Vierzehntes Kapitel

»Nun!« sagte Maria Pawlowna, als Simonson hinausgegangen war, »da haben Sie’s! Er ist verliebt, wahnsinnig verliebt! Wer hätte das erwartet, daß Wladimir Simonson sich wie der erste beste Gymnasiast verlieben würde? Das ist unglaublich! Und ich muß sogar sagen, daß es mich ein bißchen ärgert,« fügte sie halb ernsthaft hinzu.

»Aber sie, Katja? Was meinen Sie, denkt sie von alledem?« fragte Nechludoff.

»Sie?«

Maria Pawlowna hielt inne, um einen Augenblick zu überlegen, als wenn sie ihre Antwort so klar wie möglich aussprechen wollte.

»Sie? Sehen Sie, trotz ihrer Vergangenheit ist sie eine der rechtschaffensten Personen, die ich je kennen gelernt habe … Sie hat feinere Gefühle, als wir alle … Sie liebt Sie, sie liebt Sie sehr; und sie wäre glücklich, wenn sie Ihnen wenigstens einen negativen Dienst erweisen könnte, indem sie Sie hindert, sich weiter ihretwegen Umstände zu machen. In ihren Augen wäre ihre Ehe mit Ihnen ein schrecklicher Sturz, der schlimmer als ihre ganze Vergangenheit wäre; und ich bin überzeugt, daß sie infolgedessen nie darauf eingehen würde. Ihre Anwesenheit ist für sie eine fortgesetzte Ursache der Angst.«

»Aber was raten Sie mir denn? Soll ich verschwinden?« fragte Nechludoff.

Ueber Maria Pawlownas Gesicht huschte ein sanftes Lächeln.

»Nun denn, ja, zum Teil!«

»Und wie könnte ich zum Teil verschwinden?«

»Ich bemerke, daß ich noch nicht auf Ihre erste Frage geantwortet habe,« fuhr sie fort, und suchte augenscheinlich der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben; »ich wollte Ihnen sagen, daß Katja diese exaltierte Liebe, die Simonson für sie empfindet, gemerkt haben muß, obwohl er nie mit ihr davon gesprochen hat. Wie Sie wissen, verstehe ich mich nicht besonders auf solche Fragen; doch ich habe die Empfindung, daß dieses Gefühl nichts weiter ist, als die gewöhnlichste Liebe, trotz all der schönen Gefühle, mit der sie umkleidet ist. Wladimir behauptet, seine Liebe wäre rein platonisch und habe nur die Wirkung, seine Energie zu heben, anstatt sie niederzudrücken. Noch ich fühle wohl, daß das im Grunde gar nicht der Fall ist, daß es ganz einfach ein physisches Verlangen ist, wie das, das Nowodworoff zu Lubka Grabetz führt …«

Und Maria Pawlowna wollte sich noch weiter über dieses Thema, das ihr sehr am Herzen lag, aussprechen, als Nechludoff sie unterbrach.

»Und was raten Sie mir zu thun?« fragte er.

»Ich glaube, Sie sollten von alledem zuerst mit Katja sprechen. Sich gründlich aussprechen, das ist immer die beste Methode. Verständigen Sie sich mit Katja! Soll ich sie Ihnen herschicken?«

»Ja, ich bitte Sie darum,« sagte Nechludoff, und Maria Pawlowna verließ das Zimmer.

Seltsame Gefühle bewegten Nechludoffs Seele, – während er in dem kleinen Zimmer allein blieb und neben sich den regelmäßigen Atem Wera Efremownas und etwas weiter den unaufhörlichen Lärm der Kriminalverbrecher vernahm. Was ihm Simonson eben gesagt, hatte den Vorzug, daß es ihn von der übernommenen Verpflichtung befreite, die ihm noch in der letzten Zeit sehr oft schrecklich und peinlich erschienen war. Trotzdem war ihm das, was Simonson ihm gesagt, nicht allein unangenehm, sondern verursachte ihm auch Schmerzen, wie er sie nie vorher erduldet hatte.

Seine Leiden stammten von tausend verschiedenen Ursachen, deren er sich selbst nicht recht bewußt wurde. Es stammte z. B. daher, daß Simonsons Vorschlag seinem Verhalten Katuscha gegenüber den außergewöhnlichen Charakter genommen hatte, den es bis dahin in seinen eigenen Augen und den Augen der Welt gehabt hatte. Denn, wenn ein anderer Mann und ein Mann, wie dieser, der dem jungen Weibe gegenüber nicht die geringste Verpflichtung hatte, sein Schicksal mit dem ihrigen verknüpfen wollte, so hatte doch sein, Nechludoffs Opfer, nichts so Heroisches an sich! Und das Leiden Nechludoffs hatte auch eine ganz einfache Eifersucht zur Ursache; er hatte sich an den Gedanken, von Katuscha geliebt zu werden, so sehr gewöhnt, daß der Gedanke, sie liebe einen andern Mann, ihn wie eine Enttäuschung quälte. Und Nechludoff litt auch, als er seine Pläne und Projekte so zerstört sah; er hatte es sich genau zurechtgelegt, wie er neben Katuscha leben, wie er ihr Gesellschaft leisten, und bis sie ihre Strafe abgebüßt, über sie wachen wolle; wenn sie sich jetzt aber mit Simonson verheiratete, wurde seine Anwesenheit unnötig, und er mußte seinem Leben ein anderes Ziel geben. So drängten sich in ihm allerlei traurige Gedanken, als die Thür sich öffnete und Katuscha ins Zinnner trat. Der Lärm im Nebensaale wurde fortwährend betäubender; offenbar mußte etwas Ungewöhnliches dort vorgehen.

Mit schnellen Schritten, ohne die Augen zu erheben, ging Katuscha auf Nechludoff zu.

»Maria Pawlowna hat mir gesagt, Sie hätten mit mir zu sprechen,« murmelte sie mit verlegener Miene.

»Ja, Katuscha, ich habe mit dir zu sprechen! Setz‘ dich! Wladimir Iwanowitsch hatte eben mit mir deinetwegen eine Unterredung.«

Sie hatte sich gesetzt, ihre Hände auf die Kniee gelegt, und es war ihr gelungen, sich den Anschein der Ruhe zu geben. Doch sobald Nechludoff Simonsons Namen erwähnt, zitterte sie und wurde blutrot.

»Und was hat er Ihnen gesagt?« fragte sie.

»Er hat mir gesagt, er wolle sich mit dir verheiraten.«

Das Gesicht des jungen Weibes verzerrte sich, wie unter der Einwirkung eines heftigen Schmerzes. Doch sie sagte nichts und begnügte sich, von neuem die Augen niederzuschlagen.

