Einundzwanzigstes Kapitel

Als Nechludoff von dem Gouverneur Abschied genommen, begab er sich nach der Post. Er fühlte sich in besserer Stimmung und mehr zur Thätigkeit aufgelegt, als er es seit langer Zeit gewesen war.

Das Postbureau befand sich in einem großen gewölbten, dunklen und feuchten Saale. Hinter den Gittern saßen etwa ein Dutzend Beamte; die meisten plauderten miteinander, während sich in dem für das Publikumbestimmten Raum eine ungeduldige Menge stieß und drängte. An der Thür brachte ein alter Beamter seine ganze Zeit damit zu, unzählige Couverts abzustempeln, die ihm einer seiner Kollegen hinreichte.

Nechludoff brauchte nicht lange zu warten. In diesem Bureau, wie überall, verschaffte ihm seine vornehme Kleidung einen Vorzug, und einer der schwatzenden Beamten gab ihm sofort ein Zeichen, er könne nähertreten. Nechludoff reichte seine Karte, und der Beamte übergab ihm ehrfurchtsvoll die umfangreiche Post, die für ihn lagerte.

Unter dieser Post waren mehrere Wertbriefe und andere Briefe, einige Bücher, Broschüren und Zeitungen. Um wenigstens auf alles einen Blick werfen zu können, setzte sich Nechludoff auf eine Holzbank neben einen Soldaten, der hier mit einem Register in der Hand wartete. Unter den Briefkouverts fiel ihm ganz besonders eins auf, ein großes Kouvert mit höchst imposantem großem Siegel. Er öffnete das Kouvert, blickte nach der Unterschrift, und sofort fühlte er, wie das Blut ihm ins Gesicht schoß und sein Herz zum Zerspringen klopfte. Der Brief trug die Unterschrift Selenins, des früheren Freundes Nechludoffs, der jetzt Staatsanwalt am Senat war; und dem Briefe war ein amtliches Schreiben beigefügt. Es war die Antwort auf das Gnadengesuch der Maslow.

Wie lautete diese Antwort? War es eine Verwerfung? Nechludoff brannte darauf, es zu erfahren, und doch wagte er nicht, den Brief zu lesen, aus dem er es ersehen mußte. Endlich fand er die Kraft, die wenigen Zeilen zu entziffern, die ihm Selenin schrieb, und nun stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Das Gnadengesuch der Maslow war bewilligt!

»Lieber Freund!« – schrieb ihm Selenin – »unsere letzte Unterredung hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, Du hattest hinsichtlich der Maslow Recht. Ich habe ihre Angelegenheit genau studiert, und bemerkt, daß ihre Verurteilung das Ergebnis eines offenbaren Irrtums war. Leider war es unmöglich, das Urteil kassieren zu lassen; deshalb habe ich mich an die Begnadigungskommission gewendet und mit Freuden erfahren, daß das Gesuch deines Schützlings sich schon dort befand. Gott sei Dank, habe ich die Sache durchsetzen können und schicke dir angeschlossen die Kopie des Dekrets; ich schicke es dir unter der Adresse, die mir die Gräfin Katharina Iwanowna eben gegeben. Was das Dekret selbst betrifft, so ist es an die Maslow nach der Stadt geschickt worden, in der das Urteil gefällt wurde; doch ich glaube, man hat es ihr nachgesandt, und es dürfte deinem Schützling wohl bald zugestellt werden. Ich will dir jedenfalls diese gute Nachricht schnell mitteilen und schüttle dir freundschaftlich die Hand. Dein Sclenin.«

Was Dekret, dessen Abschrift Selenin Nechludoff schickte, lautete folgendermaßen:

»Kanzlei Sr. Kaiserlichen Majestät, Begnadigungskommission. Auf Befehl Seiner Kaiserlichen Majestät wird die p. p. Katharina Maslow benachrichtigt, daß Seine Kaiserliche Majestät von ihrem Gesuche Kenntnis genommen und geruht haben, die ihr zuerkannte Strafe von vier Jahren Zwangsarbeit in vier Jahre Verschickung in irgend ein Gouvernement an der Grenze von Sibirien umzuwandeln.«

Glückliche, glückliche Nachricht! Damit ging alles in Erfüllung, was Nechludoff für Katuscha und für sich selbst wünschen konnte. Doch er dachte dann daran, daß diese Veränderung in Katuschas Lage auch die Bedingungen seiner Beziehungen zu ihr umgestalten würde. So lange sie zur Zwangsarbeit verurteilt blieb, so lange war die Ehe, die er mit ihr einzugehen gedachte, eine rein fiktive Verbindung und hatte nur dadurch Bedeutung, daß sie das Schicksal der Verurteilten linderte. Doch jetzt wurde die Ehe etwas Ernsthafteres, jetzt hinderte Nechludoff und Katuscha nichts mehr, das gemeinsame Leben zu führen, wie es Mann und Frau führen sollen. Und Nechludoff fühlte sich bei diesem Gedanken wieder von seiner früheren Angst ergriffen. Er fragte sich ängstlich, ob er auf dieses gemeinsame Leben auch vorbereitet wäre, und er mußte sich selbst die Antwort geben, daß er es durchaus nicht war.

Dann kamen ihm Katuschas Beziehungen mit Simonson wieder in den Sinn. Was bedeuteten die Worte, die sie ihm am vorigen Tage gesagt? Und wenn sie wirklich einwilligte, sich mit Simonson zu verheiraten, war diese Heirat ein Glück für sie? Würde sie für ihn, für Nechludoff, ein Glück sein?

Alle diese Fragen drängten sich in seinem Hirne, und er wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Deshalb nahm er wieder einmal zu seinem gewöhnlichen Verfahren seine Zuflucht. »Ich werde das alles später entscheiden,« sagte er sich; »jetzt muß ich vor allem Katuscha wiederzusehen suchen, ihr die glückliche Nachricht mitteilen und die Formalitäten ihrer Freilassung beschleunigen.«

Die Kopie, die ihm Selenin geschickt, genügte dazu zweifellos, bis die öffentliche Bekanntmachung des Dekretes eintraf.

Nechludoff verließ das Polizeibureau und fuhr nach dem Gefängnis, in welchem die Mitglieder des Transportes sicherlich untergebracht waren.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Obwohl ihm der Gouverneur den Eintritt in das Gefängnis ausdrücklich untersagt hatte, wußte Nechludoff aus Erfahrung, daß man das, was man bei den oberen Behörden nicht durchsetzen konnte, bei den unteren Organen dagegen ohne allzu große Mühe erlangte. Deshalb hoffte er auch, der Gefängnisdirektor würde ihm die Erlaubnis erteilen, bis zur Maslow vorzudringen, um sie von der Bewilligung ihres Gnadengesuches zu unterrichten. Er hoffte gleichzeitig, sich nach der Gesundheit Krülzoffs erkundigen und ihm, sowie Maria Pawlowna das Resultat seiner Unterredung mit dem Gouverneur mitteilen zu können.

Der Direktor des Gefängnisses war ein großer, vierschrötiger Mann, mit imposantem Gesicht und langem Schnurr- und Vollbart. Er empfing Nechludoff äußerst streng und erklärte ihm sofort, der Zutritt für fremde Personen zu den Gefangenen wäre nur mit Erlaubnis des Gouverneurs möglich; und als Nechludoff ihm sagte, man hätte ihm sogar in den großen Städten, auf der Reise des Zuges bei den Gefangenen eingelassen, entgegnete der Direktor in trockenem Tone:

»Das ist schon möglich, aber ich kann Sie nicht hineinlassen.«

Dabei bedeutete sein Ton klar und deutlich:

»Ihr Herren aus der Hauptstadt bildet euch ein, ihr könntet uns in Erstaunen oder Verlegenheit setzen; aber nein, in Sibirien werden wir euch schon zeigen, daß wir die Vorschriften genügend kennen, um sie euch im Notfall ins Gedächtnis zurückrufen zu können.«

Nechludoff überreichte ihm die Ausfertigung des Dekrets, in welchem die Begnadigung der Maslow ausgesprochen war; und auch das machte nicht den geringsten Eindruck auf diesen schrecklichen Menschen. Er weigerte sich nicht nur hartnäckig, Nechludoff die Thore des Gefängnisses überschreiten zu lassen, sondern er wollte ihm auch nicht einmal sagen, ob der Zug schon angelangt wäre. Als Nechludoff ihn naiver Weise fragte, ob die Kopie, die er eben erhalten, zur Freilassung der Maslow genügte, lächelte er bei dieser Frage so verächtlich, daß Nechludoff sich seiner Naivetät schämte. Der Direktor war indessen so gefällig, ihm zu versprechen, er würde der Maslow von der Annahme ihres Gnadengesuches Mitteilung machen; er fügte sogar als Zeichen ganz besonderer Gunst hinzu, er würde sie, sobald seine Vorgesetzten ihm die Freilassungsordre übergeben würden, auch nicht eine Stunde länger zurückhalten.

So stieg denn Nechludoff, ohne etwas erreicht zu haben, wieder in seinen Fiaker und fuhr nach dem Hotel zurück.

Hier erfuhr er dagegen aus dem Munde des Kutschers, daß der Zug bereits seit einer halben Stunde angelangt war, und er erfuhr auch aus derselben Quelle das Motiv der unbeugsamen Strenge des Gefängnisdirektors. Diese Strenge stammte daher, daß in dem überfüllten Gefängnis eine Typhusepidemie ausgebrochen war.

»Das ist gar nicht so wunderbar,« erklärte der Kutscher, indem er sich auf seinem Bock umdrehte; »es sind zweimal mehr Gefangene da, als das Gefängnis zu fassen vermag. Es geht toll genug darin zu, es sterben jeden Tag mehr als zwanzig.«

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Der Mißerfolg von Nechludoffs Bemühungen bei dem Gefängnisdirektor hatte das Thätigkeitsfieber, das er an diesem Tage empfand, nicht beruhigt. Anstatt, wie er zuerst beabsichtigt hatte, in sein Zimmer hinaufzugehen, beschloß er, in den Palast des Gouverneurs zurückzukehren, um in den Bureaus nachzufragen, ob die Nachricht von der Begnadigung der Maslow noch nicht eingetroffen wäre. Er machte den Weg zu Fuß und fühlte sich glücklich, einen neuen Vorwand gefunden zu haben, um den Gedanken, der ihn quälte, zu verscheuchen; und als er in den Bureaus erfuhr, es wäre noch keine Nachricht eingetroffen, da war er glücklich, noch über eine Stunde mit Briefschreiben verbringen zu können. Er schrieb an Selenin, seine Tante, seinen Advokaten, und erzählte ihnen von seiner Unruhe über eine Verzögerung, die doch im Grunde genommen ganz natürlich war.

Als er die Briefe beendet hatte, blickte er auf seine Uhr und entdeckte mit Freuden, daß er kaum Zeit hatte, seine Toilette zu beendigen, wenn er nicht zu spät zum Gouverneur kommen wollte.

Aber jetzt ergriff die unangenehme Empfindung auf der Straße von neuem Besitz von ihm. Wie würde Katuscha die Umwandlung ihrer Strafe wohl aufnehmen? Wo würde sie sich niederlassen, was würde Simonson thun? Und was dachte sie wohl von ihm, welche Gefühle empfand sie für ihn?

Nechludoff erinnerte sich, welche Veränderung sich in ihr vollzogen hatte. Er erinnerte sich an seine Besuche im Gefängnis und an das Lächeln, welches sie ihm hatte zu teil werden lassen, als sie mit dem Zuge abreiste.

