher schnell aufsprangen. Doch diesmal konnten sich drei Mann nicht erheben; zwei richteten sich auf ihrem Lager auf; der dritte warf nicht einmal einen Blick auf die Fremden. Der Engländer bat Nechludoff, seine Rede zu wiederholen, und verteilte wieder einige Evangelien.

In dem folgenden Saal befanden sich ebenfalls drei Kranke. Der Engländer fragte den Direktor, warum man die Kranken nicht in ein einziges Zimmer bringe. Doch der Direktor erwiderte, das wollten die Kranken selber nicht. Uebrigens wäre ihre Krankheit nicht ansteckend; auch besuchte sie der Lazarethgehilfe und behandelte sie sorgfältig.

»Ja, seit zwei Wochen hat man keine Nasenspitze von ihm hier gesehen,« murmelte eine Stimme.

Ohne etwas zu erwidern, ging der Direktor in einen andern Saal, und in diesem Saale, wie in dem folgenden und allen andern Sälen bot sich dasselbe Schauspiel den Besuchern, und dieselbe Scene fand statt, «Dasselbe Schauspiel und dieselbe Scene in den Zimmern der Verschickten, und in denen der zur Einschließung Verurteilten. Ueberall sahen Nechludoff und sein Gefährte dieselben hungrigen, unbeschäftigten, kranken, flachen, tückischen Menschen, die mehr Tieren als menschlichen Geschöpfen ähnlich sahen.

Nach ungefähr einer halben Stunde verzichtete der Engländer, der übrigens seinen Vorrat an Evangelien erschöpft hatte, auf die weitere Uebersetzung seiner Ansprache von seiten Nechludoffs. Offenbar erstickte der Gräuel dessen, was er sah, und vor allem der entsetzliche Gestank seine ganze Energie. Er ging mechanisch von Zimmer zu Zimmer und begnügte sich, auf alle Auskünfte, die ihm der Direktor über die Zahl der Gefangenen und über die Art ihrer Strafen lieferte, mit: » All right!!« zu antworten.

Nechludoff aber ging wie im Traum, ohne etwas zu sehen, ohne etwas zu hören, ohne die Kraft zu finden, fortzugehen oder zu bleiben, und in jeder Minute fühlte er sich verzweifelter und schamerfüllter. In einem der letzten Säle, die man besichtigte, hatte Nechludoff eine Begegnung, die ihn doch aus seinem Stumpfsinn aufrüttelte. Er sah dort unter den Verschickten denselben seltsamen kleinen alten Mann, der am Morgen auf der Fähre sein Nachbar gewesen war.

Dieser kleine alte Mann, der ein zerfetztes Hemd und ein altes geflicktes Beinkleid trug, saß mit nackten Füßen in einer Ecke und warf den Besuchern einen strengen Blick zu. Sein runzliges Gesicht erschien noch düsterer und lebhafter als auf der Fähre. Und während alle Gefangenen des Saales sich beim Eintritt des Direktors mit einer einzigen Bewegung aufgerichtet hatten und aufgesprungen waren, blieb der kleine Greis sitzen. Seine Augen leuchteten, und seine Brauen zogen sich zornig zusammen. »Aufstehen!« rief ihm der Direktor zu.

Doch der Greis zuckte die Achseln und lächelte verächtlich.

»Deine Diener stehen vor dir auf! Ich aber bin nicht dein Diener. Du trägst das Zeichen auf der Stirn!« fuhr der Greis mit lauter Stimme fort.

»Was heißt das?« fragte der Direktor in drohendem Tone.

»Ich kenne diesen Mann!« sagte Nechludoff. »Es ist ein Original. Warum ist er im Gefängnis?«

»Die Polizei hat ihn uns wegen Landstreichern geschickt! Wir bitten sie, sie möchte uns niemand mehr schicken, aber das ist wie in den Wind gesprochen,« erklärte der Direktor.

»Du gehörst also auch, wie ich sehe, dem Heere der Antichristen an,« sagte der kleine Greis, sich an Nechludoff wendend.

»Nein, ich bin hier nur zum Besuch,« versetzte Nechludoff.

»Haha! Du wolltest sehen, wie der Antichrist die Menschen quält? Nun, sich nur hin, sieh dir’s an! Er hat sie gepackt und in den Käfig gesperrt, so viel, daß er damit ein ganzes Heer bilden könnte! Die Pflicht der Menschen ist es, sich ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts zu verdienen, und er, der Antichrist, hält sie hier eingesperrt, und ernährt sie ohne Arbeit, wie die Schweine, um Schweine aus ihnen zu machen.«

»Was sagt er?« fragte der Engländer.

Nechludoff erwiderte ihm, der Greis beschuldige den Direktor und seinesgleichen, menschliche Wesen aller Gerechtigkeit zuwider eingeschlossen zu halten.

»Fragen Sie ihn doch, wie man sich seiner Ansicht nach, denen gegenüber verhalten soll, die das Gesetz nicht beobachten,« sagte der Engländer lächelnd.

Nechludoff übersetzte die Frage.

Der Greis begann zu lachen und zeigte dabei einige schwarze und abgebrochene Zähne.

»Das Gesetz!« lies er verächtlich; »ach ja, davon rede nur! Er hat sich zuerst der Erde bemächtigt, er hat alle Menschen ihrer Reichtümer beraubt, er hat alle diejenigen unterdrückt, die ihm widerstrebten; und dann hat er das Gesetz geschrieben und erklärt, man dürfe weder stehlen noch töten! Ich erkläre dir, vorher hat er sein Gesetz nicht geschrieben!«

Als Nechludoff ihm diese unerwartete Antwort übersetzt hatte, lächelte der Engländer von neuem und sagte:

»Ach, fragen Sie doch, wie man heut‘ den Dieben und Mördern gegenüber verfahren soll!«

»Du wirst ihm antworten,« sagte der Greis zu Nechludoff, der ihm diese Frage übermittelt, »du wirst ihm antworten, er solle zuerst selbst das Zeichen des Antichrist von seiner Stirn wegwischen, und wenn er das thut, wird er Arbeit genug haben und keine Zeit mehr finden, nm sich mit den Dieben und Mördern zu beschäftigen! Na, wiederhole ihm das doch in seiner Sprache!«

»Er ist sehr amüsant,« sagte der Engländer, als er diese Antwort hörte. Er lächelte wieder und verließ das Zimmer.

Nechludoff war zurückgeblieben der Greis wendete sich an ihn und fuhr in seiner Rede fort:

»Sorge du für dich und kümmere dich nicht um andere! Gott allein weiß zu strafen und zu belohnen; wir wissen gar nichts davon!«

Dann aber rief er Nechludoff zu, als wenn er darauf verzichtete, ihn bekehren zu wollen:

»Doch nein; ich habe dir nichts zu sagen! Geh‘, geh‘ deines Weges. Du hast jetzt zur Genüge gesehen, wie die Sklaven des Antichristen menschliche Geschöpfe den Läusen zum Fraße überlassen! Geh‘ jetzt und belustige dich anderswo!« Als Nechludoff seine Gefährten im Korridor eingeholt hatte, war der Engländer vor der halbgeöffneten Thür eines dunklen Zimmers stehen geblieben und fragte den Direktor, wozu dasselbe benutzt würde. Der Direktor erwiderte, das wäre der Ort, wo man die Toten abstelle.

»So! Wirklich!« sagte der Engländer, als Nechludoff ihm diese Antwort übersetzt hatte; dann meinte er, es würde ihm angenehm sein, die Stube zu besichtigen.

Der Direktor ließ eine Lampe bringen und führte die beiden Besucher in die Totenkammer. Es war ein großes, viereckiges Zimmer, das den andern ganz ähnlich sah. In einer Ecke lagen Säcke zusammengehäuft, in einer andern Ecke hatte man einen Kloben Holz aufgeschichtet; in der Mitte lagen auf einem Bette vier Leichen.

Die erste dieser Leichen, die mit einem Hemd und einer Hose bekleidet war, hatte einen kleinen Spitzbart, und die Hälfte des Kopfes war rasiert. Die Starre war bereits eingetreten; die Hände, die augenscheinlich gefaltet auf der Brust gelegen, hatten sich gelöst, und ebenso waren die nackten Füße auseinander gezerrt. Neben ihr lag ein altes Weib in weißer Jacke und ebensolchem Rock, mit einer ganz kleinen Haarflechte, einem gelben, ganz runzligen Gesicht und einer Stumpfnase. Neben dieses alte Weib hatte man den Leichnam eines Mannes gelegt, der ein blaues Tuch um den Hals trug. Dieses blaue Tuch fiel Nechludoff auf, denn er glaubte, es schon irgendwo gesehen zu haben.

Er trat näher und betrachtete den Leichnam genauer. Ein schwarzer, etwas krauser Knebelbart, eine gerade und kräftige Nase, eine große, weiße Stirn, gelockte Haare, die oben auf dem Kopfe dünner wurden, Nechludoff erkannte alle diesen vertrauten Züge, doch er wollte noch immer nicht seinen Augen trauen. Noch am vorigen Tage hatte er dasselbe Gesicht von Leidenschaft belebt und von Schmerz verzerrt gesehen, jetzt sah er es unbeweglich und ruhig, von einer Schönheit umstrahlt, die ihm Furcht einflößte. Ja, es war Krülzoff, oder wenigstens die Hülle, die sein körperliches Leben zurückgelassen!

»Warum hat er gelitten? Warum hat er gelebt? Hat er jetzt endlich die Wahrheit erfahren?« fragte sich Nechludoff, während er den Leichnam betrachtete. Und er gab sich sofort selbst die Antwort, es gäbe keine Wahrheit, es gäbe nichts, nichts, als den Tod. Von ganzer Seele beneidete er Krülzoff, der ausgelitten hatte.

Ohne auch nur daran zu denken, von dem Engländer Abschied zu nehmen, der die Totenkammer mit ganz eigentümlichem Interesse betrachtete, ließ sich, Nechludoff aus dein Gefängnis führen, um in Ruhe, in seinem Zimmer über alles, was sich an diesem Abend ereignet hatte, nachzudenken.

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Als Nechludoff in sein Zimmer getreten war, begann er in fieberhafter Erregung auf- und ab zu gehen. Er hatte die Empfindung, alle seine Beziehungen mit Katuscha wären abgebrochen, für immer abgebrochen. Auf ewig mußte er darauf verzichten, Katuscha nützlich zu sein, und dieser Gedanke erfüllte ihn mit Scham und Traurigkeit. Doch er hatte auch die Empfindung, dieser Gedanke dürfe ihn jetzt nicht mehr beschäftigen, er hätte jetzt eine andere Angelegenheit zu regeln, die nicht nur nicht zu Ende war, sondern sich ihm mit gebieterischer Kraft aufdrängte.

Er fühlte sich etwas entsetzlich Schlechtem gegenüber, das zu zerstören er die Pflicht hatte, ohne daß er doch wußte, wie er es zerstören konnte. Es war jenes Schlechte, das ihn einst selbst zu Grunde gerichtet, das Katuscha zu Grunde gerichtet, und jetzt eben den lieben, wunderbaren Krülzoff, der da drüben mit seinem blauen Tuche schlief.

Und Nechludoff sah wieder die Hunderte von Menschen vor sich, die in verpesteter Lust, von gleichgültigen Gouverneuren, Staatsanwälten, Gefängnisdirektoren eingepfercht wurden. Er sah wieder die zornigen Blicke des kleinen Greises vor sich, der den »Dienern des Antichrist« trotzte. Er sah in der Totenkammer das schöne Gesicht Krülzoffs vor sich. Das alles, das ganze Leben, das ihn umgab, wirkte auf ihn wie ein böser Traum, und er fragte sich, ob er, Nechludoff, toll wäre oder die, die sich für klug hielten und ein solches Leben duldeten.