»Er bittet mich um meine Einwilligung oder doch wenigstens um meine Ansicht,« fuhr Nechludoff fort. »Ich aber habe ihm gesagt, es hinge alles von dir ab; du allein solltest entscheiden.«

»Und weshalb das alles?« rief sie und richtete den durchbohrenden Blick ihrer etwas schielenden Augen, der stets einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte, auf Nechludoff.

Beide blieben so eine kurze Minute sitzen und blickten sich in die Augen, und dieser Blick sagte beiden mehr, als viele Worte.

»Du allein mußt entscheiden!« wiederholte Nechludoff.

»Was habe ich zu entscheiden?« rief sie. »Es ist schon längst alles entschieden.«

»Nein, nein, Katuscha, du mußt entscheiden, ob du den Vorschlag Wladimir Iwanowitschs annimmst!«

»Kann ich mich verheiraten, ich Zuchthausbrut? Warum sollte ich Wladimir Iwanowitschs Leben vernichten?« sagte das junge Weib mit zitternder Stimme.

»Aber wenn du ihn liebst?« fragte Nechludoff.

»O, lassen Sie mich; es ist besser, nicht darüber zu sprechen,« versetzte sie, erhob sich und entfloh aus dem Zimmer.

Erstes Kapitel

Die Abteilung des Transportzuges, der Katuscha angehörte, hatte eine Strecke von ungefähr fünftausend Kilometern zurückzulegen. Bis zur Station Perm war Katuscha auf der Eisenbahn gefahren, und erst an diesem Orte wurde sie, weil Nechludoff dringend darum bat, der Sektion der politischen Verbrecher überwiesen.

Die Bogoduschoffska, welche diesem Zuge ebenfalls angehörte, hatte ihm nämlich den Rat erteilt, darum zu ersuchen. Die Fahrt bis zur Station Perm hatte Katuscha mancherlei Leiden und Beschwerden verursacht, sowohl in körperlicher, wie auch in moralischer Hinsicht. In körperlicher Hinsicht fühlte sie sich von der qualvollen Enge, der Unsauberkeit und den ekelhaften Insekten unangenehm berührt, die die Gefangenen keine Sekunde in Ruhe ließen; in moralischer Hinsicht dagegen wurde sie von den ebenso ekelhaften Menschen belästigt, die sich überall ebenso zudringlich zeigten, wie die Insekten, und – trotzdem man bei jedem Tagemarsch einen Wechsel der Gefangenen vornahm – ebensowenig Ruhe gaben und ebensowenig abzuschütteln waren, wie das Gewürm.

Es hatte sich zwischen den Weibern, den Deportierten, den Aufsichtsbeamten und den die Trupps begleitenden Soldaten ein so gemeiner Ton entwickelt, daß jedes Mädchen unaufhaltsam vor Zudringlichkeiten auf der Hut sein mußte; dieser Zustand fortwährender Aufregungen und Angst, dieser beständige Kampf war aber im höchsten Grade entnervend und aufregend.

Ganz besonders hatte Katuscha wegen ihrer anmutigen Erscheinung und wegen ihrer Vergangenheit, die wohl für keinen ein Geheimnis geblieben war, unter diesem zudringlichen Benehmen zu leiden. Der entschlossene Widerstand, mit dem sie jetzt allen Annäherungsversuchen der Männer entgegentrat, machte auf diese den Eindruck einer persönlichen Beleidigung, und so bildete sich nach und nach eine allgemeine Mißstimmung gegen sie heraus. In dieser Hinsicht wurde ihr nur in der Nähe von Fedossja und Taraß eine gewisse Erleichterung zu teil. Der letztere hatte in Erfahrung gebracht, welchen Belästigungen seine Frau ausgesetzt gewesen war, und um ihr schützend zur Seite stehen zu können, ließ er sich verhaften und wanderte seit Nischni-Nowgorod wie jeder andere regelrecht Verurteilte in den Reihen der Gefangenen mit.

Dadurch, daß man Katuscha den politischen Gefangenen überwiesen, bekam ihre ganze Lage doch in jeder Hinsicht eine Wendung zum Bessern. Die politischen Gefangenen erhielten besseres Obdach, sie bekamen bessere Nahrung, und man behandelte sie nicht so furchtbar grob. Eine wesentliche Verbesserung erhielt ihre Lage aber dadurch, daß die Angriffe von seiten der Männer ein Ende nahmen, und man sie nicht fortwährend an ihr vergangenes Leben erinnerte, das zu vergessen ihr sehnlichster Wunsch war. Der größte Vorzug dieser Verbesserung bestand jedoch in dem Umstande, daß sie die Bekanntschaft gewisser Leute machte, die einen ausschlaggebenden Einfluß auf sie ausüben sollten.

Bei den Ruhestationen hatte Katuscha die Erlaubnis erhalten, sich bei den politischen Gefangenen aufhalten zu dürfen; doch wenn man auf dem Marsch begriffen war, wurde sie als kräftige Person wieder zu den gemeinen Verbrechern zurückgeschickt, und so wanderte sie denn die ganze Strecke von der Station Tomsk an zu Fuß. Mit ihr wanderten noch zwei andere Personen zu Fuß, die ebenfalls den politischen Gefangenen angehörten: Marie Pawlowna Schtschetinina, das schöne Mädchen mit den sanften Augen, das auf Nechludoff, als er die Bogoduschoffska besucht, einen so tiefen Eindruck gemacht, und ein gewisser Simonson, den man nach dem Gouvernement Jakutsk deportierte. Das war der schwarze Mensch mit den zerlumpten Kleidern, der Nechludoff bei demselben Besuche aufgefallen war. Maria Pawlowna wanderte zu Fuß, denn sie hatte ihren Platz im Wagen einer Frauensperson abgetreten, die sich in anderen Umständen befunden hatte. Simonson aber ging deshalb zu Fuß, weil er es nicht für richtig hielt, aus einem Vorrecht Nutzen zu ziehen, das man ihm einzig und allein auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung eingeräumt hatte.

Diese drei Personen brachen am andern Morgen mit den schweren Verbrechern auf und trennten sich von den politischen Gefangenen, die später per Wagen nachfolgten.

Das war auf der letzten Etappe, bevor man in einer großen Stadt anlangte, der Fall, in welcher der ganze Gefangenentransport von einem neuen Offizier übernommen werden sollte.

Es war sehr frühzeitig, der Septembertag ließ sich recht trübselig an. Bald darauf begann es zu regnen, dann fiel Schnee, und dazu blies ein scharfer, kalter Wind. Sämtliche Gefangenen des Transportzuges, etwa vierhundert Männer und fünfzig Weiber an der Zahl, hatten bereits im Hofe der Station Aufstellung genommen. Die einen umstanden einen alten Unteroffizier, der das Proviantgeld, das immer auf zwei Tage gezahlt wurde, an die Aeltesten verteilte; die andern kauften den Hökerinnen, denen man den Zutritt in den Hof gestattet hatte, Lebensmittel ab.

