Kapitel 3

 

3

 

Helen Leamington bewohnte ein gerade nicht sehr geräumiges Zimmer in einem kleinen Haus. Aber manchmal wünschte sie sogar, daß es noch kleiner sei. Sie hätte dann den Mut gefunden, die unbeugsame, starke Frau Watson zu bitten, die Miete herunterzusetzen. Die Statistinnen in Jack Knebworths Filmgesellschaft wurden gut bezahlt, aber sie waren nur mäßig beschäftigt, denn Jack war einer der klugen Direktoren, die sich auf einheimische Milieufilme spezialisierten, für die kein großer Apparat notwendig war.

 

Sie zog sich gerade an, als Mrs. Watson ihr den Frühstückstee brachte.

 

»Draußen spioniert schon den ganzen Morgen ein junger Mann herum«, sagte sie. »Bereits als ich die Milch holte, habe ich ihn gesehen. Er war sehr höflich, aber ich sagte ihm, Sie wären noch nicht aufgestanden.«

 

»Wollte er denn mich aufsuchen?« fragte das Mädchen erstaunt.

 

»Ja, so sagte er«, entgegnete Mrs. Watson ärgerlich. »Ich fragte ihn, ob er von Knebworth käme, aber das verneinte er. Wenn Sie ihn sprechen wollen, können Sie in den Salon gehen, aber ich habe es nicht gerne, wenn junge Herren junge Mädchen besuchen. Vorher habe ich niemals an Theaterleute vermietet, und Sie können in diesem Punkt nicht vorsichtig genug sein. Ich halte seit jeher auf einen ehrenwerten Namen, und ich möchte das auch in Zukunft tun.«

 

Helen lächelte.

 

»Aber ich kann mir wirklich nichts Unschuldigeres vorstellen als einen Besuch zu so früher Morgenstunde, Mrs. Watson.«

 

Sie ging die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Der junge Mann stand in einem Seitengang und kehrte ihr den Rücken zu. Als er hörte, daß die Tür geöffnet wurde, drehte er sich um. Er sah sehr gut aus und war tadellos gekleidet. Er blickte sie mit einem Lächeln an, in dem eine Bitte lag.

 

»Ich hoffe, daß Ihre Wirtin Sie nicht meinetwegen aufgeweckt hat. Ich hätte warten können. Sie sind Miss Helen Leamington?«

 

Sie nickte.

 

»Treten Sie bitte näher«, sagte sie und führte ihn in den kleinen, dumpfen Salon. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wartete sie, bis er sprach.

 

»Ich bin Reporter«, sagte er zu seiner Einführung.

 

Sie war unangenehm berührt.

 

»Kommen Sie, um Erkundigungen wegen Onkel Francis anzustellen? Ist denn wirklich etwas Schlimmes passiert? Schon vor einer Woche war einmal ein Detektiv bei mir. Hat man ihn aufgefunden?«

 

»Nein, bis jetzt wurde er nicht gefunden. Sie kennen ihn doch sehr gut, Miss Leamington?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich bin ihm nur zweimal in meinem Leben begegnet. Mein verstorbener Vater und er lagen in Streit, schon bevor ich geboren wurde. Ich habe ihn nur ein einziges Mal nach dem Tode meines Vaters gesehen, und dann, bevor meine Mutter so schwer krank wurde.«

 

Sie hörte, wie er seufzte, und fühlte seine Erleichterung. Sie konnte sich aber nicht vorstellen, warum es ihm angenehm war, daß ihr Onkel ihr fremd war.

 

»Aber Sie haben ihn doch in Chichester getroffen?« fragte er.

 

Sie nickte.

 

»Ja, das stimmt. Ich habe ihn einen Augenblick lang gesehen, als ich mit einer ganzen Gesellschaft in einem Wagen nach Good Wood-Park unterwegs war. Er ging den Fußweg entlang und sah krank und vergrämt aus. Er kam gerade aus einem Papierladen. Er trug eine Zeitung unter dem Arm und einen Brief in der Hand.«

 

»Wo war der Laden?« fragte er schnell.

 

Sie nannte ihm die genaue Adresse, die er notierte.

 

»Haben Sie ihn nicht wiedergesehen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ist denn irgend etwas Schlimmes passiert?« fragte sie ängstlich. »Ich habe oft gehört, wie meine Mutter sagte, daß Onkel Francis etwas ausschweifend und gewissenlos sei. War er in einer schwierigen Lage?«

 

»Ja«, gab Mike zu. »Aber es war nichts, weswegen Sie sich aufregen müßten. – Sie sind eine große Filmschauspielerin?«

 

Trotz ihrer Angst mußte sie lachen.

 

»Wenn Sie in Ihrer Zeitung schreiben, daß ich es bin, kann ich Sie nicht daran hindern. In Wirklichkeit bin ich es nicht.«

 

»Wenn ich was …?« fragte er, im Moment etwas verdutzt.

 

»Ach ja, Sie meinen, wenn ich das in meiner Zeitung schreibe natürlich!«

 

»Ich vermute, daß Sie gar kein Reporter sind«, sagte sie mit einem plötzlichen Verdacht.

 

»Aber natürlich bin ich einer«, beruhigte er sie rasch und nannte den Namen eines wenig verbreiteten Blattes.

 

»Nun gut. Obgleich ich keine große Schauspielerin bin und sogar fürchte, niemals eine zu werden, glaube ich bestimmt, daß es nur daran liegt, daß ich niemals Gelegenheit hatte – auf der anderen Seite jedoch habe ich schrecklichen Argwohn, daß Mr. Knebworth gefühlsmäßig weiß, daß ich doch keinen Erfolg haben werde.«

 

Mike Brixan war nun aufs neue an dem Fall interessiert. Er gestand sich ehrlich ein, daß die Nichte von Francis Elmer schuld daran war. Er hatte noch kein junges Mädchen getroffen, das so schön war und sich so ungekünstelt und natürlich gab.

 

»Ich vermute, daß Sie jetzt zum Atelier gehen wollen?«

 

Sie nickte.

 

»Würde Mr. Knebworth etwas dagegen haben, wenn ich Sie einmal im Atelier besuchte?«

 

Sie zögerte.

 

»Mr. Knebworth liebt das gar nicht.«

 

»Dann werde ich vielleicht ihn besuchen«, sagte Mike, indem er ihr zunickte. »Es ist ja schließlich gleich, wen ich besuche. Nicht wahr?«

 

»Mir macht es gewiß nichts aus«, sagte das Mädchen kühl.

 

Man könnte sagen, ich habe den Vogel in der Schlinge, dachte Mike, als er die Straße hinunterging.

 

Seine Nachforschungen dauerten nicht lange. Er fand den kleinen Zeitungsladen und hatte das Glück, daß der Inhaber sich auf Mr. Francis Elmer gut besinnen konnte.

 

»Er holte sich einen Brief ab, aber der war nicht an ihn adressiert«, sagte er. »Viele Leute holen sich ihre Briefe bei mir ab – ich habe dadurch einen guten Nebenverdienst.«

 

»Hat er sich eine Zeitung gekauft?«

 

»Nein, Sir. Er hatte eine unter dem Arm. Ich konnte den Namen lesen. Es war das ›Morgen-Telegramm‹. Ich kann mich deutlich daran erinnern, weil er auf der ersten Seite eine von den persönlichen Anzeigen blau umrandet hatte. Das fiel mir auf. Ich habe hinten noch ein Exemplar von der Nummer.«

 

Er ging in den kleinen anstoßenden Wohnraum hinter dem Laden, kam mit einer unsauberen Zeitung zurück und legte sie vor Mike auf den Ladentisch.