»Ich muß das alles vergessen und in mir ausrotten,« sagte er sich und nahm sich von neuem vor, nicht mehr an das junge Weib zu denken. »Bald werde ich sie wiedersehen, dann wird sich alles entscheiden.«

Nach diesen Worten begann er darüber nachzudenken, wie er es bei dem Gouverneur wohl anzustellen habe, um in das Gefängnis hineinzukommen.

Das Diner des Gouverneurs, das mit dem gewöhnlichen Luxus solcher Feste veranstaltet war, machte Nechludoff an jenem Abend nach den langen Monaten, in welchen er sich nicht allein jedes Luxus, sondern auch der allergewöhnlichsten Bequemlichkeit hatte berauben müssen, ein ganz besonderes Vergnügen.

Die Gattin des Gouverneurs, eine frühere Ehrendame am Hofe des Zaren Nikolaus, war eine vornehme Petersburger Dame der alten Schule, die vorzüglich französisch und nur sehr mangelhaft russisch sprach. Sie hielt sich sehr gerade und bemühte sich in ihren Bewegungen, die Ellenbogen nie von ihrer Taille zu entfernen. Ihrem Manne gegenüber trug sie ein ruhiges und etwas verächtliches Benehmen zur Schau, doch gegen ihre Gäste war sie ganz besonders liebenswürdig, ohne es jedoch zu verabsäumen, ihre Gunst dem Grade ihrer Bedeutung anzupassen.

Sie empfing Nechludoff wie einen Mann ihrer Gesellschaft und ließ ihm jene leichten, kaum merklichen Huldigungen zu teil werden, die ihm wieder einmal das volle Bewußtsein seiner Vollkommenheiten verliehen, und von denen er sich vollauf befriedigt fühlte. Sie gab ihm sehr diskret zu verstehen, sie kenne die etwas eigentümlichen, aber um so ehrenhafteren Gefühle, die ihn nach Sibirien geführt, und er erkannte, daß sie ihn für einen außergewöhnlichen Menschen hielt.

Diese leichten Huldigungen, die Atmosphäre des Wohlbehagens und des Luxus, die das Haus des Gouverneurs erfüllte, das alles hatte die Wirkung, daß Nechludoff sich vollständig dem Vergnügen hingab, ein ausgezeichnetes Diner in Gesellschaft vornehmer und liebenswürdiger Personen mitmachen zu können. Er hatte die Empfindung, er befinde sich wieder in einem ihm vertrauten Milieu, in seinem wahren Milieu; es schien ihm, als wäre alles, was er in der letzten Zeit erlebt und gesehen, nur ein Traum gewesen, aus dem er plötzlich erwachte.

Außer dem General, seiner Frau, seinem Schwiegersohn und seiner Tochter war bei der Tafel ein reicher Goldminenbesitzer, ein pensionierter Bureauchef und der englische Reisende, von dem der Gouverneur am Morgen mit Nechludoff gesprochen hatte, und Nechludoff war entzückt, mit jedem dieser drei Gäste Bekanntschaft anknüpfen zu können.

Der englische Reisende war ein rothaariger, gesunder Mann, der sehr schlecht französisch sprach, aber sehr beredt, wurde, sobald er sich auf englisch ausdrücken konnte. Er wußte sehr viel und hatte auch vielerlei gesehen; er interessierte Nechludoff ganz besonders, als er ihm von seinen Erlebnissen erzählte, die sich an Amerika, Indien, Japan und Sibirien knüpften.

Der junge Goldminenbesitzer, ein Bauernsohn, der einen Frack nach der letzten Mode und Brillantknöpfe in seinem Hemdeinsatz trug, war ebenfalls ein reizender Mensch. Er hatte eine Leidenschaft für Bücher, opferte große Summen für wohlthätige Stiftungen und hielt sich sorgfältig über alle Fortschritte der liberalen Stimmung in Europa auf dem Laufenden. Nechludoff war entzückt, ihn kennen zu lernen. Er interessierte ihn gleichzeitig, weil er sehr angenehm plauderte und weil er ein neues und durchaus sympathisches soziales Phänomen verkörperte: das Phänomen eines glücklichen Pfropfreises der europäischen Zivilisation auf dem kräftigen Stamm der russischen Natur.

Der pensionierte Bureauchef war ein kleiner, aufgedunsener Mensch mit spärlichen, sorgfältig frisierten Haaren, blauen, stets feuchten Augen, einem Spitzbauch und einem gutmütigen Lächeln. Er sprach wenig, und es fehlte ihm an hervorstechenden Eigenschaften, doch der Gouverneur schätzte ihn, weil er bei seinem Amte eine gewisse Rechtschaffenheit gezeigt hatte; noch mehr aber schätzte ihn die Frau des Gouverneurs, eine vorzügliche Pianistin, weil er ein ausgezeichneter Musiker war, und mit ihr vierhändig spielte, und Nechludoffs Stimmung war eine so wohlwollende, daß er sogar entzückt war, mit diesem kleinen, pensionierten Bureauchef Bekanntschaft zu machen.

Keiner dieser drei Gäste brachte aber einen so reizenden Eindruck auf Nechludoff hervor, als das liebenswürdige junge Paar, die Tochter des Gouverneurs und ihr Gatte. Die Tochter des Gouverneurs war nicht hübsch, aber ihr Gesicht drückte eine naive Sanftmut aus. Alle ihre Gedanken auf der Welt galten nur ihren beiden Kindern. Ihr Gatte, den sie aus Liebe und sogar ein wenig gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet hatte, war ein früherer Kandidat der Universität Moskau. Bescheiden, schüchtern, aber durchaus nicht unintelligent, erholte er sich von dem eintönigen Dienste, indem er sich mit Statistik beschäftigte, und niemand war über die Bewegung der fremden Bevölkerung in Sibirien so gut unterrichtet, als er.

Diese ganze kleine Gesellschaft empfing Nechludoff mit um so größerer Höflichkeit und Liebenswürdigkeit, als sie wirklich aufrichtig entzückt waren, ihn bei sich zu sehen, denn man hatte hier selten Gelegenheit, neuen Gesichtern zu begegnen. Der Gouverneur, der große Militäruniform mit einem weißen Kreuze auf der Brust angelegt, unterhielt sich mit ihm sogleich, wie mit einem alten Freunde. Er fragte ihn, sobald er sich gesetzt, was er seit dem Morgen gethan; doch als Nechludoff die Gelegenheit benutzte und ihm antwortete, daß er auf der Post die Begnadigung der Verurteilten erfahren, für die er sich interessierte, und dann von neuem darauf drang, sie im Gefängnis zu sprechen, zog der Gouverneur die Stirn kraus und that, als habe er nicht gehört. Offenbar sprach er beim Essen nicht gern von ernsten Geschäften.

»Noch ein bischen Wein?« fragte er den englischen Reisenden auf französisch.

Der Engländer hielt sein Glas hin und erzählte, er habe am Vormittag die Kathedrale und zwei Fabriken besichtigt; dann fügte er hinzu, er würde glücklich sein, auch das große Gefängnis besuchen zu können.

»Nun, das trifft sich ja wunderbar,« rief der Gouverneur, sich zu Nechludoff wendend, »gehen Sie zusammen hin; ich werde Ihnen einen Paß ausstellen.«

»Möchten Sie das Gefängnis nicht noch heute Abend besuchen?« fragte Nechludoff den Reisenden.

»Ja, ich wollte Sie gerade darum bitten, das Gefängnis heute Abend in Augenschein nehmen zu dürfen,« sagte der Engländer zu dem Gouverneur. »Alle Gefangenen sind dann in ihren Zimmern, und ich kann sie in ihrem Leben und Treiben beobachten.«

»Haha, Sie Schlauberger, Sie wollen das Fest in seinem vollen Glanze sehen,« rief der Gouverneur, der seinen betrunkenen Zustand bis dahin sehr gut geheim gehalten hatte. »Haha; na gut, Sie sollen’s sehen. Ich habe wohl zwanzigmal, um zu reklamieren, nach St. Petersburg geschrieben, doch man hat nicht auf mich gehört. Vielleicht wird man sich zum Handeln entschließen, wenn man dieselben Reklamationen in der fremdländischen Presse gelesen hat.«

Dann wandte sich die Unterhaltung einem anderen Stoffe zu. Man sprach von Indien, von der Tonkin-Expedition, mit der sich die russischen Zeitungen damals beschäftigten; man sprach von Sibirien, und der Gouverneur führte einige merkwürdige Fälle von der allgemeinen Korruption der sibirischen Beamten an.

Gegen Ende des Diners ließ die Unterhaltung nach, wenigstens fand Nechludoff, daß sie nachließ. Doch nach dem Diner, als man in den Salon gegangen war, um den Kaffee einzunehmen, kam die Hausfrau auf den Gedanken, den englischen Reisenden nach Gladstone auszufragen, und Nechludoff hatte die Empfindung, daß die Antworten des Engländers sehr verständig waren. Als er nach dem guten Diner und den guten Weinen in Gesellschaft guter Leute von vollendeter Erziehung in einem guten Sessel saß, fühlte sich Nechludoff immer behaglicher, und als sich die Hausfrau auf Bitten des Engländers mit dem pensionierten Bureauchef ans Piano setzte und Beethovens Symphonie in C-moll zu spielen begann, empfand Nechludoff ein Gefühl der Selbstzufriedenheit, wie er es seit langer Zeit nicht mehr empfunden hatte. Das Gefühl seines eigenen Wertes war gleichsam plötzlich in ihm aufgegangen.

Das Piano war ausgezeichnet, und Nechludoff, der die Symphonie Beethovens auswendig kannte, mußte zugeben, daß er sie selten so gut hatte spielen hören. Bei dem wunderbaren Andante hatte er Mühe, seine Thränen zurückzuhalten. Es ergriff ihn Rührung über sich selbst, über Katuscha, über seine Schwester Natalie, die ihn so sehr geliebt hatte.

Nachdem er der Wirtin für den künstlerischen Genuß, den sie ihm bereitet, gedankt, stand er auf, um Abschied zu nehmen, als die Tochter des Gouverneurs sich ihm errötend näherte und zu ihm sagte:

»Sie hatten die Güte, sich für meine Kinder zu interessieren, wollen Sie sie sehen?«

»Sie bildet sich ein, es wäre für jedermann ein großes Glück, ihre Kinder zu sehen,« sagte die Mutter mit nachsichtigem Lächeln für den mangelnden Takt ihrer Tochter. »Der Fürst hat keine Lust, sie zu sehen.«

»Aber Verzeihung, im Gegenteil; ich werde sehr glücklich sein,« versetzte Nechludoff, von diesem Zuge mütterlicher Liebe tief gerührt, »Im Gegenteil, ich bitte Sie, sie mir zu zeigen,«

»Sie nimmt den Fürsten mit, um ihn ihre Jöhren bewundern zu lassen,« rief der Gouverneur lachend aus dem Hintergrunde des Salons, wo er mit seinem Schwiegersohn und dem Besitzer der Goldminen Whist spielte, »Na, gut, mein Freund, machen Sie diesen langweiligen Besuch ab.«

Indessen verließ die junge Frau, die bei dem Gedanken, man würde ein Urteil über ihre Kinder fällen, sichtlich erregt war, in aller Eile den Salon, indem sie Nechludoff hinter sich herzog, In einem großen, ganz weiß ausgeschlagenen Zimmer, das von einer Lampe erhellt wurde, deren scharfes Licht ein dunkler Schirm milderte, standen zwei kleine Kinderbetten nebeneinander; neben ihnen saß eine Amme in weißer Pelerine, mit gutem, dicken Gesicht. Sie erhob sich, um ihre Herrin zu begrüßen.