Man hörte ein lautes Stimmengewirr unter den Gefangenen, welche das Geld nachzählten und ihre Einkäufe besorgten, und dazwischen ertönte das Gekreisch und Geschrei der Hökerweiber.

Katuscha und Marie Pawlowna, die beide große Stiefel und Halbpelze trugen, welche sie sich mit dicken Tüchern festgebunden hatten, traten aus dem Schlafsaal der Etappe in den Hof hinaus und wandten sich den Marktweibern zu, die an der Nordmauer postiert waren, und hier, vor dem Winde geschützt, ihre Ware ausschrieen, die in frischen Broten, Piroggen (Brotkuchen), Nudeln, Fischen, Backwaren, Graupen, Hasen, Rindfleisch und Milch bestand. Die eine bot sogar ein gebratenes Ferkel feil.

Simonson, der einen Regenmantel und Gummischuhe trug, die er über seinen seidenen Strümpfen mit Bindfaden festgebunden hatte, – er war strenger Vegetarier und gebrauchte deshalb nichts, was aus dem Fell getöteter Tiere hergestellt wurde – stand auf dem Hofe, und wartete, daß der Aufbruch der Abteilung befohlen wurde. Er stand im Vordergrunde und schrieb sich eine Betrachtung, die ihm plötzlich, aufgefallen war, in sein Notizbuch. Diese Betrachtung lautete folgendermaßen:

»Wenn eine Bazille den Finger eines Menschen untersuchte und beobachtete, so würde sie ihn als ein unorganisches Wesen ansehen. Und ebenso sehen auch wir, wenn wir uns mit der Betrachtung der Erdrinde beschäftigen, diese als ein unorganisches Wesen an. Das entspricht aber nicht der Wahrheit.«

Katuscha kaufte Eier, frische Bretzeln, die auf eine Schnur gereiht waren, Fische und frische Brötchen ein, und packte das alles in ihren Reisesack, während Marie Pawlowna die Hökerin bezahlte. Plötzlich machte sich unter den Gefangenen eine heftige Bewegung bemerkbar, alles wurde still, und die Gefangenen fingen an, Aufstellung zu nehmen. Dann erschien der Offizier und erteilte die letzten Anordnungen, bevor der Aufbruch erfolgte.

Alles spielte sich genau so wie sonst ab. Man nahm die Abzählung der Gefangenen vor und untersuchte die Fesseln.

Plötzlich aber stieß der Offizier einen wütenden Ruf aus, während sich das weinerliche Geschrei eines Kindes vernehmen ließ. Alles wurde auf eine Sekunde ruhig, dann erhob sich ein dumpfes Murren aus der Menge. Katuscha und Marie Pawlowna wandten sich der Stelle zu, wo sie den Lärm vernommen hatten.

Als Marie Pawlowna und Katuscha in die Nähe der Stelle kamen, wo sich der Lärm erhoben hatte, erblickten sie den Offizier, einen Mann von untersetzter Gestalt mit langem blonden Schnurrbart, der heftig schimpfte und dazu zornige Grimassen schnitt. Vor ihm stand in einer ganz kurzen Bluse und noch kürzeren Hose ein hochgewachsener Gefangener von magerer Gestalt und glattrasiertem Kopf, der in den Armen ein kleines Mädchen hielt, das in ein dünnes Tüchelchen gewickelt war und heftig weinte.

»Ich werde dich lehren, auch noch Redensarten zu machen,« brüllte der Offizier, »bringt mal Handschellen her!«

Der Offizier hatte befohlen, man solle dem Gefangenen, der das kleine Mädchen den ganzen Weg über auf den Armen trug, Handfesseln anlegen. (Dieses Kind hatte ihm seine Frau, die in Tomsk am Typhus verstorben war, hinterlassen.) Der Sträfling hatte erklärt, er könne das Kind mit Fesseln an den Händen nicht tragen, und diese Bemerkung hatte den Offizier, der überdies schon übel gelaunt war, in die höchste Wut versetzt. Dem Gefangenen gegenüber standen ein Soldat und ein anderer Gefangener von kräftiger Gestalt mit schwarzem Vollbart, der Fesseln an der Hand trug und den Offizier mit düsterer Miene von unten herauf anstarrte, denn er nahm an, er solle mit dem Vater des kleinen Mädchens zusammengekoppelt werden.

Der Offizier erteilte dem Soldaten noch einmal den Befehl, das Mädchen fortzureißen, und das dumpfe Murren unter den Gefangenen wurde jeden Augenblick stärker.

»Er hat ja schon seit Tomsk keine Handschellen mehr getragen,« ließ sich eine feine Stimme aus den hinteren Reihen vernehmen.

»Wo soll er denn mit dem Mädel hin?«

»Das ist gegen das Gesetz,« rief ein Dritter.

»Was wollt ihr?« brüllte der Offizier und stürzte in heftiger Wut auf die Menge los. »Ich werde euch gleich beibringen, was gesetzlich ist, und was nicht. Wer hat das gesagt, du oder du?«

»Alle haben es gesagt, denn …« entgegnete ein Gefangener mit vierschrötiger Gestalt und dickem Gesicht.

»Was, empören wollt ihr euch?« schrie der Offizier, »reißt das Mädel fort; ich werde euch lehren.«

In der Menge wurde es still. Ein Soldat führte das verzweifelt weinende Kind fort, während ein anderer dem Gefangenen, der jetzt ganz still seine Hand hinhielt, die Handfesseln anlegte.

»Bringt das Balg zu den Weibern hinüber,« rief der Offizier den Soldaten zu und schob sein Portepee am Säbel wieder zurecht.

Das kleine Mädchen bemühte sich indessen, seine Hände aus dem Tuch zu befreien und schrie fortwährend mit blutrotem Gesicht.

Marie Pawlowna trat aus der Schar hervor und wandte sich den Soldaten zu.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Leutnant, so werde ich das Kind tragen.«

Der Soldat, der das Mädchen bei der Hand hielt, blieb stehen, während der Offizier in mürrischem Tone fragte:

»Wer bist du denn?«

»Eine politische Gefangene, Herr!«

Das schöne Gesicht von Marie Pawlowna und ihre großen, stark hervortretenden Augen, die er schon bemerkt hatte, als er das Kommando übernommen, machten auf den Offizier einen tiefen Eindruck. Er sah sie längere Zeit, ohne etwas zu erwidern, an, schien sich die Sache zu überlegen und erklärte dann:

»Nehmen Sie sie meinetwegen, wenn Sie wollen. Es ist ja ganz recht, daß sie Ihnen leid thut, aber wer bürgt mir dafür, daß er nicht ausrückt?«

»Wie sollte er denn mit dem Kinde ausrücken?« entgegnete Marie Pawlowna.