 

»Auf der Vorderseite sind sechs solche Anzeigen, aber ich weiß nicht mehr, welche es war.«

 

Mike überflog sie. Zuerst las er den Aufruf einer untröstlichen Mutter an ihren Sohn. Sie bat ihn, zurückzukehren, es sei ihm alles verziehen. Dann folgte ein Inserat in Geheimschrift, aber er hatte jetzt nicht Zeit, das zu entziffern. Das dritte betraf ein Stelldichein, das vierte gehörte eigentlich nicht in diese Spalte, es war die Ankündigung eines neuen Haarwassers. Als er das fünfte Inserat las, stutzte er.

 

In Sorge. Endgültige Instruktionen brieflich unter der bekannten Adresse. Nur Mut. Wohltäter.

 

»Ein Wohltäter?« wiederholte Mike Brixan. »In welcher Verfassung war denn der Mann, der den Brief abholte? War er sehr verstört?«

 

»Ja, Sir, er sah sehr verwirrt aus und war mit seinen Gedanken nicht bei der Sache. Es schien mir fast, als ob er den Kopf verloren hätte.«

 

»Die Beschreibung stimmt«, sagte Mike.

 

Kapitel 32

 

32

 

Stella hatte eine Nachricht mit demselben Inhalt auf ihrem Tisch zurückgelassen. Wenn sie zu einer gewissen Stunde nicht zurückgekehrt sei, solle die Polizei den Brief lesen, der auf ihrem Schreibtisch lag. Sie hatte jedoch nicht daran gedacht, daß der Brief nicht vor dem nächsten Morgen gefunden werden konnte. Für Stella Mendoza war die Unterredung, zu der sie fuhr, äußerst wichtig, ja sie konnte ausschlaggebend für ihr ganzes späteres Leben werden. Ihre Abreise verschob sie in der Hoffnung, daß Gregory Penne sich besser auf seine Verpflichtungen ihr gegenüber besinnen würde, obgleich sie nur wenig daran glaubte, daß er seine Meinung über den äußerst wichtigen Geldpunkt ändern würde. Und das war doch für sie die Hauptsache«.

 

Aber jetzt war er wie durch ein Wunder umgestimmt, sprach mit ihr am Telefon so liebenswürdig wie möglich und lachte herzlich, als sie sagte, unter welchen Vorsichtsmaßnahmen sie zu ihm kommen wollte. Erst als sie sich dann auf den Weg machte, stiegen doch wieder bange Gefühle in ihr auf.

 

Als sie in Griff Towers ankam, empfing der Baron sie nicht in der Bibliothek, sondern in dem großen Raum, der unmittelbar darüber lag. Er war viel länger, denn er zog sich nicht nur über die Bibliothek, sondern auch über den kleinen Salon hin. Er war ganz anders ausgestattet als alle anderen Räume im Haus. Nur einmal war Stella früher in dieser »Festhalle«, wie er sie nannte, gewesen. Der große leere Raum und die Dunkelheit, die darin herrschte, hatten ihr damals schon Furcht eingejagt. Nur sehr ungern erinnerte sie sich an die Orgie, die er damals für sie hatte aufführen lassen.

 

Der große Raum war mit einem dicken, weichen, schwarzen Teppich bedeckt. Nirgends sah man Möbel, nur an den Wänden standen niedrige, breite Diwans. Die Wände waren mit Dingen geschmückt, die er im Malaiischen Archipel gesammelt hatte. Die Decke wurde von zwei Reihen scharlachroter Pfeiler getragen. Drei mit gelber Seide verhangene Laternen verbreiteten gedämpftes Licht, machten den Raum aber nicht freundlicher.

 

Penne saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem seidenbedeckten Diwan und betrachtete den Tanz eines braunen Mädchens, das sich nach den seltsamen Melodien, die drei ernst aussehende Eingeborene ihren Gitarren entlockten, bewegte. Die Musikanten saßen in einer dunklen Ecke. Gregory trug einen feuerroten Pyjama. Der starre Blick seiner gläsernen Augen und der brutale Zug um seinen Mund sagten Stella genug über seinen Zustand.

 

Sir Gregory Penne war ganz der Sklave seiner Leidenschaften. Er war als Sohn eines reichen Mannes geboren und hatte sich niemals die Erfüllung seiner Wünsche versagen müssen. Sein Vermögen war automatisch gewachsen, und als die Freuden des Lebens keinen Reiz mehr für ihn hatten und er von Genüssen übersättigt war, suchte er Zerstreuung und wandte sich verbotenen Dingen zu. Die Plünderzüge, die seine Leute von Zeit zu Zeit in den Dschungeln von Borneo unternahmen, lieferten ihm Beute an Menschen und Dingen, die aber ihren Wert für ihn verloren, sobald er sie besaß.

 

Stella hatte einst Aussicht gehabt, die Herrin von Griff Towers zu werden. Aber da sie allzu schnell seinen Wünschen erlag, hatte sie bald alle Anziehungskraft für ihn verloren. Sie war ihm so gleichgültig geworden wie der Tisch, an dem er saß.

 

Der Arzt hatte ihm gesagt, daß ihn sein vieles Trinken unter die Erde bringen würde. Aber er trank um so mehr. Im Rausch hatte er herrliche Visionen. In seinen Phantasien begehrte er dann immer ein Mädchen, das ihn haßte. Übermäßig sinnlich und im Grunde feig, dachte er niemals an die unausbleiblichen unangenehmen Folgen seiner Abenteuer. Schließlich konnte er immer wieder durch Zahlung größerer oder kleinerer Summen alle Klagen, die sich gegen ihn erhoben, zum Schweigen bringen.

 

Der Eingeborene, der Stella in den Raum geführt hatte, verschwand, und sie ließ sich auf einem großen Diwan nieder. Lange blickte sie auf Gregory, bevor er sich bemüßigt fühlte, von ihr Notiz zu nehmen. Plötzlich drehte er sich zu ihr um und schaute sie mit seinen stupiden, leeren Augen an.

 

»Nimm Platz, Stella«, sagte er mit belegter Stimme. »Setz dich hin. Kannst du auch so tanzen wie die da? Keine von euch Europäerinnen kann das. Ihr habt alle nicht die Grazie und die Geschmeidigkeit. Sieh sie dir nur an!«

 

Das tanzende Mädchen drehte sich mit rasender Geschwindigkeit. Die Schleier, in die sie gehüllt war, umgaben sie wie eine Wolke. Plötzlich sank sie bei einem scharf abgerissenen Akkord der Gitarre mit dem Gesicht nach unten auf den Teppich. Gregory sagte etwas auf Malaiisch. Das Mädchen lächelte und zeigte seine weißen Zähne. Stella kannte sie schon von früher her. Damals traten immer zwei Tanzmädchen zusammen auf. Als die eine eines Tages an Scharlach erkrankte, wurde sie schnell wegtransportiert.

 

»Setz dich hierhin!« befahl er Stella. Dabei zeigte er mit seiner Hand auf den Platz neben sich. Alle Diener waren plötzlich wie durch einen Zauber aus dem Zimmer verschwunden. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter.

 

»Ich habe meinen Chauffeur draußen gelassen und ihm den Auftrag gegeben, sofort zur Polizei zu gehen, wenn ich in einer halben Stunde nicht wiederkomme«, sagte sie laut.

 

Er lachte nur.

 

»Stella, du hättest besser dein Kindermädchen mitbringen müssen. Was ist überhaupt mit dir los in der letzten Zeit? Kannst du denn von nichts anderem als von der Polizei schwätzen? Ich will einmal mit dir reden«, sagte er in einem sanfteren Ton.