Nachdem er lange hin- und hergewandert, warf er sich auf den Divan, und mechanisch schlug er eins der kleinen Evangelien des Engländers auf, das ihm dieser gegeben, und das er auf den Tisch gelegt, als er die Taschen seines Pelzes ausgeleert.

»Es giebt Leute, die behaupten, man könne darin eine Antwort auf alles finden,« dachte er, als er das kleine Buch aufs Geratewohl aufschlug. Er las und hatte gerade ein Kapitel des Evangelium Matthäi, das achtzehnte Kapitel aufgeschlagen.

1. Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist doch der Größte im Himmelreich?«

2. Jesus rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie.

3. Und sprach: »Wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß ihr euch umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.

4. Wer nun sich selbst erniedrigt, wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich.«

»Ja, so ist’s,« sagte sich Nechludoff, indem er sich, erinnerte, wie er selbst Frieden und Lebensfreude nur in dem Maße genossen, als er sich selbst erniedrigt hatte und einem Kinde gleich geworden war.

Und er las weiter:

5. Und wer Ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.

6. Wer aber ärgert dieser Geringsten Einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist.«

Nechludoff hörte auf zu lesen. »Was mag dieses: »Wer mich aufnimmt!« und dieses: »In meinem Namen!« wohl heißen?« fragte er sich, denn er fühlte, daß diese Worte für ihn keine Bedeutung hatten. »Und was haben dieser Mühlstein und das Meer damit zu thun? Nein, das alles ist nichts für mich! – Das ist nicht klar, das hat keinen Sinn!«

Er erinnerte sich, daß er schon mehrmals in seinem Leben versucht hatte, die Evangelien zu lesen, und daß ihn die Unklarheit solcher Stellen stets verwirrt hatte.

Trotzdem nahm er das Buch wieder zur Hand und las die nun folgenden Verse. Jesus sprach darin von den »Aergernissen«, von »der Verurteilung gewisser Menschen«, von dem »höllischen Feuer«, von »gewissen Engeln, die gewissen Kindern angehören« und »das Angesicht des Vaters im Himmel sehen«.

»Wie schade, daß das alles so unklar und so schlecht ausgesprochen ist!« dachte er; »denn man fühlt, daß es im Grunde etwas Schönes ist, das man gern besser gesagt sehen möchte.« Und er begann weiter zu lesen:

11. Denn des Menschen Sohn ist gekommen, selig zu machen, das verloren ist.

12. Was dünket euch? Wenn irgend ein Mensch hundert Schafe hätte, und Eins unter denselben sich verirrte: läßt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen, gehet hin, und suchet das verirrte?

13. Und so sich’s begiebt, daß er es findet, wahrlich, ich, sage euch: Er freuet sich darüber mehr, denn über die neunundneunzig, die nicht verirrt sind.

14. Also ist es auch von eurem Vater im Himmel nicht der Wille, daß jemand von diesen Kleinen verloren werde.

»Ja, gewiß, das war nicht der Wille des Vaters, daß sie verloren gehen! Aber deshalb gehen sie doch zu Hunderten, zu Tausenden zu Grunde. Und es giebt kein Mittel, sie zu retten!« dachte Nechludoff.

Er las noch einige Verse.

21. Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist es genug siebenmal?

22. Jesus sprach zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal.

23. Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte.

24. Und als er anfing zu rechnen, kam ihm Einer vor, der war ihn: zehntausend Pfund schuldig.

25. Da er es nun nicht hatte zu bezahlen, hieß der Herr verkaufen ihn und sein Weib und seine Kinder und alles, was er hatte, und bezahlen.

26. Da fiel der Knecht nieder und betete ihn an und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, ich will ja alles bezahlen.

27. Da jammerte den Herrn desselben Knechtes, und ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch.

28. Da ging derselbe Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig, und er griff ihn an und würgte ihn und sprach: Bezahle mir, was du mir schuldig bist!

29. Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir, ich will dir alles bezahlen.

30. Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis daß er bezahlte, was er schuldig war.

31. Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten vor ihren Herrn alles, was sich begeben hatte.

32. Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest;

33. Solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmet habe?

»Sollte es das sein?« rief Nechludoff plötzlich, nachdem er diese Worte gelesen. »Sollte die Antwort, die ich suche, darin liegen?«

Und die geheime Stimme seines ganzen Wesens antwortete ihm: »Ja, das ist’s, nur das ist es!«

Und dasselbe Phänomen vollzog sich bei Nechludoff, das sich, bei all den Personen vollzieht, die mit dem geistigen Leben vertraut sind. Ein Gedanke, der ihnen zuerst seltsam, paradox, phantastisch erschienen, klärt sich plötzlich in ihren Augen durch die Resultate einer unbewußten Erfahrung auf und wird für sie sofort zur einfachen, klaren, deutlichen Wahrheit.

So ward ihm plötzlich, der Gedanke klar, daß das einzig mögliche Mittel gegen das Leiden, an dem die Menschen krankten, darin bestand, daß sie anerkannten, sie hätten eine Verpflichtung gegen Gott und infolgedessen kein Recht, über andere zu Gericht zu sitzen und sie zu bestrafen. Er begriff plötzlich, daß das schreckliche Leiden, dessen Zeuge er in den Gefängnissen und auf den Transportzügen gewesen, sowie die ruhige Sicherheit derer, die dieses Uebel verursachten oder duldeten, eine sehr einfache Ursache hatte. Das kam alles daher, daß die Menschen etwas Unmögliches unternommen hatten, denn sie waren sehr schlecht und wollten das Böse abschaffen. Lasterhafte Menschen wollten lasterhafte Menschen bessern. Da sie aber lasterhaft waren, so konnten sie nur das Laster verbreiten, anstatt es zu bessern; da sie selbst verdorben waren, so verbreiteten sie ihre eigene Verderbtheit in ihrer Umgebung. Die Antwort, die Nechludoff ängstlich suchte, ohne sie zu finden, war dieselbe, die Jesus dem Petrus gegeben hatte; die Antwort lautete, man müsse immer verzeihen, nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal.

»Noch nein! So einfach kann die Sache nicht sein,« sagte sich Nechludoff, und doch wußte er mit absoluter Klarheit, daß es die einzige Antwort war, nicht allein vom theologischen, sondern auch vom praktischen Standpunkt. Die Sache erschien ihm, der er an entgegengesetzte Meinungen gewöhnt war, seltsam und unglaublich, doch er fühlte und wußte, daß sie unbestreitbar war.

Der gewöhnliche Einwand, was man mit den Dieben und Mördern anfangen sollte, hatte schon seit langer Zeit keine Bedeutung mehr für ihn. Dieser Einwand hätte in der That nur dann Sinn gehabt, wenn die Strafen die Anzahl der Verbrechen vermindert, wenn sie die Verbrecher gebessert hatten; doch die Erfahrung hatte Nechludoff bewiesen, daß das Gegenteil eintrat. Hatten die Menschen seit den vielen Jahrhunderten, da sie das Verbrechen bestraften, dasselbe unterdrückt oder auch nur abgeschwächt? Weit entfernt, es zu unterdrücken oder auch nur abzuschwächen, hatten sie es nur noch stärker entwickelt, sowohl dadurch, daß sie die Gefangenen durch die Verurteilungen, denen sie sie aussetzten, zu Grunde richteten, wie auch dadurch, daß sie den Verbrechen dieser Gefangenen – den Verbrechen der Diebe und Mörder – ihre eigenen Verbrechen, die Verbrechen der Gerichtsräte, Staatsanwälte, Henker, Untersuchungsrichter, Polizisten und Aufseher zugesellten.

Und Nechludoff begriff plötzlich, daß das notgedrungen so sein mußte. Er begriff, wenn die Gesellschaft und die sociale Ordnung weiter existierten, so geschah das nicht dank der Beamten und ihrer Grausamkeit, sondern im Gegenteil trotz ihnen, und weil es neben ihnen noch Menschen gab, die mit den andern Mitleid haben und sich gegenseitig liebten.

Das Evangelium hatte endlich zu Nechludoffs Herzen gesprochen und sich ihm enthüllt, wie jedem Menschen, der es zu lesen geneigt ist, Nechludoff beschloß, noch ein paar Seiten zu lesen. Er nahm die Bergpredigt, die ihn jederzeit sehr gerührt hatte. Diesmal entdeckte er aber, als er sie las, daß diese Predigt nicht allein eine Sammlung edler Gedanken und rührender Bilder war, die ein kaum zu verwirklichendes moralisches Ideal begleiteten. Er bemerkte, daß die Bergpredigt nur vollständig klare, einfache, praktische und leicht anzuwendende Vorschriften enthielt, deren Befolgung die sofortige Schöpfung einer vollständig neuen menschlichen Gesellschaft zur Folge haben würde, aus der jede Gewaltthat und jede Ungerechtigkeit verbannt war, und die in dem der menschlichen Schwäche erlaubten Maße das Himmelreich auf Erden schuf.

Diese Vorschriften waren fünf an der Zahl: Die erste bestand darin, daß der Mensch einen andern Menschen, seinen Bruder, nicht nur nicht töten, sondern sich auch, nicht gegen ihn erzürnen, ihn nicht anklagen, und nicht verachten durfte; wenn er sich aber mit einem andern Menschen gezankt, so mußte er sich mit ihm versöhnen, bevor er Gott ein Opfer darbrachte, das heißt, bevor er sich mit Gott durch das Gebet des Herzens vereinte.

Die zweite Vorschrift bestand darin, daß der Mensch sich nicht nur nicht der Sinnlichkeit überlassen und die Schönheit des Weibes nicht entheiligen darf, indem er ein Werkzeug seines groben Vergnügens aus ihr macht; sondern er muß, wenn er sich mit einein Weibe vermählt, sich mit ihr auf immer als verbunden betrachten.

Die dritte Vorschrift bestand darin, daß der Mensch nichts unter seinem Eide versprechen durfte, da er selbst weder Herr seiner selbst, noch irgend einer Sache ist.

Die vierte Vorschrift bestand darin, daß der Mensch nicht nur nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn fordern darf, sondern daß er, wenn man ihn auf die eine Wange geschlagen, die andere Wange hinhalten muß; daß er die Beleidigungen verzeihen, sie mit Ergebenheit ertragen muß und nichts verweigern darf, was die andern Menschen von ihm fordern.

Die fünfte Vorschrift bestand darin, daß der Mensch nicht nur seine Feinde nicht hassen oder gegen sie kämpfen darf, sondern daß er sie lieben, ihnen helfen und dienen muß.

Nechludoff streckte sich auf dem Divan aus und begann zu träumen. Er erinnerte sich an das ganze Elend und an die ganze Häßlichkeit des augenblicklichen Lebens der Menschen, und dachte daran, wie sich dieses Leben wohl gestalten würde, wenn die Menschen die Vorschriften befolgten, die er eben gelesen. Und seine ganze Mutlosigkeit schwand, ein Strom von Begeisterung schwellte seine Seele. Er fühlte, daß er nach einem Leben des Leidens in der Finsternis plötzlich das sanfte, kräftigende, wohlthätige Licht erblickt.

In dieser Nacht schlief er nicht. Ganz der Freude über die Entdeckung, die er eben gemacht, sich hingebend, las er eifrig die Evangelien von einem Ende bis zum andern. Und wie es allen geschieht, denen sich die allgemeine Bedeutung der Evangelien endlich enthüllt hat, so wunderte er sich beim Lesen, daß er jetzt vollständig den Sinn von Worten begriff, die er so manchesmal als einfache Bilder gelesen, ohne ihnen die geringste Bedeutung beizulegen. Wie ein Schwamm in einem Gefäß all das Wasser aufnehmen möchte, das es enthält, so wollte er alles in sich aufnehmen, was in diesem Buche Nützliches, Bedeutendes, Ernstes und Fröhliches für ihn enthalten war. Und alles, was er las, schien ihm seit langer Zeit vertraut, denn was er las, bestätigte und erklärte ihm Dinge, die er seit langer Zeit ahnte, die er aber nicht als wahr anzuerkennen wagte. Jetzt aber erkannte er sie als wahr und glaubte daran.