Sobald sie eingetreten war, beugte sich die junge Mutter über eins der Betten.

»Das ist meine Katja,« sagte sie, indem sie den Vorhang bei Seite schob, um den reizenden, mit langen Haaren bedeckten Kopf eines kleinen zweijährigen Mädchens sehen zu lassen, das ruhig mit offenem Munde schlief.

»Sie ist hübsch, nicht wahr, und denken Sie, sie ist erst zwei Jahre!«

»Entzückend!«

»Und das ist Waska, wie ihn sein Großvater nennt. Ein ganz anderer Typus, ein richtiger Sibirier, nicht wahr?«

»Ja, ein prächtiger Knabe,« sagte Nechludoff, indem er ein dickes, rotes Baby betrachtete.

Die Mutter, die neben ihm stand, lächelte sanft. Plötzlich aber erinnerte sich Nechludoff wieder an die Ketten, an die rasierten Köpfe, die Faustschläge in die Augen, an den sterbenden Krülzoff und an Katuscha. Er empfand einen entsetzlichen Schmerz und bedauerte, daß ihm nicht auch ein so reines und ruhiges Glück beschieden war, wie das, das er vor sich sah.

Nachdem er die Schönheit der beiden Kinder nach Möglichkeit gelobt, kehrte er mit der Mutter in den Salon zurück, wo der Engländer auf ihn wartete, um sich, wie es verabredet war, mit ihm nach dem Gefängnis zu begeben. Man sagte sich Lebewohl und tauschte Wünsche und Danksagungen aus; dann verließ Nechludoff in Begleitung des Engländers das gastfreundliche Haus des Gouverneurs.

Das Wetter hatte sich geändert, ein dichter Schnee fiel hernieder und hatte bereits das Pflaster des Hofes, die Bäume des Gartens, die Stufen der Freitreppe, das Deck des Wagens und den Rücken der Pferde bedeckt. Nechludoff stieg mit seinen Gefährten in den Wagen und befahl dem Kutscher, nach dem Gefängnis zu fahren.

Achtzehntes Kapitel

Nechludoff stand am Rande der Fähre und hielt die Augen starr auf das schnellfließende Wasser des Stromes gerichtet. Seine Phantasie führte ihn abwechselnd zwei Bilder vor; das Bild Krülzoffs, der auf dem Stroh des Wagens im Sterben lag, und seinen zornigen Blick, und das Bild Katuschas, die in Begleitung Wladimir Simonsons mit behendem Schritt über die Landstraße wanderte.

Eins dieser Bilder, das Krülzoffs, der sich nicht in den Tod fügen wollte, war schrecklich und kläglich; das andere Bild aber, daß Katuschas, die einen Mann in Simonson gefunden, der sie liebte, und auf dem Wege des Guten ebenso flink einherschritt, wie sie über die Landstraße wanderte, dieses Bild wirkte nur fröhlich und stärkend auf ihn. Und doch waren diese beiden Bilder gleich grausam für Nechludoff; es gelang ihm nicht, sie ans seinem Geiste zu verscheuchen, und sie vermischten sich in seinem Gemüt, um schließlich einen Eindruck vollständiger dumpfer Traurigkeit hervorzubringen.

Von der Stadt her trug der Wind den silbernen Klang einer Glocke, die einen Gottesdienst verkündete. Nechludoffs Kutscher und alle anderen Passagiere entblößten das Haupt und machten das Zeichen des Kreuzes. Nur ein kleiner Greis in Lumpen nahm nicht die Mütze ab und blieb mit den Händen auf dem Rücken unbeweglich stehen.

»Nun, und du, Alter, du betest nicht?« fragte Nechludoffs Kutscher, nachdem er seine Mütze wieder aufgesetzt. »Du bist wohl nicht getauft?«

»Beten? Zu wem sollte ich beten?« versetzte der zerlumpte Greis, indem er auf den Kutscher zutrat und ihm fest in die Augen schaute.

»Ist das eine Frage! Du glaubst also nicht an Gott?«

»Kennst du ihn? Weißt du, wo er ist?«

Es lag etwas so Ernstes und Hartes in dem Gesichtsausdruck des alten Mannes, daß der Kutscher sich offenbar etwas eingeschüchtert fühlte. Doch es hatte sich ein Kreis um ihn gebildet, so daß er die Unterhaltung fortsetzte, um das letzte Wort zu behalten.

»Wo Gott ist? Du Dummkopf, jeder weiß, daß er im Himmel ist!«

»Hast du ihn etwa gesehen? Bist du im Himmel gewesen?«

»Wenn ich auch nicht dagewesen bin, so weiß ich es doch! Jeder weiß, daß man zu Gott beten muß!«

»Niemand hat Gott je gesehen! Sein einziger Sohn, der beim Vater thront, hat es gesagt!« fuhr der Greis mit seiner strengen Stimme fort, indem er die Stirn kraus zog.

»Dann bist du also kein Christ? Du bist ein Götzendiener?« fragte der Kutscher, wandte sich ab und spuckte zum Zeichen der Verachtung aus.

»Welcher Religion gehörst du denn an, Väterchen?« fragte ein anderer Kutscher, der neben seinem Pferde stand, den Greis.

»Eine Religion habe ich überhaupt nicht,« entgegnete der Greis mit seinem zornigen Blick, »ich glaube nur an mich!«

»Und wie kann man an sich selbst glauben?« fragte Nechludoff, den die merkwürdige Persönlichkeit immer mehr interessierte.

»Das ist, der einzige Weg, sich nicht zu täuschen!«

»Aber woher kommt es denn, daß es so viel verschiedene Religionen giebt?«

»Das kommt daher, daß man an die anderen glaubt! Auch ich habe an die anderen geglaubt und bin wie in einem Walde herumgeirrt; ich habe mich so verirrt, daß ich glaubte, ich würde meinen Weg nie wiederfinden. Altgläubige und Neugläubige, Sabbatisten, Nihlisten, Popovisten, Nonpopovisten und Skoptsen; alle habe ich kennen gelernt, alle möglichen Sorten! Und eine jede Religion behauptet, die einzig gute zu sein! Religionen giebt es viele, aber nur einen Geist! Es ist derselbe in mir und in dir, und in allen! Und das heißt, jeder muß an den Geist glauben, der in ihm lebt, dann wird die ganze Welt vereinigt werden!«

Der Greis sprach fortwährend mit lauterer Stimme, indem er seinen Blick umherschweifen ließ, als wolle er sich einer möglichst großen Zahl von Personen verständlich machen.

»Predigen Sie das schon lange?« fragte ihn Nechludoff.

»Ich, o, sehr lange! Seit dreiundzwanzig Jahren verfolgt man mich!«

»Wie?«

»Nun, wie man Christus verfolgt hat, so verfolgt man mich! Man verhaftet mich, schleppt mich vor die Richter, die Priester, die Schreiber und Pharisäer; man sperrt mich in Irrenhäuser. Doch man kann mir nichts thun, weil ich frei bin! – ›Wie heißest du?‹ fragt man mich. Man bildet sich ein, ich führe einen Namen, aber ich führe keinen; ich habe auf alles verzichtet. Ich habe weder Namen, noch Heimat, noch Vaterland; ich habe nichts, ich habe nur mich! – Wie man mich nennt? Einen Menschen! – ›Und wie alt bist du?‹ – Ich antworte: ich zähle mein Alter nicht, und außerdem habe ich kein Alter, weil der Geist, der in mir lebt, stets existiert hat und stets existieren wird. – ›Und dein Vater,‹ sagt man mir, ›und deine Mutter?‹ – Nein, nein, sage ich ihnen, bei mir giebt es weder Vater noch Mutter, nur Gott und die Erde. Gott ist mein Vater; die Erde ist meine Mutter. – ›Und der Zar,‹ hat man mich gefragt, ›erkennst du den nicht an?‹ – Warum sollte ich ihn nicht anerkennen? Er herrscht auf seiner Seite und ich auf der meinen. – ›Ach,‹ hat man mir gesagt, ›es ist unmöglich, mit dir zu sprechen!‹ Aber, antworte ich ihnen, ich verlange ja gar nicht, daß ihr mit mir sprecht. Dann fangen sie an, mich zu quälen.«

»Aber wo gehst du jetzt hin?« fragte Nechludoff.

»Ich gehe, wohin Gott mich führt. Ich arbeite; und wenn ich nichts zu arbeiten finde, so bettle ich!« versetzte der Greis und ließ gleichzeitig einen Blick des Triumphes umherschweifen.

Schon legte die Fährte am anderen Ufer an. Nechludoff zog sein Portemonnaie und bot dem Greise ein Silberstückchen, doch dieser weigerte sich, es zu nehmen.

»So etwas nehme ich nicht! Ich nehme nur Brot!« sagte er.

»Entschuldige!«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast mich nicht beleidigt,« sagte der Greis und hob den Reisesack auf, den er zu seinen Füßen niedergelegt.

In der Menge auf der Fährte wurde es von neuem lebendig. Man zog die Wagen heran und schirrte die Pferde an.

»Sie sind übrigens recht gütig, Barin,« sagte der Kutscher zu Nechludoff, als sie die Fähre verließen, »daß Sie sich mit solchen Leuten unterhalten. Wenn man auf alle diese Vagabunden hören wollte!«

Neunzehntes Kapitel

Als der Wagen am Ufer hielt, wandte sich der Kutscher wieder zu Nechludoff und sagte:

»Nach welchem Gasthofe wollen Sie?«

»Ich weiß nicht. Welches ist das beste Hotel?«

»Das beste ist ›Sibirien‹. Aber bei Dukoff wohnt man auch gut.«

»Fahre mich, wohin du willst!«

Der Kutscher peitschte auf die Pferde los, und der Wagen fuhr durch die Straßen der Stadt. Diese Stadt war allen Städten gleich; man sah darin dieselben Häuser mit den flachen Dächern, dieselbe große Kirche, dieselben Läden, die in der eleganten Straße zu Magazinen wurden, dieselben Passanten und dieselben Polizisten. Der einzige Unterschied bestand darin, daß die meisten Häuser aus Holz gebaut und die Straßen nicht gepflastert waren.

In der belebtesten aller dieser Straßen ließ der Kutscher seine Troika vor der Freitreppe eines Hotels halten. Doch das Hotel war überfüllt, und man mußte sich wieder auf den Weg machen, um ein anderes zu suchen.

Endlich fand Nechludoff ein Unterkommen. Zum erstenmal seit zwei Monaten fand er die altgewohnte Sauberkeit und Behaglichkeit wieder. Nicht, daß das Zimmer, das er in Dukoffs Gasthof mietete, besonders luxuriös eingerichtet gewesen wäre, aber es war wenigstens wohnlich; und sein Anblick verursachte ihm eine wahre Erleichterung, als er es mit den Gasthofszimmern verglich, die er in den vorigen Nächten bewohnt hatte. Bevor er an etwas anderes dachte, hatte er Eile, sich von den Läusen zu befreien, die ihn während seiner ganzen Reise von Etappe zu Etappe mit außergewöhnlicher Hartnäckigkeit verfolgt hatten. Daher ließ er sich schnell, nachdem er seine Sachen untergebracht, in eine Badeanstalt fahren, wo er über eine Stunde brauchte, um sich zu reinigen. Als er dann ins Hotel zurückgekehrt war, zog er sein Stadtkostüm wieder an, ein gestärktes Oberhemd, eine graue Hose, einen Gehrock und Ueberzieher, um sich zum Gouverneur zu begeben.