 

»Und ich muß mit dir sprechen, Gregory. Ich bin im Begriff, Chichester zu verlassen und ich werde nicht mehr hierher zurückkehren.«

 

»Willst du damit sagen, daß du mich nicht wiedersehen willst? Das macht gar nichts. Ich habe wirklich genug von dir und werde dir keine Träne nachweinen.« – »Meine neue Gesellschaft –«

 

Er brachte sie durch einen Wink zum Schweigen.

 

»Wenn die Gründung einer neuen Filmgesellschaft mit meinem Geld erfolgen soll, so ist es besser, daß du die ganze Geschichte vergißt«, sagte er brüsk. »Ich habe erst kürzlich meinet Rechtsanwalt gesprochen – wenigstens jemand, der die Sache genau kennt. Er sagte mir, daß du dich in ebenso große Gefahr bringst und mit dem Gericht schwer in Konflikt gerätst, wenn du eine Erpressung versuchst und mir drohst, die Geschichte mit Tjarji zu verraten. Ich will dir ja Geld geben«, fuhr er fort, »nicht mein ganzes Vermögen, aber immerhin genug. Du bist doch auch keine Bettlerin, ich habe dir schon so viel. geschenkt, daß du drei Filmgesellschaften damit gründen könntest. Stella, nun höre mal zu, ich möchte gern das Mädchen haben.«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Was für ein Mädchen?« fragte sie ahnungslos.

 

»Helen – heißt sie nicht so – Helen Leamington?«

 

»Ach, du meinst die Statistin, die mir meine Rolle weggenommen hat?« stieß sie hervor.

 

Er nickte und sah sie mit seinen schläfrigen Augen an.

 

»Ja, die meine ich. Das ist mein Typ, und die gefällt mir besser, als du mir jemals gefallen hast. Deswegen brauchst du dich aber nicht beleidigt fühlen.«

 

Sie hörte ihm sprachlos zu.

 

»Es wird sehr schwer sein, sie zu bekommen«, fuhr er fort, »das weiß ich. Ich würde sie sogar heiraten, wenn sie das haben will – sowieso Zeit, daß ich daran denke. Du bist doch eine gute Freundin von ihr –«

 

»Eine Freundin?« rief Stella höhnisch, die plötzlich ihre Stimme wiederfand. »Wie kann ich denn ihre Freundin sein, wenn sie mir meine Position genommen hat! Und wenn ich es wäre, was würde das ausmachen? Bilde dir bloß nicht ein, daß ich ein Mädchen in diese Hölle auf Erden bringen würde!«

 

Er drehte den Kopf langsam zu ihr und schaute sie mit einem kalten, bösen und drohenden Blick an.

 

»Diese Hölle auf Erden war dein Himmel! Hier hast du erst Flügel bekommen, um dich zu entwickeln – geh nicht nach London zurück, Stella. Bleib noch ein oder zwei Wochen hier. Geh doch hin, lerne mal das Mädel kennen. Du hast dazu Gelegenheit wie kein anderer. Bring sie hierher, es soll nicht zu deinem Schaden sein. Du mußt ihr erzählen, was ich für ein netter Kerl bin und welche große Aussichten sie hat. Von der Heirat brauchst du noch nichts zu sagen, aber wenn es schließlich gar nicht anders geht, kannst du auch versuchen, ob sie darauf anbeißt. Zeig ihr den Schmuck, den ich dir geschenkt habe. Du weißt doch, das große Kollier –«

 

Und so schwatzte er weiter. Ihre Bestürzung wandelte sich allmählich in maßlosen Zorn.

 

»Du Schuft!« rief sie schließlich aus. »Daß du mir zumutest, dieses Mädchen nach Griff zu bringen! Ich kann sie gewiß nicht ausstehen, aber ich würde sie auf den Knien beschwören, nicht hierher zu gehen. Du denkst, ich bin eifersüchtig?« Ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie sein Grinsen sah. »Da täuschst du dich aber sehr, Gregory. Ich bin eifersüchtig, weil sie meine Stelle in dem Atelier eingenommen hat, aber soweit du in Frage kommst« – sie zuckte nur verächtlich die Schultern –, »du läßt mich überhaupt ganz kalt. Ich glaube nicht, daß du jemals etwas anderes für mich bedeutet hast als eine gewisse Einnahmequelle. Was sagst du nun?«

 

Sie sprang auf und begann ihre Handschuhe anzuziehen.

 

»Da du mir ja doch nicht helfen willst, Gregory, werde ich schon einen Weg finden, dich zu zwingen, dein Versprechen zu halten. Denn du hast mir die Gründung einer Gesellschaft versprochen, Gregory. Ich glaube, das hast du vergessen?«

 

»Damals hatte ich größeres Interesse an dir«, sagte er. »Wo willst du hingehen?«

 

»Ich gehe in meine Wohnung zurück, und morgen ziehe ich in die Stadt.«

 

Er sah zuerst nach dem einen Ende des Saales, dann nach dem anderen, und schließlich faßte er sie ins Auge.

 

»Du wirst nicht heimgehen, du bleibst hier«, sagte er kurz.

 

Sie lachte.

 

»Sprachst du nicht eben davon, daß dein Chauffeur zur Polizei gehen würde? Ich werde dir etwas sagen! Im Augenblick sitzt er in meiner Küche und ißt zu Abend. Wenn du glaubst, daß er dieses Haus eher verläßt als du, dann kennst du mich nicht, Stella!«

 

Er zog langsam seinen Hausmantel an, der auf dem Diwan lag. Stella blickte ihn an, er sah schrecklich aus. Etwas Gemeines und Niederträchtiges lag in seiner Haltung. Der feuerrote Pyjama gab seinem Gesicht obendrein noch einen dämonischen Zug, und sie fühlte tiefen Ekel und Abscheu vor ihm. Er hatte ihren Blick aufgefangen, merkte, was in ihr vorging und grinste schadenfroh.

 

»Bhag ist unten«, sagte er mit Nachdruck. »Er geht nicht gerade zart mit Leuten um, das ist dir bekannt. Neulich hat er einem Mädchen Räson beigebracht, aber gleich hinterher mußte ich den Arzt rufen. Du wirst mit mir kommen, ohne daß ich nachhelfen muß, wie?«

 

Sie nickte stumm. Ihre Knie schwankten, als sie mit ihm ging. Sie hatte Bhag in seinem Käfig oft gereizt.

 

Als sie den halben Gang hinter sich hatten, schloß er eine Tür auf.

 

»Geh da hinein und bleibe dort«, sagte er. »Morgen will ich mit dir sprechen – wenn ich nüchtern bin. Augenblicklich habe ich zuviel getrunken. Vielleicht schicke ich dir noch jemand zur Gesellschaft – das weiß ich jetzt noch nicht.« Er strich über sein wirres Haar und schien tatsächlich völlig betrunken. »Ich muß erst ganz nüchtern sein, wenn ich mit dir verhandle.«

 

Die Tür fiel ins Schloß, und sie hörte, wie der Schlüssel von außen umgedreht wurde. Sie stand in einem vollkommen dunklen Raum, der ihr unbekannt war. Einen Augenblick war sie starr vor Schrecken, denn sie wußte nicht, ob sie allein war.