»Ach was, ich habe mich mit Ihnen nicht zu unterhalten; wenn Sie wollen, können Sie sie nehmen.«

»Soll ich sie übergeben?« fragte der Soldat seinen Vorgesetzten.

»Ja, ja, gieb sie nur!«

»Komm‘ zu mir her,« sagte Maria Pawlowna und versuchte nun, die Kleine zu sich herüberzuziehen.

Doch die Kleine brüllte fortwährend weiter, versuchte, als der Soldat sie losgelassen, wieder zu ihrem Vater zurückzulaufen, und wollte nicht zu Marie Pawlowna gehen.

»Warten Sie, Marie Pawlowna,« sagte Katuscha, und holte eine Bretzel aus ihrem Reisesack hervor.

Das Kind kannte Katuscha, und als es ihr Gesicht und das Gebäck bemerkte, beruhigte es sich zusehends.

Alles wurde wieder still. Das große Thor wurde aufgerissen, der Zug der Gefangenen wanderte hinaus, und nahm Aufstellung, während die Soldaten die Trennung der Sträflinge wieder vornahmen, das Gepäck auf die Wagen packten, es dort festbanden und den Schwächlichen und Kranken die Erlaubnis zum Einsteigen erteilten.

Katuscha, die das kleine Mädchen auf dem Arm trug, ging zu den Frauen zurück und nahm neben Fedossja Aufstellung. Simonson aber, der die ganze Zeit über den Vorgang, ohne ein Wort zu sagen, angesehen hatte, trat jetzt mit festem, entschiedenem Schritt auf den Offizier zu, der alle seine Befehle erteilt und seine Anordnungen getroffen hatte und sich ebenfalls in seinen Wagen setzen wollte.

»Was Sie da gethan haben, war schlecht, Herr Leutnant,« sagte Simonson.

»Begeben Sie sich an Ihren Platz, das geht Sie gar nichts an,« versetzte der Offizier.

»Doch geht es mich etwas an, und es ist meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie unrecht gehandelt haben,« versetzte Simonson und warf dem Offizier aus seinen dunklen Augen einen durchbohrenden Blick zu.

»Fertig, vorwärts marsch!« schrie der Offizier, ohne Simonson weiter die geringste Beachtung zu schenken; dann stützte er sich auf die Schulter des Soldaten, der bei ihm Kutscherdienste versah, und stieg in den Wagen.

Wieder setzte sich der Zug der Gefangenen in Bewegung und wanderte hinaus in die ausgetretene, mit Kot bedeckte und durch einen dichten Wald führende Landstraße, neben der sich auf beiden Seiten tiefe Gräben hinzogen.

Zehntes Kapitel

Der Ofen brannte schließlich, das Zimmer war warm geworden, der Thee war in die Gläser und Tassen eingegossen, und man hatte alle Leckerbissen des Abendbrotes neben dem Thee ausgebreitet: Weißbrot und Roggenbrot, harte Eier, Butter, Kalbskopf und Kalbsfüße. Alle hatten sich dem Lager genähert, und man aß und trank und plauderte. Die Rantzeff, die auf einem Koffer saß, verrichtete ihr Amt als Hausfrau; nur Krülzoff hatte sich der Gruppe nicht angeschlossen; er hatte seinen nassen Pelz ausgezogen, um sich in ein Plaid zu wickeln, das man eben für ihn getrocknet. Und nun plauderte er, auf seinem Lager ausgestreckt, freundschaftlich mit Nechludoff.

Nach der Kälte und Feuchtigkeit des Weges, nach den Schmutz und der Unordnung, die man zuerst im Rastgebäude vorgefunden, nach der Mühe, die man sich gegeben, um dieses Abendessen zu bereiten, versetzten diese Mahlzeit, der warme Thee und die schöne Wärme des Zimmers alle Verurteilten in eine fröhliche und wohlwollende Stimmung.

Das Geschrei, die groben Schimpfworte, der Lärm der gemeinen Kriminalverbrecher, die sie auf der andern Seite der Mauer hörten, bestärkte in ihnen noch infolge des Kontrastes diese angenehme Empfindung des Wohlbehagens und der Behaglichkeit. Sie hatten das Gefühl, als wären sie allein mitten auf dem Ocean auf einer Insel; und dieses Gefühl entzückte sie und versetzte sie in eine Art geistigen Rausch, in welchem sie das Gräßliche ihrer Lage vollständig vergaßen, um sich ungehindert ihren Träumen zu überlassen.

Und dann hatten sich auch, wie es immer bei jungen Männern und Frauen der Fall ist, besonders wenn sie gezwungen sind, zusammen zu leben, allerlei sentimentale, bewußte oder unbewußte, offene oder versteckte Liaisons herausgebildet. Alle oder doch wenigstens fast alle waren verliebt. Nowodworoff war in die hübsche und lächelnde Grabetz verliebt. Das war eine junge Studentin von recht sorglosem Charakter, die den revolutionären Problemen vollständig gleichgültig gegenüberstand. Doch sie hatte dem Einflusse ihrer Zeit nachgegeben, sich bei einem Komplott kompromittiert und war daraufhin zur Verschickung verurteilt worden. Ebenso wie es auf der Universität ihre Hauptbeschäftigung gewesen war, sich von den Studenten den Hof machen zu lassen, ebenso hatte sie sich seit ihrer Einkerkerung mit nichts anderm beschäftigt. Jetzt war sie vollständig glücklich, weil Nowodworoff sich in sie verliebt hatte, und sie selbst ihn wieder liebte.

Wera Efremowna Bogoduschoffska, die sehr sentimental war, hatte sich ihr ganzes Leben in hoffnungsloser Liebe verzehrt und seufzte jetzt im geheimen bald für Nowodworoff, bald für Nabatoff. Auch Krülzoff empfand etwas wie Liebe Maria Pawlowna gegenüber, oder richtiger gesagt, er liebte sie ganz aufrichtig, wie die Männer die Frauen lieben; da er aber ihre Ansichten über die Liebe kannte, so verbarg er sein Gefühl unter der Außenseite der Freundschaft und Dankbarkeit.

Auch Nabatoff war verliebt; eine eigentümliche Liaison hatte sich zwischen ihm und Emilia Ranzeff herausgebildet, eine übrigens recht unschuldige Liaison; denn ebenso wie Maria Pawlowna von ganzer Seele ein echtes junges Mädchen war, ebenso war die Rantzeff der Typus der Frau, der vollkommenen Gattin.

