Kapitel 40

 

40

 

Eine Guillotine!

 

In der Mitte der Höhle erhob sich das hohe Rahmenwerk, steif und starr. Es war blutrot angestrichen, und die Einfachheit seiner Konstruktion machte es nur um so schrecklicher.

 

Mikes Augen wurden magnetisch von dieser fürchterlichen Maschine angezogen. Er sah den Korb, in den die Köpfe fielen, das breite dreieckige Messer oben in der Höhe, die bewegliche Plattform mit den herunterhängenden Fesseln, den schwarz angestrichenen Halsring, der das Opfer so lange in der richtigen Stellung hielt, bis das Messer niedersauste. Er kannte die schreckliche Maschine in all ihren Einzelheiten, er hatte sie in der grauen Morgendämmerung vor französischen Gefängnissen in Tätigkeit gesehen. Soldaten hielten die schaulustige Menge zurück, und eine kleine Gruppe von Beamten stand in der Mitte des leeren Platzes. Noch lag der Klang des fallenden Beiles in seinem Ohr.

 

»Die Witwe!« sagte Longvale in guter Laune.

 

»Hilfe, um Himmels willen, Hilfe! Brixan, ich will noch nicht sterben!« Penne rief es in Verzweiflung und Todesangst.

 

»Die Witwe!« sagte Longvale noch einmal leise.

 

Er stand ohne Hut da, auf seinem kahlen Kopf spiegelte sich das Licht der hellen Lampen, aber es war nichts Lächerliches in seiner Erscheinung.

 

Zärtlich fuhr er mit der Hand über das rote Holz der Maschine. »Wer soll ihr erster Bräutigam sein?«

 

»Ich nicht, ich nicht!« schrie Penne.

 

Longvale ging langsam zu ihm hin, beugte sich zu ihm herunter und stellte ihn wieder auf die Füße.

 

»Nur Mut«, sagte er leise, »die Stunde ist da.«

 

 

Jack Knebworth ging die Fahrstraße entlang und sah, wie das Polizeiauto in rasender Hast nach Chichester zurückkam.

 

»Er ist nicht dort – er ist nicht auf der Polizeistation gewesen«, sagte der Fahrer, als er aus dem Wagen sprang.

 

»Möglicherweise ist er zu Mr. Longvales Haus gegangen.«

 

»Ich habe Mr. Longvale gesprochen, er hat mir gerade gesagt, daß Mr. Brixan nach Chichester gegangen ist.«

 

Knebworth konnte sich das alles nicht zusammenreimen. Plötzlich blitzte ein Gedanke in ihm auf. Longvale! Es war schon immer etwas Besonderes mit ihm. War es möglich …? Er erinnerte sich jetzt, daß Longvale häufig den Wunsch geäußert hatte, in seiner Lieblingsrolle gefilmt zu werden, und zwar in einer Episode aus dem Leben seines großen Vorfahren. Er hatte ihm ja auch ein Manuskript darüber eingereicht.

 

»Wir müssen sofort zu ihm hin und ihn heraustrommeln.«

 

In schnellster Fahrt kamen sie vor dem Haus an. Aber niemand meldete sich auf ihr starkes Klopfen.

 

»Das ist sein Schlafzimmer«, sagte Knebworth und zeigte auf ein Fenster, das mit Eisengittern gesichert war. Man sah, daß innen Licht brannte. Inspektor Lyle warf einen Kieselstein mit solcher Heftigkeit, daß das Glas der Fensterscheibe splitterte. Trotzdem meldete sich niemand.

 

»Das ist doch unerhört!« sagte Knebworth.

 

»Versuchen Sie das Fenster zu öffnen!« befahl Lyle.

 

»Soll ich es aufstoßen?«

 

»Ja, sofort!«

 

Einen Augenblick später suchte man das Fenster mit aller Gewalt aufzubrechen, aber man stieß auf unerwarteten Widerstand, der nicht zu überwinden war.

 

»Die Fensterscheiben sind mit Stahlschienen armiert«, sagte der Detektiv. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich versuche, eins der Fenster im Obergeschoß zu öffnen.«

 

Mit Hilfe eines anderen kam er nach oben und machte einen Fensterflügel auf. Es war gerade das Fenster, durch das Helen damals Bhag gesehen hatte. Gleich darauf war er im Zimmer und half einem zweiten Beamten heraufzuklettern. Nach ein paar Minuten waren die Riegel der Tür zurückgeschoben und das Schloß geöffnet.

 

Sie fanden die kleine Petroleumlampe und entzündeten sie.

 

»Was ist das?« Inspektor Lyle zeigte auf den Haken und den Flaschenzug, der noch oben an dem Balken hing.

 

Jack Knebworth stieß einen Schrei aus. »Hier ist Brixans Pistole«, sagte er und hob die Waffe vom Boden auf.

 

»Öffnet alle Schubladen, jeden Schrank, klopft die Wände ab – vielleicht sind geheime Türen da. Dergleichen findet man in allen alten Häusern aus der Tudorzeit.«

 

Die Nachforschungen blieben ohne Erfolg. Inspektor Lyle kam wieder in das Zimmer zurück. Ein Polizist kam herein und meldete, daß er die Garage gefunden hätte. Es war ein ungewöhnlich langes Gebäude, und als man es öffnete, stand nur das alte Auto darin, das weit und breit in der ganzen Gegend bekannt war. Aber offensichtlich war dies nur die Hälfte des Schuppens. Hinter der weißgetünchten Wand, wo das Auto stand, mußte noch ein anderer Raum liegen. Man konnte aber keine Tür sehen. Als man das Äußere des Schuppens besichtigte, fand man eine massive Ziegelwand bis zum Ende der Garage.

 

Knebworth klopfte an die innere Wand.

 

»Das ist ja Holz«, rief er.

 

In einer Ecke hing eine Kette, die scheinbar keinen besonderen Zweck hatte. Aber als man genauer untersuchte, entdeckte man, daß sie durch ein Loch der rohverputzten Decke hindurchging. Der Inspektor zog daran, und die Wand öffnete sich nach hinten. Dort stand noch ein zweiter Wagen. Er war so aufgestellt, daß man nur den Kühler sehen konnte. Knebworth riß die Decke herunter.

 

»Das ist ja das Auto!«

 

»Was für ein Auto?« fragte der Inspektor.

 

»Das ist der Wagen, in dem der Kopfjäger immer fuhr«, sagte Knebworth schnell. »Er saß auch darin, als Brixan ihn verhaften wollte. Den würde er immer wieder erkennen. Brixan befindet sich irgendwo hier in Dower House, und wenn er in die Hände des Kopfjägers gefallen ist, dann gnade ihm Gott!«

 

Wieder eilten sie in das Haus und versuchten sich den Flaschenzug zu erklären. Plötzlich bückte sich der Inspektor und zog den Teppich zurück. Die Falltür wurde sichtbar. Einer der Polizisten riß sie auf. Lyle kniete nieder und schaute durch. Knebworth sah sein verstörtes Aussehen.

 

»Zu spät, zu spät!« murmelte er.

 

Kapitel 41

 

41

 

Der Wahnsinnsschrei eines Mannes in Todesfurcht klingt furchtbar. Mikes Nerven waren zäh, aber er mußte seine letzte Kraft zusammennehmen, um seine Selbstbeherrschung diesmal zu bewahren. Seine gefesselten Hände krampften sich zusammen.

 

»Ich warne Sie«, sagte er.

 

Der alte Mann drehte sich lächelnd nach seinem zweiten Gefangenen um, aber er antwortete nicht. Er hob den halb bewußtlosen Gregory so leicht auf, als ob er ein Kind wäre, und trug ihn zu der schrecklichen Maschine, wo er ihn mit dem Gesicht nach unten auf die bewegliche Plattform legte. Er beeilte sich keineswegs, Mike sah, daß er sich Zeit ließ. Diese Beschäftigung schien ihm ein unbeschreibliches Vergnügen zu verursachen. Dann trat er vor die Maschine und öffnete die Lunette. Man hörte, wie ein Haken einschnappte. Sie blieb geöffnet stehen.

 

»Das ist meine Erfindung«, sagte er.

 

Mike schaute einen Augenblick an dem schrecklichen Henker vorbei nach dem hinteren Ende der Höhle. Er sah dort eine Erscheinung, die ihm das Blut in die Wangen trieb. Zuerst glaubte er, daß er träume und die unglaubliche Nervenanspannung Halluzinationen bei ihm auslöse.

 

Helen!

 

Sie stand dort in dem grellen Licht und war so mit Erde bedeckt, daß es schien, als trüge sie ein graues Kleid.

 

»Wenn Sie sich bewegen, schieße ich!« rief das Mädchen.

 

Mike hob sich auf seine Knie, und es gelang ihm, sich schwankend aufzurichten. Longvale hörte die Stimme.

 

»Mein verehrtes Fräulein«, sagte er äußerst liebenswürdig, »welch ein Wink des Schicksals!

 

Langsam ging er auf sie zu, ohne auf die ausgestreckte Pistole zu achten.

 

»Schießen Sie!« rief Mike mit heiserer Stimme. »Um Himmels willen, schießen Sie!«

 

Sie zögerte eine Sekunde, dann drückte sie ab. Aber der Schuß ging nicht los. Mit Erde verklebt, funktionierte der feine Mechanismus nicht mehr.

 

Sie wandte sich zur Flucht, aber Longvales Arm umschlang sie schon, und mit der Hand zog er ihren Kopf an seine Brust.

 

»Meine Schöne«, sagte er, »nun wird die Witwe zum Witwer, und Sie werden seine erste Braut!«

 

Sie war völlig gelähmt und konnte keinen Widerstand mehr leisten. Eine ihr ganz unbekannte Schlaffheit überkam sie; obgleich sie bei vollem Bewußtsein war, konnte sie sich nicht nach eigenem Willen bewegen oder sprechen. Mike versuchte wie wahnsinnig, seine Hände zu befreien. Er wünschte, daß sie ohnmächtig werden würde, damit ihr der Anblick des Schrecklichen, das jetzt geschehen würde, erspart bliebe.

 

»Wer kommt nun zuerst dran?« murmelte der alte Mann. Er fuhr mit der Hand über den kahlen Kopf. »Es wäre das beste, wenn Mylady den Anfang machte und voranginge, damit ihr die Todesschrecken erspart blieben – und trotzdem…«

 

»Nein, Sie sollen die erste sein«, sagte er zu Helen, schnallte den halb bewußtlosen Gregory los und legte ihn auf den Boden.

 

Mike sah, wie Longvale den Kopf hob und horchte. Es kamen dumpfe Töne von oben, als ob Leute im Haus wären. Wieder änderte er seine Absicht, beugte sich nieder und stellte Gregory Penne auf die Füße. Mike überlegte sich, warum er ihn so lange hielt, so starr aufgerichtet dastand und ihn dann plötzlich zu Boden warf. Aber dann wunderte er sich nicht länger. Eine Gestalt kam über den Boden der Höhle, ein großer haariger Körper erschien, dessen wütende Augen auf den alten Mann gerichtet waren.

 

Es war Bhag! Sein zottiges Fell war mit Blut verklebt, sein Gesicht staubbedeckt. Genauso hatte ihn Mike damals aus dem Turm kommen sehen. Er hielt inne, beschnüffelte den stöhnenden Mann auf dem Boden und streichelte ihn mit seiner dicken Tatze zärtlich. Plötzlich sprang er ohne irgendeine Vorbereitung auf Longvale zu und streckte den alten Mann mit einem Schlag zu Boden. Er versuchte vergeblich, sich gegen das Tier zu wehren. Einen Augenblick stand Bhag über ihm, sah auf ihn hinab und bewegte seinen Mund, als ob er zu ihm sprechen wollte. Dann packte er ihn und legte ihn auf das bewegliche Brett. Er neigte die Plattform und schob sie nach vorn.

 

Mike starrte entsetzt hin. Der riesige Affe hatte eine Hinrichtung gesehen! Er war ja in der Nacht aus der Höhle entkommen, in der Foß ermordet wurde. Sein halbmenschliches Gedächtnis hatte die Einzelheiten genau behalten. Mike konnte beobachten, wie Bhags Verstand arbeitete, um sich den Vorgang wieder zu vergegenwärtigen.

 

Bhag tastete an dem Holzgestell herum und berührte die Feder, die die Lunette festhielt. Mit einem Schlag fiel sie auf den Hals des Kopfjägers. In diesem Augenblick hörte Mike oben ein Geräusch. Er blickte hinauf und sah, wie die Falltür geöffnet wurde. Bhag hörte es auch, aber er war von seiner Beschäftigung so in Anspruch genommen, daß er sich nicht stören ließ. Longvale war wieder zum Bewußtsein gekommen und versuchte mit äußerster Anstrengung, seinen Kopf aus der Lunette zu befreien. Er begann verworren zu sprechen, aber plötzlich schien er das Tragische seines Schicksals zu begreifen. Er wehrte sich nicht mehr und lag ruhig da. Man sah, wie sich seine beiden Hände krampfhaft um den Rand der Plattform klammerten, auf der er lag.

 

Inspektor Lyle sah von oben, wie die Klinge blitzartig hinunterzuckte und hörte ein unbeschreibliches Knacken. Das war selbst für seine starken Nerven fast zuviel.