 

Es dauerte einige Zeit, bis sie den Schalter fand. Sie machte Licht, und eine Glühbirne leuchtete hinter einer runden Kristallschale auf. Sie stand in einem kleinen Schlafzimmer. Es war keine Bettstelle da, nur eine Matratze und ein Kissen waren in einer Ecke als Lager zurechtgemacht. Schwere Eisengitter lagen vor dem einzigen Fenster des Raumes. Außer der Tür gab es keinen anderen Ausgang. Sie drückte die Klinke nieder. Von innen war kein Schloß vorhanden, und so konnte sie nicht einmal ihren eigenen Schlüssel versuchen.

 

Langsam ging sie ans Fenster und öffnete einen Flügel, denn die Luft in dem Raum war muffig. Als sie hinausschaute, sah sie, daß das Zimmer an der Rückseite des Hauses lag. Sie blickte über einen großen Rasenplatz auf eine Baumgruppe, die sie noch im Dunkeln erkennen konnte. Die Straße lief parallel mit der Vorderfront, und seihst wenn sie noch so laut geschrien hätte, niemand auf der Straße hätte sie hören können.

 

Sie ließ sich auf einen der Stühle fallen und überdachte ihre Lage. Ihre Furcht hatte sie nun überwunden. Wenn es zu einem Kampf kommen würde, so hatte sie eine Waffe bei sich. Sie zog ihren Rock hoch und schnallte einen weichen Ledergürtel ab, den sie um die Taille gelegt hatte. Aus der Ledertasche zog sie eine Browningpistole, die wie ein Spielzeug aussah, in Wirklichkeit aber eine gefährliche Waffe war. Sie nahm einen Rahmen Patronen aus ihrer Jackentasche und steckte ihn in die Kammer. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß alles in Ordnung war, verbarg sie den Revolver wieder.

 

»Nun kannst du kommen, Gregory!« sagte sie laut. In dem Augenblick drehte sie sich nach dem Fenster um und stieß einen Schrei aus. Sie sah zwei starke Hände an den Eisenstangen und das schreckliche Gesicht eines Strolches. Ihre zitternde Hand suchte nach der Pistole, aber bevor sie die Waffe entsichern konnte, war das Gesicht wieder verschwunden. Obgleich sie sofort zum Fenster eilte, konnte sie nichts mehr sehen. Die Eisengitter hinderten den Ausblick.

 

Kapitel 33

 

33

 

Die Turmuhr von der Kirche in Chichester schlug zehn, als der Strolch, der vor einer halben Stunde in die Geheimnisse von Griff Towers eindringen wollte, über den Marktplatz schlenderte. Seine Kleider waren noch schmutziger und staubiger als zuvor. Der wachhabende Polizist, der ihn sah, stellte sich ihm quer in den Weg.

 

»Na, wieder auf der Walze?« fragte er.

 

»Ja«, sagte der Mann mit weinerlicher Stimme.

 

»Machen Sie, daß Sie so schnell wie möglich aus Chichester fortkommen. Oder wollen Sie ein Nachtquartier haben?«

 

»Ja, Herr Wachtmeister. Alles ist schon recht voll.«

 

»Das ist eine dicke Lüge«, sagte der Polizist. »Warum versuchen Sie denn nicht, in der Herberge für Heimatlose unterzukommen? Jetzt hüten Sie sich aber – wenn ich Sie noch einmal hier in der Stadt treffe, nehme ich Sie fest.«

 

Der abgerissene Mensch murmelte etwas vor sich hin und ging dann in der Richtung der Arundel Road weiter. Seine Schultern hingen herunter, und die Hände hatte er in den Taschen verborgen.

 

Als der Polizist ihn nicht mehr sehen konnte, bog er plötzlich nach rechts ab und beschleunigte seine Schritte, bis er an das Haus von Jack Knebworth kam. Der Direktor hörte ein Klopfen draußen, öffnete die Tür und schaute verwundert auf den Besuch.

 

»Was wollen Sie denn schon wieder?« fragte er.

 

»Ist Brixan gekommen?«

 

»Nein, er ist noch nicht hier. Es wäre besser, wenn Sie mir den Brief geben, er wird mich wahrscheinlich anrufen.«

 

Der Strolch grinste und schüttelte den Kopf. »Nein, das wird er nicht tun. Ich warte; bis ich ihn persönlich sehe.«

 

»Nun gut, heute abend werden Sie ihn hier nicht mehr treffen.« Dann fuhr er argwöhnisch fort: »Ich glaube, Sie wollen ihn überhaupt gar nicht sehen – Sie führen etwas ganz anderes im Schilde, wenn Sie hier herumlungern.«

 

Der abgerissene Mann antwortete nicht. Er pfiff den Refrain eines Gassenhauers und bewegte die Füße im Takt.

 

»Dem alten Brixan geht es nicht besonders«, sagte er.

 

Knebworth schien es fast, als ob die Stimme belustigt klänge.

 

»Was wissen Sie denn von ihm?«

 

»Er hat Krach mit seinen Vorgesetzten, das weiß ich«, sagte der Strolch. »Er konnte nicht ausfindig machen, wohin die Briefe gingen, daran liegt die ganze Geschichte. Aber ich weiß es.«

 

»Wollen Sie ihn deswegen sprechen?«

 

Der Mann nickte heftig.

 

»Ich weiß es«, sagte er wieder. »Ich könnte ihm etwas Wichtiges erzählen, wenn er hier wäre. Aber leider …«

 

»Wenn Sie wissen, daß er nicht hier ist – warum, zum Donnerwetter, kommen Sie denn dann her?«

 

»Weil mir die Polizei auf den Fersen ist. Der Posten auf dem Marktplatz will mich festnehmen, wenn er mich das nächstemal sieht. Da dachte ich mir, es wäre besser, wenn ich hierherkäme und mir die Zeit etwas vertriebe. Deswegen bin ich da.«

 

Jack sah ihn groß an.

 

»Na, Sie haben Nerven«, sagte er verblüfft. »Und da Sie sich nun die Zeit mit meiner Unterhaltung vertrieben haben, ist Ihr Ziel ja erreicht. Wollen Sie etwas essen?«

 

»O nein, ich führe ein recht angenehmes Leben.«

 

Sein schriller Londoner Dialekt fiel Jack auf die Nerven.

 

»Dann ist es ja gut. Gute Nacht!« sagte er kurz und schloß die Tür vor seinem merkwürdigen Besucher.

 

Der Vagabund stand eine Weile still, dann nahm er seine Mütze ab, zog eine Zigarette daraus hervor, steckte sie an und ging den Weg wieder zurück, den er gekommen war. Er machte aber einen großen Bogen um den Marktplatz, wo der unfreundliche Polizist Wache hielt.

 

Die Kirchturmuhr schlug Viertel nach zehn, als er an der Ecke der Arundel Road ankam. Er warf die Zigarette weg, trat in den Schatten einer Hecke und wartete.

 

Fünf Minuten verflossen – es wurden zehn Minuten – dann sah er einen Mann, der schnell denselben Weg entlangging, den er gekommen war. Er grinste im Dunkeln, denn er erkannte Knebworth. Jack war durch die Unterhaltung, die er eben mit ihm gehabt hatte, ängstlich geworden und wollte zur Polizei, um Erkundigungen über Mike Brixan einzuziehen. Das vermutete der Landstreicher, aber er hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, was der Direktor vorhatte, denn im selben Augenblick kam geräuschlos ein Auto um die Ecke und hielt in seiner Nähe.

 

Eine Stimme fragt durch das halboffene Fenster: »Sind Sie es, mein Freund?«

 

»Jawohl«, sagte der Strolch verdrießlich.

 

»Kommen Sie in den Wagen.«

 

Der Strolch schlich vorwärts und schaute in das dunkle Auto. Mit einem plötzlichen Griff riß er dann die Tür auf, stemmte einen Fuß gegen die Schwelle und stürzte sich auf den Fahrer.