Ein mit einem kräftigen, kleinen kirgisischen Pferde bespannter Wagen führte ihn in schnellem Trabe in den Hof eines schönen, großen Hauses, vor dem zwei Schildwachen und Polizisten standen. Das Haus war mit einem Garten umgeben, in welchem das dunkle Grün der Fichten die kahlen Stämme der Birken und Pappeln durchbrach.

Der Gouverneur war leidend und empfing nicht. Doch Nechludoff bat den Diener, ihm seine Karte zu bringen, und der Diener kehrte mit einem liebenswürdigen Lächeln zurück, um ihm mitzuteilen, seine Exzellenz bäte ihn, einzutreten.

Das Vorzimmer, der Diener, die Treppe, der Salon mit dem gebohnerten Parkettboden, das alles glich den Häusern in St. Petersburg, doch es war größer und nicht so sauber. Nechludoff brauchte übrigens in dem ungeheuren Salon nicht lange zu warten; kaum hatte er sich gesetzt, als man ihn bat, zu dem Gouverneur hineinzukommen.

Dieser Beamte, der einen gelben Schlafrock trug und eine Cigarette in der Hand hielt, war eben im Begriff, aus einem silberbeschlagenen Glase Thee zu trinken. Es war ein dicker, kahlköpfiger, vollblütiger Mann mit roter Nase und hervortretenden Adern auf der Stirn.

»Entschuldigen Sie, Fürst, daß ich Sie im Schlafrock empfange; aber es ist wohl besser, Sie in diesem Kostüm zu empfangen, als gar nicht,« sagte er lächelnd, während er sich in seinen großen Fauteuil zurücklehnte. »Ich bin leidend und muß das Zimmer hüten. Was verschafft uns das Vergnügen, Sie in unserem fernen Reiche zu sehen?«

»Ich begleite einen Zug Gefangener, in dem sich eine mir sehr nahestehende Person befindet,« versetzte Nechludoff; »und gerade auf diese Person bezieht sich eins der beiden Gesuche, die ich Ew. Exzellenz unterbreiten möchte.«

Der Gouverneur streckte die Beine aus, trank einen Schluck Thee und strich die Asche seiner Cigarette in einem Malachit-Aschbecher ab; dann richtete er seine kleinen, feuchten und glänzenden Augen auf Nechludoff und begann, ihm mit der größten Aufmerksamkeit zuzuhören. Nur zweimal unterbrach er ihn, um ihm ein Glas Thee anzubieten und ihn zum Rauchen aufzufordern.

Dieser Gouverneur gehörte der Art jener intelligenten Beamten an, die von Natur aus geneigt sind, ein bischen Menschlichkeit und Toleranz in ihren Beruf hinüberzunehmen. Doch da die Natur ihm auch einen großen Fonds Güte und Weisheit verliehen, und er bald gemerkt hatte, wie nutzlos seine Bemühungen in diesem Sinne geblieben waren, so hatte er, um dem Bewußtsein des inneren Widerspruches, in dem er sich befand, zu entgehen, immer mehr die Gewohnheit angenommen, Schnaps zu trinken. Dies Gewohnheit war bei ihm so stark geworden, daß er in fünfunddreißigjähriger Dienstzeit im Heere und in der Verwaltung das geworden war, was die Aerzte einen »Alkoholiker« nennen. Er war mit Branntwein vollständig imprägniert, so daß ein kleines Gläschen Alkohol oder Wein hinreichte, ihn in den Zustand des Rausches zu versehen. Uebrigens konnte er das Trinken auch nicht mehr lassen, und so war er jeden Tag seines Lebens, sobald der Abend nahte, vollständig berauscht.

Indessen hatte er sich dieser Situation so gut angepaßt, das man ihn nie schwanken sah, und ihn auch nie zusammenhangloses Zeug reden hörte; auch hätte das infolge der hohen Stellung, die er einnahm, niemand bemerken dürfen, selbst wenn er so etwas gesprochen hätte. Nur morgens, zu der Stunde, in der sich Nechludoff ihm vorgestellt, nur zu dieser Stunde glich er einem vernünftigen Menschen und war im Stande, das richtig zu begreifen, was man mit ihm sprach.

Die vorgesetzten Behörden, von denen er abhängig war, kannten seine unmäßigen Gewohnheiten ganz genau. Doch sie wußten auch, daß er intelligenter, als die Mehrzahl seiner Kollegen, und gebildeter war, obwohl seine Bildung mit dem Tage aufgehört hatte, an dem die Trunksucht über ihn gekommen war. Man wußte, daß er kühn, gewandt war, und zu repräsentieren verstand; man wußte, daß er selbst im betrunkenen Zustande fähig war, seine Würde zu wahren, und aus Grund alles dessen hatte man ihn von Grad zu Grad bis zum Posten des Gouverneurs, den er jetzt inne hatte, avancieren lassen.

Zweites Kapitel

Nach dem schwelgerischen und erschlaffenden Leben, das Katuscha in den letzten sechs Jahren in der Stadt geführt, und den zwei Monaten, die sie unter den Verbrechern im Gefängnisse verlebt, erschien ihr das Leben, das sie jetzt bei den politischen Gefangenen führte, trotz aller Mühseligkeiten und Unannehmlichkeiten, die sie zu erdulden hatte, recht schön.

Die Etappen, bei denen sie bei kräftiger Nahrung zwanzig bis dreißig Werst zurücklegte – zwischen je zwei Wandertagen wurde ein Ruhetag eingeschoben – hatten sie körperlich gestärkt, und der Verkehr mit den neuen Leidensgefährten hatte ihr ganz neue Interessen geschaffen, die ihr bis dahin unbekannt geblieben waren.

Hocherfreut war sie über alle ihre neuen Gefährten, ganz besonders aber über Marie Pawlowna, der sie mit ehrfurchtsvoller und herzlicher Liebe zugethan war. Sie beobachtete mit der größten Verwunderung, wie dieses schöne Mädchen, das dem reichen Hause eines Generals entstammte und drei Sprachen vollendet beherrschte, sich wie die gewöhnlichste Arbeiterin benahm, wie sie alles, was ihr reicher Bruder ihr schickte, an die andern verschenkte, nicht nur einfache, sondern sogar ärmliche Kleidungsstücke trug und auf ihr äußeres Wesen nicht das geringste gab. Gerade diese Anspruchslosigkeit, der auch nicht der kleinste Schimmer von Koketterie innewohnte, erregte bei Katuscha die meiste Bewunderung. Sie beobachtete, daß Katuscha ganz genau wußte, daß sie schön war, und daß sie auch gern daran dachte; doch der Eindruck, den sie auf die Männer hervorbrachte, erfüllte sie nicht mit Freude, sondern mit Furcht, und sie hegte stets Abscheu und Angst vor etwaigen Zudringlichkeiten. Ihre Gefährten, die diese Gefühle bei ihr genau kannten, empfanden wohl Zuneigung zu ihr, wagten jedoch nicht, sie ihr zu zeigen, und verhielten sich ihr gegenüber genau so, wie gegen andere männliche Leidensgefährten. Nur Leute, die sie nicht kannten, wurden oft zudringlich gegen sie, und wie sie selbst sagte, hatte sie nur ihre große Körperkraft gerettet, auf die sie sich ganz besonders stolz zeigte.

»Einmal,« so erzählte sie unter lautem Lachen, »trat auf der Straße ein fremder Herr auf mich zu und wollte mich nicht in Frieden lassen; da habe ich ihn aber gepackt und geschüttelt, daß er Angst bekam und sich schleunigst aus dem Staube machte.«

»Das vornehme Leben,« so erklärte sie oft, »wäre ihr von frühester Jugend an widerwärtig erschienen, dagegen habe sie sich für das Leben des gewöhnlichen Volkes interessiert, und man habe sie oft ausgescholten, weil sie sich in der Gesindestube, in der Küche und im Stall aufgehalten habe, aber nicht in den Salon kommen wollte.«

»Mit unsern Köchinnen, Mägden und Kutschern konnte ich mich sehr gut verständigen, aber bei unsern vornehmen Herren und Damen war es mir zu langweilig,« meinte sie. »Später, als ich dann mehr zur Vernunft kam, erkannte ich, daß wir ein recht schlechtes Leben führten. Eine Mutter besaß ich nicht, und meinen Vater konnte ich nicht lieben. Im Alter von neunzehn Jahren ging ich mit einer Freundin aus dem Hause und trat als Arbeiterin in eine Fabrik.«

Sie hatte sich dann auf dem Lande aufgehalten und war darauf wieder in die Stadt gekommen, wo man sie verhaftet und zur Zwangsarbeit verurteilt hatte. Marie Pawlowna sprach niemals darüber, doch die andern teilten es Katuscha mit, daß man sie zur Zwangsarbeit verurteilt hatte, weil sie sich aus freien Stücken zur Schuld eines andern bekannt.

Es fiel Katuscha auch auf, daß sie, seit sie mit ihr bekannt geworden war, nie für sich etwas erbat, sondern stets und ständig nur bemüht war, andern dienlich zu sein und sie in großen wie in kleinen Dingen zu unterstützen. Einer ihrer augenblicklichen Gefährten, ein gewisser Nowodworoff, sagte oft von ihr im Scherz, sie betreibe das Wohlthun wie einen wahren Sport. Und dem war auch wirklich so. Wie ein Jäger darauf erpicht ist, das Wild aufzupürschen, so richteten sich ihre gesamten Lebensinteressen darauf, sich andern nützlich zu erweisen. Diese Art Sport wurde bei ihr zur Gewohnheit und bildete sich zu ihrem einzigen Lebenszweck aus. Doch was sie that, that sie in so einfacher, natürlicher Manier, daß jeder, der sie kannte, ihre Hilfeleistung als etwas ganz Selbstredendes betrachtete.

Zuerst hatte Marie Pawlowna, als sie Katuscha kennen gelernt, einen Widerwillen gegen sie empfunden, und Katuscha war das nicht unbekannt geblieben. Später aber machte sie die Entdeckung, daß Marie Pawlowna lebhaft bemüht war, sich ihr gegenüber ganz besonders herzlich und gütig zu zeigen, und die herzbezwingende Liebenswürdigkeit dieses außergewöhnlichen Geschöpfes machte einen so tiefen Eindruck der Rührung auf Katuscha, daß sie sich ihr mit Herz und Seele weihte, sich unwillkürlich alle ihre Lebensanschauungen zu eigen machte, und sie instinktiv in allen Dingen kopierte. Diese hingebende, aufopfernde Zuneigung Katuschas erfüllte Marie Pawlowna mit tiefer Rührung, und deshalb erwiderte sie Katuschas Liebe.

Ferner verband diese beiden Frauen die Abneigung, die alle beide der geschlechtlichen Liebe entgegenbrachten. Die eine haßte diese Liebe, weil sie sie von der häßlichsten, empörendsten Seite kennen gelernt, die andere, weil sie sie, ohne daß sie ihr bekannt geworden, als etwas Unfaßbares betrachtete, das ihr gleichsam als eine Widerwärtigkeit und eine Beleidigung der Menschenwürde erschien.

Katuscha hatte sich Marie Pawlowna ganz und gar zu eigen gegeben, und dieser Einfluß wirkte deshalb so stark, weil Katuscha sie liebte. Einen andern Einfluß übte Simonson auf sie aus, und dieser Einfluß machte sich dadurch geltend, daß Simonson Katuscha liebte.