 

Von unten kam eine Stimme herauf: »Kommen Sie schnell herunter, Inspektor! Im Büfett finden Sie ein Tau, lassen Sie sich daran herunter, aber bringen Sie eine Pistole mit.«

 

Eine Minute später war der Detektiv unten.

 

»Von dem Affen droht keine Gefahr«, sagte Mike zu ihm.

 

Bhag hatte sich über seinen bewußtlosen Herrn gebeugt wie eine Mutter über ihr Kind.

 

»Bringen Sie zuerst Miss Leamington fort«, sagte Mike mit leiser Stimme, als der Detektiv ihm die Handfesseln löste. Das Mädchen lag stumm und bewußtlos neben der Guillotine. Glücklicherweise hatte sie nichts von der Tragödie gesehen, die sich soeben in ihrer Gegenwart abgespielt hatte. Ein zweiter Detektiv war an dem Tau heruntergerutscht. Der alte Jack Knebworth war der dritte, der in die Höhle hinabkletterte.

 

Mike ging zu dem Baron, nahm ihm die Handfesseln ab und legte ihn auf den Rücken. Ein Blick auf ihn sagte ihm genug. Sir Gregory war in einem verzweifelten, wenn auch nicht hoffnungslosen Zustand. Bhag merkte, daß Mike es nicht schlecht mit seinem Herrn meinte, und verhielt sich ruhig. Brixan erinnerte sich daran, wie er den großen Affen zum erstenmal kennengelernt hatte und wie er alle Befehle Gregorys ausführte.

 

»Hebe ihn auf«, sagte er zu Bhag und sprach in genau derselben Art wie damals Gregory.

 

Ohne Zögern beugte sich Bhag herab und nahm den bewußtlosen Mann vom Boden auf. Mike zeigte ihm den Weg zur Treppe und führte ihn die Stufen hinauf.

 

Das ganze Haus wimmelte von Polizisten, die erstaunt waren, als Bhag mit seiner Last erschien.

 

»Trage ihn die Treppe hinauf und lege ihn aufs Bett!« befahl Mike.

 

Knebworth hatte Helen schon in seinem Wagen nach Chichester gebracht. Er wollte nicht, daß sie in dem Haus des Schreckens wieder zum Bewußtsein kommen sollte.

 

Mike ging zusammen mit Inspektor Lyle noch einmal zur Höhle hinunter und durchsuchte sie kurz. Die menschlichen Körper ohne Kopf erinnerten an furchtbare Tragödien. Sie kamen auch in die große Höhle, deren Boden mit Knochen bedeckt war.

 

»Hier haben wir die Bestätigung der alten Legende«, sagte er mit heiserer Stimme. »Das sind die Knochen der Ritter und Krieger, die durch den Erdrutsch in der Höhle eingeschlossen wurden. Dort können Sie deutlich die Skelette der Pferde sehen.«

 

Wie aber kam Helen hierher? Etwas später fand er jedoch ihre Spuren, die ihm zeigten, daß sie in die Höhle hineingeglitten war.

 

»Dieses Rätsel wäre also auch gelöst«, sagte er. »Griff Tower ist von den Römern offensichtlich gebaut worden, um Menschen und Tiere davor zu bewahren, in die Höhle zu fallen. Zufällig war es auch ein guter Entlüftungsschacht. Ich zweifle keinen Augenblick, daß der Kopfjäger die Höhle nicht nur als Bergungsplatz für seine Opfer verwenden wollte, die er ermordete, sondern sie auch als Ausweg benutzen wollte, wenn er einmal fliehen mußte!«

 

Als er dann später die Laterne, die Kerze und die Streichhölzer fand, die Helen hatte fallen lassen, wußte er, daß er mit seiner Ansicht recht hatte.

 

Sie kamen zur Guillotine zurück, auf der noch der Rumpf des Kopfjägers lag. Mike stand lange Zeit schweigend davor und schaute auf die reglose Gestalt auf der Plattform.

 

»Wie konnte er nur die Leute überreden, zu ihrer eigenen Hinrichtung zu kommen?« fragte der Inspektor.

 

»Diese Frage muß ein Psychologe beantworten«, erwiderte Mike. »Zweifellos kam er mit vielen in Berührung, die sich mit dem Gedanken des Selbstmordes trugen, vor der Tat aber zurückschreckten. Er handelte für sie. Daß er nachher die Köpfe fortgesandt hatte, entsprang wohl dem Wunsch, den Frauen und Familien seiner Opfer die Versicherungssummen zukommen zu lassen.

 

Er arbeitete mit außerordentlicher Schlauheit. Die Antworten auf seine Annoncen bestellte er, wie Sie wissen, zu einem Zeitungshändler, wo sie von der alten Frau abgeholt wurden, die sie an eine zweite Adresse sandte. Dort wurden sie in besonders präparierte Kuverts gesteckt und scheinbar nach London adressiert. Ich habe herausgebracht, daß diese Kuverts in einem besonders lichtundurchlässigen Kasten aufbewahrt waren. Der unbekannte Auftraggeber hatte angeordnet, daß sie nicht eher herausgenommen werden durften, als bis man sie zur Post brachte. Eine Stunde, nachdem sie aufgegeben waren, wurde die Adresse unsichtbar, und eine neue erschien an ihrer Stelle auf dem Briefumschlag.«

 

»Benützte er dazu die sogenannte Zaubertinte?« Mike nickte.

 

»Das ist ja ein Trick, der häufig von Verbrechern angewandt wird. Die letzte Adresse war natürlich Dower House. – Wir wollen die Lampen ausmachen und nach oben gehen.«

 

Drei Lampen verlöschten. Lyle sah sich noch einmal um. Ihre beiden Gestalten warfen lange, gespenstische Schatten.

 

»Wir wollen das unten lassen«, sagte er.

 

Mike stimmte ihm bei.

 

Kapitel 4

 

4

 

In dem Atelier der Knebworth-Filmgesellschaft waren verschiedene Damen und Herren in Straßenkleidung versammelt. Sie warteten schon fast eine Stunde.

 

Jack Knebworth saß in seiner gewöhnlichen Stellung zusammengekauert in einem Segeltuchstuhl. Er strich nervös über sein glattrasiertes Kinn und schaute von Zeit zu Zeit auf die große Uhr, die über der Tür zum Direktionszimmer hing.

 

Es hatte gerade elf Uhr geschlagen, als Stella Mendoza hereinschwebte, umgeben von einer Wolke von süßem Veilchenduft. Im Arm trug sie ihren kleinen Pekinghund.

 

»Arbeiten Sie nach der Sommerzeit?« fragte Knebworth langsam, »oder dachten Sie vielleicht, daß die Aufnahmen für heute nachmittag angesetzt wären? Fünfzig Leute haben Ihretwegen warten müssen, Stella!«

 

»Da kann ich nichts ändern«, sagte sie und zuckte verächtlich die Schultern. »Sie haben mir doch gesagt, daß die Aufnahmen auswärts stattfinden, und ich glaubte natürlich nicht, daß Sie so fürchterliche Eile haben würden. Ich mußte doch erst meine Sachen packen.«

 

»Selbstverständlich haben Sie viel Zeit, aber wir nicht!«

 

Jack Knebworth rechnete damit, daß er durchschnittlich dreimal im Jahr einen großen Krach bekam. Das war nun der dritte. Den ersten hatte er mit Stella, den zweiten hatte er mit Stella, und den dritten hatte er natürlich wieder mit Stella.

 

»Ich habe Sie doch für zehn Uhr hierher bestellt, alle diese Damen und Herren warten nun seit Viertel vor zehn.«

 

»Was wollen Sie denn nun eigentlich aufnehmen?« fragte sie und warf den Kopf ungeduldig zurück.

 

»Natürlich Sie!« sagte Jack grimmig. »Gehen Sie schnell in Ihre Garderobe und vergessen Sie nicht, die Perlohrringe abzunehmen. Sie haben eine arme, halbverhungerte Choristin zu spielen. Wir wollen heute in Griff Towers drehen, und ich sagte dem Besitzer, daß ich um drei Uhr nachmittags fertig sein würde. Wenn Sie Greta Garbo oder Marlene Dietrich wären, wollte ich nichts sagen, wenn man einmal eine Stunde auf Sie warten müßte. Aber zehn Stella Mendozas machen noch nicht einen einzigen solchen Star aus. Vergessen Sie das nicht!«

 

Jack Knebworth erhob sich von seinem Stuhl und zog langsam seinen Mantel an. Das war von verhängnisvoller Vorbedeutung. Stella wurde rot vor Ärger. Ihre dunklen Augen schossen Blitze. Sie war aufs tiefste beleidigt und in ihrer Eitelkeit gekränkt.

 

Früher hieß Stella nur Maggie Stubbs und war die Tochter eines Kolonialwarenhändlers in der Provinz, und Jack nahm sich jetzt heraus, mit ihr zu sprechen, als ob sie noch Maggie Stubbs wäre. Er schien ganz vergessen zu haben, daß sie eine große Künstlerin war, einer der leuchtenden Sterne am Filmhimmel, eine Göttin, deren süßes Lächeln die Zuschauer in den Kinos der ganzen Welt bezauberte. Oder sollte etwa ihr Presseagent gelogen haben?

 

»Schon gut, wenn Sie einen Krach haben wollen, können Sie ihn haben, Knebworth. Ich verlasse Ihre Filmgesellschaft, und zwar sofort. Ich weiß, was ich mir schuldig bin. Übrigens hätte das Manuskript sowieso geändert werden müssen, um mir die Möglichkeit zu geben, meine Persönlichkeit richtig entfalten zu können. Die männlichen Rollen überwiegen viel zu sehr in dem Stück. Die Leute, die ins Kino gehen, zahlen ihr Geld nicht, um sich Männer anzusehen. Die Behandlung, die Sie mir zukommen lassen, ist meiner nicht würdig, Knebworth – ich will ja zugeben, daß ich manchmal etwas hitzig bin, aber Sie können von einer Künstlerin meiner Art nicht erwarten, daß sie ein Stück Holz ist!«

 

»Ich kann nur feststellen, daß Sie sich wieder einmal aufführen, als ob Sie einen Kopf wie ein Stück Holz hätten!« brummte der Direktor. Als er den wütenden Ausdruck in ihrem Gesicht sah, fuhr er fort: »Früher haben Sie mal zwei Jahre lang kleine Rollen in Hollywood gespielt, und als Sie dann nach England kamen, hatten Sie gelernt, sich in Szene zu setzen. Temperament haben Sie – das heißt, darunter verstehe ich, daß Sie zum Doktor laufen und sich Atteste ausstellen lassen, wenn ein Film halb gedreht ist, und dann so lange nicht erscheinen, bis ihr Gehalt um fünfzig Prozent erhöht ist! Gott sei Dank ist dieser Film noch nicht einmal zum achten Teil gedreht. Geben Sie nur ruhig Ihre Stellung auf, Sie niederträchtige Gans! Machen Sie, daß Sie fortkommen!«

 

Stella kochte vor Wut. Ihre Lippen zitterten. Sie konnte nicht sprechen, drehte Jack den Rücken und sauste aus dem Atelier. Es war ganz ruhig geworden, keiner sagte ein Wort. Jack Knebworth ließ seine Blicke über die Leute schweifen.

 

»Jetzt ereignet sich das große Wunder«, sagte er ironisch. »Jetzt kommt der Moment, wo eine Statistin, die mit einer kranken Mutter in ärmlichsten Verhältnissen lebt, über Nacht zur Berühmtheit wird. In Hollywood passieren noch ganz andere Dinge. Wir werden jetzt eine zweite Mary Pickford entdecken!«

 

Die Statistinnen lächelten. Einige hofften, andere waren neidisch, aber keine sprach. Helen war zu Eis erstarrt, ihre Stimme versagte.

 

»Bescheidenheit gehört nicht zu unserem Fach«, sagte Jack liebenswürdig. »Wer hält sich für fähig, die Rolle der Roselle in diesem Film zu übernehmen? Ich will eine Statistin diese Rolle spielen lassen. Ich will dieser verrückten Stella einmal zeigen, daß wir selbst unter unserem Personal genügend junge Damen haben, die sie ersetzen können. Mir hat doch noch gestern jemand gesagt, daß er gern eine Rolle haben möchte – das waren Sie –«

 

Er zeigte auf Helen. Ihr Herz schlug mit rasender Heftigkeit, als sie zu ihm hinging.

 

»Vor sechs Monaten habe ich eine Probeaufnahme von Ihnen machen lassen«, sagte der Direktor nachdenklich. »Da war irgend etwas auszusetzen – was war es doch gleich?«

 

Dabei wandte er sich an den Operateur. Der junge Mann nickte, als ob er sich darauf besinnen könnte.

 

»Waren es nicht die Fußgelenke?« fragte er auf gut Glück. Er wußte, daß Knebworth sehr auf schlanke Fesseln hielt.

 

Jack schaute schnell auf Helens Füße. »Nein, das kann es nicht sein – suchen Sie schnell den Filmstreifen heraus, wir wollen ihn gleich ansehen.«

 

Zehn Minuten später saß Helen an der Seite des alten Mannes in dem kleinen Projektionsraum und sah, wie ihre Probeaufnahme vorgeführt wurde.