 

»Jetzt habe ich Sie erwischt, Kopfjäger!« zischte er.

 

Er hatte diese Worte noch nicht ausgesprochen, als ihm etwas Weiches, Klebriges ins Gesicht spritzte. Er konnte nicht mehr sehen. Heftiger Schmerz durchzuckte ihn, so daß er die Tür losließ und wie ein zu Tode Getroffener Halt suchend in die Luft griff. Ein derber Fußtritt des Mannes im Auto traf ihn, er flog außer Atem auf den Bürgersteig, und das Auto verschwand in schnellster Fahrt.

 

Jack Knebworth hatte die Szene beobachtet, soweit das in dem Halbdunkel möglich war und kam herbei. Ein Polizist tauchte aus dem Dunkel auf, und die beiden hoben den abgerissenen Mann auf.

 

»Den habe ich heute schon einmal gesehen«, sagte der Polizist. »Ich habe ihn doch gewarnt.«

 

Der Mann auf dem Boden seufzte tief und lang und faßte mit seinen Händen nach den Augen.

 

»Das durfte nicht passieren – jetzt kann ich meine Entlassung einreichen!« sagte er langsam.

 

Knebworth traute seinen Ohren nicht, denn es war Mike Brixans Stimme, die da sprach!

 

Kapitel 34

 

34

 

»Ja, ich bin es«, sagte Mike bitter. »Es ist schon gut, Wachtmeister. Sie brauchen nicht zu warten. Jack, ich will mit Ihnen nach Hause gehen, um diese Maskerade loszuwerden.«

 

»Aber um Gottes willen«, stieß Jack atemlos hervor, indem er den Detektiv anstarrte. »Ich habe noch niemals jemand in einer so guten Verkleidung gesehen. Sonst lasse ich mich doch nicht so leicht täuschen.«

 

»Ich habe alle Leute hinters Licht geführt, mich selbst sogar«, sagte Mike wütend. »Ich bildete mir ein, daß ich ihn mit einem Brief in die Falle locken könnte. Statt dessen hat der Teufel mich geschnappt.« – »Womit denn?«

 

»Er hat mir eine konzentrierte Ammoniaklösung ins Gesicht gespritzt, vermute ich«, sagte Mike.

 

Nach zwanzig Minuten kam er aus dem Badezimmer wieder in seiner alten Gestalt zurück. Nur seine Augen waren schwer entzündet.

 

»Ich wollte ihn in die Falle locken, aber er war doch zu schlau.«

 

»Wissen Sie denn, wer es ist?«

 

Mike nickte.

 

»Ja, ich weiß es sehr genau. Ich habe eine besondere Polizeiabteilung hier, die nur wartet, ihn festzunehmen. Ich wollte kein großes Aufsehen erregen und vor allem kein Blutvergießen. Jetzt vermute ich, daß es nicht ohne Kampf abgehen wird.«

 

»Ich konnte den Wagen nicht erkennen, obwohl mir alle Autos hier in der Stadt bekannt sind«, sagte Jack.

 

»Es ist ein ganz neuer Wagen, den der Kopfjäger nur für seine nächtlichen Abenteuer benutzt. Wahrscheinlich stellt er ihn nicht in seiner eigenen Garage unter. – Eben haben Sie mich doch gefragt, ob ich etwas essen wollte. Da log ich und sagte, daß ich mit allem versehen sei. Geben Sie mir um Himmels willen etwas zu essen, ich bin hungriger als ein Wolf.«

 

Jack ging in die Speisekammer, brachte kaltes Fleisch, machte Kaffee und wartete schweigend, bis der ausgehungerte Detektiv gegessen hatte.

 

»Jetzt fühle ich mich wieder als Mensch«, sagte Mike. »Ich habe seit heute morgen um elf außer einigen Keksen nichts gegessen. Denken Sie sich, unsere Freundin Stella Mendoza befindet sich in Griff Towers, und ich glaube, daß ich sie erschreckt habe. Etwa vor einer Stunde habe ich dort herumspioniert, um sicher zu sein, daß mein Vogel auch im Netz sitzt. Als ich so herumschaute, sah ich sie. Sie hat furchtbar geschrien.«

 

Es klopfte laut an der Tür, und Jack Knebworth schaute auf.

 

»Wer kommt denn jetzt noch zu so später Stunde?« fragte er.

 

»Wahrscheinlich ein Polizist«, meinte Mike.

 

Knebworth öffnete die Tür, und draußen stand eine untersetzte, behäbige Frau in mittleren Jahren auf der Türschwelle und hielt eine Rolle Papier in der Hand.

 

»Sind Sie Mr. Knebworth?« fragte sie.

 

»Ja«, antwortete Jack.

 

»Ich bringe Ihnen das Manuskript, das Miss Leamington zu Hause ließ. Sie bat mich, es Ihnen zu geben.«

 

Knebworth nahm ihr die Rolle ab und streifte das Gummiband herunter, das sie zusammenhielt. Es war das Manuskript von Roselle.

 

»Warum bringen Sie das?« fragte er.

 

»Sie sagte mir, daß ich es zu Ihnen tragen sollte, wenn ich es finden würde«, entgegnete die Frau.

 

»Es ist schon gut«, sagte Jack arglos. »Ich danke schön.«

 

Er schloß die Tür hinter der Frau und ging in das Speisezimmer zurück.

 

»Helen hat ihr Manuskript gesandt, ich weiß nicht, was da los ist.«

 

»Wer brachte es denn?« fragte Mike interessiert.

 

»Soviel ich vermute, ihre Wirtin«, sagte Jack und beschrieb die Frau.

 

»Ja, das ist die Wirtin. Will Helen denn ihre Rolle nicht weiterspielen?«

 

»Es sieht fast so aus.« Jack schüttelte den Kopf.

 

Mike war erstaunt.

 

»Was soll das bedeuten? Was sagte denn die Frau?«

 

»Miss Leamington hätte sie gebeten, das Manuskript zu bringen, wenn sie es gefunden hätte.«

 

Im Augenblick war Mike aus dem Haus, lief so schnell er konnte und holte die Frau ein.

 

»Würden Sie so liebenswürdig sein, noch einmal mitzukommen?« fragte er und ging mit ihr zu Jacks Wohnung zurück.

 

»Bitte, sagen Sie doch Mr. Knebworth noch einmal, warum Miss Leamington das Manuskript gesandt hat und warum Sie es bringen sollten, wenn Sie es gefunden hätten.«

 

»Nämlich – das ist deshalb – als sie zu Ihnen ging«, begann die Frau.

 

»Zu mir ging?« rief Knebworth schnell.

 

»Ein Herr vom Atelier kam und sagte, daß Sie sie sofort sprechen wollten«, berichtete die Wirtin. »Miss Leamington wollte sich gerade zur Ruhe legen, aber ich habe ihr die Botschaft noch gebracht. Sie sagte mir schnell, daß Sie sie wegen der Aufnahmen morgen sehen wollten und daß Sie das Manuskript brauchten. Sie hatte es wohl verlegt und war sehr unruhig deshalb. Ich sagte ihr aber, daß sie schon gehen solle, da die Sache eilig war und versprach ihr, es nachzubringen. Schließlich bat sie mich, es so zu machen.«

 

»Was war denn das für ein Herr, der sie abholte?«

 

»Ein dicker Mann, wahrscheinlich ein Chauffeur. Er kam mir etwas angetrunken vor, aber ich wollte Miss Leamington nicht erschrecken und sagte ihr nichts davon.«

 

»Und was ereignete sich dann?« fragte Mike schnell.