Alle Menschen leben und schaffen zum Teil nach ihren eigenen Ideen, zum Teil nach denen der andern. Inwiefern die Menschen nun nach ihren eigenen Ideen und nach denen der andern leben, das ist eben einer der bedeutendsten Unterschiede, der die Menschen von einander trennt. Die einen lassen in den meisten Fällen ihre eigene Vernunft wie ein Rad wirken, von dem man die Treibriemen entfernt hat; in ihren Handlungen jedoch folgen sie fremden Ideen, der Sitte, der Tradition und dem Gesetz. Andere wieder lassen sich hauptsächlich bei allen ihren Handlungen von ihren eigenen Ideen leiten; sie hören stets auf das, was ihre Vernunft ihnen predigt und lassen sich von ihr leiten; nur in seltenen Fällen, und wenn sie sorgsam geprüft und erwogen, befolgen sie das, was andere bestimmt haben.

Der letzten Kategorie gehörte Simonson an; er überlegte lange und ließ sich nur von der Vernunft bestimmen; hatte er dann aber etwas bestimmt, so that er es auch.

Da er sich schon auf dem Gymnasium zu der Erkenntnis durchgerungen hatte, sein Vater, ein Verwaltungsbeamter, hätte sein Vermögen nicht in rechtschaffener Weise erworben, so erklärte er demselben, er müsse sein Geld an das Volk wieder abgeben. Als sein Vater aber nichts davon hören wollte und ihn in zornigen Worten anschrie, ging er aus dem Hause, um nicht weiter von dem Gelde seines Vaters zu leben. Da er zu der Ueberzeugung gekommen war, das herrschende Unglück stamme nur von der Unbildung des Volkes, so verkehrte er, nachdem er die Universität verlassen, hauptsächlich mit dem Volke. Er wurde Dorflehrer, erklärte dort seinen Schülern und den Bauern mit keckem Mute alles, was er für richtig erkannt, und leugnete alles, was er als falsch und ungerecht erkannt hatte.

Man verhaftete ihn und stellte ihn unter Anklage.

Im Laufe der Gerichtsverhandlung war ihm die Erkenntnis aufgegangen, daß die Gerichte gar nicht das Recht hatten, ihn zu verurteilen, und diesem Gedanken verlieh er auch Ausdruck. Als die Richter seiner Ansicht nicht beitraten und die Verhandlung weiter fortsetzten, faßte er den Entschluß, auf keine Frage mehr Antwort zu geben und von nun an zu schweigen. Daraufhin verurteilte man ihn zur Verschickung in das Gouvernement Archangalsk, wo er sich eine Religionslehre zurechtmachte, nach der er alle seine Handlungen regelte. Diese Religionslehre hatte folgenden Inhalt: alles, was sich auf der Erde befindet, ist lebendig; etwas Totes giebt es nicht; denn alle Gegenstände, die wir für tot und unorganisch ansehen, sind nichts weiter, als einzelne Teile eines unermeßlichen organischen Körpers, den zu erfassen und zu begreifen wir außer stande sind. Deshalb ist dem Menschen auch die Aufgabe gestellt, das Leben dieses organischen Körpers und alle demselben innewohnenden lebendigen Stücke zu erhalten.

Aus diesem Grunde betrachtete er es auch als ein Verbrechen, etwas Lebendiges zu zerstören. Auch hinsichtlich der Ehe hatte er sich seine eigene Theorie zurechtgelegt, und diese Theorie lehrte, die allerniedrigste Thätigkeit des Menschen sei die Fortpflanzung des Menschengeschlechts; die höchste Thätigkeit aber sei es, sich dem, was bereits lebt, dienstbar zu erweisen. Er fand diese seine Lehre in dem Vorhandensein der Blutgefäße bekräftigt. Ebensolche Blutgefäße bildeten seiner Ansicht nach die unverheirateten Menschen, denn ihnen war die Aufgabe gestellt, den schwachen, kränklichen Teilen des Organismus hilfreich zur Seite zu stehen, und als solche Blutkörperchen betrachtete er sich und Marie Pawlowna.

Seine Theorie wurde auch durch seine Liebe zu Katuscha nicht beeinträchtigt, denn diese liebte er nur platonisch, und eine solche Liebe war seiner Meinung nach nicht allein kein Hindernis, sich den Schwachen gegenüber hilfreich zu zeigen, nein, sie war sogar ein Ermunterungsmittel dazu.

In derselben Weise, wie er Fragen der Sittlichkeit und Moral auf seine Weise erledigte, ebenso verfuhr er auch bei der Mehrzahl der praktischen Fragen nach seinem eigenen Ermessen. Er hatte sich für praktische Angelegenheiten seine eigenen Theorien zurechtgelegt, er stellte bestimmte Regeln und Gesetze auf, wieviel Stunden man arbeiten, wieviel Stunden man sich ausruhen solle, wie man sich ernähren und wie man sich kleiden müsse, ja, selbst, wie man den Ofen heizen und Licht anstecken solle.

Dabei war Simonson aber im höchsten Grade schüchtern, zurückhaltend und bescheiden, dagegen ließ er sich aber, wenn er einmal einen Entschluß gefaßt, durch nichts davon abbringen.

So war dieser Mensch beschaffen, der Katuscha liebte, und gerade dadurch einen gewaltigen Einfluß auf sie ausübte. Mit dem jedem weiblichen Wesen innewohnenden Taktgefühl erkannte Katuscha das sehr bald, und das Selbstbewußtsein, daß sie sich die Liebe eines so außergewöhnlichen Menschen zu erringen gewußt, erhöhte sie in ihren eigenen Augen. Nechludoff hatte ihr aus Großmut und mit Rücksicht auf die Ereignisse der Vergangenheit versprochen, sie zu heiraten; Simonson aber liebte sie so, wie sie eben war; er liebte sie eben, weil er sie liebte.

Ferner hatte sie die Empfindung, Simonson betrachte sie als ein außergewöhnliches Wesen, das sich von allen andern Frauen durch besonders hohe moralische Vorzüge unterschied. Sie war sich noch nicht darüber klar geworden, welche Vorzüge er in ihr vermutete, doch war sie jedenfalls, um ihn in seinen Erwartungen nicht zu täuschen, auf das eifrigste bestrebt, die trefflichsten Vorzüge zur Schau zu tragen, die sie sich nur denken konnte. Und deshalb war sie bemüht, so gut zu sein, wie sie es nur irgend im stande war. Damit hatte sie schon im Gefängnis angefangen, als sie den Verkehr der politischen Gefangenen miteinander angesehen und dabei bemerkt hatte, wie Simonson seine unschuldigen, gütigen, dunkelblauen Augen unter der gesenkten Stirn oft längere Zeit auf ihr ruhen ließ. Schon damals war es ihr zum Bewußtsein gekommen, daß er ein ganz hervorragender Mensch war, und daß er sie immer ganz eigentümlich anschaute. Es war ihr auch aufgefallen, daß dieser unbewußt finstere und auffallende Gesichtsausdruck nur durch die wirren Haare und die zusammengezogenen Augenbrauen erzeugt wurde, daß sich aber in diesen düsteren Ausdruck eine kindliche Harmlosigkeit und Unschuld in ganz eigentümlicher Weise mischte.

Als sie in Tomsk der Abteilung der politischen Gefangenen zugewiesen wurde, sah sie ihn wieder, und obwohl sie nicht ein einziges Wort miteinander austauschten, sagte doch der Blick, den sie wechselten, klar und deutlich, wie hoch sie sich gegenseitig achteten. Auch später kam es nicht zu richtigen Unterhaltungen zwischen ihnen, doch Katuscha hatte die Empfindung, daß er seine Worte an sie richtete, wenn er ihr nahe war, daß er für sie nur sprach und sich stets bemühte, sich ihr so verständlich wie nur möglich zu machen. Seit der Zeit aber, da er mit den schweren Verbrechern zu Fuß wanderte, begannen sie sich gegenseitig näherzutreten.

Zwanzigstes Kapitel

Nechludoff erzählte dem Gouverneur, wie die Gefangene, für die er sich interessierte, ungerecht verurteilt worden wäre, und wie sie vor ihrer Abreise nach Sibirien ein an den Zaren gerichtetes Gnadengesuch eingereicht hätte.

»Sehr gut!« sagte der Gouverneur, nachdem er aufmerksam zugehört. – »Und weiter?«

»Man hat mir versprochen, das Gnadengesuch sollte so schnell wie möglich geprüft werden, und die kaiserliche Entscheidung würde noch im Laufe dieses Monats hier eintreffen…«

Immer die Augen auf Nechludoff heftend, streckte der Gouverneur seine dicke Hand mit den kurzen Fingern nach dem Tische aus, drückte auf eine Klingel und fing wieder an, stillschweigend zuzuhören.

»Ich muß also Ew. Excellenz, wenn es möglich ist, bitten, diese Gefangene bis zu dem Moment, da man die Antwort auf ihr Gnadengesuch erhält, hier zu behalten …«

Nechludoff wurde von dem Eintritt eines Dieners in großer Militäruniform unterbrochen.

»Frage einmal nach, ob Anna Wassiljewna schon aufgestanden ist,« sagte der Gouverneur zu dem Diener, »und bringe noch Thee!«

Dann wandte er sich wieder zu Nechludoff:

»Und weiter?«

»Mein zweites Gesuch,« fuhr Nechludoff fort, »betrifft einen politischen Gefangenen, der demselben Zuge angehört.«

»So, so!« sagte der Gouverneur mit einem liebenswürdig scheltenden Kopfnicken.

»Dieser Unglückliche ist schwer krank; er liegt im Sterben. Man wird ihn jedenfalls hier im Lazarett lassen, und eine seiner Gefährtinnen, eine politische Gefangene, bittet um die Erlaubnis, bei ihm bleiben zu dürfen.«

»Sie ist nicht mit ihm verwandt?«

»Nein, aber sie ist bereit, sich mit ihm zu verheiraten, wenn sie auf diese Weise die Erlaubnis erhalten kann, bei ihm zu bleiben.«

Ohne etwas zu erwidern, betrachtete der Gouverneur Nechludoff weiter mit seinen glänzenden Augen, als wenn er ihn mit der Stärke seines Blickes hätte einschüchtern wollen.

Als Nechludoff schwieg und auf seine Antwort wartete, erhob er sich aus seinem Sessel, holte ein Buch aus seiner Bibliothek, durchblätterte es schnell und las einige Minuten eine Stelle, die er mit dem Finger verfolgte.

»Zu welcher Strafe ist diese Frauensperson verurteilt?« fragte er, endlich die Augen wieder erhebend.

»Zur Zwangsarbeit!« »Aber die Lage des Verurteilten würde durch seine Verheiratung keinerlei Veränderung erfahren.«

»Aber das ist …«

»Gestatten Sie! Selbst wenn diese Person sich mit einem freien Manne verheiratete, müßte sie ihre Strafe weiter abbüßen. Es handelt sich nur darum, ob er oder sie zu der schwereren Strafe verurteilt worden ist?«

»Alle beide sind zu derselben Strafe verurteilt, zur Zwangsarbeit auf Lebenszeit.«

»Nun, dann ist die Sache doch erledigt,« sagte der Gouverneur lächelnd, »Die Ehe würde weder für ihn, noch für sie etwas ändern. Wenn er krank ist, wird man ihn hier behalten und natürlich alles mögliche thun, damit sein Zustand sich bessere; doch sie müßte, selbst wenn sie sich mit ihm verheiratete, dem Zuge weiter folgen …«

»Die Generalin ist aufgestanden und eben zum Frühstück hinuntergegangen,« meldete der Diener.

Der Gouverneur nickte mit dem Kopfe und fuhr fort:

»Uebrigens werde ich mich noch damit beschäftigen. Wie heißen diese Verurteilten? Wollen Sie mir bitte ihre Namen auf diesem Papier ausschreiben?«

Nechludoff schrieb die Namen auf.