 

»Das Haar war es«, sagte Knebworth triumphierend. »Ich wußte doch, daß etwas auszusetzen war. Kurzes Haar bei Damen kann ich nicht recht leiden, da sehen die Mädchen zu schnippisch und zu naseweis aus. Haben Sie jetzt eine andere Frisur?« fragte er und ließ das Licht andrehen.

 

»Ja, Mr. Knebworth.«

 

Er betrachtete sie mit fachmännischer Bewunderung.

 

»Sie werden die Rolle spielen«, sagte er zögernd. »Gehen Sie in den Ankleideraum und nehmen Sie die Kleider von Miss Mendoza. Aber ich muß Ihnen vorher noch etwas sagen«, bemerkte er und hielt sie einen Augenblick zurück. »Mag nun der Versuch mit Ihnen gut oder schlecht ausfallen, bei meiner Gesellschaft haben Sie keine große Zukunft. Machen Sie sich keine Hoffnungen. In England liegen die Dinge nun einmal so, daß eine Filmschauspielerin nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie einen Filmdirektor heiratet. Und ich möchte gleich von vornherein sagen, daß ich nicht die Absicht habe, Sie zu heiraten, selbst wenn Sie mich auf den Knien darum bitten sollten. Das ist die einzige Möglichkeit, in England als Filmstar berühmt zu werden – und wenn Sie das nicht fertigbringen, dann ist Ihr Erfolg gleich …«

 

Dabei schnippte er mit den Fingern.

 

»Ich möchte Ihnen einen Rat geben, Kind. Wenn Sie in diesem Film Talent beweisen, dann gehen Sie zu einem der großen Filmdirektoren in England und lassen sich von ihm engagieren. Wissen Sie, zu einem, der drei Klubsessel und einen Blumentopf mit einer Palme zusammenstellt und dieses Szenarium einen Salon nennt. Geben Sie dem Fräulein – wie ist doch gleich wieder Ihr Name – das Manuskript, Harry! So, nun gehen Sie an irgendeinen ruhigen Ort und studieren Sie Ihre Rolle. Harry, sehen Sie nach dem Ankleideraum! Und Sie haben eine halbe Stunde Zeit, das Manuskript zu lesen.«

 

Wie im Traum ging Helen in den schattigen Garten, der sich an der Längsseite des Ateliers hinzog. Sie setzte sich auf eine Bank und versuchte, ihre Gedanken auf die maschinengeschriebenen Seiten zu konzentrieren. War es denn Wirklichkeit, was sie erlebte? – Da hörte sie Schritte auf dem Kiesweg, und schaute erschreckt auf. Der junge Mann, der sie heute morgen besucht hatte, kam auf sie zu. Es war Mike Brixan.

 

»Ach bitte, unterbrechen Sie mich jetzt nicht!« bat sie aufgeregt. »Gerade habe ich eine Rolle bekommen – ich muß noch viel lesen.«

 

Er sah, daß seine Gegenwart sie außer Fassung brachte, und wandte sich zum Gehen.

 

»Es tut mir sehr leid –« begann er.

 

In ihrer Bestürzung hatte sie die losen Blätter des Manuskriptes auf die Erde fallen lassen, und als er sich gleichzeitig mit ihr bückte, um sie aufzuheben, stießen ihre Köpfe zusammen.

 

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung – so etwas kommt in vielen Lustspielen vor«, sagte er.

 

In dem Augenblick sah er auf das Blatt Papier, das er in der Hand hatte, und begann unwillkürlich zu lesen. Da stand eine eingehende Beschreibung des Schauplatzes einer Szene.

 

›Eine große geräumige Gefängniszelle, nur durch eine düstere Hängelampe erleuchtet. In der Mitte des Hintergrundes führt eine durch ein großes, eisernes Gitter geschlossene Tür ins Freie. Man sieht eine Schildwache auf und ab gehen.‹

 

»Großer Gott!« stöhnte Mike und wurde blaß bis in die Lippen.

 

Die »u« der Maschinenschrift waren verwischt und die »g« kamen nur schwach. Eine unheimliche Entdeckung! Es wurde ihm zur Gewißheit, daß dieses Blatt auf derselben Maschine geschrieben war, die der Kopfjäger benutzte, um seine schrecklichen Todesnachrichten in die Welt zu senden.

 

Kapitel 42

 

42

 

Drei Monate waren ins Land gegangen, seitdem die schrecklichen Geheimnisse von Dower House enthüllt worden waren. Sir Gregory Penne hatte inzwischen Zeit genug gehabt, sich zu erholen und einen der sechs Monate Zuchthaus abzusitzen, zu denen man ihn verurteilt hatte. Die Guillotine war am Ufer der Themse in einem Geheimmuseum für junge Polizisten und Kriminalstudenten aufgestellt worden.

 

Mike schien dieses Abenteuer schon viele Jahre zurückzuliegen, als er in Jacks Atelier auf einem Tisch saß. Er hörte gerade dem Direktor zu, wie er vollständig verzweifelt dem verärgerten Reggie Connolly beibringen wollte, wie man sich bei Liebesszenen zu verhalten habe. Neben ihm stand Helen Leamington. Der Film ›Roselle‹ war ein großer Erfolg geworden und hatte sie berühmt gemacht.

 

Außerhalb des Bereichs der Kamera stand Stella Mondeza, elegant wie immer, eine Zigarette zwischen den Fingern.

 

»Ich möchte doch bemerken, daß mir niemand zu erzählen braucht, Mr. Knebworth«, sagte Reggie aufgebracht, »wie man ein Mädchen halten soll!«

 

»Es ist mir ja auch furchtbar egal, wie Sie Ihr Mädchen halten«, fuhr ihn Jack an. »Ich sage Ihnen hier, wie Sie mein Mädchen anfassen sollen. Bei meinem Film gibt es eben nur eine Möglichkeit, die Liebe zu erklären, und die ist so, wie ich sie Ihnen vorschreibe. Darauf habe ich das Patent. Legen Sie den Arm noch einmal um sie, heben Sie den Kopf, neigen Sie das Kinn ein wenig! Noch mehr, das Kinn noch etwas herunter – lächeln – wollen Sie wohl lächeln? Nicht so steif«, schrie er.

 

»Also, noch einmal die Szene –.«

 

Er beobachtete, probte, und schließlich sagte er resigniert:

 

»Taugt alles nichts – aber wir müssen jetzt aufnehmen! Licht!«

 

Die großen Jupiterlampen flammten auf. Der ganze Raum war in blendendes Licht getaucht. Wieder wurde die Szene geprobt. Dann rief Jack:

 

»Aufnahme!«

 

Die Kamera begann zu surren.

 

»So, für heute haben Sie Ihr Pensum erledigt, Connolly«, sagte Jack. »Nun Miss Mendoza –«

 

Helen kam zu Mike Brixan und setzte sich neben ihn.

 

»Mr. Knebworth hat vollkommen recht«, sagte sie. »Reggie Connolly weiß nicht, wie man sich in Liebesszenen verhält.«

 

»Wer könnte das denn auch mit Ausnahme des richtigen Mannes wissen?« sagte Mike.

 

»Aber er glaubt doch, daß er der richtige Mann ist«, fuhr sie fort, »und noch mehr, man hält ihn für den besten jugendlichen Liebhaber im englischen Film.«

 

Mike lachte sarkastisch.

 

Sie schwieg einige Zeit.

 

»Warum sind Sie eigentlich noch hier? Ich dachte, Ihre Arbeit in diesem Teil der Welt wäre nun beendet?«

 

»Noch nicht ganz«, sagte er heiter. »Ich muß leider noch eine Verhaftung vornehmen.«

 

Sie schaute schnell zu ihm auf.

 

»Noch eine Verhaftung?« fragte sie. »Ich dachte, als Sie den armen Sir Gregory festnahmen –«

 

»Den armen Sir Gregory?« meinte er höhnisch. »Der kann von Glück sagen. Sechs Monate Zuchthaus waren gerade das, was ihm zukam, und er kann froh sein, daß man ihn nicht verurteilt hat, weil er den unglücklichen Diener tötete, sondern nur, weil er dessen Tod verheimlichte.«

 

»Wen wollen Sie denn jetzt festnehmen?«

 

»Ich weiß noch nicht genau, ob ich sie verhaften werde.«

 

»Ach, es ist eine Frau?«

 

Er nickte.

 

»Was hat sie getan?«

 

»Die Anklage ist noch nicht genau festgelegt«; sagte er ausweichend. »Aber ich glaube, es sind mehrere Punkte. Erstens hat sie alles in Verwirrung gebracht und zweitens mit Vorbedacht das öffentliche Wohl gefährdet, wenigstens die Gesundheit eines öffentlichen Beamten. Dann hat sie arglistig die Gefühle verwundet –«

 

»Ach so, da meinen Sie sich damit!«

 

Sie lachte leise.

 

»Das ist wohl ein Teil Ihrer Fieberphantasien in der Nacht im Hospital? Oder sollten es meine Träume sein? Da aber andere Leute sahen, wie Sie mich küßten, sind es doch wohl Ihre Phantasien. Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde«, sagte sie gedankenvoll. »Ich bin –«

 

»Sagen Sie nur nicht, daß Sie mit Ihrer Kunst verheiratet sind«, seufzte er, »das sagen sie nämlich alle!«

 

»Nein, das habe ich auch nie behaupten wollen, ich habe nur den brennenden Wunsch, meinen besten Freund vor einem großen Irrtum zu bewahren. Sie haben noch eine große Karriere vor sich, Mike, und wenn Sie mich heiraten, würde Sie das nur hindern. Man würde denken, daß Sie nicht bei Verstand sind, Und wenn dann erst die Scheidung kommt –«

 

Beide mußten herzlich lachen.

 

»Wenn Sie vernünftig sein und nicht wie eine alte Jungfer reden wollen, dann möchte ich Ihnen doch etwas verraten«, sagte Mike. »Ich habe Sie vom ersten Augenblick an geliebt.«

 

»Natürlich haben Sie das getan, Mike. Das ist für Sie auch die einzig mögliche Art, eine Frau zu lieben. Wenn man sich erst drei Tage besinnen muß, so kann es nicht Liebe sein. Daher weiß ich auch, daß ich Sie nicht liebe. Das erstemal, als ich Sie traf, ärgerte ich mich über Sie, das zweitemal war ich wütend, und seither habe ich Sie eben geduldet. Warten Sie, bis ich mich abgeschminkt habe.«

 

Sie ging zu ihrem Ankleideraum, und Mike schlenderte durch das Atelier, um den verärgerten Jack Knebworth zu beruhigen.

 

»Helen – oh, mit der geht es gut. Sie hatte wirklich ein Angebot aus Amerika – nicht von Hollywood, sondern von einem Atelier im Osten. Ich habe ihr aber den Rat gegeben, es noch nicht anzunehmen, bis sie sich etwas mehr eingelebt hat. Trotzdem glaube ich nicht, daß sie meinen Rat braucht. Sie wird nicht beim Film bleiben.«

 

»Warum glauben Sie denn das, Knebworth?«

 

»Sie wird sich verheiraten«, sagte er verdrießlich. »Es sind schon Anzeichen dafür da. Ich habe Ihnen ja früher erzählt, daß etwas Ungewöhnliches an ihr ist. Sie wird sich verheiraten und den Film für immer verlassen, und das ist eben Veranlagung.«

 

»Und wen wird sie Ihrer Meinung nach heiraten?« fragte Mike.

 

Der alte Jack lachte laut auf. »Reggie Connolly wird es nicht sein, das kann ich Ihnen versprechen!«

 

»Dagegen würde ich mich auch schön verwahren«, sagte der junge Reggie entrüstet. Er hatte merkwürdig scharfe Ohren.

 

»Ich werde mich nie verheiraten. Die Ehe verdirbt einen Künstler. Eine Frau ist wie ein Mühlstein um seinen Hals. Man kann dann seine Persönlichkeit nicht mehr entwickeln. Und weil wir nun gerade davon sprechen, Mr. Knebworth, glauben Sie, daß man mich deswegen tadeln müßte? Haben Sie es denn nicht bemerkt – ich will nichts gegen das liebe Mädchen sagen – haben Sie es denn nicht bemerkt, daß Miss Leamington – wie soll ich gleich sagen – noch nicht reif für die Liebe ist…? Das ist der richtige Ausdruck!«

 

Stella Mendoza trat dazu. Sie war wieder auf den Schauplatz ihrer früheren Tätigkeit zurückgekehrt, und es hatte fast den Anschein, als ob sie bald ihre alte Stellung wieder einnehmen würde.

 

»Ich glaube, da haben Sie nicht recht, Reggie«, sagte sie.

 

»Ich habe sicher recht«, sagte Reggie gekränkt. »Ich habe mehr Mädchen geliebt als fünf andere Filmstars zusammen, und ich sage Ihnen, daß Miss Leamington durchaus unreif ist!«

 

Helen erschien am Ausgang des Ateliers und grüßte die Gesellschaft durch ein liebenswürdiges Kopfnicken. Mike ging mit ihr.

 

»Sie sind durchaus unreif für die Liebe«, sagte er.

 

»Das klingt nach Reggie. Es ist einer seiner Lieblingsausdrücke.«

 

»Er sagte, daß Sie nichts von Liebe verstünden«, brummte er.