 

»Sie ging auf die Straße und stieg in den Wagen ein. Der Chauffeur war schon auf seinem Sitz.«

 

»War es ein geschlossener Wagen?«

 

Die Frau nickte.

 

»Und sind sie dann abgefahren? Wann war das?«

 

»Es muß kurz nach halb elf gewesen sein, denn ich erinnere mich, daß ich die Kirchturmuhr schlagen hörte, kurz bevor das Auto abfuhr.

 

Mike überlief es eiskalt. Er konnte kaum sprechen.

 

»Es ist jetzt elf Uhr fünfundzwanzig. Es hat lange gedauert, bis Sie gekommen sind.«

 

»Ich habe lange nach dem Schriftstück gesucht. Schließlich habe ich es unter dem Kopfkissen von Miss Leamington gefunden. Ist sie nicht hier?«

 

»Nein, sie ist nicht hier«, sagte Mike ruhig. »Ich danke Ihnen sehr, ich will Sie nicht aufhalten. Würden Sie so liebenswürdig sein und bei der Polizeistation auf mich warten?«

 

Er eilte die Treppe hinauf und zog seinen Rock an.

 

»Wo glauben Sie denn, daß sie jetzt ist?«

 

»Sie ist in Griff Towers«, antwortete Mike schnell. »Und ob Gregory Penne in dieser Nacht am Leben bleibt oder nicht, das hängt davon ab, ob er Helen etwas zuleide getan hat!«

 

Auf der Polizeistation fand er die Wirtin. Die arme Frau war sehr verwirrt und erschrocken.

 

»Was trug Miss Leamington, als sie ausging?«

 

»Sie hatte ihr blaues Kostüm an«, jammerte die Frau. »Das schöne blaue Kostüm, das sie immer trägt.«

 

Eine Truppe von Scotland-Yard-Polizisten wartete auf der Station. Ein vollbesetzter Wagen fuhr von Chichester weg. Mike dauerte es viel zu lange. Er war in fieberhafter Ungeduld. Der Wagen fuhr ihm zu langsam, jede Sekunde war kostbar. Schließlich, nach einer endlosen Zeit, wie ihm schien, bog das Auto auf den Fahrweg nach Griff Towers ein. Mike hielt nicht an, um den Pförtner zu wecken, sondern stieß das Tor auf, indem er den Wagen dagegenfahren ließ.

 

Er brauchte nicht zu klingeln, die Tür stand sperrangelweit offen, und an der Spitze der Mannschaft eilte Mike Brixan durch die die leere Eingangshalle. Schnell lief er den Gang entlang und kam in Gregorys Bibliothek. Es brannte nur ein Licht dort, das den Raum schwach erhellte. Aber das Zimmer war leer. Mit schnellen Schritten war er am Schreibtisch und drehte den Hebel. Bhags Käfig öffnete sich, aber auch der Affe war nicht da.

 

Er drückte den Klingelknopf auf der Seite des Kamins, und gleich darauf kam der braune Diener, den er von früher her kannte, zitternd herein.

 

»Wo ist dein Herr?« fragte Mike auf holländisch.

 

Der Mann schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht«, antwortete er, aber schaute nach oben zur Decke.

 

»Zeige mir den Weg!«

 

Sie gingen zur Eingangshalle zurück, eilten die breite Treppe zum oberen Geschoß empor, kamen wieder durch einen langen Korridor, der voller Schwerter hing, genau wie der untere. Dann fänden sie eine offene Tür – es war der große Tanzsaal, in dem Gregory Penne den Abend verbracht hatte. Aber es war niemand zu sehen; und Mike ging wieder hinaus. Plötzlich hörte er ein heftiges Klopfen an einer der Türen des Ganges. Der Schlüssel steckte im Schloß. Er drehte ihn um, und die Tür flog weit auf. Stella Mendoza, bleich wie der Tod, wankte heraus.

 

»Wo ist Helen?« keuchte sie.

 

»Das wollte ich gerade Sie fragen!« sagte Mike streng. »Wo ist sie?«

 

Stella schüttelte hilflos den Kopf. Sie war nicht mehr fähig zu sprechen und sank ohnmächtig um.

 

Er wartete nicht, bis sie wieder zu sich gekommen war, sondern suchte weiter. Er eilte von Zimmer zu Zimmer, aber er fand weder eine Spur von Helen, noch von dem brutalen Gregory. Er durchsuchte die Bibliothek noch einmal und ging auch zu dem kleinen Salon. Dort war ein Tisch für zwei Personen gedeckt. Das Tischtuch war feucht von vergossenem Wein. Ein halbleeres Glas stand da – aber die beiden, für die die Tafel gedeckt war, konnte man nicht entdecken. Sie mußten durch die Haupttür verschwunden sein … Aber wohin?

 

Alle seine Muskeln waren angespannt, und seine Gedanken waren nur auf die eine Frage gerichtet, deren Beantwortung ihm im Augenblick wichtiger als sein Leben war. Plötzlich hörte er ein Geräusch, das aus Bhags Raum kam. Er drehte sich um, und in der Tür erschien der fürchterliche Affe selbst. Er blutete aus einer Schulterwunde. Das Blut tropfte herunter. In seinen großen Händen hatte er etwas, das wie ein Bündel Lumpen aussah. Als Mike näher hinschaute, schien sich der Raum vor seinen Augen zu drehen.

 

Das zerrissene, mit Blut beschmutzte Kleidungsstück, das Bhag hielt, war die blaue Jacke Helen Leamingtons!

 

Einen Augenblick starrte Bhag den Mann an, den er als seinen Feind erkannte. Er ließ die Jacke fallen und eilte zähnefletschend in sein Quartier zurück. Dreimal hörte man den scharfen Knall von Mikes Browning, Und Bhag verschwand plötzlich. Die Tür seines Raumes schloß sich geräuschvoll.

 

Knebworth hatte die Szene mit angesehen. Er lief hinzu und hob die Jacke auf, die der Affe hatte fallen lassen.

 

»Das ist ihre Jacke«, sagte er heiser, und ein schrecklicher Gedanke ließ ihn erschauern.

 

Mike hatte die Tür zu dem Käfig geöffnet. Mit der Pistole in der Hand eilte er durch die Öffnung. Knebworth wagte nicht zu folgen. Er stand wie zu Stein erstarrt und wartete, bis Mike wieder erschien.

 

»Es ist nichts drinnen«, sagte er.

 

»Nichts?« fragte Knebworth flüsternd. »Gott sein Dank!«

 

»Bhag ist fort, ich denke, daß ich getroffen habe. Hier ist eine Blutspur, aber es ist möglich, daß sie nicht von meinem Schuß herrührt. Er muß kürzlich verwundet worden sein«, dabei zeigte er auf Blutspuren auf dem Fußboden. »Als ich ihn das letztemal sah, hatte er diese Wunde noch nicht.«

 

»Haben Sie ihn denn schon vor heute abend gesehen?«

 

Mike nickte. Wo mochte Helen sein? Das war die wichtigste Frage, und dieser Gedanke ließ alles andere für Mike Brixan in den Hintergrund treten. Und wo war der Baron? Warum hatten sie die Haustür offen gefunden? Keiner der Dienstboten konnte ihm darüber Auskunft geben, und er fühlte, daß sie die Wahrheit sprachen. Nur Penne und das Mädchen und der große Affe wußten darum Bescheid, wenn nicht –

 

Er eilte nach oben, wo er einen Detektiv bei Stella Mendoza zurückgelassen hatte, um die Bewußtlose wieder zu sich zu bringen.