Und er erkannte nicht nur und glaubte, daß die Menschen, wenn sie den Vorschriften der Evangelien folgten, sich zum höchsten Grade des Glückes erheben könnten, dessen sie fähig sind; nein, er erkannte auch und glaubte, daß es für einen Menschen besser war, lieber gar nichts zu thun, als diesen Vorschriften nicht zu folgen; er erkannte und glaubte, daß diese Vorschriften die einzige Daseinsberechtigung des menschlichen Lebens verkörperten, und daß der Mensch, wenn er sie verletzte, eine Schuld beging, die ihre Strafe sofort nach sich zog.

Diese Schlußfolgerung ging für Nechludoff aus dem ganzen Buche hervor; doch mit ganz besonderer Klarheit und Kraft fand er sie in der Parabel von den Arbeitern im Weinberge ausgedrückt. Die Arbeiter hatten sich eingebildet, der Garten, den man ihnen zum Bebauen gegeben, gehöre nicht ihrem Herrn, sondern ihnen selbst; alles, was sich in diesem Garten befände, wäre für sie bestimmt, und ihre einzige Pflicht wäre es, diesen Garten ihrem eigenen Vorteile dienstbar zu machen; so vergaßen sie denn ihren Herrn und töteten die, die sie an ihre Verpflichtungen ihm gegenüber erinnerten.

»So handeln wir alle!« dachte Nechludoff. »Wir leben in dem Glauben, wir seien selbst die Herren unseres Lebens, und dieses sei uns nur zu unserem Vergnügen gegeben. Was ist aber eine unsinnige, vollständig unsinnige Annahme. Der Mensch ist nicht zu seinem Vergnügen in die Welt gekommen, es muß ihn jemand aus irgend einem Grunde dorthin geschickt haben. Wir aber haben diese Thatsache vergessen, und bilden uns ein, wir lebten nur zu unserem Vergnügen. Dann wundern wir uns, daß wir leiden und uns unbehaglich fühlen, als wäre das nicht die notwendige Folge unserer Lage als Arbeiter, die dem Willen ihres Herrn nicht nachkommen wollen. Der Wille unseres Herrn aber ist in diesem kleinen Buche ausgesprochen.«

»Trachtet nach dem Himmelreich, und das übrige wird euch von selbst zufallen.« Wir aber suchen nur das übrige, und wundern uns dann, wenn wir es nicht finden können.«

»Ja, so ist mein Leben gewesen, doch dieses Leben ist jetzt vorüber, und ein anderes beginnt.«

Und thatsächlich begann von dieser Nacht an für Nechludoff ein neues Leben; neu nicht nur, weil er vollständig aufhörte, an sich selbst zu denken, und nur noch lebte, um den andern zu dienen, sondern vor allem auch darum neu, weil alles, was ihm seit dieser Nacht zustieß, alles, was er that, alles, was er sah, von nun an in seinen Augen eine andere Bedeutung als früher hatte.

Wie diese neue Periode seines Lebens enden wird, wird die Zukunft lehren.

Achtzehntes Kapitel

Nechludoff stand am Rande der Fähre und hielt die Augen starr auf das schnellfließende Wasser des Stromes gerichtet. Seine Phantasie führte ihn abwechselnd zwei Bilder vor; das Bild Krülzoffs, der auf dem Stroh des Wagens im Sterben lag, und seinen zornigen Blick, und das Bild Katuschas, die in Begleitung Wladimir Simonsons mit behendem Schritt über die Landstraße wanderte.

Eins dieser Bilder, das Krülzoffs, der sich nicht in den Tod fügen wollte, war schrecklich und kläglich; das andere Bild aber, daß Katuschas, die einen Mann in Simonson gefunden, der sie liebte, und auf dem Wege des Guten ebenso flink einherschritt, wie sie über die Landstraße wanderte, dieses Bild wirkte nur fröhlich und stärkend auf ihn. Und doch waren diese beiden Bilder gleich grausam für Nechludoff; es gelang ihm nicht, sie ans seinem Geiste zu verscheuchen, und sie vermischten sich in seinem Gemüt, um schließlich einen Eindruck vollständiger dumpfer Traurigkeit hervorzubringen.

Von der Stadt her trug der Wind den silbernen Klang einer Glocke, die einen Gottesdienst verkündete. Nechludoffs Kutscher und alle anderen Passagiere entblößten das Haupt und machten das Zeichen des Kreuzes. Nur ein kleiner Greis in Lumpen nahm nicht die Mütze ab und blieb mit den Händen auf dem Rücken unbeweglich stehen.

»Nun, und du, Alter, du betest nicht?« fragte Nechludoffs Kutscher, nachdem er seine Mütze wieder aufgesetzt. »Du bist wohl nicht getauft?«

»Beten? Zu wem sollte ich beten?« versetzte der zerlumpte Greis, indem er auf den Kutscher zutrat und ihm fest in die Augen schaute.

»Ist das eine Frage! Du glaubst also nicht an Gott?«

»Kennst du ihn? Weißt du, wo er ist?«

Es lag etwas so Ernstes und Hartes in dem Gesichtsausdruck des alten Mannes, daß der Kutscher sich offenbar etwas eingeschüchtert fühlte. Doch es hatte sich ein Kreis um ihn gebildet, so daß er die Unterhaltung fortsetzte, um das letzte Wort zu behalten.

»Wo Gott ist? Du Dummkopf, jeder weiß, daß er im Himmel ist!«

»Hast du ihn etwa gesehen? Bist du im Himmel gewesen?«

»Wenn ich auch nicht dagewesen bin, so weiß ich es doch! Jeder weiß, daß man zu Gott beten muß!«

»Niemand hat Gott je gesehen! Sein einziger Sohn, der beim Vater thront, hat es gesagt!« fuhr der Greis mit seiner strengen Stimme fort, indem er die Stirn kraus zog.

»Dann bist du also kein Christ? Du bist ein Götzendiener?« fragte der Kutscher, wandte sich ab und spuckte zum Zeichen der Verachtung aus.

»Welcher Religion gehörst du denn an, Väterchen?« fragte ein anderer Kutscher, der neben seinem Pferde stand, den Greis.

»Eine Religion habe ich überhaupt nicht,« entgegnete der Greis mit seinem zornigen Blick, »ich glaube nur an mich!«

»Und wie kann man an sich selbst glauben?« fragte Nechludoff, den die merkwürdige Persönlichkeit immer mehr interessierte.

»Das ist, der einzige Weg, sich nicht zu täuschen!«

»Aber woher kommt es denn, daß es so viel verschiedene Religionen giebt?«

»Das kommt daher, daß man an die anderen glaubt! Auch ich habe an die anderen geglaubt und bin wie in einem Walde herumgeirrt; ich habe mich so verirrt, daß ich glaubte, ich würde meinen Weg nie wiederfinden. Altgläubige und Neugläubige, Sabbatisten, Nihlisten, Popovisten, Nonpopovisten und Skoptsen; alle habe ich kennen gelernt, alle möglichen Sorten! Und eine jede Religion behauptet, die einzig gute zu sein! Religionen giebt es viele, aber nur einen Geist! Es ist derselbe in mir und in dir, und in allen! Und das heißt, jeder muß an den Geist glauben, der in ihm lebt, dann wird die ganze Welt vereinigt werden!«

Der Greis sprach fortwährend mit lauterer Stimme, indem er seinen Blick umherschweifen ließ, als wolle er sich einer möglichst großen Zahl von Personen verständlich machen.

»Predigen Sie das schon lange?« fragte ihn Nechludoff.

»Ich, o, sehr lange! Seit dreiundzwanzig Jahren verfolgt man mich!«

»Wie?«

»Nun, wie man Christus verfolgt hat, so verfolgt man mich! Man verhaftet mich, schleppt mich vor die Richter, die Priester, die Schreiber und Pharisäer; man sperrt mich in Irrenhäuser. Doch man kann mir nichts thun, weil ich frei bin! – ›Wie heißest du?‹ fragt man mich. Man bildet sich ein, ich führe einen Namen, aber ich führe keinen; ich habe auf alles verzichtet. Ich habe weder Namen, noch Heimat, noch Vaterland; ich habe nichts, ich habe nur mich! – Wie man mich nennt? Einen Menschen! – ›Und wie alt bist du?‹ – Ich antworte: ich zähle mein Alter nicht, und außerdem habe ich kein Alter, weil der Geist, der in mir lebt, stets existiert hat und stets existieren wird. – ›Und dein Vater,‹ sagt man mir, ›und deine Mutter?‹ – Nein, nein, sage ich ihnen, bei mir giebt es weder Vater noch Mutter, nur Gott und die Erde. Gott ist mein Vater; die Erde ist meine Mutter. – ›Und der Zar,‹ hat man mich gefragt, ›erkennst du den nicht an?‹ – Warum sollte ich ihn nicht anerkennen? Er herrscht auf seiner Seite und ich auf der meinen. – ›Ach,‹ hat man mir gesagt, ›es ist unmöglich, mit dir zu sprechen!‹ Aber, antworte ich ihnen, ich verlange ja gar nicht, daß ihr mit mir sprecht. Dann fangen sie an, mich zu quälen.«

»Aber wo gehst du jetzt hin?« fragte Nechludoff.

»Ich gehe, wohin Gott mich führt. Ich arbeite; und wenn ich nichts zu arbeiten finde, so bettle ich!« versetzte der Greis und ließ gleichzeitig einen Blick des Triumphes umherschweifen.

Schon legte die Fährte am anderen Ufer an. Nechludoff zog sein Portemonnaie und bot dem Greise ein Silberstückchen, doch dieser weigerte sich, es zu nehmen.

»So etwas nehme ich nicht! Ich nehme nur Brot!« sagte er.

»Entschuldige!«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast mich nicht beleidigt,« sagte der Greis und hob den Reisesack auf, den er zu seinen Füßen niedergelegt.

In der Menge auf der Fährte wurde es von neuem lebendig. Man zog die Wagen heran und schirrte die Pferde an.

»Sie sind übrigens recht gütig, Barin,« sagte der Kutscher zu Nechludoff, als sie die Fähre verließen, »daß Sie sich mit solchen Leuten unterhalten. Wenn man auf alle diese Vagabunden hören wollte!«

Neunzehntes Kapitel

Als der Wagen am Ufer hielt, wandte sich der Kutscher wieder zu Nechludoff und sagte:

»Nach welchem Gasthofe wollen Sie?«

»Ich weiß nicht. Welches ist das beste Hotel?«

»Das beste ist ›Sibirien‹. Aber bei Dukoff wohnt man auch gut.«

»Fahre mich, wohin du willst!«

Der Kutscher peitschte auf die Pferde los, und der Wagen fuhr durch die Straßen der Stadt. Diese Stadt war allen Städten gleich; man sah darin dieselben Häuser mit den flachen Dächern, dieselbe große Kirche, dieselben Läden, die in der eleganten Straße zu Magazinen wurden, dieselben Passanten und dieselben Polizisten. Der einzige Unterschied bestand darin, daß die meisten Häuser aus Holz gebaut und die Straßen nicht gepflastert waren.

In der belebtesten aller dieser Straßen ließ der Kutscher seine Troika vor der Freitreppe eines Hotels halten. Doch das Hotel war überfüllt, und man mußte sich wieder auf den Weg machen, um ein anderes zu suchen.