 

»Vielleicht hat er auch recht«, meinte sie kurz.

 

Ihr Ton war so ärgerlich, daß er keinen Mut hatte, das Gespräch fortzusetzen, bis sie zu der langen, dunklen Straße kamen, in der sie wohnte.

 

»Die einzig richtige Art zu lieben ist«, sagte er und war nicht wenig erstaunt über seine eigene Kühnheit, »die Geliebte in die Arme zu schließen –«

 

Plötzlich lag sie an seiner Brust, und ihr kühles Gesicht schmiegte sich an das seine.

 

»Du hast recht«, flüsterte sie, und er schloß ihr mit einem Kuß den Mund.

 

Kapitel 5

 

5

 

»Was haben Sie?« fragte Helen, als sie plötzlich das finstere Gesicht des jungen Mannes sah.

 

»Woher stammt dieses Blatt Papier?« fragte er. Er zeigte ihr die maschinengeschriebene Seite.

 

»Ich kann es nicht sagen, es war unter diesen Blättern. Aber wie ich sehe, gehört es nicht zu ›Roselle‹.«

 

»Ist das der Titel des Films, in dem Sie jetzt spielen?« fragte er schnell. »Wer kann mir über dieses Blatt Auskunft geben?«

 

»Mr. Knebworth.«

 

»Wo ist er jetzt?«

 

»Gehen Sie durch diese Tür«, antwortete sie. »Sie werden ihn im Atelier treffen.«

 

Er verlor kein Wort weiter und ging schnell ins Haus. Ohne daß er fragte, wußte er, wer der Mann war, den er suchte. Als Jack Knebworth den Fremden sah, schaute er ihn von unten herauf mit einem unfreundlichen Blick an. Privatbesuch während der Geschäftsstunden konnte er durchaus nicht leiden. Aber bevor er den Fremden um Aufklärung bitten konnte, war Mike schon an seiner Seite.

 

»Habe ich die Ehre mit Mr. Knebworth?«

 

»Ja, der bin ich.«

 

»Würden Sie mir erlauben, zwei Minuten mit Ihnen zu sprechen?«

 

»Ich habe jetzt keine Zeit, auch nur eine Minute lang mit irgendwem zu schwatzen!« brummte Jack. »Aber sagen Sie mal, wer sind Sie denn eigentlich, und wie kamen Sie hier herein?«

 

»Ich bin Mike Brixan, ein Detektiv im Dienste des Außenministeriums«, sagte er mit leiser Stimme.

 

Jack schaute verdutzt auf und wurde mit einemmal freundlicher.

 

»Ist hier irgend etwas passiert?« fragte er, als er den Detektiv in sein Büro geleitete.

 

Mike legte das maschinengeschriebene Blatt Papier auf den Tisch.

 

»Wer hat das geschrieben?« fragte er.

 

Jack Knebworth sah sich das Blatt an und schüttelte den Kopf.

 

»Habe ich bis jetzt noch nicht gesehen – was soll damit sein?« fragte er.

 

»Hatten Sie es noch nie in der Hand?«

 

»Nein, ich kann einen Eid darauf leisten – aber mein Dramaturg muß das wissen, ich werde ihn einmal rufen.«

 

Er drückte auf die Klingel, und als der Sekretär hereinkam, sagte er: »Bitten Sie Mr. Lawley Foß, daß er schnell zu mir kommt.«

 

»Die Prüfung der Manuskripte, Entwürfe und des ganzen Materials für die Filme liegt in der Hand meines Dramaturgen«, sagte er. »Ich bekomme ein Manuskript erst zu sehen, wenn er es geprüft und für gut befunden hat. Und auch dann ist es noch fraglich, ob es angenommen werden kann. Wenn der Stoff nicht geeignet ist, bekomme ich den Entwurf überhaupt nicht zu sehen. Es ist allerdings möglich, daß das eine oder andere gute Manuskript mir, auf diese Weise entgeht, weil Foß – « er zögerte einen Augenblick –, »weil wir manchmal nicht derselben Ansicht sind. Also, Mr. Brixan, worum handelt es sich denn eigentlich?«

 

Mit einigen Worten erklärte Mike die unheimliche Bedeutung des Papiers.

 

»Der Kopfjäger!« Jack pfiff vor sich hin.

 

Von der Tür her hörte man ein Klopfen, und Lawley Foß kam herein. Er war ein Mann von hagerer Gestalt und dunkler Gesichtsfarbe. Seine Augen gingen schnell von einer Seite zur andern. Tiefe Falten zogen sich durch sein düsteres Gesicht, und er machte den Eindruck, als ob er an einer chronischen Krankheit litte. Aber das war nicht der Fall. Lawley Foß war nur durch und durch verbittert und mit der ganzen Welt zerfallen. Früher gab es einmal eine Zeit, in der er glaubte, daß die Welt ihm zu Füßen läge. Er hatte zwei Filme geschrieben, die auch gedreht und aufgeführt wurden und sich sogar einige Zeit auf dem Spielplan gehalten hatten, aber später war er umsonst von Filmgesellschaft zu Filmgesellschaft gelaufen. Er wurde vom Unglück verfolgt, und niemand öffnete auch nur seine braun eingebundenen Manuskripte, um einen Blick hineinzuwerfen. Da es ihm schlecht ging, kam er, wie viele andere Leute in der gleichen Lage, auf den Gedanken, sich durch Spekulationen Geld zu verschaffen. Aber weder auf der Börse noch beim Rennen hatte er Erfolg, und so wurden seine Verhältnisse immer zerrütteter.

 

Er sah argwöhnisch auf Mike, als er eintrat.

 

»Ich möchte Sie gern sprechen, Foß« sagte Jack Knebworth. »Dieses Stück Papier lag zwischen den Blättern des Manuskripts der ›Roselle‹. – Kann ich Mr. Foß den Zusammenhang klarmachen?« wandte er sich an Mike.

 

Der Detektiv zögerte einen Augenblick. Irgendeine Stimme in seinem Innern warnte ihn, den Zusammenhang mit dem Kopfjäger preiszugeben. Aber gegen seine Überzeugung nickte er.

 

Lawley Foß hörte anscheinend gleichgültig zu, als ihm der alte Direktor erklärte, wie wichtig dieses Blatt Papier sei und welche Bewandtnis es damit habe. Foß nahm das Schreiben in die Hand und überflog es kurz. Aber sein Gesichtsausdruck verriet nicht, was er dachte.

 

»Ich bekomme so viele Manuskripte und Entwürfe, daß ich im Augenblick nicht in der Lage bin, dieses Fragment irgendwo einzuordnen, aber ich werde es in mein Büro mitnehmen und anhand meiner Bücher und Listen versuchen, es zu identifizieren.«

 

Mike zögerte wieder. Er mochte nicht gern dieses Beweisstück aus der Hand geben, aber schließlich war es ohne Bestätigung und ohne Vergleich mit anderen Schriften im Augenblick ziemlich wertlos. So stimmte er denn zögernd zu.

 

»Was halten Sie von dem Menschen?« fragte Jack Knebworth, als sich die Tür hinter dem Dramaturgen geschlossen hatte.

 

»Ich habe eine Antipathie gegen den Mann«, sagte Mike offen. »Mein erster Eindruck von ihm ist entschieden ungünstig, aber es ist möglich, daß ich dem armen Menschen damit unrecht tue.«

 

Jack Knebworth seufzte. Mit Foß hatte er immer Schwierigkeiten, manchmal sogar mehr als mit der temperamentvollen Mendoza.

 

»Sicherlich ist er ein ziemlich seltsamer Mensch«, sagte er. »Er

 

ist höllisch schlau. Ich kenne kaum jemanden, der ein so großes Arbeitspensum, so spielend erledigen könnte wie Lawley Foß aber er ist schwer zu behandeln.«

 

»Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte Mike trocken.

 

Sie gingen zum Atelier, und Mike suchte Helen auf, um sein unhöfliches Benehmen zu entschuldigen. Als er sich ihr näherte, bemerkte er Tränen in ihren Augen. Sie war durch sein Verhalten vollständig verwirrt und konnte ihre Gedanken nicht auf das Manuskript konzentrieren. Immer wieder mußte sie daran denken, was es wohl zu bedeuten hatte, daß er ein Blatt des Manuskriptes genommen hatte.

 

»Es tut mir furchtbar leid«, sagte er zerknirscht. »Ich wünschte, ich wäre nicht hierhergekommen.«

 

»Das wünschte ich auch«, sagte sie, lächelte aber trotzdem, »Warum haben Sie das Stück Papier weggenommen – sicher sind Sie ein Detektiv.«

 

»Das gebe ich zu«, sagte Mike jetzt unbekümmert.

 

»Haben Sie denn auch die Wahrheit gesagt, als Sie mir erklärten, daß mein Onkel…« Sie brach ab, da sie nicht wußte, wie sie fortfahren sollte.

 

»Nein, das habe ich nicht getan«, erwiderte Mike ruhig. »Ihr Onkel ist tot, Miss Leamington.«

 

»Tot?« rief sie erschreckt.

 

Er nickte.

 

»Er wurde unter ganz außergewöhnlichen Umständen ermordet.«

 

Plötzlich verfärbte sie sich.

 

»War er etwa das Opfer, dessen Kopf in Esher gefunden wurde?«

 

»Woher wissen Sie das?«

 

»Es stand in der heutigen Morgenzeitung«, sagte sie, und er verwünschte den Bluthund von Reporter, der auf die Spur dieser Tragödie gekommen war. Aber früher oder später hätte sie es doch erfahren müssen, mit diesem Gedanken tröstete er sich.

 

Foß kam in diesem Augenblick zurück, und das enthob ihn weiterer Erklärungen. Der Dramaturg sprach leise mit Jack Knebworth, und Mike sah, wie der Direktor ihn heranwinkte.

 

»Foß kann das Manuskript nicht identifizieren«, sagte er, als er ihm das Blatt zurückgab. »Es ist möglich, daß es nicht zu einem Manuskript gehörte, sondern nur eine Probeseite war, die uns ein Autor geschickt hat. Es könnte außerdem von meinem Vorgänger herrühren – ich habe nämlich das ganze Atelier von einer Filmgesellschaft übernommen, die in Konkurs geriet. Da sind viele Manuskripte liegengeblieben, die wir einfach übernommen haben.«

 

Der Direktor schaute ungeduldig nach der Uhr.

 

»Mr. Brixan, können Sie mich jetzt entbehren? Ich muß einige Szenen aufnehmen, etwa zehn Kilometer von hier entfernt. Dazu kommt noch, daß Sie meine Schauspielerin durch Ihr Erscheinen durcheinandergebracht haben. Sie können sich denken, daß das meine Arbeit nicht gerade fördert.«

 

Mike folgte einem plötzlichen Einfall.

 

»Würden Sie gestatten, daß ich zu den Aufnahmen mitfahre? Ich verspreche Ihnen hoch und heilig, daß ich niemandem im Weg sein werde.«

 

Der alte Jack sah ihn einen Augenblick an und brummte. Dann aber nickte er zustimmend, und zehn Minuten später saß Mike Brixan neben dem jungen Mädchen in dem großen Autobus, der sie zu dem Ort brachte, wo die Aufnahmen stattfinden sollten. Und als er nun mit den Künstlern hinausfuhr, war er froh, daß er seinen Willen durchgesetzt hatte und nicht bescheiden zurückgeblieben war.

 

Kapitel 35

 

35

 

Für Helen Leamington gab es Augenblicke, in denen sie nicht mehr an ihre Begabung als Filmschauspielerin glaubte. Niemals waren diese Zweifel größer, als wenn sie versuchte, die schriftlichen Anweisungen des Filmmanuskriptes zu studieren. Sie gab Mike die Schuld, um ihn sofort wieder zu entschuldigen. Sie tadelte sich selbst ganz offen, und schließlich gab sie ihre Bemühungen auf, rollte das Manuskript zusammen und legte ein Gummiband darum. Dann steckte sie es unter ihr Kopfkissen und wollte zu Bett gehen. Sie hatte schon Rock und Bluse ausgezogen, als es draußen klopfte.

 

»Von Mr. Knebworth?« fragte sie erstaunt. »So spät abends?«

 

»Ja, Miss Leamington. Er beabsichtigt morgen eine große Änderung vorzunehmen und muß Sie gleich sprechen. Er hat seinen Wagen geschickt. Miss Mendoza soll wieder mitspielen.«

 

»Ach«, seufzte sie etwas enttäuscht.

 

Dann war es also doch nichts mit ihrem Spiel. Sie hatte sich täuschen lassen und war in den letzten Tagen in einem Paradies umhergewandelt.

 

»Ich werde sofort kommen«, sagte sie.

 

Ihre Finger zitterten, sie konnte sich kaum ankleiden. Sie war auf sich selbst böse, daß sie sich so aus der Ruhe bringen ließ. Vielleicht sollte Stella gar nicht ihre alte Rolle weiterspielen. Möglicherweise war eine neue für sie vorgesehen. Es konnte auch sein, daß sie gar nicht in dem Film »Roselle« spielen sollte. Diese und andere Gedanken stürmten auf sie ein. Als sie in den Gang hinaustrat, wurde unten die Tür geöffnet. Plötzlich fiel ihr ein, daß doch Jack Knebworth sicher das Manuskript bei der Unterhaltung brauchen würde. Sie eilte wieder in ihr Zimmer, hatte aber in der Aufregung vergessen, wo das Schriftstück lag. Schließlich lief sie verzweifelt zu ihrer Wirtin.