Zu sechzehn Jahren, noch in der Pension, hatte sie sich in Rantzeff verliebt, der damals Student an der Universität Petersburg war, und sich drei Jahre später mit ihm verheiratet. Dann war Rantzeff, weil er an Unruhen auf der Universität teilgenommen, verschickt worden; sie hatte ihre medizinischen Studien unterbrochen, um ihm zu folgen, und da er Revolutionär geworden war, so war sie es sofort auch geworden. Wäre ihr Mann nicht in ihren Augen der schönste, intelligenteste und beste aller Männer gewesen, so hätte sie ihn nicht geliebt und sich auch nicht mit ihm verheiratet. Doch da sie ihn geliebt und sich mit ihm verheiratet hatte, so hätte sie es für ungeheuerlich gehalten, das Leben anders aufzufassen, als er. Zuerst hatte sie das Leben so aufgefaßt, daß man alles dem Studium opfern müsse; darum hatte sie das Studium auch als ideale Beschäftigung betrachtet und angefangen, Medizin zu studieren. Dann war ihr Mann Revolutionär geworden, und sie war auch Revolutionärin geworden. Sie hatte es ebenso gut wie jeder ihrer Gefährten verstanden, zu erklären, wie ungerecht das augenblickliche sociale System wäre, und wie jedermann die Pflicht hätte, dagegen anzukämpfen, um es durch ein neues System zu ersetzen, in welchem die menschliche Persönlichkeit sich frei entwickeln könnte, und so weiter und so weiter. Sie glaubte von ganzem Herzen, daß das ihre eigenen Gefühle und Gedanken waren; aber in Wirklichkeit glaubte sie, nur das, was ihr Mann denke, wäre die Wahrheit; und ihr einziger Traum und ihr einziges Vergnügen war es, sich vollständig mit der Seele ihres Mannes zu vereinigen.

Infolge neuer Unruhen, an denen sie teilgenommen, hatte man sie von ihrem Manne und ihrem Kinde getrennt; und diese Trennung war ihr sehr schmerzlich gewesen. Doch sie ertrug sie mit Festigkeit, denn sie wußte, daß sie sie für ihren Mann und das Werk ertrug, das gewiß aller ihrer Opfer würdig war, da sich ja auch ihr Mann dafür opferte. Ihre Gedanken weilten stets bei ihrem Manne, und ebenso wie sie niemand vor ihm geliebt, so konnte sie auch von nun an niemand anders als ihn lieben. Doch die reine und aufrichtige Zuneigung Nabatoffs rührte sie und that ihr wohl. Er, ein durch und durch moralischer Mensch, der gewöhnt war, seine Wünsche zu besiegen, bemühte sich, Emilja wie eine Schwester zu behandeln; und doch zeigte sich in seinen Beziehungen zu ihr auf Augenblicke ein Gefühl, das mehr bedeutete, als die Zuneigung eines Bruders zur Schwester. Dieses Etwas beunruhigte sie, bereitete ihnen aber im geheimen Vergnügen.

So war ein jeder in der Gruppe verliebt, bis auf Marie Pawlowna und den Arbeiter Markel.

Elftes Kapitel

Nechludoff wartete auf den Augenblick, wo er nach dem Abendessen sich allein mit Katuscha unterhalten konnte, wie er das immer that, wenn er den Abend im Rastgebäude zubrachte. Jetzt saß er neben Krülzoff und unterhielt sich mit ihm.

Er erzählte ihm unter andern, wie ihn der Sträfling Makar angesprochen, und alles, was er von der Geschichte dieses Unglücklichen wußte. Krülzoff hörte ihm aufmerksam zu und sah ihn starr mit seinen großen, glänzenden Augen an.

»Ja, so ist’s,« sagte er plötzlich, »ich denke oft daran, wie seltsam doch eigentlich unsere Lage ist. Wir reisen mit diesen Leuten nach Sibirien; was sage ich, eben wegen dieser Leute gehen wir dahin, und doch kennen wir sie nicht nur nicht, nein, wir machen auch nicht einmal den Versuch, sie kennen zu lernen. Sie aber verabscheuen uns obendrein und betrachten uns als ihre Feinde. Ist das nicht entsetzlich?«

»Daran ist nichts Entsetzliches,« erklärte Nowodworoff, der an Krülzoffs Bett herangetreten war. »Die Massen sind stets grob und ungebildet und haben nur vor der Macht Respekt,« fuhr er mit seiner klangvollen Stimme fort. »Die Macht aber hat heute die Regierung in Händen; darum respektieren diese Leute die Regierung und verabscheuen uns. Wenn wir morgen die Macht ergreifen, so werden sie uns respektieren.«

In demselben Augenblicke hörte man in dem Nebensaal, wie gegen die Wand geschlagen wurde, man vernahm Kettengerassel, Geschrei und Geheul. Man schlug jemand, der um Hilfe schrie.

»Hören Sie diese wilden Bestien? Welche Beziehung soll wohl zwischen ihnen und uns existieren?« fragte Nowodworoff in ruhigem Tone.

»Wilde Bestien, sagst du? – Höre nur, was mir Nechludoff eben von einem dieser Menschen erzählt hat.«

Und nun wiederholte Krülzoff in erregtem Tone die Worte Nechludoffs und berichtete, wie der Sträfling Makar sein Leben aufs Spiel gesetzt, um einen seiner Gefährten zu retten.

»Ist das das Werk einer wilden Bestie?« fragte er.

»Sentimentalität!« entgegnete Nowodworoff mit seinem ironischen Lächeln. – »Als wenn wir die Gedanken dieser Leute und die Motive ihrer Handlungen begreifen könnten! Was du für Heroismus hältst, ist vielleicht ganz einfach Haß gegen einen andern Sträfling.«

»Und du, du willst nie etwas Gutes bei andern sehen,« rief Marie Pawlowna, die alle ihre Gefährten duzte.