Endlich fand Nechludoff ein Unterkommen. Zum erstenmal seit zwei Monaten fand er die altgewohnte Sauberkeit und Behaglichkeit wieder. Nicht, daß das Zimmer, das er in Dukoffs Gasthof mietete, besonders luxuriös eingerichtet gewesen wäre, aber es war wenigstens wohnlich; und sein Anblick verursachte ihm eine wahre Erleichterung, als er es mit den Gasthofszimmern verglich, die er in den vorigen Nächten bewohnt hatte. Bevor er an etwas anderes dachte, hatte er Eile, sich von den Läusen zu befreien, die ihn während seiner ganzen Reise von Etappe zu Etappe mit außergewöhnlicher Hartnäckigkeit verfolgt hatten. Daher ließ er sich schnell, nachdem er seine Sachen untergebracht, in eine Badeanstalt fahren, wo er über eine Stunde brauchte, um sich zu reinigen. Als er dann ins Hotel zurückgekehrt war, zog er sein Stadtkostüm wieder an, ein gestärktes Oberhemd, eine graue Hose, einen Gehrock und Ueberzieher, um sich zum Gouverneur zu begeben.

Ein mit einem kräftigen, kleinen kirgisischen Pferde bespannter Wagen führte ihn in schnellem Trabe in den Hof eines schönen, großen Hauses, vor dem zwei Schildwachen und Polizisten standen. Das Haus war mit einem Garten umgeben, in welchem das dunkle Grün der Fichten die kahlen Stämme der Birken und Pappeln durchbrach.

Der Gouverneur war leidend und empfing nicht. Doch Nechludoff bat den Diener, ihm seine Karte zu bringen, und der Diener kehrte mit einem liebenswürdigen Lächeln zurück, um ihm mitzuteilen, seine Exzellenz bäte ihn, einzutreten.

Das Vorzimmer, der Diener, die Treppe, der Salon mit dem gebohnerten Parkettboden, das alles glich den Häusern in St. Petersburg, doch es war größer und nicht so sauber. Nechludoff brauchte übrigens in dem ungeheuren Salon nicht lange zu warten; kaum hatte er sich gesetzt, als man ihn bat, zu dem Gouverneur hineinzukommen.

Dieser Beamte, der einen gelben Schlafrock trug und eine Cigarette in der Hand hielt, war eben im Begriff, aus einem silberbeschlagenen Glase Thee zu trinken. Es war ein dicker, kahlköpfiger, vollblütiger Mann mit roter Nase und hervortretenden Adern auf der Stirn.

»Entschuldigen Sie, Fürst, daß ich Sie im Schlafrock empfange; aber es ist wohl besser, Sie in diesem Kostüm zu empfangen, als gar nicht,« sagte er lächelnd, während er sich in seinen großen Fauteuil zurücklehnte. »Ich bin leidend und muß das Zimmer hüten. Was verschafft uns das Vergnügen, Sie in unserem fernen Reiche zu sehen?«

»Ich begleite einen Zug Gefangener, in dem sich eine mir sehr nahestehende Person befindet,« versetzte Nechludoff; »und gerade auf diese Person bezieht sich eins der beiden Gesuche, die ich Ew. Exzellenz unterbreiten möchte.«

Der Gouverneur streckte die Beine aus, trank einen Schluck Thee und strich die Asche seiner Cigarette in einem Malachit-Aschbecher ab; dann richtete er seine kleinen, feuchten und glänzenden Augen auf Nechludoff und begann, ihm mit der größten Aufmerksamkeit zuzuhören. Nur zweimal unterbrach er ihn, um ihm ein Glas Thee anzubieten und ihn zum Rauchen aufzufordern.

Dieser Gouverneur gehörte der Art jener intelligenten Beamten an, die von Natur aus geneigt sind, ein bischen Menschlichkeit und Toleranz in ihren Beruf hinüberzunehmen. Doch da die Natur ihm auch einen großen Fonds Güte und Weisheit verliehen, und er bald gemerkt hatte, wie nutzlos seine Bemühungen in diesem Sinne geblieben waren, so hatte er, um dem Bewußtsein des inneren Widerspruches, in dem er sich befand, zu entgehen, immer mehr die Gewohnheit angenommen, Schnaps zu trinken. Dies Gewohnheit war bei ihm so stark geworden, daß er in fünfunddreißigjähriger Dienstzeit im Heere und in der Verwaltung das geworden war, was die Aerzte einen »Alkoholiker« nennen. Er war mit Branntwein vollständig imprägniert, so daß ein kleines Gläschen Alkohol oder Wein hinreichte, ihn in den Zustand des Rausches zu versehen. Uebrigens konnte er das Trinken auch nicht mehr lassen, und so war er jeden Tag seines Lebens, sobald der Abend nahte, vollständig berauscht.

Indessen hatte er sich dieser Situation so gut angepaßt, das man ihn nie schwanken sah, und ihn auch nie zusammenhangloses Zeug reden hörte; auch hätte das infolge der hohen Stellung, die er einnahm, niemand bemerken dürfen, selbst wenn er so etwas gesprochen hätte. Nur morgens, zu der Stunde, in der sich Nechludoff ihm vorgestellt, nur zu dieser Stunde glich er einem vernünftigen Menschen und war im Stande, das richtig zu begreifen, was man mit ihm sprach.

Die vorgesetzten Behörden, von denen er abhängig war, kannten seine unmäßigen Gewohnheiten ganz genau. Doch sie wußten auch, daß er intelligenter, als die Mehrzahl seiner Kollegen, und gebildeter war, obwohl seine Bildung mit dem Tage aufgehört hatte, an dem die Trunksucht über ihn gekommen war. Man wußte, daß er kühn, gewandt war, und zu repräsentieren verstand; man wußte, daß er selbst im betrunkenen Zustande fähig war, seine Würde zu wahren, und aus Grund alles dessen hatte man ihn von Grad zu Grad bis zum Posten des Gouverneurs, den er jetzt inne hatte, avancieren lassen.

Zweites Kapitel

Nach dem schwelgerischen und erschlaffenden Leben, das Katuscha in den letzten sechs Jahren in der Stadt geführt, und den zwei Monaten, die sie unter den Verbrechern im Gefängnisse verlebt, erschien ihr das Leben, das sie jetzt bei den politischen Gefangenen führte, trotz aller Mühseligkeiten und Unannehmlichkeiten, die sie zu erdulden hatte, recht schön.

Die Etappen, bei denen sie bei kräftiger Nahrung zwanzig bis dreißig Werst zurücklegte – zwischen je zwei Wandertagen wurde ein Ruhetag eingeschoben – hatten sie körperlich gestärkt, und der Verkehr mit den neuen Leidensgefährten hatte ihr ganz neue Interessen geschaffen, die ihr bis dahin unbekannt geblieben waren.

Hocherfreut war sie über alle ihre neuen Gefährten, ganz besonders aber über Marie Pawlowna, der sie mit ehrfurchtsvoller und herzlicher Liebe zugethan war. Sie beobachtete mit der größten Verwunderung, wie dieses schöne Mädchen, das dem reichen Hause eines Generals entstammte und drei Sprachen vollendet beherrschte, sich wie die gewöhnlichste Arbeiterin benahm, wie sie alles, was ihr reicher Bruder ihr schickte, an die andern verschenkte, nicht nur einfache, sondern sogar ärmliche Kleidungsstücke trug und auf ihr äußeres Wesen nicht das geringste gab. Gerade diese Anspruchslosigkeit, der auch nicht der kleinste Schimmer von Koketterie innewohnte, erregte bei Katuscha die meiste Bewunderung. Sie beobachtete, daß Katuscha ganz genau wußte, daß sie schön war, und daß sie auch gern daran dachte; doch der Eindruck, den sie auf die Männer hervorbrachte, erfüllte sie nicht mit Freude, sondern mit Furcht, und sie hegte stets Abscheu und Angst vor etwaigen Zudringlichkeiten. Ihre Gefährten, die diese Gefühle bei ihr genau kannten, empfanden wohl Zuneigung zu ihr, wagten jedoch nicht, sie ihr zu zeigen, und verhielten sich ihr gegenüber genau so, wie gegen andere männliche Leidensgefährten. Nur Leute, die sie nicht kannten, wurden oft zudringlich gegen sie, und wie sie selbst sagte, hatte sie nur ihre große Körperkraft gerettet, auf die sie sich ganz besonders stolz zeigte.

»Einmal,« so erzählte sie unter lautem Lachen, »trat auf der Straße ein fremder Herr auf mich zu und wollte mich nicht in Frieden lassen; da habe ich ihn aber gepackt und geschüttelt, daß er Angst bekam und sich schleunigst aus dem Staube machte.«

»Das vornehme Leben,« so erklärte sie oft, »wäre ihr von frühester Jugend an widerwärtig erschienen, dagegen habe sie sich für das Leben des gewöhnlichen Volkes interessiert, und man habe sie oft ausgescholten, weil sie sich in der Gesindestube, in der Küche und im Stall aufgehalten habe, aber nicht in den Salon kommen wollte.«

»Mit unsern Köchinnen, Mägden und Kutschern konnte ich mich sehr gut verständigen, aber bei unsern vornehmen Herren und Damen war es mir zu langweilig,« meinte sie. »Später, als ich dann mehr zur Vernunft kam, erkannte ich, daß wir ein recht schlechtes Leben führten. Eine Mutter besaß ich nicht, und meinen Vater konnte ich nicht lieben. Im Alter von neunzehn Jahren ging ich mit einer Freundin aus dem Hause und trat als Arbeiterin in eine Fabrik.«

Sie hatte sich dann auf dem Lande aufgehalten und war darauf wieder in die Stadt gekommen, wo man sie verhaftet und zur Zwangsarbeit verurteilt hatte. Marie Pawlowna sprach niemals darüber, doch die andern teilten es Katuscha mit, daß man sie zur Zwangsarbeit verurteilt hatte, weil sie sich aus freien Stücken zur Schuld eines andern bekannt.

Es fiel Katuscha auch auf, daß sie, seit sie mit ihr bekannt geworden war, nie für sich etwas erbat, sondern stets und ständig nur bemüht war, andern dienlich zu sein und sie in großen wie in kleinen Dingen zu unterstützen. Einer ihrer augenblicklichen Gefährten, ein gewisser Nowodworoff, sagte oft von ihr im Scherz, sie betreibe das Wohlthun wie einen wahren Sport. Und dem war auch wirklich so. Wie ein Jäger darauf erpicht ist, das Wild aufzupürschen, so richteten sich ihre gesamten Lebensinteressen darauf, sich andern nützlich zu erweisen. Diese Art Sport wurde bei ihr zur Gewohnheit und bildete sich zu ihrem einzigen Lebenszweck aus. Doch was sie that, that sie in so einfacher, natürlicher Manier, daß jeder, der sie kannte, ihre Hilfeleistung als etwas ganz Selbstredendes betrachtete.

Zuerst hatte Marie Pawlowna, als sie Katuscha kennen gelernt, einen Widerwillen gegen sie empfunden, und Katuscha war das nicht unbekannt geblieben. Später aber machte sie die Entdeckung, daß Marie Pawlowna lebhaft bemüht war, sich ihr gegenüber ganz besonders herzlich und gütig zu zeigen, und die herzbezwingende Liebenswürdigkeit dieses außergewöhnlichen Geschöpfes machte einen so tiefen Eindruck der Rührung auf Katuscha, daß sie sich ihr mit Herz und Seele weihte, sich unwillkürlich alle ihre Lebensanschauungen zu eigen machte, und sie instinktiv in allen Dingen kopierte. Diese hingebende, aufopfernde Zuneigung Katuschas erfüllte Marie Pawlowna mit tiefer Rührung, und deshalb erwiderte sie Katuschas Liebe.

Ferner verband diese beiden Frauen die Abneigung, die alle beide der geschlechtlichen Liebe entgegenbrachten. Die eine haßte diese Liebe, weil sie sie von der häßlichsten, empörendsten Seite kennen gelernt, die andere, weil sie sie, ohne daß sie ihr bekannt geworden, als etwas Unfaßbares betrachtete, das ihr gleichsam als eine Widerwärtigkeit und eine Beleidigung der Menschenwürde erschien.