 

»Ich habe das Manuskript irgendwo hingelegt – würden Sie so gut sein, es Mr. Knebworth zu bringen, wenn Sie es finden? Es ist in einem braunen Umschlag.«Sie beschrieb das Manuskript, so gut sie konnte.

 

Sie erkannte Stella Mendozas Wagen sofort wieder. Das war ja Beweis genug, daß sie sich mit Jack wieder ausgesöhnt hatte.

 

Schnell stieg sie ein, die Tür schloß sich hinter ihr, und sie saß neben dem Fahrer, der absolutes Stillschweigen bewahrte.

 

»Ist Mr. Brixan bei Mr. Knebworth?« fragte sie.

 

Der Mann neben ihr antwortete nicht. Sie dachte, daß er sie nicht verstanden hätte und schwieg.

 

Plötzlich merkte sie, daß er den Wagen in eine Kurve steuerte und in entgegengesetzter Richtung davonfuhr.

 

»Das ist nicht der Weg zu Mr. Knebworth«, sagte sie beunruhigt. »Kennen Sie den Weg nicht?«

 

Der Fahrer antwortete immer noch nicht. Der Wagen sauste mit großer Geschwindigkeit durch eine lange, dunkle Straße und bog auf die Chaussee ab.

 

»Halten Sie sofort«, sagte sie erschreckt, die Hand am Türgriff.

 

Plötzlich wurde ihr Arm weggerissen.

 

»Mein liebes Fräulein, Sie werden sich verletzen und womöglich Ihr schönes Gesicht zerschinden, wenn Sie versuchen, aus dem Wagen zu springen.«

 

»Sir Gregory!« stieß sie hervor.

 

»Machen Sie keinen Unsinn!« sagte Penne. »Sie werden jetzt ein kleines Souper mit mir einnehmen.« Sie konnte deutlich die Erregung in seiner Stimme hören. »Ich habe Sie oft genug eingeladen, und jetzt kommen Sie eben mit oder ohne Ihre Zustimmung zu mir. Stella ist auch da, Sie brauchen sich also gar nicht zu fürchten.«

 

Sie bekämpfte ihre Angst mit aller Kraft, die ihr zu Gebote stand.

 

»Sir Gregory, bringen Sie mich sofort zu meiner Wohnung zurück«, sagte sie. »Das ist ja abscheulich von Ihnen!«

 

Er lachte lauf auf.

 

»Es passiert Ihnen nichts. Niemand will Ihnen etwas tun, und Sie werden sicher und gesund wieder zu Hause abgeliefert. Aber vorher werden Sie mit mir zu Abend essen, mein kleiner Liebling. Und wenn Sie Unsinn machen, renne ich meinen Wagen gegen den nächsten Baum, der uns in den Weg kommt, und dann sind wir beide kaputt!«

 

Er war trunken – nicht nur vom Wein, er war auch vom Gefühl der Macht berauscht. Endlich hatte er Helen in seiner Gewalt und hätte vor nichts mehr zurückgescheut.

 

Ob Stella wirklich da war? Sie konnte es nicht glauben, und doch mochte es wahr sein. Sie griff in ihrer Verzweiflung nach diesem Strohhalm.

 

»Wir sind da«, sagte Gregory laut, als er den Wagen plötzlich vor dem Tor von Griff Towers anhielt. Er sprang heraus. ‚

 

Bevor ihr klar wurde, was geschah, hob er sie mit seinen Armen auf, obgleich sie sich heftig wehrte.

 

»Wenn du jetzt schreist, küsse ich dich«, hörte sie seine heisere Stimme dicht an ihrem Öhr.

 

Sie verhielt sich ganz still.

 

Sofort öffnete sich die Tür. Sie schaute auf den Diener, der schweigend in der Eingangshalle stand, als Gregory sie die breite Treppe hinauftrug. Vergeblich schaute sie sich nach Hilfe um. Plötzlich stellte Penne sie auf die Füße, öffnete eine Tür und schob sie hinein.

 

»Hier ist deine Freundin, Stella«, sagte er. »Lege du mal ein gutes Wort für mich ein und bringe ihr eine andere Meinung über mich bei. In zehn Minuten bin ich wieder hier, und wir werden das schönste Hochzeitsmahl einnehmen, das je abgehalten wurde.«

 

Die Tür wurde zugeschlagen und hinter ihr geschlossen, bevor sie wahrnehmen konnte, daß noch eine andere Frau im Zimmer war. Es war Stella, die bei dem Anblick des bleichen Mädchens heftig erschrak.

 

»Ach, Miss Mendoza«, sagte Helen außer Atem. »Gott sei Dank, daß Sie hier sind!«

 

Kapitel 36

 

36

 

»Danken Sie Gott noch nicht«, sagte Stella, mit einer Ruhe, die nichts Gutes verhieß. »Oh, Sie kleines Schaf, warum sind Sie denn hierhergekommen?«

 

»Er brachte mich hierher, ich ging nicht freiwillig«, sagte Helen. Sie war krank vor Furcht. Trotzdem versuchte sie ebenso ruhig zu sein wie Stella. Sie biß auf ihre zitternden Lippen, um sich zu sammeln. Nach kurzer Zeit hatte sie ihre Fassung wiedergefunden und konnte erzählen, wie sich alles ereignet hatte. Stellas Gesicht verdüsterte sich.

 

»Das ist doch stark – er hat meinen Wagen genommen«, sagte sie zu sich selbst. »Er hat wirklich die Fahrer gefangengesetzt, wie er es mir androhte. Was soll noch daraus werden!«

 

»Was will er tun?« fragte Helen leise.

 

Stella blickte das Mädchen an.

 

»Was glauben Sie denn, was er tun wird?« fragte sie nachdenklich. »Er ist ein Vieh, Sie werden selten solch einen gemeinen Kerl finden, es sei denn in Schauergeschichten … Er hat uns eingeschlossen. Er wird nicht mehr Mitleid mit Ihnen haben als Bhag!«

 

»Wenn das Mike erfährt, wird er ihn umbringen!«

 

»Mike? Ach so, Sie meinen Brixan«, sagte Stella mit neu erwachtem Interesse. »Liebt er Sie? Spioniert er deswegen hier herum? Daran habe ich doch vorher noch nie gedacht. Aber was kümmert ihn Mike Brixan oder irgend jemand anders! Er kann fort – seine Jacht liegt in Southampton. Und sein Reichtum macht ihn unabhängig. Er kann all diesen Scherereien hier aus dem Wege gehen. Dann rechnet er auch damit, daß eine anständige Frau davor zurückschreckt, vor dem Kriminalgericht zu erscheinen. Ach, er ist ein ausgekochter Schuft!«

 

»Was soll ich machen?«

 

Stella ging in dem kleinen Zimmer auf und ab. Sie hatte ihre Hände ineinandergelegt, die Furcht wollte sie wieder überwältigen.

 

»Ich glaube nicht, daß er mir etwas zuleide tut«, sagte Stella. Dann fing sie plötzlich von etwas anderem an zu sprechen. »Ich sah vor etwa zwei Stunden einen Landstreicher am Fenster.«

 

»Einen Landstreicher?« fragte Helen verwirrt.

 

Stella nickte.

 

»Er hat mich furchtbar erschreckt, bis ich seine Augen sah. Da wußte ich, daß es Brixan war. Aber Sie hätten ihn niemals erkannt, so gut hatte er sich maskiert.«

 

»Mike Brixan ist hier?« fragte Helen gespannt.

 

»Er muß irgendwo in der Umgebung sein. Das kann Rettung sein und hier ist noch etwas anderes.«

 

Sie nahm die kleine Browningpistole und gab sie ihr.

 

»Haben Sie jemals mit einer Pistole geschossen?«

 

Helen nickte. »Ich habe es schon getan. Es kam neulich in einer Szene vor«, sagte sie ein wenig verlegen.

 

»Nun, das ist gut. Die Pistole ist geladen. Hier ist die Sicherung. Sie müssen sie zuerst mit dem Daumen herunterdrücken, bevor Sie schießen können. Es ist besser, wenn Sie Penne töten – besser für Sie und besser für ihn.«

 

Helen schrak zurück.

 

»Nein, nein – das kann ich nicht!«

 

»Stecken Sie schnell die Waffe in Ihre Tasche! Haben Sie eine Tasche?«

 

In der Jacke, die Helen trug, fand sich eine innere Tasche, und Stella steckte die Pistole schnell hinein.

 

»Sie glauben gar nicht, was ich Ihnen für ein Opfer bringe, wenn ich sie Ihnen gebe«, sagte sie offen. »Dabei bringe ich dieses Opfer noch nicht einmal für jemand, den ich gern habe. Sie können sich wohl denken, Helen Leamington, daß ich Sie nicht gerade liebe. Aber ich würde es mir nie verzeihen können, wenn ich Sie diesem Schurken ohne Kampf überlassen hätte.«

 

Plötzlich beugte sie sich vor und küßte das Mädchen. Helen legte den Arm um ihren Nacken und umarmte sie einen Augenblick.

 

»Er kommt«, flüsterte Stella Mendoza und trat zurück. Es war wirklich Gregory. Er trug seinen feuerroten Pyjama und einen dunkelroten Hausmantel. Sein Gesicht war gerötet, und seine Augen glänzten vor Erregung.

 

»Komm mit!« Er winkte mit dem Finger. »Nicht du, Mendoza, du bleibst hier, du kannst sie später sehen, vielleicht nach dem Abendessen.«

 

Er schaute begehrlich auf das erschrockene Mädchen.

 

»Niemand wird dir etwas tun, laß deine Jacke hier.«

 

»Nein, ich will sie anbehalten!« sagte sie.

 

Instinktiv faßte ihre Hand an die Pistole, und sie legte ihren Daumen auf die Sicherung.

 

»Na gut, dann komm, wie du bist, es macht mir nichts aus.«

 

Er hielt sie fest an der Hand und ging neben ihr her, erstaunt und gut gelaunt, daß sie so wenig Widerstand leistete. Sie gingen in die Bibliothek und von da in den kleinen Salon, der dicht daneben lag. Er stieß die Tür auf und zeigte ihr die festlich geschmückte Tafel. Dann ließ er sie vor sich eintreten.

 

»Wein und Küsse«, rief er laut, als er den Korken einer Champagnerflasche an die Decke knallen ließ. »Wein und Küsse!« Er schwenkte das Glas so zu ihr hin, daß der Schaumwein an ihre Jacke spritzte und daran herunterfloß.

 

Sie schüttelte stumm den Kopf.

 

»Trink aus«, rief er, und sie berührte das Glas mit ihren Lippen.

 

Dann nahm er sie, bevor sie wußte, was vorging, in seine Arme, sein großes Gesicht preßte sich an ihre Wangen.

 

Sie versuchte der Umarmung zu entkommen, konnte aber nur den Mund abwenden und fühlte seine heißen Lippen auf ihrer Wange.

 

Plötzlich ließ er sie los, schwankte zur Tür und schloß sie ab. Er hatte aber den Schlüssel noch nicht losgelassen, als er ihre Stimme hörte:

 

»Wenn Sie nicht sofort aufschließen, werde ich Sie niederschießen!«

 

Belustigt und überrascht schaute er auf. Als er aber die Pistole in der Hand des Mädchens sah, hielt er seine zitternde Hand vor das Gesicht.

 

»Willst du wohl die Pistole nach unten richten, du dummes Mädchen«, schrie er. »Herunter damit! Du weißt gar nicht, was du tust! Das verfluchte Ding könnte doch durch einen Zufall losgehen!«

 

»Es wird nicht zufällig losgehen«, sagte sie. »öffnen Sie sofort die Tür.«

 

Er zögerte einen Augenblick. Ihr Daumen drückte die Sicherung herunter. Er hatte die Bewegung bemerkt.

 

»Schieß nicht, schieß nicht!« brüllte er laut und riß die Tür weit auf. »Warte, geh nicht hinaus. Bhag wird dich fassen! Komm zu mir, ich will –«

 

Sie lief den Gang entlang. In der Halle glitt sie auf einem Teppich aus, richtete sich aber sofort wieder auf. Mit zitternden Händen öffnete sie die Ketten und Riegel, dann stieß sie das Tor weit auf und war im Freien.

 

Sir Gregory folgte ihr. Der Schrecken über ihre plötzliche Flucht machte ihn nüchtern, und er wurde sich all der schlimmen Folgen bewußt, die die Sache haben konnte. Er eilte bestürzt in sein Arbeitszimmer und öffnete den Geldschrank, zog einen großen Stoß Banknoten heraus, nahm eine pelzgefütterte Jacke von einem Haken und schlüpfte hinein. Er zog sich eben starke Schuhe an, als er plötzlich an Bhag dachte. Er öffnete seinen Raum, aber der Affe war nicht da. Ein schrecklicher Gedanke kam ihm. Wenn Bhag das Mädchen erwischte! Ein Rest menschlichen Gefühls tauchte dumpf in seinem Gemüt auf. Zuerst mußte er wissen, wo Bhag war. Er ging in die Dunkelheit hinaus, um seinen schrecklichen Diener zu suchen. Er legte beide Hände an den Mund und stieß einen langen, klagenden Schrei aus. Diesem Ruf war Bhag bisher immer gefolgt. Er wartete, aber er hörte nichts. Wieder ließ er den melancholischen Ruf ertönen, aber wenn Bhag ihn gehört hatte, wurde er ihm zum erstenmal in seinem Leben untreu.