»Warum sollte ich denn etwas sehen, was nicht vorhanden ist?«

»Wie kann man einem Menschen die Bewunderung versagen, der sich, freiwillig einem gräßlichen Tode aussetzt?«

»Ich bin der Meinung,« erklärte Nowodworoff in trockenem Tone, »wenn wir unser Werk vollbringen wollen, so muß die erste Bedingung die sein, daß wir nicht träumen und die Dinge stets so ansehen, wie sie sind.«

Markel schloß das Buch, das er bei der Lampe las, trat ebenfalls näher und hörte eifrig alle Worte des Mannes mit an, den er sich zum Meister und Vorbild genommen hatte. Nowodworoff aber fuhr in feierlichem und entschlossenem Tone, als wenn er einen Vortrag hielte, fort: »Unsere Pflicht besteht darin, alles für das Volk zu thun, aber nichts von ihm zu erwarten. Das Volk muß der Gegenstand unserer Bemühungen sein, doch es darf nicht mit uns mitarbeiten, wenigstens nicht solange es in seinem augenblicklichen Zustande des Stumpfsinnes verharrt. Nichts wäre illusorischer, als vom Volke die geringste Mitwirkung zu erhoffen, bis zu dem Tage, da sich seine geistige Entwicklung vollziehen wird, die Entwicklung, zu der wir es vorbereiten.«

»Was für eine Entwicklung?« fragte Krülzoff, sich von seinem Lager erhebend. »Wir behaupten immer, wir kämpfen gegen den Despotismus; doch ist eine solche Handlungsweise nicht ein ebenso empörender Despotismus wie der, den wir vernichten wollen?«

»Wo siehst du denn da Despotismus?« versetzte Nowodworoff mit derselben Ruhe. »Ich, sage nur, daß ich den Weg kenne, den das Volk zu seiner Entwicklung verfolgen muß, und daß ich ihm diesen Weg zeigen kann.«

»Aber wer erlaubt dir denn zu behaupten, daß dieser Weg, den du ihm zeigst, der gute ist? Hat man nicht im Namen derselben Prinzipien die Inquisition eingeführt? Hat nicht im Namen derselben Prinzipien die französische Revolution ihre Verbrechen begangen? Auch sie glaubte, in der Wissenschaft den einzigen Weg gefunden zu haben, dem man folgen mußte.«

»Die Thatsache, daß andere sich getäuscht, beweist noch nicht, daß ich mich auch täuschen muß. Und dann darf man auch keine Analogie aufstellen zwischen den Albernheiten der Ideologen und den positiven Grundlagen der volkswirtschaftlichen Wissenschaft.«

Die starke Stimme Nowodworoffs durchdrang den ganzen Saal. Niemand wagte, ihn zu unterbrechen.

»Weshalb zankt ihr euch immer?« sagte Marie Pawlowna, als er ausgesprochen hatte.

»Und wie ist Ihre Ansicht darüber?« fragte Nechludoff das junge Mädchen.

»Ich bin der Ansicht, Anatole hat recht, und wir haben nicht die Berechtigung, unsere Ideen dem Volk aufzudrängen.«

»Das ist eine merkwürdige Art und Weise, unsere Rolle aufzufassen,« sagte Nowodworoff, zündete sich eine Cigarette an und entfernte sich mit ärgerlicher Miene.

»Es geht über meine Kräfte, ich kann nicht mit ihm sprechen, ohne außer mir zu geraten,« flüsterte Krülzoff Nechludoff ins Ohr, und Nechludoff konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß auch er dasselbe Gefühl empfand.

Zwölftes Kapitel

Trotz der Hochachtung, die alle seine Gefährten für Nowodworoff hegten, trotz seines Wissens und der hohen Meinung, die er von sich selbst hatte, betrachtete Nechludoff gerade ihn als den Typus jener Revolutionäre, die, weil sie naturgemäß unter dem Durchschnittsniveau stehen, in dem Milieu, in dem sie sich befanden, nur Unheil anrichten konnten. Er erkannte an, daß Nowodworoff vom geistigen Standpunkte aus besser begabt war, als der Durchschnitt der Revolutionäre; doch er fühlte, daß seine Eitelkeit und seine Selbstsucht, die sich unter der Einwirkung seiner Lebensverhältnisse hochgradig entwickelt, seine Intelligenz seit langer Zeit lahm gelegt hatten.

Die ganze revolutionäre Thätigkeit Nowodworoffs erschien Nechludoff, obwohl er sie stets mit beredten Worten zu rechtfertigen wußte und ihnen die wunderbarsten Motive verlieh, einzig und allein als der Ausfluß des Ehrgeizes, der nur auf dem Wunsche, zu herrschen und sich eine Machtstellung zu verschaffen, beruhte. Da er eine außerordentliche Fähigkeit besaß, sich die Gedanken anderer anzueignen und sie klar zum Ausdruck zu bringen, so hatte sich Nowodworoff zuerst in den Kreisen, in denen diese Fähigkeit ganz besonders geschätzt wird, mühelos die Bewunderung aller erworben. Auf dem Gymnasium, dann auf der Universität hatten seine Lehrer und seine Mitschüler seiner Ueberlegenheit Achtung gezollt, und er hatte sich vollständig befriedigt gefühlt. Doch als diese Situation nach Beendigung seiner Studien ein Ende genommen hatte, hatte er sich nicht entschließen können, darauf zu verzichten, und um von neuem wieder in einer andern Sphäre zu herrschen, hatte er plötzlich seine Meinung geändert; aus dem liberalen Progressisten, der er bis dahin gewesen, war ein leidenschaftlicher Revolutionär geworden.

Der vollkommene Mangel der ästhetischen und moralischen Eigenschaften, die Zweifel und Schwanken hervorbringen, hatte ihm sehr schnell in der revolutionären Partei die Führerrolle verschafft, nach der er sich vor allen Dingen sehnte. Sobald er einen Entschluß gefaßt, zögerte und zweifelte er nie, und wußte infolgedessen stets genau, daß er sich nicht täuschte. Alles erschien ihm einfach, klar und unbestreitbar, und bei seinen engen Anschauungen waren auch alle seine Gedanken einfach und klar, denn, wie er oft erklärte, brauche man nur logisch zu sein, um das Wahre vom Falschen unfehlbar zu trennen.

Sein Selbstvertrauen war so groß, daß niemand sich ihm nähern konnte, ohne sich ihm zu unterwerfen oder auf das heftigste zu opponieren. Da er hauptsächlich mit jungen Leuten zu thun hatte, die sein Selbstvertrauen für Gedankentiefe hielten, so hatte sich die Mehrzahl seiner Gefährten ihm unterworfen, so daß er bald in den revolutionären Kreisen eine ungeheure Popularität erlangt hatte.

Er predigte, wie dringend notwendig es wäre, mit Aufbietung aller Mittel eine Revolution vorzubereiten, die ihm die Möglichkeit eröffnete, sich der Macht zu bemächtigen und eine konstituierende Versammlung einzuberufen. Das Programm der Reformen, das er dieser Versammlung diktieren wollte, hatte er bereits entworfen, und er war vollkommen überzeugt, dieses Programm würde endgültig alle Fragen lösen, und nichts könne sich ihrer Verwirklichung entgegenstellen.

