Von dem Soldaten begleitet, befand sich Nechludoff wieder in dem Hofe, in dem nur hier und da die roten Feuer der Laternen leuchteten.

»Wo willst du denn hin?« fragte ein Aufseher, der vor der Thür des Mittelgebäudes stand.

»Nach dem fünften Saal,« verletzte der Soldat.

»Hier ist kein Durchgang, hier ist geschlossen, ihr müßt rund herumgehen.«

»Warum ist es denn geschlossen?«

»Der Oberaufseher ist fortgegangen und hat den Schlüssel mitgenommen.«

»Na gut, gehen wir herum, kommen Sie hier entlang,«

Der Soldat führte Nechludoff nach einem andern Thor, durch einen wahren Sumpf von Kot. Man hörte noch immer im Innern des Gebäudes dasselbe fortgesetzte Geräusch von Stimmen und Lachen. Kaum war Nechludoff eingetreten, als sich in dieses Geräusch der Ton der rasselnden Ketten mischte, während gleichzeitig ein dumpfer Gestank sich bemerkbar machte.

Diese beiden Sensationen, das Klirren der Ketten und der Gestank waren etwas Bekanntes für Nechludoff geworden, seit er unter den Gefangenen verkehrte; doch an diesem Abend wirkten sie auf ihn, genau wie am ersten Tage, mit unwiderstehlicher Heftigkeit, und er fühlte sich dem Ersticken nahe.

Das Erste, was Nechludoff in dem Korridor des Mittelgebäudes erblickte, war ein Weib, das mit hochgeschürzten Röcken auf dem Nachteimer saß. Ohne sich den geringsten Zwang aufzuerlegen, unterhielt sich dieses Geschöpf mit einem vor ihm stehenden Manne, einem Sträfling mit rasiertem Kopfe, der eine Kette am Fuße trug. Als der Sträfling Nechludoff bemerkte, blinzelte er mit den Augen und sagte:

»Der Zar muß das auch machen, wenn’s ihn packt.«

Das Weib richtete sich ruhig wieder auf und strich ihren Rock glatt.

Die Thüren der einzelnen Kammern führten auf den Korridor hinaus: zuerst kam die Kammer der von ihren Familien begleiteten Gefangenen, dann die der Junggesellen, und dann die der ledigen Frauenspersonen; während am Ende des Korridors zwei kleine Säle den politischen Gefangenen als Obdach dienten. Das Rastgebäude, das zur Aufnahme von hundertfünfzig Personen bestimmt war, enthielt an diesem Abend mehr als vierhundert. Die Gefangenen waren darin so zusammengepfercht, daß sie den ganzen Korridor einnahmen; die einen saßen oder lagen an der Erde; andere gingen hin und her und hielten Theegläser in der Hand.

»Unter dieser Zahl befand sich Taraß, Fedossjas Gatte, Er kam Nechludoff entgegen und begrüßte ihn freundlich. Sein gutmütiges Gesicht war vollständig mit blauen Flecken bedeckt, und er trug eine Binde über den Augen.

»Was ist dir denn zugestoßen?« fragte Nechludoff.

»Na, ich habe hier so ’ne Sache gehabt!« meinte Taraß lächelnd.

»Sie haben sich alle wütend geprügelt!« sagte der Aufseher, der Nechludoff begleitete.

»Und alles wegen dieser vermaledeiten Weiber!« fügte ein Gefangener hinzu, der sich ihnen zugesellt hatte. »Er kann noch von Glück sagen, wenn er ein Auge behält, Fedkas Mann!«

»Und Fedossja ist nichts Schlimmes widerfahren?«

»Ach nein, gar nichts; der geht’s ganz gut! Ich bringe ihr gerade den Thee,« sagte Taraß und trat in die Stube.

Nechludoff warf durch die halbgeöffnete Thür einen Blick in die Stube. Sie war mit Männern und Frauen angefüllt, die auf den Betten oder auf der Diele zwischen den Betten lagen. Doch das folgende Zimmer, das der Unverheirateten, war noch voller, so daß hier mehrere Gefangene auf demselben Bett lagen. Mitten im Zimmer umstand eine Gruppe einen alten Sträfling, der etwas an seine Umgebung zu verteilen schien. Der Aufseher erklärte Nechludoff, das wäre der Aelteste des Zuges, der die Summen, die sie im Kartenspiel gewonnen, unter sie verteile. Kaum aber hatten die Leute den Aufseher bemerkt, als alle verstummten, alle Hände niedersanken und alle Augen einen halb furchtsamen, halb bösartigen Ausdruck annahmen.

Nechludoff erkannte in dieser Gruppe den Sträfling Fedoroff, der ihn früher im Gefängnis ganz besonders interessiert hatte; derselbe hatte seinen Arm um den Hals eines blonden, bartlosen und aufgedunsenen jugendlichen Gefangenen gelegt, eines lasterhaften und abstoßenden kleinen Menschen, mit dem man ihn stets zusammensah. Ein anderer Sträfling, der auch dabei stand, ein Kahlkopf ohne Nase, war Nechludoff als eine Berühmtheit des Zuges vorgestellt worden; man erzählte, er hätte bei seiner Flucht aus dem Zuchthaus seinen Gefährten getötet, um ihn zu verzehren. Dieser Schurke, der am Eingang des Korridors stand, betrachtete Nechludoff mit kecker und spöttischer Miene, ohne ihn zu grüßen, wie es auch die meisten anderen Gefangenen thaten.

So vertraut Nechludoff dieses Schauspiel auch seit mehreren Monaten geworden war, so konnte er doch nie dieser Schar von Verurteilten gegenübertreten, ohne wie an diesem Abend ein grausames Gefühl der Scham und fast der Reue, das Gefühl seiner eigenen Schuld diesen Unglücklichen gegenüber zu empfinden. Und diese Scham und diese Gewissensbisse waren ihm um so furchtbarer, als sie bei ihm von einem ebenso unüberwindlichen Gefühl des Grauens und der Abneigung begleitet wurden. Er wußte, diese Unglücklichen mußten in der Lebenslage, in der sie sich seit ihrer Kindheit befunden hatten, notgedrungen das werden, was sie waren; und doch konnte er nicht umhin, sie zu verachten und zu hassen und einen tiefen Ekel vor ihnen zu empfinden.

»Dem sollte man mal die Taschen durchsuchen!« sagte eine heisere Stimme hinter Nechludoff gerade in dem Augenblick, als dieser sich bereits der Thür des Nebensaales näherte.

Die Schar der Verurteilten brach in Gelächter aus.