Katuscha hatte sich Marie Pawlowna ganz und gar zu eigen gegeben, und dieser Einfluß wirkte deshalb so stark, weil Katuscha sie liebte. Einen andern Einfluß übte Simonson auf sie aus, und dieser Einfluß machte sich dadurch geltend, daß Simonson Katuscha liebte.

Alle Menschen leben und schaffen zum Teil nach ihren eigenen Ideen, zum Teil nach denen der andern. Inwiefern die Menschen nun nach ihren eigenen Ideen und nach denen der andern leben, das ist eben einer der bedeutendsten Unterschiede, der die Menschen von einander trennt. Die einen lassen in den meisten Fällen ihre eigene Vernunft wie ein Rad wirken, von dem man die Treibriemen entfernt hat; in ihren Handlungen jedoch folgen sie fremden Ideen, der Sitte, der Tradition und dem Gesetz. Andere wieder lassen sich hauptsächlich bei allen ihren Handlungen von ihren eigenen Ideen leiten; sie hören stets auf das, was ihre Vernunft ihnen predigt und lassen sich von ihr leiten; nur in seltenen Fällen, und wenn sie sorgsam geprüft und erwogen, befolgen sie das, was andere bestimmt haben.

Der letzten Kategorie gehörte Simonson an; er überlegte lange und ließ sich nur von der Vernunft bestimmen; hatte er dann aber etwas bestimmt, so that er es auch.

Da er sich schon auf dem Gymnasium zu der Erkenntnis durchgerungen hatte, sein Vater, ein Verwaltungsbeamter, hätte sein Vermögen nicht in rechtschaffener Weise erworben, so erklärte er demselben, er müsse sein Geld an das Volk wieder abgeben. Als sein Vater aber nichts davon hören wollte und ihn in zornigen Worten anschrie, ging er aus dem Hause, um nicht weiter von dem Gelde seines Vaters zu leben. Da er zu der Ueberzeugung gekommen war, das herrschende Unglück stamme nur von der Unbildung des Volkes, so verkehrte er, nachdem er die Universität verlassen, hauptsächlich mit dem Volke. Er wurde Dorflehrer, erklärte dort seinen Schülern und den Bauern mit keckem Mute alles, was er für richtig erkannt, und leugnete alles, was er als falsch und ungerecht erkannt hatte.

Man verhaftete ihn und stellte ihn unter Anklage.

Im Laufe der Gerichtsverhandlung war ihm die Erkenntnis aufgegangen, daß die Gerichte gar nicht das Recht hatten, ihn zu verurteilen, und diesem Gedanken verlieh er auch Ausdruck. Als die Richter seiner Ansicht nicht beitraten und die Verhandlung weiter fortsetzten, faßte er den Entschluß, auf keine Frage mehr Antwort zu geben und von nun an zu schweigen. Daraufhin verurteilte man ihn zur Verschickung in das Gouvernement Archangalsk, wo er sich eine Religionslehre zurechtmachte, nach der er alle seine Handlungen regelte. Diese Religionslehre hatte folgenden Inhalt: alles, was sich auf der Erde befindet, ist lebendig; etwas Totes giebt es nicht; denn alle Gegenstände, die wir für tot und unorganisch ansehen, sind nichts weiter, als einzelne Teile eines unermeßlichen organischen Körpers, den zu erfassen und zu begreifen wir außer stande sind. Deshalb ist dem Menschen auch die Aufgabe gestellt, das Leben dieses organischen Körpers und alle demselben innewohnenden lebendigen Stücke zu erhalten.

Aus diesem Grunde betrachtete er es auch als ein Verbrechen, etwas Lebendiges zu zerstören. Auch hinsichtlich der Ehe hatte er sich seine eigene Theorie zurechtgelegt, und diese Theorie lehrte, die allerniedrigste Thätigkeit des Menschen sei die Fortpflanzung des Menschengeschlechts; die höchste Thätigkeit aber sei es, sich dem, was bereits lebt, dienstbar zu erweisen. Er fand diese seine Lehre in dem Vorhandensein der Blutgefäße bekräftigt. Ebensolche Blutgefäße bildeten seiner Ansicht nach die unverheirateten Menschen, denn ihnen war die Aufgabe gestellt, den schwachen, kränklichen Teilen des Organismus hilfreich zur Seite zu stehen, und als solche Blutkörperchen betrachtete er sich und Marie Pawlowna.

Seine Theorie wurde auch durch seine Liebe zu Katuscha nicht beeinträchtigt, denn diese liebte er nur platonisch, und eine solche Liebe war seiner Meinung nach nicht allein kein Hindernis, sich den Schwachen gegenüber hilfreich zu zeigen, nein, sie war sogar ein Ermunterungsmittel dazu.

In derselben Weise, wie er Fragen der Sittlichkeit und Moral auf seine Weise erledigte, ebenso verfuhr er auch bei der Mehrzahl der praktischen Fragen nach seinem eigenen Ermessen. Er hatte sich für praktische Angelegenheiten seine eigenen Theorien zurechtgelegt, er stellte bestimmte Regeln und Gesetze auf, wieviel Stunden man arbeiten, wieviel Stunden man sich ausruhen solle, wie man sich ernähren und wie man sich kleiden müsse, ja, selbst, wie man den Ofen heizen und Licht anstecken solle.

Dabei war Simonson aber im höchsten Grade schüchtern, zurückhaltend und bescheiden, dagegen ließ er sich aber, wenn er einmal einen Entschluß gefaßt, durch nichts davon abbringen.

So war dieser Mensch beschaffen, der Katuscha liebte, und gerade dadurch einen gewaltigen Einfluß auf sie ausübte. Mit dem jedem weiblichen Wesen innewohnenden Taktgefühl erkannte Katuscha das sehr bald, und das Selbstbewußtsein, daß sie sich die Liebe eines so außergewöhnlichen Menschen zu erringen gewußt, erhöhte sie in ihren eigenen Augen. Nechludoff hatte ihr aus Großmut und mit Rücksicht auf die Ereignisse der Vergangenheit versprochen, sie zu heiraten; Simonson aber liebte sie so, wie sie eben war; er liebte sie eben, weil er sie liebte.

Ferner hatte sie die Empfindung, Simonson betrachte sie als ein außergewöhnliches Wesen, das sich von allen andern Frauen durch besonders hohe moralische Vorzüge unterschied. Sie war sich noch nicht darüber klar geworden, welche Vorzüge er in ihr vermutete, doch war sie jedenfalls, um ihn in seinen Erwartungen nicht zu täuschen, auf das eifrigste bestrebt, die trefflichsten Vorzüge zur Schau zu tragen, die sie sich nur denken konnte. Und deshalb war sie bemüht, so gut zu sein, wie sie es nur irgend im stande war. Damit hatte sie schon im Gefängnis angefangen, als sie den Verkehr der politischen Gefangenen miteinander angesehen und dabei bemerkt hatte, wie Simonson seine unschuldigen, gütigen, dunkelblauen Augen unter der gesenkten Stirn oft längere Zeit auf ihr ruhen ließ. Schon damals war es ihr zum Bewußtsein gekommen, daß er ein ganz hervorragender Mensch war, und daß er sie immer ganz eigentümlich anschaute. Es war ihr auch aufgefallen, daß dieser unbewußt finstere und auffallende Gesichtsausdruck nur durch die wirren Haare und die zusammengezogenen Augenbrauen erzeugt wurde, daß sich aber in diesen düsteren Ausdruck eine kindliche Harmlosigkeit und Unschuld in ganz eigentümlicher Weise mischte.

Als sie in Tomsk der Abteilung der politischen Gefangenen zugewiesen wurde, sah sie ihn wieder, und obwohl sie nicht ein einziges Wort miteinander austauschten, sagte doch der Blick, den sie wechselten, klar und deutlich, wie hoch sie sich gegenseitig achteten. Auch später kam es nicht zu richtigen Unterhaltungen zwischen ihnen, doch Katuscha hatte die Empfindung, daß er seine Worte an sie richtete, wenn er ihr nahe war, daß er für sie nur sprach und sich stets bemühte, sich ihr so verständlich wie nur möglich zu machen. Seit der Zeit aber, da er mit den schweren Verbrechern zu Fuß wanderte, begannen sie sich gegenseitig näherzutreten.

Zwanzigstes Kapitel

Nechludoff erzählte dem Gouverneur, wie die Gefangene, für die er sich interessierte, ungerecht verurteilt worden wäre, und wie sie vor ihrer Abreise nach Sibirien ein an den Zaren gerichtetes Gnadengesuch eingereicht hätte.

»Sehr gut!« sagte der Gouverneur, nachdem er aufmerksam zugehört. – »Und weiter?«

»Man hat mir versprochen, das Gnadengesuch sollte so schnell wie möglich geprüft werden, und die kaiserliche Entscheidung würde noch im Laufe dieses Monats hier eintreffen…«

Immer die Augen auf Nechludoff heftend, streckte der Gouverneur seine dicke Hand mit den kurzen Fingern nach dem Tische aus, drückte auf eine Klingel und fing wieder an, stillschweigend zuzuhören.

»Ich muß also Ew. Excellenz, wenn es möglich ist, bitten, diese Gefangene bis zu dem Moment, da man die Antwort auf ihr Gnadengesuch erhält, hier zu behalten …«

Nechludoff wurde von dem Eintritt eines Dieners in großer Militäruniform unterbrochen.

»Frage einmal nach, ob Anna Wassiljewna schon aufgestanden ist,« sagte der Gouverneur zu dem Diener, »und bringe noch Thee!«

Dann wandte er sich wieder zu Nechludoff:

»Und weiter?«

»Mein zweites Gesuch,« fuhr Nechludoff fort, »betrifft einen politischen Gefangenen, der demselben Zuge angehört.«

»So, so!« sagte der Gouverneur mit einem liebenswürdig scheltenden Kopfnicken.

»Dieser Unglückliche ist schwer krank; er liegt im Sterben. Man wird ihn jedenfalls hier im Lazarett lassen, und eine seiner Gefährtinnen, eine politische Gefangene, bittet um die Erlaubnis, bei ihm bleiben zu dürfen.«

»Sie ist nicht mit ihm verwandt?«

»Nein, aber sie ist bereit, sich mit ihm zu verheiraten, wenn sie auf diese Weise die Erlaubnis erhalten kann, bei ihm zu bleiben.«

Ohne etwas zu erwidern, betrachtete der Gouverneur Nechludoff weiter mit seinen glänzenden Augen, als wenn er ihn mit der Stärke seines Blickes hätte einschüchtern wollen.

Als Nechludoff schwieg und auf seine Antwort wartete, erhob er sich aus seinem Sessel, holte ein Buch aus seiner Bibliothek, durchblätterte es schnell und las einige Minuten eine Stelle, die er mit dem Finger verfolgte.

»Zu welcher Strafe ist diese Frauensperson verurteilt?« fragte er, endlich die Augen wieder erhebend.

»Zur Zwangsarbeit!« »Aber die Lage des Verurteilten würde durch seine Verheiratung keinerlei Veränderung erfahren.«

»Aber das ist …«

»Gestatten Sie! Selbst wenn diese Person sich mit einem freien Manne verheiratete, müßte sie ihre Strafe weiter abbüßen. Es handelt sich nur darum, ob er oder sie zu der schwereren Strafe verurteilt worden ist?«

»Alle beide sind zu derselben Strafe verurteilt, zur Zwangsarbeit auf Lebenszeit.«

»Nun, dann ist die Sache doch erledigt,« sagte der Gouverneur lächelnd, »Die Ehe würde weder für ihn, noch für sie etwas ändern. Wenn er krank ist, wird man ihn hier behalten und natürlich alles mögliche thun, damit sein Zustand sich bessere; doch sie müßte, selbst wenn sie sich mit ihm verheiratete, dem Zuge weiter folgen …«

»Die Generalin ist aufgestanden und eben zum Frühstück hinuntergegangen,« meldete der Diener.