»Auch das darf ich nicht gestatten,« sagte der Gouverneur, als Nechludoff ihn für sich selbst um die Erlaubnis gebeten hatte, den Kranken besuchen zu dürfen. »Glauben Sie nicht etwa, daß ich den geringsten Verdacht gegen Sie hege,« fuhr er fort, »aber ich sehe, wie die Sache zusammenhängt. Sie interessieren sich für diese Leute, Sie wollen ihnen Dienste erweisen, und dann haben Sie auch Geld. Bei uns ist aber alles käuflich. Man sagt mir oft: Sie sollten den Versuch machen, die Käuflichkeit auszurotten! Aber wie soll ich sie ausrotten, wenn ein jeder, von oben bis unten, sich verkauft? Und dann überwachen Sie doch Beamte auf eine Ausdehnung von 5000 Werst! Jeder von ihnen ist ein kleiner Czar, ganz wie ich hier!« fügte der Gouverneur mit derbem Lachen hinzu, »Ja, ich sehe schon, wie es steht! Auf Ihrer ganzen Reise hat man Ihnen gestattet, die politischen Gefangenen zu besuchen, Sie haben Trinkgelder gegeben, und man hat Sie durchgelassen. So ist es doch, nicht wahr?«

»Ja, das ist richtig!«

»Ich begreife, daß Sie das gethan haben; Sie haben eben gethan, was Sie thun mußten! Sie wollten einen politischen Verurteilten sprechen und gebrauchten die dazu notwendigen Mittel. Und der Polizeileutnant oder Aufseher ließ Sie gegen ein Trinkgeld hinein, weil sein Sold nicht hinreicht, um seiner Familie ohne kleine Zuwendungen dieser Art den Lebensunterhalt zu verschaffen. Er hatte Recht und Sie auch, und an Ihrer oder seiner Stelle hätte ich genau dasselbe gethan. Doch an meiner Stelle kann ich nicht die vorgeschriebene Verletzung der vorgeschriebenen Regel gestatten, und das um so weniger, je mehr ich von Haus aus geneigt bin, Nachsicht walten zu lassen. Ich bin mit einer Mission beauftragt, die man mir unter bestimmten Bedingungen anvertraut hat, und ich muß dieses Vertrauen rechtfertigen. So! Das ist alles, was ich Ihnen über die fragliche Angelegenheit sagen kann! Doch nun erzählen Sie mir auch ein bischen, was bei Ihnen in Europa, in Petersburg, in Moskau vorgeht!«

Und nun drang der Gouverneur mit verschiedenen Fragen in Nechludoff, weniger, um sich zu unterrichten, als um gleichzeitig seine Wichtigkeit und seine Freundlichkeit zu zeigen.

»Und wo wohnen Sie hier? Bei Dukoff? Man logiert da nicht übel, doch so gut wie das »Sibiria-Hotel« ist es nicht! Aber hören Sie mal,« fügte der Gouverneur hinzu, als Nechludoff sich verabschieden wollte, »sagen Sie mal, Sie kommen doch zu uns zum Diner? Um fünf Uhr! Nicht wahr, Sie sprechen englisch?«

»Ja, ich spreche englisch!«

»Na, schön, das trifft sich ja wunderbar! – Denken Sie sich, wir haben in diesem Augenblick einen Engländer hier, einen Reisenden. Er hat in Petersburg die Erlaubnis erhalten, unsere Gefängnisse und unsere Rastgebäude zu besuchen. Und er speist heute Abend gerade bei uns! Kommen Sie ganz bestimmt. Sie würden uns sicherlich sehr zu Dank verpflichten! Und bei der Gelegenheit werde ich Ihnen auch die Antwort wegen dieser Frau mitteilen, die auf ihre Begnadigung wartet, und wir sprechen auch noch über Ihren Kranken! Ich werde sehen, ob es nicht möglich ist, etwas für sie zu thun!«

Vierzehntes Kapitel

»Nun!« sagte Maria Pawlowna, als Simonson hinausgegangen war, »da haben Sie’s! Er ist verliebt, wahnsinnig verliebt! Wer hätte das erwartet, daß Wladimir Simonson sich wie der erste beste Gymnasiast verlieben würde? Das ist unglaublich! Und ich muß sogar sagen, daß es mich ein bißchen ärgert,« fügte sie halb ernsthaft hinzu.

»Aber sie, Katja? Was meinen Sie, denkt sie von alledem?« fragte Nechludoff.

»Sie?«

Maria Pawlowna hielt inne, um einen Augenblick zu überlegen, als wenn sie ihre Antwort so klar wie möglich aussprechen wollte.

»Sie? Sehen Sie, trotz ihrer Vergangenheit ist sie eine der rechtschaffensten Personen, die ich je kennen gelernt habe … Sie hat feinere Gefühle, als wir alle … Sie liebt Sie, sie liebt Sie sehr; und sie wäre glücklich, wenn sie Ihnen wenigstens einen negativen Dienst erweisen könnte, indem sie Sie hindert, sich weiter ihretwegen Umstände zu machen. In ihren Augen wäre ihre Ehe mit Ihnen ein schrecklicher Sturz, der schlimmer als ihre ganze Vergangenheit wäre; und ich bin überzeugt, daß sie infolgedessen nie darauf eingehen würde. Ihre Anwesenheit ist für sie eine fortgesetzte Ursache der Angst.«

»Aber was raten Sie mir denn? Soll ich verschwinden?« fragte Nechludoff.

Ueber Maria Pawlownas Gesicht huschte ein sanftes Lächeln.

»Nun denn, ja, zum Teil!«

»Und wie könnte ich zum Teil verschwinden?«

»Ich bemerke, daß ich noch nicht auf Ihre erste Frage geantwortet habe,« fuhr sie fort, und suchte augenscheinlich der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben; »ich wollte Ihnen sagen, daß Katja diese exaltierte Liebe, die Simonson für sie empfindet, gemerkt haben muß, obwohl er nie mit ihr davon gesprochen hat. Wie Sie wissen, verstehe ich mich nicht besonders auf solche Fragen; doch ich habe die Empfindung, daß dieses Gefühl nichts weiter ist, als die gewöhnlichste Liebe, trotz all der schönen Gefühle, mit der sie umkleidet ist. Wladimir behauptet, seine Liebe wäre rein platonisch und habe nur die Wirkung, seine Energie zu heben, anstatt sie niederzudrücken. Noch ich fühle wohl, daß das im Grunde gar nicht der Fall ist, daß es ganz einfach ein physisches Verlangen ist, wie das, das Nowodworoff zu Lubka Grabetz führt …«

Und Maria Pawlowna wollte sich noch weiter über dieses Thema, das ihr sehr am Herzen lag, aussprechen, als Nechludoff sie unterbrach.

»Und was raten Sie mir zu thun?« fragte er.

»Ich glaube, Sie sollten von alledem zuerst mit Katja sprechen. Sich gründlich aussprechen, das ist immer die beste Methode. Verständigen Sie sich mit Katja! Soll ich sie Ihnen herschicken?«

»Ja, ich bitte Sie darum,« sagte Nechludoff, und Maria Pawlowna verließ das Zimmer.

Seltsame Gefühle bewegten Nechludoffs Seele, – während er in dem kleinen Zimmer allein blieb und neben sich den regelmäßigen Atem Wera Efremownas und etwas weiter den unaufhörlichen Lärm der Kriminalverbrecher vernahm. Was ihm Simonson eben gesagt, hatte den Vorzug, daß es ihn von der übernommenen Verpflichtung befreite, die ihm noch in der letzten Zeit sehr oft schrecklich und peinlich erschienen war. Trotzdem war ihm das, was Simonson ihm gesagt, nicht allein unangenehm, sondern verursachte ihm auch Schmerzen, wie er sie nie vorher erduldet hatte.

Seine Leiden stammten von tausend verschiedenen Ursachen, deren er sich selbst nicht recht bewußt wurde. Es stammte z. B. daher, daß Simonsons Vorschlag seinem Verhalten Katuscha gegenüber den außergewöhnlichen Charakter genommen hatte, den es bis dahin in seinen eigenen Augen und den Augen der Welt gehabt hatte. Denn, wenn ein anderer Mann und ein Mann, wie dieser, der dem jungen Weibe gegenüber nicht die geringste Verpflichtung hatte, sein Schicksal mit dem ihrigen verknüpfen wollte, so hatte doch sein, Nechludoffs Opfer, nichts so Heroisches an sich! Und das Leiden Nechludoffs hatte auch eine ganz einfache Eifersucht zur Ursache; er hatte sich an den Gedanken, von Katuscha geliebt zu werden, so sehr gewöhnt, daß der Gedanke, sie liebe einen andern Mann, ihn wie eine Enttäuschung quälte. Und Nechludoff litt auch, als er seine Pläne und Projekte so zerstört sah; er hatte es sich genau zurechtgelegt, wie er neben Katuscha leben, wie er ihr Gesellschaft leisten, und bis sie ihre Strafe abgebüßt, über sie wachen wolle; wenn sie sich jetzt aber mit Simonson verheiratete, wurde seine Anwesenheit unnötig, und er mußte seinem Leben ein anderes Ziel geben. So drängten sich in ihm allerlei traurige Gedanken, als die Thür sich öffnete und Katuscha ins Zinnner trat. Der Lärm im Nebensaale wurde fortwährend betäubender; offenbar mußte etwas Ungewöhnliches dort vorgehen.

Mit schnellen Schritten, ohne die Augen zu erheben, ging Katuscha auf Nechludoff zu.

»Maria Pawlowna hat mir gesagt, Sie hätten mit mir zu sprechen,« murmelte sie mit verlegener Miene.

»Ja, Katuscha, ich habe mit dir zu sprechen! Setz‘ dich! Wladimir Iwanowitsch hatte eben mit mir deinetwegen eine Unterredung.«

Sie hatte sich gesetzt, ihre Hände auf die Kniee gelegt, und es war ihr gelungen, sich den Anschein der Ruhe zu geben. Doch sobald Nechludoff Simonsons Namen erwähnt, zitterte sie und wurde blutrot.

»Und was hat er Ihnen gesagt?« fragte sie.

»Er hat mir gesagt, er wolle sich mit dir verheiraten.«

Das Gesicht des jungen Weibes verzerrte sich, wie unter der Einwirkung eines heftigen Schmerzes. Doch sie sagte nichts und begnügte sich, von neuem die Augen niederzuschlagen.

»Er bittet mich um meine Einwilligung oder doch wenigstens um meine Ansicht,« fuhr Nechludoff fort. »Ich aber habe ihm gesagt, es hinge alles von dir ab; du allein solltest entscheiden.«

»Und weshalb das alles?« rief sie und richtete den durchbohrenden Blick ihrer etwas schielenden Augen, der stets einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte, auf Nechludoff.

Beide blieben so eine kurze Minute sitzen und blickten sich in die Augen, und dieser Blick sagte beiden mehr, als viele Worte.

»Du allein mußt entscheiden!« wiederholte Nechludoff.

»Was habe ich zu entscheiden?« rief sie. »Es ist schon längst alles entschieden.«

»Nein, nein, Katuscha, du mußt entscheiden, ob du den Vorschlag Wladimir Iwanowitschs annimmst!«

»Kann ich mich verheiraten, ich Zuchthausbrut? Warum sollte ich Wladimir Iwanowitschs Leben vernichten?« sagte das junge Weib mit zitternder Stimme.

»Aber wenn du ihn liebst?« fragte Nechludoff.

»O, lassen Sie mich; es ist besser, nicht darüber zu sprechen,« versetzte sie, erhob sich und entfloh aus dem Zimmer.