Seine Gefährten fürchteten ihn, schätzten seine Kühnheit und Entschlossenheit, liebten ihn aber nicht. Auch er liebte niemand. Jeder Mensch, der einen persönlichen Vorzug besaß, erschien ihm als ein Nebenbuhler, und gern hätte er, wenn er es vermocht, den andern Menschen alle ihre Vorzüge genommen, einzig und allein, damit sie die öffentliche Aufmerksamkeit nicht von seinem Verdienst ablenken konnten. Gefällig war er nur gegen diejenigen, die sich vor ihm neigten. So hatte er sich auf dem Marsche nur mit dem Arbeiter Market befreundet, der blindlings alle seine Ideen angenommen hatte, und mit zwei Frauen, die er in sich verliebt glaubte, Wera Efremowna und die hübsche Grabetz.

Im Prinzip war Nowodworoff Anhänger der Frauenemancipation; doch hauptsächlich betrachtete er alle Frauen als dumme, lächerliche Geschöpfe, mit Ausnahme derjenigen, in die er verliebt war, und die er dann für außergewöhnliche Wesen hielt, deren Vollkommenheit er allein zu schätzen verstanden hatte. Er hatte so nach und nach eine große Anzahl von Frauen geliebt, und zweimal sogar in wilder Ehe gelebt; doch beide Male hatte er seine Maitressen verlassen, nachdem er bemerkt, daß das, was er für sie empfand, nicht die wahre Liebe war. Jetzt hatte er die Absicht, mit der Grabetz eine neue Verbindung einzugehen. Er verachtete Nechludoff, weil dieser, wie er sich ausdrückte, mit der Maslow »Umstände machte«; in Wirklichkeit aber haßte und verachtete er ihn, weil Nechludoff seine Ideen, hinsichtlich der Mittel, den Fehlern der Gesellschaft abzuhelfen, nicht nur nicht teilte, sondern in diesem Punkte eine eigene Anschauung hatte und die sozialen Fragen als »Fürst«, das heißt als Dummkopf, behandelte.

Nechludoff war sich über die Gefühle Nowodworoffs ihm gegenüber vollständig klar, und zu seinem großen Kummer fühlte er, daß trotz der wohlwollenden Stimmung, in der er sich im Augenblick befand, nichts auf der Welt ihn hindern konnte, diesem Manne gegenüber ein Gemisch von Verachtung und Widerwillen zu empfinden.

Dreizehntes Kapitel

Man hatte abgespeist und den Thee getrunken. Nechludoff wollte eben mit der Maslow ein Gespräch beginnen, als er im Nebensaal die Stimme des Oberaufsehers vernahm. Dann trat im Saale und im Korridor ein tiefes Schweigen ein. Die Thür öffnete sich, und der Oberaufseher erschien mit zwei Wärtern, um den Abendappell vorzunehmen. Er zählte alle politischen Verurteilten, einen nach dem andern, und las ihren Namen von einer Liste ab, während einer der Aufseher sie mit dem Finger berührte.

Als der Appell beendet war, wandte sich der Oberaufseher zu Nechludoff und sagte zu ihm mit einem Gemisch von Vertraulichkeit und Respekt:

»Jetzt, Fürst, müssen Sie gehen. Man hat nicht das Recht, nach Thorschluß hier zu bleiben.«

Doch Nechludoff, welcher wußte, was diese Worte bedeuteten, näherte sich dem alten Manne und steckte ihm einen Dreirubelschein in die Hand, den er schon bereit gehalten hatte.

»Na, zwingen kann ich Sie ja nicht, bleiben Sie noch einen Augenblick,«

Der Oberaufseher wollte hinausgehen, als ein anderer Wärter in Begleitung eines großen, mageren Gefangenen, der einen großen, blauen Fleck am Auge hatte, in den Saal trat.

»Ich komme, die Kleine zu holen,« sagte der Gefangene.

»Ach, da ist ja Väterchen,« rief eine leise Kinderstimme, und ein kleiner Blondkopf erschien hinter der von der Rantzeff, Marie Pawlowna und Katuscha gebildeten Gruppe, die alle drei aus dem Rocke der Rantzeff ein neues Kleid für das kleine Mädchen nähten.

»Komm, Kleine, leg‘ dich schlafen,« sagte der Sträfling in sanftem Tone.

»Sie befindet sich hier sehr wohl,« versetzte Marie Pawlowna und betrachtete mitleidig das zerschlagene Gesicht des armen Mannes. »Lassen Sie sie uns da.«

»Die Dame macht mir ein neues Kleid, ein schönes rotes Kleid, Väterchen,« sagte das Kind und zeigte ihrem Vater die Arbeit der Emilia Rantzeff.

»Willst du bei uns schlafen?« fragte diese, indem sie sie streichelte.

»Ja, ich will wohl, aber Papa soll auch bei mir schlafen.«

Die Rantzeff lächelte, über ihr Gesicht huschte jenes Lächeln, das sie so schön machte.

»Dein Vater muß in dem andern Saal schlafen. Aber er wird uns doch erlauben, dich bei uns zu behalten, nicht wahr?« sagte sie, sich nach dem Vater umwendend.

»Machen Sie das, wie Sie wollen,« erklärte der Oberaufseher und ging mit den drei Wärtern hinaus.

Kaum hatten die Aufseher den Saal verlassen, als Nabatoff sich dem Vater des kleinen Mädchens näherte und zu ihm sagte, indem er ihm seine starke Hand auf die Schulter legte:

»Sag‘ mal, Bruder, ist es wahr, daß Karmanoff mit einem Verschickten den Namen wechseln will?«

Das ruhige Gesicht des Sträflings nahm plötzlich einen düstern Ausdruck an, und seine Augen senkten sich.

»Wir haben nichts davon gehört, Gott weiß, was für Lügen man erfindet,« erwiderte er und fuhr dann, ohne die Augen zu erheben, fort:

»Nun, Anjutka, bleibe nur vergnügt weiter bei den schönen Damen,« fügte er hinzu und ging hastig hinaus.

»Er weiß alles; was dieser Makar gesagt hat, ist sicherlich wahr,« sagte Nabatoff, sich an Nechludoff wendend.

Dann schwiegen alle, denn sie fürchteten, den Zank von neuem losbrechen zu sehen. Simonson, der den ganzen Abend über nichts gesagt, und auf seinem Lager liegen geblieben war, erhob sich plötzlich mit entschlossener Bewegung. Er bahnte sich einen Weg durch die Gruppen und näherte sich Nechludoff.

»Können Sie mir jetzt einen Augenblick Gehör schenken?«

»Aber gewiß,« versetzte Nechludoff und stand auf, um ihm zu folgen.

Als die Maslow sah, daß Nechludoff aufstand, errötete sie und wandte schnell den Kopf ab.

»Ich habe über folgendes mit Ihnen zu sprechen,« begann Simonson, nachdem er Nechludoff in das kleine Vorzimmer geführt. Dieses Vorzimmer dröhnte in diesem Augenblick ganz von dem schrecklichen Lärm wieder, den die Kriminalverbrecher im Nebenzimmer und auf dem Korridor vollführten. Nechludoff, der wie betäubt war, zog die Stirn kraus, doch Simonson hörte offenbar nichts.