 

Kalter Angstschweiß trat auf Gregory Pennes Stirn. Und als er wartend stand, kam er wieder zu sich. Er mußte irgend etwas unternehmen. Er ging in sein Schlafzimmer, zog den Pyjama aus, und kurze Zeit darauf war er wieder in dem dunklen Garten, um den Affen zu suchen. Als er jetzt richtig angezogen war, fühlte er sich mutiger. Vorher hatte er noch ein großes Glas Whisky getrunken, um seinen Mut zu stärken.

 

Er klingelte nach dem Diener, der gleichzeitig Chauffeur war. »Bring das Auto zur hinteren Tür«, sagte er, »und zwar sofort. Sieh auch zu, daß das Tor offen ist. Es ist möglich, daß ich heute noch fort muß.«

 

Er zweifelte nicht daran, daß man ihn festnehmen würde. Weder sein Reichtum noch seine Stellung, noch sein Einfluß, den er im ganzen Land hatte, konnten ihn davor retten. Diese letzte Dummheit, die er begangen hatte, war denn doch zu stark.

 

Plötzlich erinnerte er sich, daß Stella Mendoza noch im Haus war, und rannte nach oben, um nach ihr zu sehen. Als sie in sein Gesicht schaute, war ihr klar, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorgegangen war.

 

»Wo ist Helen?« fragte sie ihn heftig.

 

»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Sie ist entflohen. Sie hatte eine Pistole. Bhag ist hinter ihr her. Mag der Himmel wissen, was noch geschieht, wenn er sie erwischt. Er wird sie in Stücke zerreißen. Was ist das?«

 

Man hörte von fern her einen Pistolenschuß, und zwar aus der Richtung hinter dem Haus.

 

»Wahrscheinlich Wilderer«, sagte Gregory unsicher. »Also, nun höre zu, ich gehe jetzt.«

 

»Wohin gehst du?« fragte sie.

 

»Das geht dich nichts an«, sagte er rauh. »Hier ist Geld.« Er nahm einige Banknoten und gab sie ihr.

 

»Was hast du gemacht?« fragte sie starr vor Schrecken.

 

»Ich habe gar nichts gemacht, sage ich dir«, fuhr er sie an. »Aber sie werden mich deswegen festsetzen. Ich gehe jetzt zu meiner Jacht. Du würdest auch besser tun, das Haus zu verlassen, bevor sie kommen!«

 

Sie nahm schnell Hut und Handschuhe. Plötzlich hörte sie, wie die Tür zufiel und sich der Schlüssel wieder umdrehte. Ohne es zu wollen, hatte er sie wieder eingeschlossen, und in seiner Aufregung achtete er nicht mehr auf ihr Klopfen.

 

Griff Towers stand auf einer Erhöhung, und man konnte von hier aus die Straße nach Chichester übersehen. Als er vor seinem Haus stand und immer noch hoffte, den Affen zu finden, sah er plötzlich zwei Lichter, die sich mit größer Geschwindigkeit näherten.

 

»Die Polizei«, stöhnte er und eilte Hals über Kopf durch den Küchengarten zur Hintertür.

 

Kapitel 37

 

37

 

Helen hastete den Fahrweg entlang. Sie hatte nur den einen Gedanken, diesem schrecklichen Haus zu entkommen. Das Tor war geschlossen und die Pförtnerloge dunkel. Sie versuchte verzweifelt, die eisernen Riegel zu öffnen, aber sie waren zu schwer. Als sie rückwärts blickte, sah sie in dem Schein des Lichtes, das aus der offenen Halle drang, eine Gestalt, die heimlich auf einem der Grasstreifen entlangschlich, die den Fahrweg einsäumten. Einen Augenblick dachte sie, es sei Gregory Penne. Aber dann erkannte sie die scheußliche Gestalt. Sie war beinahe vor Schrecken gelähmt. Es war Bhag!

 

Sie bewegte sich so ruhig wie nur möglich die Mauer entlang, indem sie von Strauch zu Strauch kroch, aber er hatte sie schon gesehen und kam hinter ihr her. Er bewegte sich langsam und vorsichtig, als ob er nicht ganz sicher wäre, daß er sie verfolgen dürfe. Vielleicht gab es noch ein anderes Tor in der Mauer, dachte sie sich und schlich weiter. Von Zeit zu Zeit blickte sie zurück. Die Pistole hatte sie in der Hand. Angstschweiß trat auf ihre Stirn.

 

Jetzt verließ sie die schützende Wand und ging quer über die Wiese. Im ersten Augenblick glaubte sie, ihrem Verfolger entkommen zu sein, denn Bhag mied freie Plätze, aber jetzt sah sie ihn wieder. Er war auf gleicher Höhe mit ihr und trabte an der Wand entlang. Aber er eilte sich nicht. Sie hoffte, daß er am Ende die Verfolgung aufgäbe, wenn sie ruhig ihren Weg fortsetzte. Vielleicht war er ihr nur aus Neugierde gefolgt. Aber diese Hoffnung wurde bald zerstört. Sie stieg über einen niedrigen Zaun und kam auf einen Weg, der sie näher und näher zur Mauer brachte. Als sie dies merkte, wandte sie sich plötzlich von dem Weg ab und eilte durch hohes, taufeuchtes Gras. Nach den ersten Schritten war sie schon bis zu den Knien durchnäßt, aber in ihrer Aufregung bemerkte sie es nicht einmal. Bhag hatte die Mauer verlassen und folgte ihr jetzt ins Freie. Sie hätte gern gewußt, ob die Mauer das ganze Grundstück umgab, und war froh, als sie an einen niedrigen Zaun kam. Sie stolperte fast über eine Böschung, die offensichtlich die östliche Grenze des Geländes bildete. Sie lief, so schnell sie konnte, obgleich sie nicht wußte, wohin sie kam. Als sie sich umschaute, merkte sie zu ihrem Schrecken, daß Bhag immer noch hinter ihr war, doch blieb er immer gleich weit von ihr entfernt. In der Ferne sah sie die Lichter eines Hofes. Er schien gar nicht sehr weit abzuliegen, aber in Wirklichkeit waren es mehr als zwei Kilometer. Mit einem Seufzer der Erleichterung bog sie von der Straße ab und lief eine kleine Böschung hinauf, aber als sie die höchste Stelle erreicht hatte, sah sie zu ihrer Enttäuschung, daß die Lichter sehr weit entfernt waren. Sie wandte sich um und entdeckte Bhag. Sie konnte seine grünen Augen in der Dunkelheit funkeln sehen.

 

Wo mochte sie eigentlich sein? Sie blickte umher und erkannte die Gegend wieder. Vor ihr links erhob sich die massige Silhouette des alten Griff Tower. Plötzlich gab Bhag seine Rolle als Beobachter auf und sprang mit einem hundeähnlichen Knurren auf sie zu. Sie floh in der Richtung des Turmes. Ihr Herz klopfte so schnell, daß sie jeden Augenblick zusammenzubrechen drohte. Eine Hand faßte ihre Jacke und riß sie ihr herunter. Das brachte sie zur Besinnung. Sie mußte ihrem Feind entgegentreten, wenn sie nicht zugrunde gehen wollte.

 

Mit einer plötzlichen Bewegung wandte sie sich um und hob die Pistole. Sie stand jetzt Bhag Auge in Auge gegenüber. Er brummte und zerrte an der Jacke in seiner Hand. Wieder duckte er sich zum Sprung. Sie drückte ab. Der unerwartet laute Knall erschreckte sie so, daß sie beinahe die Pistole fallen ließ. Mit einem ängstlichen Heulen fiel Bhag hin und griff nach seiner verwundeten Schulter. Aber er richtete sich gleich wieder auf und zog sich langsam zurück. Trotzdem behielt er sie immer noch im Auge.

 

Was sollte sie tun? Der Affe konnte sich im Gebüsch wieder an sie heranschleichen und jeden Augenblick auf sie losgehen. Sie blickte nach dem Turm. Wenn sie nur oben auf die Mauer klettern könnte. Da erinnerte sie sich an die Leiter, die Jack Knebworth zurückgelassen hatte. Aber wahrscheinlich war sie inzwischen schon abgeholt worden. Sie schlich sich heimlich an den Turm und beobachtete dabei immer den Affen. Obgleich er ganz still dasaß, wußte sie doch, daß er ihr mit den Augen folgte. Als sie in der Nähe des Turmes in dem Gras suchte, fühlte sie eine Sprosse der Leiter. Sie konnte sie ohne viel Mühe aufrichten und gegen die Mauer lehnen.

 

Bhag war immer noch da. Der düstere Glanz seiner Augen war schrecklich anzusehen. In großer Hast stieg sie die Leiter hinauf und zog sie in die Höhe. Bhag kroch näher und näher, heran, bis er den Fuß der Mauer erreicht hatte. Dreimal machte er Anstrengungen, die Wand emporzuklettern, aber es gelang ihm nicht. Sie hörte, wie er vor Wut keuchte. Dann ließ sie die Leiter an der Innenseite des Turmes hinunter. Lange Zeit beobachteten die beiden einander. Schließlich entfernte sich Bhag. Sie verfolgte seine häßliche Gestalt mit den Augen, solange sie ihn sehen konnte. Als sie sicher war, daß er nicht wiederkehren würde, beschäftigte sie sich wieder mit der Leiter. Das untere Ende mußte sich in einem der Büsche verfangen haben. Sie zog dauernd, und als sie sich zum drittenmal mühte, die Leiter freizubekommen, gelang es ihr. Aber sie verlor dabei das Gleichgewicht. Einen Augenblick hielt sie sich noch mit der Hand oben an der Mauer fest, dann fiel sie halb gleitend nach unten. Atemlos richtete sie sich wieder auf. Sie hätte über ihr Mißgeschick lachen können, wenn sie sich nicht so entsetzlich einsam in ihrer neuen Umgebung gefühlt hätte. Sie versuchte, die Leiter aufs neue aufzustellen, aber im Dunkeln war es unmöglich, einen festen Standpunkt zu finden. Sie erinnerte sich, daß sie damals kleine Steine und Felsen hier unten gesehen hatte, und begann danach zu suchen. Sie erreichte den Boden der kreisförmigen Senkung und zog einen Zweig beiseite – mit den Füßen fühlte sie nach einem sicheren Halt und versuchte weiterzugehen. Plötzlich kam sie ins Gleiten und fiel durch einen schrägen Schacht in die Tiefe der Erde!

 

Kapitel 38

 

38

 

Immer tiefer rutschte sie hinab. Mit einer Hand versuchte sie, sich in der weichen Erde festzuhalten, mit der anderen hielt sie krampfhaft die kleine Pistole. Einmal stießen ihre Füße heftig gegen einen vorspringenden Felsen, und der Stoß verursachte ihr große Schmerzen. Sie durfte nicht daran denken, wohin sie kam. Nach einer Ewigkeit wurde der Boden endlich waagerecht. Sie überschlug sich noch ein paarmal und blieb an einer Felswand liegen, gegen die sie unsanft anprallte. Der Atem verging ihr fast. Obwohl es ihr endlos lang erschienen war, konnten es doch nur ein paar Sekunden gewesen sein. Ein paar Minuten lag sie bewegungslos, dann erholte sie sich langsam wieder. Mit einem Seufzer erhob sie sich. Sie fühlte an ihren schmerzenden Fuß und bewegte ihn, um zu sehen, ob sie irgend etwas gebrochen hätte. Als sie in die Höhe schaute, sah sie oben einen bleichen Stern und entdeckte die Öffnung, durch die sie heruntergefallen war. Sie machte sofort Anstrengungen, wieder emporzukommen, aber die weiche Erde gab unter ihren Füßen immer wieder nach, und sie sank jedesmal zurück.

 

Sie bemerkte, daß sie einen Schuh verloren hatte, tastete rings umher und fand ihn nach einiger Zeit, halb mit Erde bedeckt. Sie klopfte ihn aus, wischte die Sohle ihres Strumpfes ab, und zog ihn wieder an. Dann setzte sie sich hin und überlegte, was sie tun könnte. Mit Tagesanbruch würde es möglich sein, ihre Umgebung genauer zu durchsuchen. Soviel sie auch nachdachte, sie mußte bis zur Morgendämmerung warten.

 

Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie immer noch die mit Erde beschmutzte Browningpistole in der Hand hielt. Sie lächelte und reinigte sie, so gut sie konnte. Dann sicherte sie die Waffe wieder und steckte sie in ihre Bluse.

 

Das Rätsel von Bhags Erscheinen auf dem Turm war nun gelöst. Er hatte sich damals in der Höhle verborgen!