Fünfzehntes Kapitel

Als Nechludoff nach seiner Unterredung mit Katuscha in den großen Saal zurückkehrte, fand er die ganze Gesellschaft in Aufregung. Nabatoff, der überall hinging, alles beobachtete, sich nach allem erkundigte, hatte eben eine für seine Gefährten im höchsten Grade interessante Entdeckung gemacht. Er hatte an einer Wand eine von dem Revolutionär Petlin stammende Inschrift entdeckt, der vor zwei Jahren zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden war. Man glaubte, dieser Petlin wäre schon längst in Sibirien; und nun bewies die von ihm an der Wand zurückgelassene Inschrift, daß er einem ganz kürzlich hier durchpassierenden Zuge angehört hatte.

Die Inschrift lautete:

»Ich bin am 17. August 18.. mit einem Zuge gemeiner Verbrecher hier durchgekommen. Newjeroff sollte mit mir reisen; doch er hat sich in Kasan in einem Wahnsinnsanfall erhängt. Mir geht’s körperlich und geistig gut, und ich bin voller Hoffnung auf die Zukunft unserer Sache. Petlin.«

Man tauschte Vermutungen über die Ursache der Verzögerung von Petlins Abreise aus, vor allem aber sprach man über die Gründe von Newjeroffs Selbstmord. Nur Krülzoff schwieg mit ernster Miene und blickte mit seinen silberglänzenden Augen vor sich hin ins Leere.

»Mein Mann hat mir gesagt, Newjeroff hätte schon in der Festung Gespenster gesehen,« sagte Rontzeff.

»Ja, ein Poet, ein Phantast! Solche Leute ertragen die Einsamkeit nicht,« erklärte Nowodworoff in verächtlichem Tone. »Als man mich in die Zelle gesperrt hat, habe ich es mir streng untersagt, meine Phantasie arbeiten zu lassen. Ich habe mir einen bestimmten Plan für meine Zeit festgesetzt, dem ich mit pünktlicher Genauigkeit gefolgt bin. Daher habe ich die Einzelhaft auch sehr gut ertragen.«

»Die Einzelhaft ertragen! Das ist nicht einmal wert, daß man sich dessen rühmt! Ich habe mich sehr oft glücklich gefühlt, wenn man mich in die Zelle gesperrt hat,« rief Nabatoff mit gutmütigem Lächeln, indem er sich offenbar bemühte, das Gespräch abzulenken, und den Hauch der Traurigkeit, der sich ringsumher verbreitet hatte, zu verscheuchen. »In der Freiheit kümmert man sich um alles, fragt sich, ob man nicht den andern schaden und den Erfolg des Werkes in Frage stellen wird; sitzt man dagegen einmal in der Zelle, so fühlt man sich für nichts mehr verantwortlich: man kann frei atmen. Man braucht nur sitzen zu bleiben und Cigaretten zu rauchen.«

»Du hast Newjeroff genau gekannt?« fragte Maria Pawlowna Krülzoff, dessen Gesicht sich von neuem verzerrt hatte und dessen Hände seit Nowodworoffs Worten wieder zu zittern angefangen hatten.

»Newjeroff ein Phantast?« fragte Krülzoff, indem er seine erloschene Stimme so viel wie möglich erhob. »Siehst du, Nejweroff war einer der Männer, von denen man sagt, die Erde bringe nur wenige ihresgleichen hervor! Er war ein wunderbarer Mensch, ein Mensch, den ich seiner Aufrichtigkeit wegen als durchsichtig bezeichnen möchte! Er war nicht allein unfähig zu lügen, sondern auch außer stande, seine geringsten Gedanken geheim zu halten. Und eine so feine Haut hatte er, daß die geringste Schramme ihn bis auf die Seele verwundete. Alle seine Nerven waren so feinfühlig … Ja, eine zarte, weiche Natur, eine schöne Natur! Ach, der war nicht wie … Doch, wozu darüber sprechen!«

Er schwieg einen Augenblick, doch man sah, daß der Zorn in ihm grollte.

»Leute von Newjeroffs Art,« fuhr er in bitterem und gequältem Tone fort, »fragen sich ängstlich, was besser sei: ob es besser sei, das Volk erst aufzuklären und dann erst die Lebensformen zu ändern, oder ob es vorteilhafter sei, erst die Lebensformen zu ändern; sie fragen sich, mit welchen Mitteln sie kämpfen sollen, ob mit der friedlichen Propaganda oder mit dem Terrorismus. Und darum nennt man sie Phantasten! – Die dagegen, die sie so nennen, fragen sich nichts, sie bestreiten nichts, sie kümmern sich nicht darum, ob ihr Wirken nicht zehn, Hunderten von Männern, und was für Männern, das Leben kosten wird! Im Gegenteil, es ist ihr Wunsch, daß die Besten umkommen mögen! Und die Besten kommen in der That um! Herzen sagte, die Proskription der Dekabristen hätte die Wirkung gehabt, das soziale Niveau Rußlands herunterzudrücken. Und daraufhin hat man Herzen und seine Mitstreiter proskribiert. Jetzt werden die Newjeroffs exkommuniziert!«

»Es wird aber doch nicht gelingen, alle Welt zu unterdrücken,« sagte Nabatoff. »Einige werden zur Schlußabrechnung doch noch dasein.«

»Nein, nicht ein einziger wird übrig bleiben, wenn wir diese Leute gewähren lassen,« rief Krülzoff, der immer wütender wurde, – »Emilia, gieb mir eine Cigarette.«

»Dir ist heute Abend nicht wohl,« sagte Maria Pawlowna, »ich bitte dich, laß das Rauchen.«

»Laß mich!« sagte er zornig, und zündete sich eine Cigarette an; doch schon bei dem ersten Zuge begann er wieder zu husten und zu ersticken. Einige Augenblicke blieb er liegen, um Atem zu schöpfen, dann wurde er von neuem lebhafter und sagte:

»Nein, so haben wir das Werk nicht aufgefaßt, so haben wir es gewiß nicht aufgefaßt. Wir überlegten, wir suchten nach den besten Methoden, während …«

»Aber sie sind doch auch Menschen,« warf die Rantzeff ein.

»Nein, das sind keine Menschen, die so handeln und denken können … man sollte sie ausrotten, wie die Wanzen, sie in die Luft sprengen; ja, das sollte man, weil …«

Er begann einen neuen Satz, als sein Gesicht plötzlich blutrot wurde und ein heftiger Hustenanfall ihn gleichzeitig auf das Kopfkissen zurückwarf; dann sah man einen Blutstrom aus seinem Munde fließen.

Nabatoff stürzte auf den Korridor, um Schnee zu holen.

Maria Pawlowna trat auf Krülzoff zu und reichte ihm ein Fläschchen mit Baldriantropfen; er aber stieß mit geschlossenen Augen das Fläschchen mit seiner fleischlosen Hand zurück und blieb lange Zeit unbeweglich, ohne wieder zu Atem kommen zu können.

Als der Schnee und kalte Wasserkompressen ihn schließlich so weit hergestellt hatten, daß seine Gefährten ihn entkleiden und zu Bett bringen konnten, nahm Nechludoff Abschied und ging in den Korridor, wo der Oberaufseher seit längerer Zeit auf ihn wartete.

Die gemeinen Kriminalverbrecher hatten jetzt ihren Lärm eingestellt, und die meisten schliefen. Sie schliefen nicht allein auf den Betten und unter den Betten, auf der Diele und vor den Thüren, sondern viele von ihnen, die im Innern der Säle keinen Platz hatten finden können, hatten sich nackt, mit ihren Reisetaschen unter den Köpfen, und, an Stelle der Betten mit ihren Kleidern zugedeckt, im Korridor hingelegt.

Die Säle und der Korridor hallten vom Schnarchen förmlich wieder, und überall lagen auf dem Erdboden seltsame menschliche Gestalten, die halb unter großen Mänteln verborgen waren. Nur einzelne Sträflinge, die in einer Ecke des Korridors beim Scheine einer Kerze Karten spielten, schliefen nicht. Nechludoff sah noch einen andern, der auch nicht schlief, einen alten Sträfling, der vollständig nackt unter der Lampe saß, und in seinen Kleidungsstücken nach Läusen suchte. Im Vergleich zu dem pestartigen Gestank dieses Korridors hatte Nechludoff die Empfindung, er habe in dem für die politischen Gefangenen reservierten Zimmer die reinste Luft geatmet.

Schließlich bahnte er sich doch einen Weg bis zum äußersten Ende des Korridors, indem er vorsichtig weiter ging, um die Schläfer nicht zu treten, die den Weg versperrten. Drei Gefangene, die zweifellos in dem Korridor selbst keinen Platz hatten finden können, hatten sich vor dem Eingang unter dem Unrateimer niedergelegt. Der eine von ihnen war ein Idiot, dem Nechludoff schon oft begegnet war; ein anderer war ein kleiner Junge von zehn Jahren; er schlief, wie die Kinder schlafen, die beiden Hände flach unter die Wange gelegt, während die verpestete Flüssigkeit des mit Exkrementen angefüllten Unrateimers langsam auf ihn herniedersickerte.

Im Hofe des Rastgebäudes blieb Nechludoff stehen, holte tief Atem und sog mit Behagen die eisige Nachtluft ein.

Sechzehntes Kapitel

An dem eben noch so dunklen Himmel waren jetzt die Sterne aufgegangen, die Schmutzlachen waren an vielen Stellen gefroren, und so hatte Nechludoff keine allzu große Mühe, seine Herberge wieder zu erreichen. Er klopfte ans Fenster; der breitschultrige Bursche öffnete ihm und ließ ihn herein.

Rechts im Korridor hörte Nechludoff das Schnarchen der Kutscher in einem dunklen Zimmer; vor sich im Hofe hörte er das beständige, regelmäßige Geräusch einer Schar Hafer fressender Pferde. Links sah er die Thür des Gastzimmers geöffnet, in welchem vor dem Heiligenbild eine Lampe brannte, und ein seltsamer Duft entströmte diesem Saale, ein Branntweingeruch, in den sich noch andere Gerüche mischten.

Nechludoff ging in sein Zimmer hinauf, zog seinen Mantel aus, und streckte sich auf einem Divan aus. Ganz in seinen Reiseplaid eingewickelt, durchlebte er die verschiedenen Schauspiele noch einmal, denen er eben beigewohnt. Besonders aber sah er mit ganz außergewöhnlicher Deutlichkeit den kleinen Jungen wieder vor sich, der, den Kopf auf die Hände gelegt, neben dem Nachteimer schlief, der auf ihn herabsickerte.

Die Unterredung, die er eben mit Simonson und Katuscha gehabt, hatte ihn tief erschüttert! er fühlte, ein Ereignis hätte sich in seinem Leben vollzogen, ein unvorhergesehenes, äußerst wichtiges Ereignis. Doch er fühlte auch, dieses neue Ereignis wäre zu ernst und unvorhergesehen, als daß er noch kalten Blutes daran denken konnte. Mit allen Mitteln bemühte er sich, nicht daran zu denken und verjagte sofort alle Erinnerungen, die sich auf seine eigene Lage und die des jungen Weibes beziehen konnten. Mit ebenso großer Deutlichkeit stellte er sich den Schlummer der Gefangenen in dem stinkenden Korridor vor, vor allem aber dachte er an den unschuldigen kleinen Jungen, der zwischen den beiden Sträflingen ausgestreckt lag.