Der Gouverneur nickte mit dem Kopfe und fuhr fort:

»Uebrigens werde ich mich noch damit beschäftigen. Wie heißen diese Verurteilten? Wollen Sie mir bitte ihre Namen auf diesem Papier ausschreiben?«

Nechludoff schrieb die Namen auf.

»Auch das darf ich nicht gestatten,« sagte der Gouverneur, als Nechludoff ihn für sich selbst um die Erlaubnis gebeten hatte, den Kranken besuchen zu dürfen. »Glauben Sie nicht etwa, daß ich den geringsten Verdacht gegen Sie hege,« fuhr er fort, »aber ich sehe, wie die Sache zusammenhängt. Sie interessieren sich für diese Leute, Sie wollen ihnen Dienste erweisen, und dann haben Sie auch Geld. Bei uns ist aber alles käuflich. Man sagt mir oft: Sie sollten den Versuch machen, die Käuflichkeit auszurotten! Aber wie soll ich sie ausrotten, wenn ein jeder, von oben bis unten, sich verkauft? Und dann überwachen Sie doch Beamte auf eine Ausdehnung von 5000 Werst! Jeder von ihnen ist ein kleiner Czar, ganz wie ich hier!« fügte der Gouverneur mit derbem Lachen hinzu, »Ja, ich sehe schon, wie es steht! Auf Ihrer ganzen Reise hat man Ihnen gestattet, die politischen Gefangenen zu besuchen, Sie haben Trinkgelder gegeben, und man hat Sie durchgelassen. So ist es doch, nicht wahr?«

»Ja, das ist richtig!«

»Ich begreife, daß Sie das gethan haben; Sie haben eben gethan, was Sie thun mußten! Sie wollten einen politischen Verurteilten sprechen und gebrauchten die dazu notwendigen Mittel. Und der Polizeileutnant oder Aufseher ließ Sie gegen ein Trinkgeld hinein, weil sein Sold nicht hinreicht, um seiner Familie ohne kleine Zuwendungen dieser Art den Lebensunterhalt zu verschaffen. Er hatte Recht und Sie auch, und an Ihrer oder seiner Stelle hätte ich genau dasselbe gethan. Doch an meiner Stelle kann ich nicht die vorgeschriebene Verletzung der vorgeschriebenen Regel gestatten, und das um so weniger, je mehr ich von Haus aus geneigt bin, Nachsicht walten zu lassen. Ich bin mit einer Mission beauftragt, die man mir unter bestimmten Bedingungen anvertraut hat, und ich muß dieses Vertrauen rechtfertigen. So! Das ist alles, was ich Ihnen über die fragliche Angelegenheit sagen kann! Doch nun erzählen Sie mir auch ein bischen, was bei Ihnen in Europa, in Petersburg, in Moskau vorgeht!«

Und nun drang der Gouverneur mit verschiedenen Fragen in Nechludoff, weniger, um sich zu unterrichten, als um gleichzeitig seine Wichtigkeit und seine Freundlichkeit zu zeigen.

»Und wo wohnen Sie hier? Bei Dukoff? Man logiert da nicht übel, doch so gut wie das »Sibiria-Hotel« ist es nicht! Aber hören Sie mal,« fügte der Gouverneur hinzu, als Nechludoff sich verabschieden wollte, »sagen Sie mal, Sie kommen doch zu uns zum Diner? Um fünf Uhr! Nicht wahr, Sie sprechen englisch?«

»Ja, ich spreche englisch!«

»Na, schön, das trifft sich ja wunderbar! – Denken Sie sich, wir haben in diesem Augenblick einen Engländer hier, einen Reisenden. Er hat in Petersburg die Erlaubnis erhalten, unsere Gefängnisse und unsere Rastgebäude zu besuchen. Und er speist heute Abend gerade bei uns! Kommen Sie ganz bestimmt. Sie würden uns sicherlich sehr zu Dank verpflichten! Und bei der Gelegenheit werde ich Ihnen auch die Antwort wegen dieser Frau mitteilen, die auf ihre Begnadigung wartet, und wir sprechen auch noch über Ihren Kranken! Ich werde sehen, ob es nicht möglich ist, etwas für sie zu thun!«

Vierzehntes Kapitel

»Nun!« sagte Maria Pawlowna, als Simonson hinausgegangen war, »da haben Sie’s! Er ist verliebt, wahnsinnig verliebt! Wer hätte das erwartet, daß Wladimir Simonson sich wie der erste beste Gymnasiast verlieben würde? Das ist unglaublich! Und ich muß sogar sagen, daß es mich ein bißchen ärgert,« fügte sie halb ernsthaft hinzu.

»Aber sie, Katja? Was meinen Sie, denkt sie von alledem?« fragte Nechludoff.

»Sie?«

Maria Pawlowna hielt inne, um einen Augenblick zu überlegen, als wenn sie ihre Antwort so klar wie möglich aussprechen wollte.

»Sie? Sehen Sie, trotz ihrer Vergangenheit ist sie eine der rechtschaffensten Personen, die ich je kennen gelernt habe … Sie hat feinere Gefühle, als wir alle … Sie liebt Sie, sie liebt Sie sehr; und sie wäre glücklich, wenn sie Ihnen wenigstens einen negativen Dienst erweisen könnte, indem sie Sie hindert, sich weiter ihretwegen Umstände zu machen. In ihren Augen wäre ihre Ehe mit Ihnen ein schrecklicher Sturz, der schlimmer als ihre ganze Vergangenheit wäre; und ich bin überzeugt, daß sie infolgedessen nie darauf eingehen würde. Ihre Anwesenheit ist für sie eine fortgesetzte Ursache der Angst.«

»Aber was raten Sie mir denn? Soll ich verschwinden?« fragte Nechludoff.

Ueber Maria Pawlownas Gesicht huschte ein sanftes Lächeln.

»Nun denn, ja, zum Teil!«

»Und wie könnte ich zum Teil verschwinden?«

»Ich bemerke, daß ich noch nicht auf Ihre erste Frage geantwortet habe,« fuhr sie fort, und suchte augenscheinlich der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben; »ich wollte Ihnen sagen, daß Katja diese exaltierte Liebe, die Simonson für sie empfindet, gemerkt haben muß, obwohl er nie mit ihr davon gesprochen hat. Wie Sie wissen, verstehe ich mich nicht besonders auf solche Fragen; doch ich habe die Empfindung, daß dieses Gefühl nichts weiter ist, als die gewöhnlichste Liebe, trotz all der schönen Gefühle, mit der sie umkleidet ist. Wladimir behauptet, seine Liebe wäre rein platonisch und habe nur die Wirkung, seine Energie zu heben, anstatt sie niederzudrücken. Noch ich fühle wohl, daß das im Grunde gar nicht der Fall ist, daß es ganz einfach ein physisches Verlangen ist, wie das, das Nowodworoff zu Lubka Grabetz führt …«

Und Maria Pawlowna wollte sich noch weiter über dieses Thema, das ihr sehr am Herzen lag, aussprechen, als Nechludoff sie unterbrach.

»Und was raten Sie mir zu thun?« fragte er.

»Ich glaube, Sie sollten von alledem zuerst mit Katja sprechen. Sich gründlich aussprechen, das ist immer die beste Methode. Verständigen Sie sich mit Katja! Soll ich sie Ihnen herschicken?«

»Ja, ich bitte Sie darum,« sagte Nechludoff, und Maria Pawlowna verließ das Zimmer.

Seltsame Gefühle bewegten Nechludoffs Seele, – während er in dem kleinen Zimmer allein blieb und neben sich den regelmäßigen Atem Wera Efremownas und etwas weiter den unaufhörlichen Lärm der Kriminalverbrecher vernahm. Was ihm Simonson eben gesagt, hatte den Vorzug, daß es ihn von der übernommenen Verpflichtung befreite, die ihm noch in der letzten Zeit sehr oft schrecklich und peinlich erschienen war. Trotzdem war ihm das, was Simonson ihm gesagt, nicht allein unangenehm, sondern verursachte ihm auch Schmerzen, wie er sie nie vorher erduldet hatte.

Seine Leiden stammten von tausend verschiedenen Ursachen, deren er sich selbst nicht recht bewußt wurde. Es stammte z. B. daher, daß Simonsons Vorschlag seinem Verhalten Katuscha gegenüber den außergewöhnlichen Charakter genommen hatte, den es bis dahin in seinen eigenen Augen und den Augen der Welt gehabt hatte. Denn, wenn ein anderer Mann und ein Mann, wie dieser, der dem jungen Weibe gegenüber nicht die geringste Verpflichtung hatte, sein Schicksal mit dem ihrigen verknüpfen wollte, so hatte doch sein, Nechludoffs Opfer, nichts so Heroisches an sich! Und das Leiden Nechludoffs hatte auch eine ganz einfache Eifersucht zur Ursache; er hatte sich an den Gedanken, von Katuscha geliebt zu werden, so sehr gewöhnt, daß der Gedanke, sie liebe einen andern Mann, ihn wie eine Enttäuschung quälte. Und Nechludoff litt auch, als er seine Pläne und Projekte so zerstört sah; er hatte es sich genau zurechtgelegt, wie er neben Katuscha leben, wie er ihr Gesellschaft leisten, und bis sie ihre Strafe abgebüßt, über sie wachen wolle; wenn sie sich jetzt aber mit Simonson verheiratete, wurde seine Anwesenheit unnötig, und er mußte seinem Leben ein anderes Ziel geben. So drängten sich in ihm allerlei traurige Gedanken, als die Thür sich öffnete und Katuscha ins Zinnner trat. Der Lärm im Nebensaale wurde fortwährend betäubender; offenbar mußte etwas Ungewöhnliches dort vorgehen.

Mit schnellen Schritten, ohne die Augen zu erheben, ging Katuscha auf Nechludoff zu.

»Maria Pawlowna hat mir gesagt, Sie hätten mit mir zu sprechen,« murmelte sie mit verlegener Miene.

»Ja, Katuscha, ich habe mit dir zu sprechen! Setz‘ dich! Wladimir Iwanowitsch hatte eben mit mir deinetwegen eine Unterredung.«

Sie hatte sich gesetzt, ihre Hände auf die Kniee gelegt, und es war ihr gelungen, sich den Anschein der Ruhe zu geben. Doch sobald Nechludoff Simonsons Namen erwähnt, zitterte sie und wurde blutrot.

»Und was hat er Ihnen gesagt?« fragte sie.

»Er hat mir gesagt, er wolle sich mit dir verheiraten.«

Das Gesicht des jungen Weibes verzerrte sich, wie unter der Einwirkung eines heftigen Schmerzes. Doch sie sagte nichts und begnügte sich, von neuem die Augen niederzuschlagen.

»Er bittet mich um meine Einwilligung oder doch wenigstens um meine Ansicht,« fuhr Nechludoff fort. »Ich aber habe ihm gesagt, es hinge alles von dir ab; du allein solltest entscheiden.«

»Und weshalb das alles?« rief sie und richtete den durchbohrenden Blick ihrer etwas schielenden Augen, der stets einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte, auf Nechludoff.

Beide blieben so eine kurze Minute sitzen und blickten sich in die Augen, und dieser Blick sagte beiden mehr, als viele Worte.

»Du allein mußt entscheiden!« wiederholte Nechludoff.

»Was habe ich zu entscheiden?« rief sie. »Es ist schon längst alles entschieden.«

»Nein, nein, Katuscha, du mußt entscheiden, ob du den Vorschlag Wladimir Iwanowitschs annimmst!«

»Kann ich mich verheiraten, ich Zuchthausbrut? Warum sollte ich Wladimir Iwanowitschs Leben vernichten?« sagte das junge Weib mit zitternder Stimme.