 

Wie weit mochte sich wohl die Höhle ausdehnen? Sie schaute sich links und rechts um, aber sie konnte nichts sehen. Vorsichtig tastete sie sich weiter, indem sie jeden Fußtritt ihres Weges vorher untersuchte. Ihre Hand berührte einen steinernen Pfeiler, aber sie zog sie schnell zurück, denn er war naß und kalt.

 

Dann machte sie eine wichtige Entdeckung. Sie ging langsam die Wand entlang und fühlte mit ihrer Hand eine Nische. An der glatten Oberfläche erkannte sie, daß sie von Menschen angelegt sein mußte. Als sie weiter hineinfaßte, fühlte sie einen Gegenstand. Ihr Herz schlug vor Erregung. Er kam ihr so vertraut vor, und als sie ihn näher untersuchte, war es wirklich eine Laterne. Sie nahm sie heraus und öffnete das Glastürchen. Eine Kerze steckte darin, und auf dem Boden der Laterne fand sie eine Schachtel Streichhölzer.

 

Es war kein Wunder, wie sie noch erfahren sollte, aber im Augenblick erschien ihr die Möglichkeit, Licht zu machen, wie eine Antwort auf ihre unausgesprochenen Gebete. Sie entzündete mit so zitternder Hand ein Streichholz, daß es wieder ausging. Das zweitemal gelang es ihr, den Docht der Kerze anzustecken. Das Licht war noch ganz neu und leuchtete zuerst nur schwach. Aber als das Wachs zu schmelzen begann und sie die Laterne wieder schloß, tauchte nach und nach ihre Umgebung aus dem Dunkel.

 

Sie war in einer engen Höhle. Von der Decke hingen unzählige Tropfsteingebilde herunter. Am Eingang der Höhle hatte sie nichts von dem herabsickernden Wasser bemerkt, das nun einmal untrennbar mit diesen Formationen verbunden ist. Aber weiter hinten war der Boden der Höhle naß, und ein dünner Wasserstrom rann in einem ausgehöhlten Bett an einer Seite des Weges entlang. Sie schritt vorwärts. Die Höhle erweiterte sich, und sie sah viele Stalaktiten zur Rechten und zur Linken. Sie standen in so regelmäßigen Zwischenräumen und waren von so gleichmäßiger Gestalt, daß es aussah, als ob sie von Menschenhand geformt worden wären. Kleinere Nebenhöhlen taten sich zu beiden Seiten auf. In dem Licht der Laterne glänzten die verborgenen Schätze der Erde. Sie sah feenhafte Grotten aus steinernem Spitzenwerk, und das Licht der Kerze spiegelte sich in kleinen Seen und Teichen. Die Höhle wurde immer breiter, bis sie in einem großen, weiten Saal stand, der mit Eisspitzen verziert zu sein schien. Hier lagen auf dem Boden merkwürdige weiße Stöcke umher, Hunderte in jeder möglichen Größe und Form. Im Glanz der Laterne hatten sie ein weißliches Aussehen. Sie bückte sich und nahm einen davon auf, ließ ihn aber sofort entsetzt wieder fallen. Es waren Menschenknochen!

 

Schwer atmend eilte sie durch die große Höhle, die wieder enger und dem Teil ähnlicher wurde, in den sie hineingefallen war. In einer anderen Nische fand sie eine zweite Laterne mit einem neuen Licht und Streichhölzern. Wer mochte sie hierhergebracht haben? Über die erste Lampe hatte sie nicht weiter nachgedacht, die gehörte für sie in das Reich der Wunder. Aber diese zweite Laterne machte sie doch unruhig. Wer hatte die Lichter in Zwischenräumen in der Höhle verteilt? Es sah fast so aus, als ob jemand seine Flucht hätte vorbereiten wollen. Es mußte also hier unten jemand wohnen. Bei diesem Gedanken atmete sie schneller.

 

Langsam ging sie vorwärts und prüfte wieder den Weg. Die zweite Laterne hängte sie über ihren Arm, ohne sie anzuzünden. An einer Stelle war der Boden der Höhle von fließendem Wasser bedeckt, an einer anderen mußte sie durch einen kleinen unterirdischen Teich waten, wobei ihr das Wasser bis über die Knöchel ging. Dann wandte sich die Höhle mit einer jähen Wendung nach rechts. Von Zeit zu Zeit stand sie still und horchte. Sie hoffte den Klang einer menschlichen Stimme zu hören und fürchtete sich doch wieder bei diesem Gedanken. Die Decke der Höhle senkte sich tiefer. Hier und da sah sie, daß Stalaktiten abgeschlagen waren, um Raum für den Durchgang zu schaffen. Das konnte nur der Geheimnisvolle getan haben, der hier hauste.

 

Sie wehrte sich gegen die schrecklichen Gedanken, die in ihr aufstiegen, und ging weiter. Sie brauchte mehr Kraft und Mut als jemals zuvor in ihrem Leben.

 

Der Weg durch die Höhle machte abermals eine scharfe Biegung. Wieder sah sie, daß sich kleine Nischen in den Wänden öffneten. Plötzlich hielt sie an, also sie in eine der Grotten hineinleuchtete. Zu Tode erschrocken stand sie still. Zwei Menschen lagen nebeneinander ausgestreckt – sie unterdrückte den Schrei, der sich auf ihre Lippen drängte, und preßte die Hände auf den Mund. Sie schloß die Augen, um das Gräßliche nicht zu sehen, Die beiden Toten hatten keine Köpfe mehr! Sie lagen in flachen Löchern, und das Wasser tropfte unaufhörlich auf sie nieder.

 

Lange Zeit konnte sie sich nicht bewegen oder die Augen öffnen, aber schließlich siegte ihr Wille, und sie hielt mit eisiger Ruhe den Anblick aus, der sie bis ins Innerste erstarren ließ. Auch in der nächsten Grotte lag eine Leiche. Sie war dem Zusammenbruch nahe, als sie einen dünnen Lichtschein in der düsteren Ferne auftauchen sah. Er bewegte sich und schwankte. Dann hörte sie ein schauerliches Lachen.

 

Sofort löschte sie ihre Laterne aus. Sie lehnte sich eng an die Wand der Höhle. Alle die greulichen Spuren um sie herum versanken, sie war sich nur der Gefahr bewußt, die ihr jetzt drohte. Plötzlich entzündete sich ein größeres Licht, dann noch eins, bis die entfernten Höhlenräume taghell erleuchtet waren. Als sie noch starr vor Entsetzen stand, drang ein Schrei durch die Stille.

 

»Hilfe, um Himmels willen, Hilfe! Brixan, ich will noch nicht sterben!«

 

Sie erkannte die krächzende Stimme Sir Gregory Pennes.

 

Kapitel 39

 

39

 

Es war dieselbe schrille Stimme, die auch Mike in Griff Towers hörte. Er rannte quer durch den Park zum hinteren Tor, wo ein Wagen mit abgeblendetem Licht stand. Daneben wartete ein erschrockener brauner Diener.

 

»Wo ist dein Herr?« fragte Mike schnell.

 

Der Mann zeigte in die Richtung der Felder.

 

»Er ging diesen Weg«, sagte er mit zitternder Stimme. »In der großen Maschine war ein böser« Geist, sie bewegte sich nicht, als er anfahren wollte.«

 

Mike sah, was geschehen war. Im letzten Moment hatte der Motor versagt. Das war eins von den Mißgeschicken, die sowohl den Gerechten wie den Ungerechten ereilen konnten. Penne war zu Fuß geflohen.

 

»Welchen Weg ging er?«

 

Wieder zeigte der Mann in dieselbe Richtung.

 

»Er lief«, sagte er schlicht.

 

Mike wandte sich an den Detektiv, der ihn begleitete.

 

»Bleiben Sie hier, es ist möglich, daß er zurückkehrt. Nehmen Sie ihn sofort fest, und legen Sie ihn in Eisen. Wahrscheinlich hat er Waffen bei sich, vielleicht will er auch Selbstmord begehen.«

 

Er war nun schon so oft über diese Felder gegangen, daß er den Weg mit verbundenen Augen gefunden hätte. Er lief, so schnell er konnte, bis er auf die Chaussee kam. Aber nirgends konnte er Sir Gregory sehen. In fünfzig Meter Entfernung sah er Licht in einem Fenster des Obergeschosses von Mr. Longvales Haus. Er wandte sich dorthin.

 

Noch hatte er‘ nichts von dem Baron gesehen. Schnell ging er durch das Gartentor und klopfte an die Haustür, die gleich darauf von dem alten Herrn selbst geöffnet wurde. Er trug einen seidenen Hausmantel, der durch einen Gürtel zusammengehalten wurde. Ein Bild behaglichen Friedens, dachte Mike für sich.

 

»Wer ist da?« fragte Mr. Sampson Longvale, indem er in die Dunkelheit hinausschaute. »Beim Himmel, das ist Mr. Brixan, der Diener des Gesetzes. Kommen Sie herein!«

 

Er öffnete die Tür weit, und Mike ging in das Wohnzimmer, in dem die beiden unvermeidlichen Leuchter brannten. Heute wurde der Raum außerdem noch durch eine kleine silberne Petroleumlampe erhellt.

 

»Ist in Griff Towers ein Unglück passiert?« fragte Mr. Longvale ängstlich.

 

»Ja«, sagte Mike vorsichtig. »Haben Sie irgendwo Sir Gregory Penne gesehen?«

 

Der alte Herr schüttelte den Kopf. »Ich fand die Nacht zu kühl, um meinen gewöhnlichen Spaziergang im Garten zu machen«, sagte er. »So habe ich nichts von den aufregenden Ereignissen bemerkt, die sich anscheinend unvermeidlicherweise immer in dieser finsteren Zeit zutragen. Ist Sir Gregory etwas zugestoßen?«

 

»Ich hoffe im Interesse aller, daß ihm nichts zugestoßen ist«, sagte Mike ruhig, ging durch den Raum, stützte den Ellenbogen auf den Kamin und schaute auf das Gemälde, das darüber hing.

 

»Bewundern Sie meinen Verwandten?« fragte Mr. Longvale.

 

»Ich will nicht gerade sagen, daß ich ihn bewundere, aber er war sicher ein schöner, alter Herr.«

 

Mr. Longvale neigte den Kopf.

 

»Haben Sie seine Memoiren gelesen?«

 

Mike nickte, und Longvale schien durchaus nicht überrascht zu sein.

 

»Ja, ich habe etwas über den Inhalt seiner Memoiren gelesen«, sagte Mike ruhig. »Aber neuerdings hält man sie nicht mehr für authentisch.«

 

Mr. Longvale zuckte die Achseln.

 

»Ich persönlich glaube jedes Wort«, sagte er.

 

»Mein Onkel war ein Mann von hervorragender Bildung.«

 

Es war erstaunlich, daß der Detektiv, der eben Hals über Kopf von Griff Towers fortgestürzt war, um womöglich einen Mörder zu fassen, so ruhig dastand und sich über Memoiren unterhielt.

 

»Manchmal kommt mir der Gedanke, daß Sie sich zuviel mit Ihrem Onkel beschäftigen, Mr. Longvale«, sagte Mike höflich.

 

Der alte Herr runzelte die Stirn.

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Ich meine, daß das zu einer Versuchung, ja zu einer unheilvollen Manie werden kann. Solche Heldenverehrung bringt manchmal einen Mann dazu, Taten zu begehen, die kein vernünftiger Mensch ausführen würde.«

 

Longvale blickte erstaunt zu ihm hin.

 

»Kann man denn etwas Besseres tun, als die Taten eines großen Mannes nachzuahmen?«

 

»Nein, aber Ihre Urteilskraft ist ganz und gar in Verwirrung geraten. Sie legen ihm Tugenden bei, die in Wirklichkeit keine sind. Man kann ja schließlich auch Pflichterfüllung für eine Tugend halten – und man kann auch das, was schrecklich ist, mit dem Begriff ›groß‹ verwechseln.«

 

Mike drehte sich um, legte seine Hände flach auf die Tischplatte und sah den alten Herrn an, der seinen Blick frei erwiderte.

 

»Ich möchte, daß Sie heute abend mit mir nach Chichester kommen.« »Warum?«

 

»Weil ich davon überzeugt bin, daß Sie ein kranker Mann sind, der der Pflege bedarf.«

 

Longvale lachte und richtete sich kerzengerade auf.

 

»Krank? Ich war niemals gesünder in meinem Leben, niemals mehr auf der Höhe und niemals stärker.«

 

Und er sah auch wirklich so aus, wie er sagte. Seine Größe, seine breiten Schultern, seine gesunde Gesichtsfarbe, alles sprach für sein körperliches Wohlergehen.

 

Es entstand eine lange Pause.

 

»Wo ist Gregory Penne?« fragte Mike, indem er jedes Wort betonte.

 

»Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Der alte Mann sah ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wir sprachen soeben über meinen Großonkel – Sie kennen ihn natürlich?« fragte er.

 

»Ich erkannte dieses Bild auf den ersten Blick wieder. Ich dachte, ich hätte mein Wissen verraten, aber anscheinend habe ich das doch nicht getan. Ihr Großonkel« – Mike sprach jedes Wort mit Bedacht aus – »war Samson, mit anderem Namen Longvale, der oberste Scharfrichter von Frankreich!«

 

Ein tiefes Schweigen folgte diesen Worten.