Es ist zweierlei: zu wissen, daß irgendwo in weiter Ferne einzelne Leute andere quälen, ihnen allerlei Leiden und Demütigungen auferlegen; und drei Monate lang den Schauspielen dieser Qualen beizuwohnen und täglich zu sehen, wie andern diese Leiden und Demütigungen auferlegt wurden. Darüber wurde sich Nechludoff jetzt klar. Zwanzigmal hatte er sich im Laufe dieser drei Monate gefragt: »Bin ich toll und sehe ich Dinge, die andere nicht sehen, oder sind die andern, die die Dinge dulden und selbst vollbringen, toll?« Die andern Menschen aber duldeten diese Dinge, die Nechludoff in Erstaunen setzten, nicht nur, sondern hielten sie sogar für so wichtig und notwendig, daß er wirklich nicht annehmen konnte, sie wären alle toll.

Andererseits aber konnte er auch nicht annehmen, daß er selbst toll war, denn seine Gedanken erschienen ihm vollständig klar und vernünftig. Deshalb wußte er immer noch nicht, für welche Lösung er sich entschließen sollte. Wenigstens aber stellte er sich die allgemeine Bedeutung dessen, was er in diesen drei Monaten gesehen, deutlicher vor, und zwar unter folgender Form:

Er hatte zuerst die Empfindung, daß das Beamtentum und die Verwaltung von allen in Freiheit lebenden Menschen die eifrigsten, die gewecktesten, mit einem Wort, die lebenskräftigsten, aber auch die am wenigsten klugen und am wenigsten verschlagenen aussuchte; diese Menschen wurden nun, ohne schuldiger und gefährlicher als die in Freiheit gebliebenen zu sein, in Gefängnisse, Rastgebäude, Zuchthäuser eingeschlossen, wo man sie Jahre hindurch im Müßiggange, fern von der Natur, der Familie, der Arbeit, das heißt, fern von den Bedingungen des normalen Lebens, erhielt.

In zweiter Reihe hatte Nechludoff die Empfindung, daß alle diese Menschen in den Gefängnissen, Rastgebäuden u. s. w. einer ganzen Reihe von Demütigungen – Ketten an den Füßen, Handfesseln, rasierter Kopf, Gefängniskleidung – unterworfen waren, die keinen andern Wert hatten, als daß sie die Hauptbestandteile des moralischen Lebens in ihnen zerstörten, das heißt, das Bestreben nach Achtung der andern, die Scham und das Gefühl der menschlichen Würde. Drittens hatte Nechludoff die Empfindung, daß man diese Leute, indem man sie einer beständigen Krankheits- und Todesgefahr preisgab, in die Geistesverfassung versetzte, in der der beste und moralischste Mensch aus Selbsterhaltungstrieb geneigt ist, die grausamsten und unmoralischsten Handlungen zu begehen und gutzuheißen.

Viertens hatte Nechludoff die Empfindung, daß man diese Leute, indem man sie zwang, Tag und Nacht die Gesellschaft von durch und durch verdorbenen Wesen – Mörder, Diebe, Brandstifter – über sich ergehen zu lassen, der Epidemie dieser Verderbnis förmlich in die Arme trieb, Nechludoff sagte sich ferner, daß man durch die Behandlung, die man diesen Menschen zu teil werden ließ, indem man ihnen gegenüber alle möglichen ungeheuerlichen Maßregeln zur Anwendung brachte, indem man die Eltern von den Kindern und die Männer von den Frauen trennte; indem man auf die Denunciationen einen Preis setzte, diesen Menschen zu beweisen suchte, daß alle Formen der Gewaltthat, der Grausamkeit, der Bestialität nicht allein nicht verboten, sondern vom Gesetze sogar empfohlen wurden, wenn sie einen Vorteil einbrachten; daraus ging hervor, daß alle diese Dinge ganz besonders Leuten erlaubt waren, die man ihrer Freiheit beraubt hatte, und die sich in der schlimmsten Not befanden.

»Man möchte wahrhaftig glauben,« dachte Nechludoff, alle diese Maßregeln wären absichtlich erfunden worden, um unter den lebenskräftigsten Wesen des Volkes die Verderbnis und das Laster in der sichersten Weise zu verbreiten. Alljährlich werden so Tausende von menschlichen Wesen zu Grunde gerichtet, ihrer menschlichen Gefühle beraubt und zur Ausübung der ungeheuerlichsten Handlungen gezwungen; wenn man sie aber vollständig dem Laster in die Arme geführt, läßt man sie frei, damit sie die bösen Keime, die man in sie gesäet, im ganzen Volke verbreiten können.«

Schon in dem Gefängnis, in welchem er Katuscha wiedergefunden, und später auf dem ganzen Zuge des Gefangenentransportes in Perm, in Jekaterinenburg, in Tomsk, auf allen Ruhestationen hatte Nechludoff die Wirkungen dieser allgemeinen nationalen Demoralisation sich vollziehen sehen. Er hatte gesehen, wie einfache, von den traditionellen moralischen Grundlagen des Bauern und Christen durchdrungene Durchschnittsnaturen diese Prinzipien nach und nach abgelegt, um sich dafür andere Prinzipien zu eigen zu machen, die hauptsächlich in der Zulassung jeder Gewaltthat und Unehre gipfelten. Diese Naturen waren angesichts der den Gefangenen zu teil gewordenen Behandlung so weit gekommen, daß sie alle Prinzipien der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die ihre Religion sie gelehrt hatte, als Lügen ansahen, und daraus hatten sie die Schlußfolgerung gezogen, daß auch sie selbst diesen Prinzipien nicht mehr zu folgen brauchten.

Bei einer großen Zahl Gefangener des Zuges hatte Nechludoff Beispiele dieser Sittenverderbnis beobachtet; bei Fedoroff, bei Makar und sogar bei Taraß, der nach zweimonatlichem Zusammenleben mit den Sträflingen viele ihrer Gewohnheiten angenommen und sich fast so fühlte und ausdrückte, wie sie. Nechludoff hatte nämlich gehört, wie er mit Bewunderung von dem alten Sträfling sprach, der sich rühmte, seinen Fluchtgefährten ermordet und aufgegessen zu haben. Und er dachte daran, daß der russische Bauer unter der Einwirkung solcher Behandlung der Gefangenen in einigen Monaten in denselben Zustand der Sittenverderbnis geriet, in welchem sich die »Intellektuellen«, die die Doktrinen Nietzsches priesen und predigten, nach Jahrhunderten moralischer Fäulnis befanden. Nechludoff las in den Büchern, daß alle diese Maßregeln, deren Folgen er sah, ihre Rechtfertigung darin fanden, daß man gewisse gefährliche Glieder der menschlichen Gesellschaft ausrotten oder auf dieselben abschreckend wirken mußte. Auf die Wirklichkeit aber hatte das alles keinerlei Bezug, denn anstatt die gefährlichen Glieder aus der Gesellschaft auszurotten, verbreitete man die Sittenverderbnis nur noch mehr. Anstatt auf diese Glieder abschreckend zu wirken, ermutigte man sie nur, indem man ihnen das Beispiel der Grausamkeit und Unmoral gab und ihnen außerdem ein Leben der Faulheit und Ausschweifung sicherte, das ihnen so weit gefiel, daß eine Menge von Landstreichern es als eine Gunst betrachtete, ins Gefängnis geworfen zu werden. Anstatt diese gefährlichen Mitglieder zu bessern, impfte man ihnen nur systematisch alle Laster ein.

»Aber warum thut man denn das alles?« fragte sich Nechludoff und fand noch immer keine Antwort. Am meisten aber wunderte er sich, daß dies alles nicht nur vorübergehend, infolge eines Mißverständnisses, sondern fortgesetzt und wohlüberlegt seit langen Jahrhunderten geschah, nur mit dem einzigen Unterschiede, daß man den Gefangenen früher die Nasenlöcher aufriß und sie auf Flöße setzte, während man ihnen jetzt Handschellen anlegte, ihnen die Augen mit Fäusten ausschlug und sie in Dampfschiffen reisen ließ.

Nechludoff fand auch Schriftsteller, die ihm sagten, die Maßregeln, die ihn empörten, kämen nur von den ungenügenden Gefängnissen und einer mangelhaften Organisation, die sicherlich bald verbessert werden würde. Doch auch diese Antwort befriedigte ihn absolut nicht; denn er fühlte nur zu deutlich, der Uebelstand, der ihn empörte, hinge nicht allein von der ungenügenden Zahl der Gefängnisse oder von dem oder jenem Organisationsfehler ab. Die Erfahrung bewies ihm, daß dieses Uebel von Jahr zu Jahr trotz der sogenannten Fortschritte der Zivilisation stärker wurde. Er wußte, daß die Gefangenentransporte vor fünfzig Jahren nicht in demselben Maße das Schauspiel der Verrohung und Sittenverderbnis aufwiesen, trotzdem man sie damals nicht in Dampfschiffen und Eisenbahnen durch Rußland beförderte. Und er konnte nicht ohne ein Gemisch von Ekel und Unruhe eine Beschreibung dieser Mustergefängnisse lesen, die von den Soziologen erträumt wurden, und in denen die Verurteilten durch Elektrizität Nahrung, Licht und Heizung erhielten und auch elektrisch gepeitscht und hingerichtet wurden.

Und mit Entrüstung dachte Nechludoff daran, daß Richter und Beamte alljährlich große, dem Volke abgepreßte Summen erhoben, nur um aus Büchern, die eben solche Richter und Beamte wie sie geschrieben, die Mittel herauszulesen, gewisse Menschen nach fernen Orten zu spedieren, um auf einige Zeit von ihnen befreit zu sein, und zwar so, daß diese Menschen sicherlich moralisch, wenn nicht gar körperlich, umkamen. Und in dem Maße, wie Nechludoff die Gefängnisse und Etappen immer genauer studierte, erkannte er, daß alle unter den Gefangenen verbreiteten Laster: die Trunksucht, das Spiel, die Gewaltthätigkeit, die Schamlosigkeit, daß alle diese Laster keineswegs die Kundgebung eines sogenannten »Verbrechertypus«, wie ihn im Dienste der Behörde stehende Gelehrte erfunden, war, sondern daß sie die direkte Folge der ungeheuerlichen Verirrungen waren, auf Grund deren sich gewisse Leute das Recht angeeignet hatten, über andere Menschen zu Gericht zu sitzen und sie zu bestrafen. Nechludoff begriff, daß der Kannibalismus des alten Sträflings seinen Ursprung nicht in der Galeere, auch nicht in der Wüste, wohl aber in den Ministerien, den Kommissionen und den Kanzleien gehabt hatte. Er begriff ferner, daß das, was im Bagno vorging, nur die Schlußfolgerung dessen war, was sich in diesen höheren Sphären abspielte, und daß Leute, wie sein Schwager zum Beispiel, nichts mit der Gerechtigkeit und dem Wohle der Nation zu thun hatten, der zu dienen sie sich rühmten, sondern daß ihr einziges Bestreben darauf gerichtet war, die Rubelstücke sich anzueignen, die man ihnen für die Ausführung dieser niedrigen Arbeiten bezahlte, die soviel Leiden und Sittenverderbnis zur Folge hatten.

»Sollte das alles nicht wirklich nur die Folge eines Mißverständnisses sein? Könnte man es nicht so einrichten, daß alle diese Beamten ihr Gehalt weiter bezögen, ja, daß sie sogar eine Extraprämie bekämen, unter der Bedingung, daß sie von nun an auf diese schadenbringenden Arbeiten verzichteten, die auszuführen sie sich verpflichtet glauben, um ihr Gehalt zu bekommen?«

Was alles dachte Nechludoff, und unter diesen Gedanken überfiel ihn endlich bei Tagesanbruch der Schlummer, trotz der Wanzen, die, seit er sich niedergelegt hatte, wie Ameisen in einer Grube um ihn herumliefen.