»Aber wenn du ihn liebst?« fragte Nechludoff.

»O, lassen Sie mich; es ist besser, nicht darüber zu sprechen,« versetzte sie, erhob sich und entfloh aus dem Zimmer.

Fünfzehntes Kapitel

Als Nechludoff nach seiner Unterredung mit Katuscha in den großen Saal zurückkehrte, fand er die ganze Gesellschaft in Aufregung. Nabatoff, der überall hinging, alles beobachtete, sich nach allem erkundigte, hatte eben eine für seine Gefährten im höchsten Grade interessante Entdeckung gemacht. Er hatte an einer Wand eine von dem Revolutionär Petlin stammende Inschrift entdeckt, der vor zwei Jahren zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden war. Man glaubte, dieser Petlin wäre schon längst in Sibirien; und nun bewies die von ihm an der Wand zurückgelassene Inschrift, daß er einem ganz kürzlich hier durchpassierenden Zuge angehört hatte.

Die Inschrift lautete:

»Ich bin am 17. August 18.. mit einem Zuge gemeiner Verbrecher hier durchgekommen. Newjeroff sollte mit mir reisen; doch er hat sich in Kasan in einem Wahnsinnsanfall erhängt. Mir geht’s körperlich und geistig gut, und ich bin voller Hoffnung auf die Zukunft unserer Sache. Petlin.«

Man tauschte Vermutungen über die Ursache der Verzögerung von Petlins Abreise aus, vor allem aber sprach man über die Gründe von Newjeroffs Selbstmord. Nur Krülzoff schwieg mit ernster Miene und blickte mit seinen silberglänzenden Augen vor sich hin ins Leere.

»Mein Mann hat mir gesagt, Newjeroff hätte schon in der Festung Gespenster gesehen,« sagte Rontzeff.

»Ja, ein Poet, ein Phantast! Solche Leute ertragen die Einsamkeit nicht,« erklärte Nowodworoff in verächtlichem Tone. »Als man mich in die Zelle gesperrt hat, habe ich es mir streng untersagt, meine Phantasie arbeiten zu lassen. Ich habe mir einen bestimmten Plan für meine Zeit festgesetzt, dem ich mit pünktlicher Genauigkeit gefolgt bin. Daher habe ich die Einzelhaft auch sehr gut ertragen.«

»Die Einzelhaft ertragen! Das ist nicht einmal wert, daß man sich dessen rühmt! Ich habe mich sehr oft glücklich gefühlt, wenn man mich in die Zelle gesperrt hat,« rief Nabatoff mit gutmütigem Lächeln, indem er sich offenbar bemühte, das Gespräch abzulenken, und den Hauch der Traurigkeit, der sich ringsumher verbreitet hatte, zu verscheuchen. »In der Freiheit kümmert man sich um alles, fragt sich, ob man nicht den andern schaden und den Erfolg des Werkes in Frage stellen wird; sitzt man dagegen einmal in der Zelle, so fühlt man sich für nichts mehr verantwortlich: man kann frei atmen. Man braucht nur sitzen zu bleiben und Cigaretten zu rauchen.«

»Du hast Newjeroff genau gekannt?« fragte Maria Pawlowna Krülzoff, dessen Gesicht sich von neuem verzerrt hatte und dessen Hände seit Nowodworoffs Worten wieder zu zittern angefangen hatten.

»Newjeroff ein Phantast?« fragte Krülzoff, indem er seine erloschene Stimme so viel wie möglich erhob. »Siehst du, Nejweroff war einer der Männer, von denen man sagt, die Erde bringe nur wenige ihresgleichen hervor! Er war ein wunderbarer Mensch, ein Mensch, den ich seiner Aufrichtigkeit wegen als durchsichtig bezeichnen möchte! Er war nicht allein unfähig zu lügen, sondern auch außer stande, seine geringsten Gedanken geheim zu halten. Und eine so feine Haut hatte er, daß die geringste Schramme ihn bis auf die Seele verwundete. Alle seine Nerven waren so feinfühlig … Ja, eine zarte, weiche Natur, eine schöne Natur! Ach, der war nicht wie … Doch, wozu darüber sprechen!«

Er schwieg einen Augenblick, doch man sah, daß der Zorn in ihm grollte.

»Leute von Newjeroffs Art,« fuhr er in bitterem und gequältem Tone fort, »fragen sich ängstlich, was besser sei: ob es besser sei, das Volk erst aufzuklären und dann erst die Lebensformen zu ändern, oder ob es vorteilhafter sei, erst die Lebensformen zu ändern; sie fragen sich, mit welchen Mitteln sie kämpfen sollen, ob mit der friedlichen Propaganda oder mit dem Terrorismus. Und darum nennt man sie Phantasten! – Die dagegen, die sie so nennen, fragen sich nichts, sie bestreiten nichts, sie kümmern sich nicht darum, ob ihr Wirken nicht zehn, Hunderten von Männern, und was für Männern, das Leben kosten wird! Im Gegenteil, es ist ihr Wunsch, daß die Besten umkommen mögen! Und die Besten kommen in der That um! Herzen sagte, die Proskription der Dekabristen hätte die Wirkung gehabt, das soziale Niveau Rußlands herunterzudrücken. Und daraufhin hat man Herzen und seine Mitstreiter proskribiert. Jetzt werden die Newjeroffs exkommuniziert!«

»Es wird aber doch nicht gelingen, alle Welt zu unterdrücken,« sagte Nabatoff. »Einige werden zur Schlußabrechnung doch noch dasein.«

»Nein, nicht ein einziger wird übrig bleiben, wenn wir diese Leute gewähren lassen,« rief Krülzoff, der immer wütender wurde, – »Emilia, gieb mir eine Cigarette.«

»Dir ist heute Abend nicht wohl,« sagte Maria Pawlowna, »ich bitte dich, laß das Rauchen.«

»Laß mich!« sagte er zornig, und zündete sich eine Cigarette an; doch schon bei dem ersten Zuge begann er wieder zu husten und zu ersticken. Einige Augenblicke blieb er liegen, um Atem zu schöpfen, dann wurde er von neuem lebhafter und sagte:

»Nein, so haben wir das Werk nicht aufgefaßt, so haben wir es gewiß nicht aufgefaßt. Wir überlegten, wir suchten nach den besten Methoden, während …«

»Aber sie sind doch auch Menschen,« warf die Rantzeff ein.

»Nein, das sind keine Menschen, die so handeln und denken können … man sollte sie ausrotten, wie die Wanzen, sie in die Luft sprengen; ja, das sollte man, weil …«

Er begann einen neuen Satz, als sein Gesicht plötzlich blutrot wurde und ein heftiger Hustenanfall ihn gleichzeitig auf das Kopfkissen zurückwarf; dann sah man einen Blutstrom aus seinem Munde fließen.

Nabatoff stürzte auf den Korridor, um Schnee zu holen.

Maria Pawlowna trat auf Krülzoff zu und reichte ihm ein Fläschchen mit Baldriantropfen; er aber stieß mit geschlossenen Augen das Fläschchen mit seiner fleischlosen Hand zurück und blieb lange Zeit unbeweglich, ohne wieder zu Atem kommen zu können.

Als der Schnee und kalte Wasserkompressen ihn schließlich so weit hergestellt hatten, daß seine Gefährten ihn entkleiden und zu Bett bringen konnten, nahm Nechludoff Abschied und ging in den Korridor, wo der Oberaufseher seit längerer Zeit auf ihn wartete.

Die gemeinen Kriminalverbrecher hatten jetzt ihren Lärm eingestellt, und die meisten schliefen. Sie schliefen nicht allein auf den Betten und unter den Betten, auf der Diele und vor den Thüren, sondern viele von ihnen, die im Innern der Säle keinen Platz hatten finden können, hatten sich nackt, mit ihren Reisetaschen unter den Köpfen, und, an Stelle der Betten mit ihren Kleidern zugedeckt, im Korridor hingelegt.

Die Säle und der Korridor hallten vom Schnarchen förmlich wieder, und überall lagen auf dem Erdboden seltsame menschliche Gestalten, die halb unter großen Mänteln verborgen waren. Nur einzelne Sträflinge, die in einer Ecke des Korridors beim Scheine einer Kerze Karten spielten, schliefen nicht. Nechludoff sah noch einen andern, der auch nicht schlief, einen alten Sträfling, der vollständig nackt unter der Lampe saß, und in seinen Kleidungsstücken nach Läusen suchte. Im Vergleich zu dem pestartigen Gestank dieses Korridors hatte Nechludoff die Empfindung, er habe in dem für die politischen Gefangenen reservierten Zimmer die reinste Luft geatmet.

Schließlich bahnte er sich doch einen Weg bis zum äußersten Ende des Korridors, indem er vorsichtig weiter ging, um die Schläfer nicht zu treten, die den Weg versperrten. Drei Gefangene, die zweifellos in dem Korridor selbst keinen Platz hatten finden können, hatten sich vor dem Eingang unter dem Unrateimer niedergelegt. Der eine von ihnen war ein Idiot, dem Nechludoff schon oft begegnet war; ein anderer war ein kleiner Junge von zehn Jahren; er schlief, wie die Kinder schlafen, die beiden Hände flach unter die Wange gelegt, während die verpestete Flüssigkeit des mit Exkrementen angefüllten Unrateimers langsam auf ihn herniedersickerte.

Im Hofe des Rastgebäudes blieb Nechludoff stehen, holte tief Atem und sog mit Behagen die eisige Nachtluft ein.

Sechzehntes Kapitel

An dem eben noch so dunklen Himmel waren jetzt die Sterne aufgegangen, die Schmutzlachen waren an vielen Stellen gefroren, und so hatte Nechludoff keine allzu große Mühe, seine Herberge wieder zu erreichen. Er klopfte ans Fenster; der breitschultrige Bursche öffnete ihm und ließ ihn herein.

Rechts im Korridor hörte Nechludoff das Schnarchen der Kutscher in einem dunklen Zimmer; vor sich im Hofe hörte er das beständige, regelmäßige Geräusch einer Schar Hafer fressender Pferde. Links sah er die Thür des Gastzimmers geöffnet, in welchem vor dem Heiligenbild eine Lampe brannte, und ein seltsamer Duft entströmte diesem Saale, ein Branntweingeruch, in den sich noch andere Gerüche mischten.

Nechludoff ging in sein Zimmer hinauf, zog seinen Mantel aus, und streckte sich auf einem Divan aus. Ganz in seinen Reiseplaid eingewickelt, durchlebte er die verschiedenen Schauspiele noch einmal, denen er eben beigewohnt. Besonders aber sah er mit ganz außergewöhnlicher Deutlichkeit den kleinen Jungen wieder vor sich, der, den Kopf auf die Hände gelegt, neben dem Nachteimer schlief, der auf ihn herabsickerte.

Die Unterredung, die er eben mit Simonson und Katuscha gehabt, hatte ihn tief erschüttert! er fühlte, ein Ereignis hätte sich in seinem Leben vollzogen, ein unvorhergesehenes, äußerst wichtiges Ereignis. Doch er fühlte auch, dieses neue Ereignis wäre zu ernst und unvorhergesehen, als daß er noch kalten Blutes daran denken konnte. Mit allen Mitteln bemühte er sich, nicht daran zu denken und verjagte sofort alle Erinnerungen, die sich auf seine eigene Lage und die des jungen Weibes beziehen konnten. Mit ebenso großer Deutlichkeit stellte er sich den Schlummer der Gefangenen in dem stinkenden Korridor vor, vor allem aber dachte er an den unschuldigen kleinen Jungen, der zwischen den beiden Sträflingen ausgestreckt lag.