 

»Er hat verschiedene Heldentaten ausgeführt … Er hängte drei Mann an einem Galgen von sechzig Fuß Höhe, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich läßt – und enthauptete Ludwig XVI. von Frankreich und seine Gemahlin Marie Antoinette.«

 

Die Augen des alten Herrn glänzten vor Genugtuung und Stolz. Er schien noch mehr zu wachsen.

 

»Durch welch phantastische Laune des Schicksals Sie dazu getrieben wurden, sich gerade in England niederzulassen und welcher verrückte Einfall Sie dazu brachte, heimlich den Beruf Samsons auszuüben und weit und breit arme, hilflose, verzweifelte Menschen umzubringen, weiß ich nicht.«

 

Mike sprach mit gewöhnlicher Stimme und in ruhigem Unterhaltungston. Longvale antwortete ebenso.

 

»Ist es denn nicht besser«, erwiderte er höflich, »daß ein Mann nicht selbst Hand an sich legt und das unverzeihliche Verbrechen des Selbstmordes begeht? Bin ich nicht ein Wohltäter für die Menschen gewesen, die nicht wagten, sich selbst das Leben zu nehmen?«

 

»Zum Beispiel für Lawley Foß«, sagte Mike, indem er Longvale keinen Augenblick aus den Augen ließ.

 

»Er war ein Verräter, ein ganz gemeiner Erpresser, der glaubte, daß er Dinge, die zufällig zu seiner Kenntnis kamen, dazu gebrauchen könnte, Geld aus anderen herauszuholen.«

 

»Wo ist Gregory Penne?«

 

Der alte Herr lächelte ruhig.

 

»Wollen Sie mir denn nicht glauben – das ist sehr unhöflich von Ihnen –, ich habe Sir Gregory nicht gesehen.«

 

Mike zeigte auf den Kamin, wo der Rest einer Zigarette noch glomm.

 

»Da ist seine Zigarette«, sagte er. »Und hier sind seine schmutzigen Fußspuren auf dem Teppich – dann habe ich einen Schrei gehört … Wo ist er?«

 

Mike fühlte nach seiner schweren Browningpistole in der Tasche. Eine Bewegung Longvales hätte jetzt genügt, daß Mike ihn über den Haufen geschossen hätte. Er stand einem Irrsinnigen der gefährlichsten Art gegenüber. Er hätte keinen Augenblick gezögert, abzudrücken.

 

Aber Longvale zeigte gar keinen Widerstand, aus seiner Stimme sprach die Höflichkeit selbst, und er schien stolz auf seine Verbrechen zu sein, die in seinen Augen Heldentaten waren.

 

»Wenn Sie tatsächlich wünschen, daß ich heute abend nach Chichester gehen soll, dann will ich es tun. Ihrer Meinung nach haben Sie ja recht, ebenso nach der Meinung Ihrer Vorgesetzten. Aber wenn Sie meiner Tätigkeit ein Ziel setzen, fügen Sie der leidenden Menschheit grausamen Schaden zu. Meine gute Absicht, ihr zu dienen, hat mich viele tausend Pfund gekostet. Aber ich bedaure es nicht.«

 

Er nahm eine Flasche aus dem großen Eichenbüfett, das an der Wand stand, wählte mit größter Sorgfalt zwei Gläser aus und füllte sie.

 

»Wir wollen auf unsere gegenseitige gute Gesundheit trinken«, sagte er mit seiner alten Höflichkeit, hob sein Glas an die Lippen und trank es mit demselben Genuß aus, mit dem alte Weinkenner einen guten Jahrgang kosten.

 

»Sie trinken nicht, Mr. Brixan? Jemand anders hat schon getrunken.«

 

Auf dem Büfett stand ein halbleeres Glas, Mike bemerkte es erst jetzt.

 

»Der Wein hat ihm anscheinend nicht geschmeckt.«

 

Mr. Longvale seufzte.

 

»Nur wenig Leute können den Wein richtig schätzen«, sagte er, indem er ein Stäubchen von seinem Rock abstreifte. Er zog ein seidenes Taschentuch aus der Tasche, bückte sich und entfernte elegant den Staub von seinen Schuhen.

 

Mike stand auf einem schmalen Teppich, der vor dem Kamin lag. Er hatte die Hand an der Pistole, seine Nerven waren gespannt. Er wartete nur auf den Moment, in dem Longvale versuchen wollte, etwas gegen ihn zu unternehmen. Wann und woher die Gefahr kommen würde, konnte er nicht ahnen, aber es war höchste Gefahr im Verzug. Er war durch das sanfte Betragen Longvales eher beunruhigt als erleichtert. Eine Gänsehaut überlief ihn.

 

»Sie sehen, mein lieber …«, begann Longvale zu sprechen.

 

Plötzlich, bevor Mike merkte, was geschah, hatte Longvale das Ende des Teppichs, auf dem der Detektiv stand, gefaßt und es mit einem schnellen Ruck zu sich hingezogen. Mike verlor das Gleichgewicht und fiel schwer zu Boden. Sein Kopf schlug gegen die eichene Täfelung, die Pistole glitt über den glatten Fußboden. Wie ein Blitz warf sich der Alte auf ihn. Mike fühlte die Berührung kalten Stahls an seinen Handgelenken.

 

Draußen hörte man Schritte. Longvale erhob sich, zog hastig seinen Hausmantel aus und band ihn um den Kopf des Detektivs – es wurde an der Tür geklopft. Durch einen Blick überzeugte er sich, daß er vor seinem Gefangenen sicher sein konnte, dann löschte er die Lampe und einen der beiden Leuchter. Mit dem anderen ging er auf den Gang. Er war in Hemdsärmeln, und der Beamte von Scotland Yard, der draußen wartete, entschuldigte sich, daß er den alten Herrn gestört hatte.

 

»Haben Sie Mr. Brixan gesehen?«

 

»Mr. Brixan? Ja, er war vor einigen Minuten hier und ging dann nach Chichester weiter.«

 

Mike hörte Stimmen, aber er konnte nicht unterscheiden, was gesagt wurde. Die seidene Hülle um seinen Kopf drohte ihn zu ersticken. Er war nahe daran, ohnmächtig zu werden, als Longvale allein zurückkam, den Hausmantel wieder abwickelte und sich anzog.

 

»Wenn Sie Lärm machen, werde ich Ihre Lippen zusammennähen«, sagte er so ruhig und gutmütig, daß es unmöglich erschien, daß er seine Drohung auch ausführen würde. Aber Mike wußte nur zu gut, daß er nach dem Beispiel seines Großonkels verfuhr und nur das androhte, was jener oft in die Tat umgesetzt hatte.

 

»Es tut mir in vieler Beziehung leid, daß Sie daran glauben müssen«, sagte der alte Herr mit aufrichtigem Bedauern. »Sie sind ein junger Mann, vor dem ich den größten Respekt habe. Das Gesetz ist mir heilig, und ich achte seine Diener besonders hoch.«

 

Er zog eine Schublade im Büfett auf, nahm eine große Serviette heraus, faltete sie sorgfältig und knüpfte sie fest um Mikes Mund. Dann hob er ihn auf und setzte ihn auf einen Stuhl.

 

»Wenn ich noch jung und beweglich wäre, würde ich mir einen Scherz erlauben, den mein Onkel Charles Henry auch fertiggebracht hätte – ich würde nämlich über Nacht Ihren Kopf auf die Spitze des Tores von Scotland Yard aufspießen.«

 

Mike konnte nicht antworten, aber er hatte seine ruhige Selbstüberlegung wiedergewonnen, und obwohl sein Kopf noch heftig schmerzte, waren seine Gedanken wieder klar. Er war gespannt auf die nächsten Ereignisse und vermutete, daß er nicht lange zu warten brauchte.

 

Hier hatte auch Bhag bewußtlos gelegen – Mike ahnte, daß Longvale seine Opfer mit vergiftetem Wein betäubte, mit Butylchlorid, mit dem der Mörder arbeitete, wie er ja wußte.

 

Mike sollte bald erfahren, was nun kommen würde. Der alte Herr öffnete eine Tür des Büfetts und nahm einen großen Stahlhaken heraus, an dessen Ende sich ein Flaschenzug befand. Er langte zur Decke hinauf und hing die Öse des Hakens an einen eisernen Bolzen, der in einen überhängenden Balken eingeschlagen war. Mike hatte ihn schon vorher gesehen und sich überlegt, welchen Zweck er wohl haben mochte. Jetzt lernte er seine Bedeutung kennen. Von der Anrichte holte Longvale ein langes Tau. Das eine Ende befestigte er an der Rolle, das andere legte er geschickt und flink um die Brust Mikes und zog es unter seinen Armen durch. Jetzt bückte sich Longvale und rollte den Teppich auf. Mike sah, daß sich darunter eine Falltür befand. Diese hob er hoch und legte sie um. Ein großes Loch gähnte dem Detektiv entgegen. Er konnte nichts sehen. Nur das Stöhnen eines Menschen drang zu ihm herauf.

 

»Ich denke, wir können das jetzt entbehren«, sagte Longvale und löste die Serviette.

 

Hierauf zog er das Tau an – wie es schien, ohne sich dabei anzustrengen, und Mike schwebte in der Luft. Es war sehr unangenehm für ihn, und er hatte die absurde Vorstellung, daß er lächerlich aussehen mußte. Longvale steckte seine Füße durch die Öffnung und ließ nach und nach das Tau herunter.

 

»Wollen Sie so liebenswürdig sein und mir sagen, wann Sie den Boden berühren?« sagte er. »Ich will dann zu Ihnen hinunterkommen.«

 

Als Mike nach oben sah, bemerkte er, wie das lichte Viereck in der Decke über ihm kleiner und kleiner wurde. Er wußte nicht, wie lange er so in der Luft schwebte und hin und her schaukelte. Er konnte nicht wahrnehmen, daß er sich bewegte, und plötzlich, ehe er sich versah, berührten seine Füße den Boden, und er stieß einen Schrei aus.

 

»Sind Sie gut angekommen?« fragte Mr. Longvale höflich. »Bitte treten Sie ein paar Schritte zur Seite. Ich will jetzt das Tau hinunterwerfen, es könnte Sie sonst verletzen.«

 

Mike keuchte, aber er führte trotzdem die Anweisung aus und hörte gleich darauf, wie das Tau herunterfiel und auf dem Boden aufschlug. Oben wurde die Falltür geschlossen. Neben sich hörte er ein wildes Stöhnen.

 

»Sind Sie das, Penne?«

 

»Wer ist da?« fragte eine furchtsame Stimme. »Sind Sie es, Brixan? Wo sind wir? Was ist hier vorgegangen.«

 

»Haben Sie geschrien, als Sie aus Dower House fortliefen?«

 

»Ja, das tat ich. Ich fühlte, wie dieses tödliche Gift mich betäubte, und rannte hinaus. Aber mehr weiß ich nicht. Wo sind Sie, Brixan? Die Polizei wird uns doch hier befreien?«

 

»Hoffentlich noch lebend!« antwortete Mike wütend.

 

»Wer ist eigentlich dieser Mann? Sind dies die Höhlen? Ich habe von ihnen gehört. Es riecht furchtbar erdig hier. Sehen Sie etwas?«

 

»Ich glaubte eben ein Licht zu sehen«, sagte Mike. »Aber meine Phantasie spiegelt mir wohl etwas vor.« Plötzlich fragte er: »Wo ist Helen Leamington?«

 

»Das mag der Himmel wissen!« Penne zitterte.

 

Mike versuchte seine Handgelenke aus den Fesseln zu lösen, aber selbst wenn ihm das gelungen wäre, konnte er mit seinen Händen allein wenig gegen den alten Mann ausrichten. Er hatte seine Pistole verloren, aber in seiner Hosentasche trug er das lange, haarscharfe Messer, das ihm schon aus manchem Handgemenge herausgeholfen hatte. Es war die einzige unfehlbare Waffe, wenn die Pistole versagte. Aber er wußte, daß er keine Gelegenheit haben würde, dieses Messer zu gebrauchen.

 

Er setzte sich auf den Boden und versuchte ein Kunststück, das er auf einer Bühne in Berlin gesehen hatte – er wollte mit seinen Beinen durch die gefesselten Hände steigen, so daß er sie nach vorn bekam. Aber er bemühte sich umsonst. Dann hörte er, wie eine Tür geöffnet wurde und Mr. Longvale etwas sagte.

 

»Ich möchte Sie nicht lange warten lassen.« Er trug eine Laterne in seiner Hand, die beim Gehen hin und her schaukelte. Dies schien die Finsternis um sie her nur noch schwärzer zu machen. »Ich liebe es nicht, daß meine Patienten sich erkälten!«

 

Die fernen Wände der Höhle warfen das Echo seines schaurigen Lachens zurück. Er stand still, steckte ein Streichholz an, und gleich darauf brannte eine Petroleumlampe, die auf einem vorspringenden Felsen befestigt war. Er entzündete noch eine andere, dann eine dritte und eine vierte. In dem grellen Licht sah man jeden Gegenstand in der Höhle mit erschreckender Deutlichkeit. Mikes Blick fiel auf ein rotes Gerüst in der Mitte der Höhle, und obgleich er mutig und auf diesen schrecklichen Anblick vorbereitet war, begann er zu zittern.

 

Es war eine Guillotine!