 

»Sie ist von einer Ohnmacht in die andere gefallen«, berichtete der Beamte. »Sie sagte nur einmal: ›Schieß ihn nieder, Helen!‹«

 

»Dann muß sie sie doch gesehen haben!« stieß Mike hervor.

 

Einer der Polizisten, der draußen geblieben war, um das Gebäude zu bewachen, kam mit einer Meldung. Er hatte gesehen, wie eine dunkle Gestalt die Wand hinaufkletterte und durch eine Öffnung in der Mauer verschwand. Einige Minuten später war sie wieder erschienen.

 

»Das war Bhag«, bemerkte Mike. »Ich wußte, daß er nicht hier war, als wir ankamen. Er muß durch das Loch in der Mauer hereingekommen sein, während wir oben waren.«

 

Der Wagen, der Helen hierhergebracht hatte, wurde aufgefunden. Er gehörte Stella. Zuerst vermutete Mike, daß sie bei der Entführung ihre Hand im Spiel hatte. Er erfuhr aber später, daß ihr Chauffeur tatsächlich in der Küche gefangengehalten wurde, und Penne selbst bei Helen vorgefahren war. Er konnte sich durch eigenen Augenschein davon überzeugen, daß der Wagen Stella gehörte. Nun wurde ihm auch klar, warum Helen, ohne Verdacht zu schöpfen, eingestiegen und mitgefahren war.

 

Mike war nahe daran, wahnsinnig zu werden. Die Gefangennahme des Kopfjägers war ihm vollständig unwichtig geworden. Er dachte nur noch daran, wie er Helen retten könne.

 

»Wenn ich sie nicht finden kann, werde ich verrückt«, rief er.

 

Jack Knebworth wollte etwas erwidern, als eine plötzliche Unterbrechung eintrat. Ein furchtbarer Schrei gellte durch die Nacht, der allen durch Mark und Bein ging.

 

»Hilfe! Hilfe!«

 

Der Ruf klang schauerlich. Mike erkannte die Stimme eines Mannes – und dieser Mann war Gregory Penne.

 

Kapitel 25

 

25

 

Das Leben setzt sich hauptsächlich aus Kleinigkeiten zusammen. Aber die Dinge von einer höheren Warte aus zu betrachten, ist der Jugend gewöhnlich nicht gegeben. Es hatte Helen Leamington große Überwindung gekostet, einen Herrn zum Tee zu bitten, aber nachdem sie es nun einmal getan hatte, erwartete sie ihn ungeduldig.

 

Sie besuchte Jack Knebworth in seinem Büro, während Mike gerade im Auto nach London raste.

 

»Sicher, meine Liebe, Sie können diesen Nachmittag freinehmen. Ich weiß nicht mehr genau, was wir eigentlich vorhatten.«

 

Er nahm das Programm mit der Zeittafel, aber sie konnte ihm den nötigen Aufschluß geben.

 

»Sie wollten im Atelier einige Porträtaufnahmen von mir machen lassen«, sagte sie.

 

»Das hat Zeit, das kann auch an einem anderen Tag geschehen. Nun, haben Sie Zutrauen, daß der Film gut wird?« fragte der Direktor.

 

»Ich? Nein, leider nicht viel, Mr. Knebworth. Ich bin sehr unruhig darüber. Es ist doch ziemlich unmöglich, daß ich gleich von Anfang an alles richtig mache. Man träumt wohl von Erfolg, aber im Traum ist es leicht, Hindernisse und Gefahren zu überwinden und über Schwierigkeiten hinwegzukommen. Jedesmal, wenn Sie ›Aufnahme!‹ rufen, erschrecke ich und habe ein schlechtes Gewissen. Immer denke ich, du bewegst deine Hände ungeschickt, du wirfst deinen Kopf zu schnell herum.«

 

»Aber das dauerte doch nicht lange?« fragte er so eindringlich, daß sie lächeln mußte.

 

»Nein, in dem Moment, in dem ich die Kamera surren höre, fühle ich, daß ich die bin, die ich darstellen soll.«

 

Er klopfte ihr auf die Schulter.

 

»Das ist auch das, was Sie fühlen müssen.« Dann fuhr er fort: »Haben Sie nichts von der Mendoza gesehen? Hat sie Sie belästigt, oder ist Foß bei Ihnen gewesen?«

 

»Ich habe Miss Mendoza seit zwei Tagen nicht gesehen, aber Mr. Foß sah ich noch gestern abend.«

 

Sie erklärte ihm die näheren Umstände nicht, und Jack Knebworth fragte auch nicht weiter nach. Und so erfuhr er nichts von allem, was Helen gestern abend erlebt hatte. Als sie gestern die Hauptstraße entlanggegangen war, sah sie Lawley Foß an der Ecke der Arundel Road neben einem geschlossenen Auto stehen. Er unterhielt sich mit jemandem, der in dem Wagen saß. Später beobachtete sie, wie ihm eine weiße Hand, die wie eine Frauenhand aussah, einen Gruß zuwinkte. Deutlich erkannte sie an dem kleinen Finger der Hand einen großen Diamant. Die Person selbst aber hatte sie nicht gesehen.

 

Als Helen nach Hause ging, machte sie bei dem Konditor und dem Blumenhändler halt. Sie kaufte Blumen und Kuchen, um damit den Tisch im Salon der Mrs. Watson zu richten. Erstaunt fragte sie sich, welche Anziehung sie wohl auf diesen weltgewandten Mann ausüben könne. Sie neigte stark zur Selbstkritik und kam sich durch ihre Selbstverkleinerung wie ein etwas farblos junges Mädchen ohne besonderen Charakter vor. Daß sie schön war, wußte sie. Aber Schönheit allein lockt nur oberflächliche Leute an. Wertvolle Menschen verlangen etwas mehr als das. Mike Brixan wollte sicher nicht mit ihr tändeln, er wollte sie wahrscheinlich als Freundin gewinnen.

 

Der Zeiger der Uhr rückte auf halb fünf, und sie wartete. Um Viertel vor fünf lief sie zur Tür und schaute die Straße entlang. Als es aber fünf Uhr schlug, wurde sie ärgerlich und setzte sich mit philosophischer Ruhe über ihre Einladung hinweg. Sie trank ihren Tee allein, und als sie fertig war, ließ sie abräumen.

 

Mike hatte es vergessen!

 

Sie erfand Entschuldigungen für ihn, verwarf sie und suchte doch wieder nach neuen. Erst war sie beleidigt, dann faßte sie die Sache von der humoristischen Seite auf, fühlte sich aber doch verletzt. Schließlich ging sie auf ihr Zimmer, drehte das Licht an, zog ihr Manuskript aus der Tasche und versuchte, die Szenen durchzuarbeiten, die am nächsten Tag gedreht werden sollten. Aber alles lenkte sie von ihrer Arbeit ab. Sie mußte viel an Mike denken, dann an das geschlossene Auto und an Lawley Foß. Sie sah die weiße Hand mit dem Diamantring vor sich, die zum Abschied winkte, als der Wagen davonfuhr. Merkwürdigerweise kam sie in ihren Gedanken immer wieder auf das geschlossene Auto zurück …

 

Schließlich legte sie das Manuskript hin und stand auf. Sie schaute unschlüssig zu ihrem Bett hinüber. Es war erst neun, und sie fühlte sich noch nicht müde. Chichester bot wenig Zerstreuungen zur Abendzeit. Es gab zwei Kinos, aber sie war jetzt nicht in Stimmung, sich einen Film anzusehen. Sie setzte aber doch ihren Hut auf und ging nach unten. Als sie an der Küche vorbeikam, sagte sie zu ihrer Wirtin:

 

»Ich gehe jetzt noch eine Viertelstunde spazieren.«

 

Das Haus, in dem sie wohnte, lag in einer kleinen Villenstraße, die nicht sehr hell erleuchtet war. Es gab manche dunkle Stellen, zu denen das Licht der Laternen nur spärlich drang. An einem solchen Ort wartete ein Auto. Sie sah schwache Umrisse, bevor sie es richtig erkennen konnte und wunderte sich, daß das Schlußlicht nicht brannte. Als sie näher kam, erkannte sie denselben Wagen, den sie in der vorigen Nacht gesehen, und mit dessen Insassen Foß gesprochen hatte.

