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Immer tiefer rutschte sie hinab. Mit einer Hand versuchte sie, sich in der weichen Erde festzuhalten, mit der anderen hielt sie krampfhaft die kleine Pistole. Einmal stießen ihre Füße heftig gegen einen vorspringenden Felsen, und der Stoß verursachte ihr große Schmerzen. Sie durfte nicht daran denken, wohin sie kam. Nach einer Ewigkeit wurde der Boden endlich waagerecht. Sie überschlug sich noch ein paarmal und blieb an einer Felswand liegen, gegen die sie unsanft anprallte. Der Atem verging ihr fast. Obwohl es ihr endlos lang erschienen war, konnten es doch nur ein paar Sekunden gewesen sein. Ein paar Minuten lag sie bewegungslos, dann erholte sie sich langsam wieder. Mit einem Seufzer erhob sie sich. Sie fühlte an ihren schmerzenden Fuß und bewegte ihn, um zu sehen, ob sie irgend etwas gebrochen hätte. Als sie in die Höhe schaute, sah sie oben einen bleichen Stern und entdeckte die Öffnung, durch die sie heruntergefallen war. Sie machte sofort Anstrengungen, wieder emporzukommen, aber die weiche Erde gab unter ihren Füßen immer wieder nach, und sie sank jedesmal zurück.

 

Sie bemerkte, daß sie einen Schuh verloren hatte, tastete rings umher und fand ihn nach einiger Zeit, halb mit Erde bedeckt. Sie klopfte ihn aus, wischte die Sohle ihres Strumpfes ab, und zog ihn wieder an. Dann setzte sie sich hin und überlegte, was sie tun könnte. Mit Tagesanbruch würde es möglich sein, ihre Umgebung genauer zu durchsuchen. Soviel sie auch nachdachte, sie mußte bis zur Morgendämmerung warten.

 

Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie immer noch die mit Erde beschmutzte Browningpistole in der Hand hielt. Sie lächelte und reinigte sie, so gut sie konnte. Dann sicherte sie die Waffe wieder und steckte sie in ihre Bluse.

 

Das Rätsel von Bhags Erscheinen auf dem Turm war nun gelöst. Er hatte sich damals in der Höhle verborgen!

 

Wie weit mochte sich wohl die Höhle ausdehnen? Sie schaute sich links und rechts um, aber sie konnte nichts sehen. Vorsichtig tastete sie sich weiter, indem sie jeden Fußtritt ihres Weges vorher untersuchte. Ihre Hand berührte einen steinernen Pfeiler, aber sie zog sie schnell zurück, denn er war naß und kalt.

 

Dann machte sie eine wichtige Entdeckung. Sie ging langsam die Wand entlang und fühlte mit ihrer Hand eine Nische. An der glatten Oberfläche erkannte sie, daß sie von Menschen angelegt sein mußte. Als sie weiter hineinfaßte, fühlte sie einen Gegenstand. Ihr Herz schlug vor Erregung. Er kam ihr so vertraut vor, und als sie ihn näher untersuchte, war es wirklich eine Laterne. Sie nahm sie heraus und öffnete das Glastürchen. Eine Kerze steckte darin, und auf dem Boden der Laterne fand sie eine Schachtel Streichhölzer.

 

Es war kein Wunder, wie sie noch erfahren sollte, aber im Augenblick erschien ihr die Möglichkeit, Licht zu machen, wie eine Antwort auf ihre unausgesprochenen Gebete. Sie entzündete mit so zitternder Hand ein Streichholz, daß es wieder ausging. Das zweitemal gelang es ihr, den Docht der Kerze anzustecken. Das Licht war noch ganz neu und leuchtete zuerst nur schwach. Aber als das Wachs zu schmelzen begann und sie die Laterne wieder schloß, tauchte nach und nach ihre Umgebung aus dem Dunkel.