»Da ich Ihre Beziehungen zu Katharina Maslow kenne,« so begann er, indem er seine gutmütigen, runden Augen gerade auf Nechludoffs Augen richtete, »so hielt ich mich verpflichtet …«

Doch als er diese Worte gesprochen, mußte er innehalten, weil in diesem Augenblicke zwei zankende Stimmen zu schreien anfingen:

»Man sagt dir doch, ich sei es nicht, du Schwein,« rief die eine.

»Gieb es mir zurück, du Dreckkerl!« schrie die andere.

Plötzlich zeigte sich Marie Pawlowna in dem Vorzimmer.

»Was hat denn das für einen Sinn, sich hier zu unterhalten?« sagte sie. »Kommen Sie lieber in unsere Stube, ich glaube, sie ist leer.«

Sie führte Simonson und Nechludoff in die zweite der beiden Stuben, ein kleines, viereckiges Gemach, in welchem die Frauen der Abteilung schliefen. Das Zimmer war aber doch nicht leer; denn die Bogoduschoffska befand sich darin; sie lag in ihrem Bett und wandte das Gesicht nach der Wand zu.

»Sie hat Kopfschmerz; sie schläft und wird euch nicht hören; ich gehe!« sagte Marie Pawlowna.

»Im Gegenteil, du würdest mir ein Vergnügen bereiten, wenn du bleibst,« sagte Simonson. »Ich habe vor niemandem Geheimnisse, namentlich aber nicht vor dir!«

»Gut, wie du willst,« sagte Maria Pawlowna, setzte sich mit ihren kindlich-anmutigen Bewegungen auf eines der Betten und schickte sich an, die Unterhaltung der beiden Männer anzuhören.

»Die Sache, von der ich mit Ihnen sprechen will, besteht in folgendem,« wiederholte Simonson. »Da ich Ihre Beziehungen zu Katharina Maslow kenne, so hielt ich mich für verpflichtet, Sie von meinen eigenen Beziehungen zu ihr in Kenntnis zu setzen.«

»Was heißt das?« fragte Nechludoff, von heftigem Schrecken ergriffen.

»Das heißt, ich möchte mich mit Katharina Michaelowna verheiraten …«

»Wirklich?« rief Maria Pawlowna, indem sie ihre schönen, blauen Augen auf Simonson richtete.

»Und ich habe mich entschlossen, sie zu fragen, ob sie mein Weib werden will,« fuhr Simonson fort.

»Was kann ich dazu thun? Das hängt nur von ihr ab,« erklärte Nechludoff trocken.

»Ja, aber ich weiß, daß sie mir nicht ohne Ihre Erlaubnis antworten wird.«

»Und warum?«

»Weil Katharina Michaelowna, so lange die Frage ihrer Beziehungen zu Ihnen nicht gelöst ist, keinen Entschluß fassen wird.«

»Was mich angeht,« versetzte Nechludoff, »so ist die Frage vollständig gelöst. Ich habe thun wollen, was ich für meine Pflicht hielt, und habe auch versucht, die Lage der Maslow so viel wie möglich zu lindern, doch um keinen Preis möchte ich mich ihr aufdrängen oder sie in ihren Entschlüssen beeinflussen.«

»Gewiß, aber sie will Ihr Opfer nicht.«

»Es handelt sich um kein Opfer.«

»Ich weiß, ihr Entschluß ist in diesem Punkte unerschütterlich!«

»Aber wozu unterhalten Sie sich dann mit mir?« fragte Nechludoff.

»Sie sollen mir das Zugeständnis machen, daß Sie sich nicht mehr mit ihr beschäftigen werden.«

»Wie kann ich Ihnen versprechen, daß ich das nicht mehr thun werde, was ich für meine Pflicht halte? Ich kann ihr nur das eine sagen: obwohl ich ihr gegenüber nicht frei bin, so ist sie doch mir gegenüber vollkommen frei!«

Simonson blieb einige Augenblicke nachdenklich sitzen, ohne ein Wort zu erwidern.

»Gut,« fuhr er fort, »ich werde ihr das sagen. Aber glauben Sie nicht etwa, daß ich in sie verliebt bin! Ich liebe sie, wie ich eine Schwester lieben würde, eine Freundin, die viel gelitten hat, und die ich trösten möchte. Ich verlange nichts von ihr, nichts; ich will ihr nur hilfreich zur Seite stehen, ihre Lage lindern …«

Trotz der Aufregung, die sich seiner selbst bemächtigt hatte, fühlte Nechludoff, wie Simonsons Stimme heftig zitterte.

»Ihre Lage lindern,« fuhr Simonson fort. »Sie will Ihre Hilfe nicht annehmen, aber vielleicht wäre sie geneigt, die meine anzunehmen. Wenn sie einwilligt, so werde ich ein Gesuch einreichen, in die Stadt verschickt zu werden, in der sie ihre Strafe abbüßt. Vier Jahre sind schnell vorüber! Ich werde bei ihr leben, und vielleicht wird es mir gelingen, ihr Leben weniger schwer zu gestalten …«

Von neuem hielt er inne, denn er war dem Weinen nahe.

»Was soll ich Ihnen sagen« versetzte Nechludoff, »Ich bin glücklich, daß sie einen Beschützer wie Sie gefunden hat …«

»Ach, das wollte ich nur wissen,« rief Simonson. »Ich wollte wissen, ob Sie, wenn Sie meine Gefühle für Katharina Michaelowna kennen, wenn Sie wissen, wie sehr ich ihr Wohl im Auge habe, eine Heirat mit mir als ein Glück für sie ansehen würden?«

»Ja, das würde ich,« versetzte Nechludoff in entschlossenem Tone.

»An sie allein denke ich! Ich wünsche nur, diese leidende Seele möge ein wenig Ruhe finden!« sagte Simonson, indem er Nechludoff mit einem so demütigen, so flehentlichen Blicke ansah, wie man ihn bei einem gewöhnlich so zurückhaltenden und düstern Manne nie erwartet hätte.

Dann näherte er sich Nechludoff plötzlich, ergriff seine Hand, lächelte ihm schüchtern zu und küßte ihn auf die Wangen.

»Ich werde ihr das alles sagen; ich werde ihr das alles sagen,« erklärte er und verließ das Zimmer.

Auferstehung – Band 4

Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündiget, vergeben? Ist es genug siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzig mal siebenmal.
(Ev. Matth. 18, 21–22)

Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?
(Ev. Matth. 7, 5)

Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.
(Ev. Johannis 8, 7)

Der Jünger ist nicht über seinen Meister; wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen
(Ev. Luc. 8, 40)