Es ist zweierlei: zu wissen, daß irgendwo in weiter Ferne einzelne Leute andere quälen, ihnen allerlei Leiden und Demütigungen auferlegen; und drei Monate lang den Schauspielen dieser Qualen beizuwohnen und täglich zu sehen, wie andern diese Leiden und Demütigungen auferlegt wurden. Darüber wurde sich Nechludoff jetzt klar. Zwanzigmal hatte er sich im Laufe dieser drei Monate gefragt: »Bin ich toll und sehe ich Dinge, die andere nicht sehen, oder sind die andern, die die Dinge dulden und selbst vollbringen, toll?« Die andern Menschen aber duldeten diese Dinge, die Nechludoff in Erstaunen setzten, nicht nur, sondern hielten sie sogar für so wichtig und notwendig, daß er wirklich nicht annehmen konnte, sie wären alle toll.

Andererseits aber konnte er auch nicht annehmen, daß er selbst toll war, denn seine Gedanken erschienen ihm vollständig klar und vernünftig. Deshalb wußte er immer noch nicht, für welche Lösung er sich entschließen sollte. Wenigstens aber stellte er sich die allgemeine Bedeutung dessen, was er in diesen drei Monaten gesehen, deutlicher vor, und zwar unter folgender Form:

Er hatte zuerst die Empfindung, daß das Beamtentum und die Verwaltung von allen in Freiheit lebenden Menschen die eifrigsten, die gewecktesten, mit einem Wort, die lebenskräftigsten, aber auch die am wenigsten klugen und am wenigsten verschlagenen aussuchte; diese Menschen wurden nun, ohne schuldiger und gefährlicher als die in Freiheit gebliebenen zu sein, in Gefängnisse, Rastgebäude, Zuchthäuser eingeschlossen, wo man sie Jahre hindurch im Müßiggange, fern von der Natur, der Familie, der Arbeit, das heißt, fern von den Bedingungen des normalen Lebens, erhielt.

In zweiter Reihe hatte Nechludoff die Empfindung, daß alle diese Menschen in den Gefängnissen, Rastgebäuden u. s. w. einer ganzen Reihe von Demütigungen – Ketten an den Füßen, Handfesseln, rasierter Kopf, Gefängniskleidung – unterworfen waren, die keinen andern Wert hatten, als daß sie die Hauptbestandteile des moralischen Lebens in ihnen zerstörten, das heißt, das Bestreben nach Achtung der andern, die Scham und das Gefühl der menschlichen Würde. Drittens hatte Nechludoff die Empfindung, daß man diese Leute, indem man sie einer beständigen Krankheits- und Todesgefahr preisgab, in die Geistesverfassung versetzte, in der der beste und moralischste Mensch aus Selbsterhaltungstrieb geneigt ist, die grausamsten und unmoralischsten Handlungen zu begehen und gutzuheißen.

Viertens hatte Nechludoff die Empfindung, daß man diese Leute, indem man sie zwang, Tag und Nacht die Gesellschaft von durch und durch verdorbenen Wesen – Mörder, Diebe, Brandstifter – über sich ergehen zu lassen, der Epidemie dieser Verderbnis förmlich in die Arme trieb, Nechludoff sagte sich ferner, daß man durch die Behandlung, die man diesen Menschen zu teil werden ließ, indem man ihnen gegenüber alle möglichen ungeheuerlichen Maßregeln zur Anwendung brachte, indem man die Eltern von den Kindern und die Männer von den Frauen trennte; indem man auf die Denunciationen einen Preis setzte, diesen Menschen zu beweisen suchte, daß alle Formen der Gewaltthat, der Grausamkeit, der Bestialität nicht allein nicht verboten, sondern vom Gesetze sogar empfohlen wurden, wenn sie einen Vorteil einbrachten; daraus ging hervor, daß alle diese Dinge ganz besonders Leuten erlaubt waren, die man ihrer Freiheit beraubt hatte, und die sich in der schlimmsten Not befanden.

»Man möchte wahrhaftig glauben,« dachte Nechludoff, alle diese Maßregeln wären absichtlich erfunden worden, um unter den lebenskräftigsten Wesen des Volkes die Verderbnis und das Laster in der sichersten Weise zu verbreiten. Alljährlich werden so Tausende von menschlichen Wesen zu Grunde gerichtet, ihrer menschlichen Gefühle beraubt und zur Ausübung der ungeheuerlichsten Handlungen gezwungen; wenn man sie aber vollständig dem Laster in die Arme geführt, läßt man sie frei, damit sie die bösen Keime, die man in sie gesäet, im ganzen Volke verbreiten können.«

Schon in dem Gefängnis, in welchem er Katuscha wiedergefunden, und später auf dem ganzen Zuge des Gefangenentransportes in Perm, in Jekaterinenburg, in Tomsk, auf allen Ruhestationen hatte Nechludoff die Wirkungen dieser allgemeinen nationalen Demoralisation sich vollziehen sehen. Er hatte gesehen, wie einfache, von den traditionellen moralischen Grundlagen des Bauern und Christen durchdrungene Durchschnittsnaturen diese Prinzipien nach und nach abgelegt, um sich dafür andere Prinzipien zu eigen zu machen, die hauptsächlich in der Zulassung jeder Gewaltthat und Unehre gipfelten. Diese Naturen waren angesichts der den Gefangenen zu teil gewordenen Behandlung so weit gekommen, daß sie alle Prinzipien der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die ihre Religion sie gelehrt hatte, als Lügen ansahen, und daraus hatten sie die Schlußfolgerung gezogen, daß auch sie selbst diesen Prinzipien nicht mehr zu folgen brauchten.

Bei einer großen Zahl Gefangener des Zuges hatte Nechludoff Beispiele dieser Sittenverderbnis beobachtet; bei Fedoroff, bei Makar und sogar bei Taraß, der nach zweimonatlichem Zusammenleben mit den Sträflingen viele ihrer Gewohnheiten angenommen und sich fast so fühlte und ausdrückte, wie sie. Nechludoff hatte nämlich gehört, wie er mit Bewunderung von dem alten Sträfling sprach, der sich rühmte, seinen Fluchtgefährten ermordet und aufgegessen zu haben. Und er dachte daran, daß der russische Bauer unter der Einwirkung solcher Behandlung der Gefangenen in einigen Monaten in denselben Zustand der Sittenverderbnis geriet, in welchem sich die »Intellektuellen«, die die Doktrinen Nietzsches priesen und predigten, nach Jahrhunderten moralischer Fäulnis befanden. Nechludoff las in den Büchern, daß alle diese Maßregeln, deren Folgen er sah, ihre Rechtfertigung darin fanden, daß man gewisse gefährliche Glieder der menschlichen Gesellschaft ausrotten oder auf dieselben abschreckend wirken mußte. Auf die Wirklichkeit aber hatte das alles keinerlei Bezug, denn anstatt die gefährlichen Glieder aus der Gesellschaft auszurotten, verbreitete man die Sittenverderbnis nur noch mehr. Anstatt auf diese Glieder abschreckend zu wirken, ermutigte man sie nur, indem man ihnen das Beispiel der Grausamkeit und Unmoral gab und ihnen außerdem ein Leben der Faulheit und Ausschweifung sicherte, das ihnen so weit gefiel, daß eine Menge von Landstreichern es als eine Gunst betrachtete, ins Gefängnis geworfen zu werden. Anstatt diese gefährlichen Mitglieder zu bessern, impfte man ihnen nur systematisch alle Laster ein.

»Aber warum thut man denn das alles?« fragte sich Nechludoff und fand noch immer keine Antwort. Am meisten aber wunderte er sich, daß dies alles nicht nur vorübergehend, infolge eines Mißverständnisses, sondern fortgesetzt und wohlüberlegt seit langen Jahrhunderten geschah, nur mit dem einzigen Unterschiede, daß man den Gefangenen früher die Nasenlöcher aufriß und sie auf Flöße setzte, während man ihnen jetzt Handschellen anlegte, ihnen die Augen mit Fäusten ausschlug und sie in Dampfschiffen reisen ließ.

Nechludoff fand auch Schriftsteller, die ihm sagten, die Maßregeln, die ihn empörten, kämen nur von den ungenügenden Gefängnissen und einer mangelhaften Organisation, die sicherlich bald verbessert werden würde. Doch auch diese Antwort befriedigte ihn absolut nicht; denn er fühlte nur zu deutlich, der Uebelstand, der ihn empörte, hinge nicht allein von der ungenügenden Zahl der Gefängnisse oder von dem oder jenem Organisationsfehler ab. Die Erfahrung bewies ihm, daß dieses Uebel von Jahr zu Jahr trotz der sogenannten Fortschritte der Zivilisation stärker wurde. Er wußte, daß die Gefangenentransporte vor fünfzig Jahren nicht in demselben Maße das Schauspiel der Verrohung und Sittenverderbnis aufwiesen, trotzdem man sie damals nicht in Dampfschiffen und Eisenbahnen durch Rußland beförderte. Und er konnte nicht ohne ein Gemisch von Ekel und Unruhe eine Beschreibung dieser Mustergefängnisse lesen, die von den Soziologen erträumt wurden, und in denen die Verurteilten durch Elektrizität Nahrung, Licht und Heizung erhielten und auch elektrisch gepeitscht und hingerichtet wurden.

Und mit Entrüstung dachte Nechludoff daran, daß Richter und Beamte alljährlich große, dem Volke abgepreßte Summen erhoben, nur um aus Büchern, die eben solche Richter und Beamte wie sie geschrieben, die Mittel herauszulesen, gewisse Menschen nach fernen Orten zu spedieren, um auf einige Zeit von ihnen befreit zu sein, und zwar so, daß diese Menschen sicherlich moralisch, wenn nicht gar körperlich, umkamen. Und in dem Maße, wie Nechludoff die Gefängnisse und Etappen immer genauer studierte, erkannte er, daß alle unter den Gefangenen verbreiteten Laster: die Trunksucht, das Spiel, die Gewaltthätigkeit, die Schamlosigkeit, daß alle diese Laster keineswegs die Kundgebung eines sogenannten »Verbrechertypus«, wie ihn im Dienste der Behörde stehende Gelehrte erfunden, war, sondern daß sie die direkte Folge der ungeheuerlichen Verirrungen waren, auf Grund deren sich gewisse Leute das Recht angeeignet hatten, über andere Menschen zu Gericht zu sitzen und sie zu bestrafen. Nechludoff begriff, daß der Kannibalismus des alten Sträflings seinen Ursprung nicht in der Galeere, auch nicht in der Wüste, wohl aber in den Ministerien, den Kommissionen und den Kanzleien gehabt hatte. Er begriff ferner, daß das, was im Bagno vorging, nur die Schlußfolgerung dessen war, was sich in diesen höheren Sphären abspielte, und daß Leute, wie sein Schwager zum Beispiel, nichts mit der Gerechtigkeit und dem Wohle der Nation zu thun hatten, der zu dienen sie sich rühmten, sondern daß ihr einziges Bestreben darauf gerichtet war, die Rubelstücke sich anzueignen, die man ihnen für die Ausführung dieser niedrigen Arbeiten bezahlte, die soviel Leiden und Sittenverderbnis zur Folge hatten.

»Sollte das alles nicht wirklich nur die Folge eines Mißverständnisses sein? Könnte man es nicht so einrichten, daß alle diese Beamten ihr Gehalt weiter bezögen, ja, daß sie sogar eine Extraprämie bekämen, unter der Bedingung, daß sie von nun an auf diese schadenbringenden Arbeiten verzichteten, die auszuführen sie sich verpflichtet glauben, um ihr Gehalt zu bekommen?«

Was alles dachte Nechludoff, und unter diesen Gedanken überfiel ihn endlich bei Tagesanbruch der Schlummer, trotz der Wanzen, die, seit er sich niedergelegt hatte, wie Ameisen in einer Grube um ihn herumliefen.