 

Sie war in einer engen Höhle. Von der Decke hingen unzählige Tropfsteingebilde herunter. Am Eingang der Höhle hatte sie nichts von dem herabsickernden Wasser bemerkt, das nun einmal untrennbar mit diesen Formationen verbunden ist. Aber weiter hinten war der Boden der Höhle naß, und ein dünner Wasserstrom rann in einem ausgehöhlten Bett an einer Seite des Weges entlang. Sie schritt vorwärts. Die Höhle erweiterte sich, und sie sah viele Stalaktiten zur Rechten und zur Linken. Sie standen in so regelmäßigen Zwischenräumen und waren von so gleichmäßiger Gestalt, daß es aussah, als ob sie von Menschenhand geformt worden wären. Kleinere Nebenhöhlen taten sich zu beiden Seiten auf. In dem Licht der Laterne glänzten die verborgenen Schätze der Erde. Sie sah feenhafte Grotten aus steinernem Spitzenwerk, und das Licht der Kerze spiegelte sich in kleinen Seen und Teichen. Die Höhle wurde immer breiter, bis sie in einem großen, weiten Saal stand, der mit Eisspitzen verziert zu sein schien. Hier lagen auf dem Boden merkwürdige weiße Stöcke umher, Hunderte in jeder möglichen Größe und Form. Im Glanz der Laterne hatten sie ein weißliches Aussehen. Sie bückte sich und nahm einen davon auf, ließ ihn aber sofort entsetzt wieder fallen. Es waren Menschenknochen!

 

Schwer atmend eilte sie durch die große Höhle, die wieder enger und dem Teil ähnlicher wurde, in den sie hineingefallen war. In einer anderen Nische fand sie eine zweite Laterne mit einem neuen Licht und Streichhölzern. Wer mochte sie hierhergebracht haben? Über die erste Lampe hatte sie nicht weiter nachgedacht, die gehörte für sie in das Reich der Wunder. Aber diese zweite Laterne machte sie doch unruhig. Wer hatte die Lichter in Zwischenräumen in der Höhle verteilt? Es sah fast so aus, als ob jemand seine Flucht hätte vorbereiten wollen. Es mußte also hier unten jemand wohnen. Bei diesem Gedanken atmete sie schneller.

 

Langsam ging sie vorwärts und prüfte wieder den Weg. Die zweite Laterne hängte sie über ihren Arm, ohne sie anzuzünden. An einer Stelle war der Boden der Höhle von fließendem Wasser bedeckt, an einer anderen mußte sie durch einen kleinen unterirdischen Teich waten, wobei ihr das Wasser bis über die Knöchel ging. Dann wandte sich die Höhle mit einer jähen Wendung nach rechts. Von Zeit zu Zeit stand sie still und horchte. Sie hoffte den Klang einer menschlichen Stimme zu hören und fürchtete sich doch wieder bei diesem Gedanken. Die Decke der Höhle senkte sich tiefer. Hier und da sah sie, daß Stalaktiten abgeschlagen waren, um Raum für den Durchgang zu schaffen. Das konnte nur der Geheimnisvolle getan haben, der hier hauste.

 

Sie wehrte sich gegen die schrecklichen Gedanken, die in ihr aufstiegen, und ging weiter. Sie brauchte mehr Kraft und Mut als jemals zuvor in ihrem Leben.

 

Der Weg durch die Höhle machte abermals eine scharfe Biegung. Wieder sah sie, daß sich kleine Nischen in den Wänden öffneten. Plötzlich hielt sie an, also sie in eine der Grotten hineinleuchtete. Zu Tode erschrocken stand sie still. Zwei Menschen lagen nebeneinander ausgestreckt – sie unterdrückte den Schrei, der sich auf ihre Lippen drängte, und preßte die Hände auf den Mund. Sie schloß die Augen, um das Gräßliche nicht zu sehen, Die beiden Toten hatten keine Köpfe mehr! Sie lagen in flachen Löchern, und das Wasser tropfte unaufhörlich auf sie nieder.

 

Lange Zeit konnte sie sich nicht bewegen oder die Augen öffnen, aber schließlich siegte ihr Wille, und sie hielt mit eisiger Ruhe den Anblick aus, der sie bis ins Innerste erstarren ließ. Auch in der nächsten Grotte lag eine Leiche. Sie war dem Zusammenbruch nahe, als sie einen dünnen Lichtschein in der düsteren Ferne auftauchen sah. Er bewegte sich und schwankte. Dann hörte sie ein schauerliches Lachen.

 

Sofort löschte sie ihre Laterne aus. Sie lehnte sich eng an die Wand der Höhle. Alle die greulichen Spuren um sie herum versanken, sie war sich nur der Gefahr bewußt, die ihr jetzt drohte. Plötzlich entzündete sich ein größeres Licht, dann noch eins, bis die entfernten Höhlenräume taghell erleuchtet waren. Als sie noch starr vor Entsetzen stand, drang ein Schrei durch die Stille.

 

»Hilfe, um Himmels willen, Hilfe! Brixan, ich will noch nicht sterben!«

 

Sie erkannte die krächzende Stimme Sir Gregory Pennes.