 

Ins Wageninnere konnte sie nicht sehen. Die Vorhänge waren an der Straßenseite heruntergezogen. Sie glaubte schon, der Wagen sei leer, aber plötzlich hörte sie eine Stimme flüstern:

 

»Fräulein – kommen Sie mit mir …?« Wieder kam die weiße Hand durch den Spalt des halbgeschlossenen Fensters, und ein großer Diamant blitzte auf. In einer Anwandlung von unerklärlicher Furcht eilte sie weiter.

 

Sie hörte, wie der Motor ansprang. Der Wagen folgte ihr. Sie lief, so schnell sie konnte. An der Ecke der Straße sah sie einen Mann stehen. Es war ein Polizist, und sie lief zu ihm hin.

 

»Was ist Ihnen denn passiert, mein Fräulein?«

 

Als sie sprach, fuhr der Wagen an ihr vorbei, bog um die Ecke und kam außer Sicht.

 

»Ein Mann aus jenem Wagen hat mich angesprochen«, sagte sie atemlos.

 

Der Polizist schaute dem Wagen nach. Vergebens. Er war fort.

 

»Er hatte keine Schlußlichter«, sagte er dann verdutzt. »Ich hätte sonst seine Nummer feststellen können. Hat er Sie belästigt?«

 

Sie schüttelte den Kopf, da sie sich ihrer Furcht schämte.

 

»Ich bin etwas nervös«, lächelte sie, »ich werde wieder nach Hause gehen.«

 

Sie machte kehrt und eilte zu ihrer Wohnung.

 

Wenn man Diva war, hatte man eben auch Unannehmlichkeiten – selbst bei der bescheidenen Filmgesellschaft von Jack Knebworth. Man wurde nervös dabei.

 

Sie schlief ein und träumte, daß der Mann in dem Auto Mike Brixan war und sie einlud, zu ihm zu kommen, um mit ihm Tee zu trinken.

 

Es war schon nach Mitternacht, als Mike Jack Knebworth anläutete und ihm die letzte Neuigkeit durchgab.

 

»Foß?« rief er entsetzt. »Sie meinen das doch nicht etwa wirklich, Brixan? Soll ich zu Ihnen kommen?«

 

»Ich werde Sie aufsuchen«, sagte Mike. »Ich muß noch verschiedenes von Ihnen über Foß erfahren, und es wird weniger Aufsehen erregen, als wenn Sie mich hier im Hotel besuchen.«

 

Jack Knebworth hatte ein Haus in der Arundel Road gemietet und wartete am Gartentor, um seinen Besucher einzulassen.

 

Mike erzählte ihm von der Entdeckung des Kopfes, und er glaubte Jack Knebworth so weit einweihen zu dürfen, daß er ihm über seinen Besuch bei Sir Gregory Penne ausführlich berichtete.

 

»Das übersteigt doch alles«, sagte Jack mit heiserer Stimme. »Der arme Foß! Glauben Sie, daß Penne es getan hat? Ich könnte mir nicht denken, warum. Man schneidet doch nicht jemandem den Kopf ab, der nur Geld leihen will.«

 

»Meine Ansicht hat sich etwas gewandelt«, sagte Mike. »Sie erinnern sich doch noch an das Blatt, das ich in dem Manuskript von Miss Leamington fand. Ich deutete Ihnen damals an, daß es vom Kopfjäger geschrieben sein müßte.«

 

Jack nickte.

 

»Ich bin dessen jetzt ganz sicher«, fuhr Mike fort, »besonders seitdem ich in Ihrem Büro gesehen habe, daß die Eintragung des betreffenden Manuskriptes vernichtet wurde. Foß wußte genau, wer der Autor war, und ich nehme sicher an, daß er den verzweifelten Entschluß faßte, den Schreiber zu denunzieren. Wenn das der Fall ist, und Sir Gregory war der Verfasser des Manuskripts – aber in diesem Punkt bin ich noch sehr unsicher –, dann ist es ja ganz klar, warum er aus dem Wege geräumt werden mußte. Eine Person könnte uns helfen, und das ist –«

 

»Stella Mendoza«, sagte Jack, und die Blicke der beiden Männer trafen sich verständnisvoll.

 

Kapitel 26

 

26

 

Jack sah nach seiner Uhr.

 

»Ich vermute, daß sie schon zu Bett gegangen ist, aber es käme auf einen Versuch an. Würden Sie sie gern noch sprechen?«

 

Mike zögerte. Stella Mendoza war eine Freundin Gregory Pennes, und er war nicht geneigt, sich ohne weiteres zu der Ansicht zu bekennen, den Baron für den Mörder zu halten.

 

»Ja, ich glaube, es ist gut, wenn wir sie noch aufsuchen. Nach allem, was vorgefallen ist, weiß Penne doch, daß er verdächtigt wird.«

 

Jack Knebworth wartete zehn Minuten lang am Apparat, bevor eine Antwort vom Hause Stellas kam.

 

»Knebworth ist am Apparat, Miss Mendoza«, sagte er. »Ist es möglich, Sie heute abend noch zu sehen? Mr. Brixan möchte Sie sprechen.«

 

»Zu dieser Zeit?« sagte sie schläfrig und erstaunt. »Ich war schon zu Bett. Kann es nicht morgen sein?«

 

»Nein, er muß Sie unbedingt heute abend noch sehen. Ich will mitkommen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

 

»Was ist denn los?« fragte sie schnell. »Handelt es sich um – Gregory?«

 

Jack sprach leise mit Mike, der neben ihm stand. Dieser nickte.

 

»Ja, es handelt sich um Gregory.«

 

»Wollen Sie dann, bitte, kommen. Ich werde mich sofort anziehen.«

 

Als sie ankamen, hatte sich Stella angekleidet. Sie war zu neugierig geworden, als daß sie sich noch über die späte Stunde beschwert hätte.

 

»Worum handelt es sich?«

 

»Mr. Foß ist tot.«

 

»Tot?« Sie sah Mike entsetzt an. »Wie kam das? Ich habe ihn gestern noch gesehen.«

 

»Er ist ermordet worden«, sagte Mike ruhig. »Sein Kopf wurde in der Nähe von Chobham Common gefunden.«

 

Sie wäre umgesunken, wenn nicht Mikes Arm sie gehalten hätte. Es dauerte einige Zeit, bevor sie sich so weit erholt hatte, daß sie die Fragen, die er ihr stellte, beantworten konnte.

 

»Nein, ich habe Mr. Foß nur ein paar Sekunden lang gesehen, bevor er Griff Towers verließ. Nachher nicht wieder.«

 

»Sagte er, daß er später wiederkommen wollte?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Sagte Sir Gregory zu Ihnen, daß Foß wiederkommen würde?«

 

»Nein, er erklärte, daß er froh wäre, ihn endlich los zu sein. Auch erwähnte er, daß er ihm fünfzig Pfund bis zur nächsten Woche geliehen habe. Das ist so richtig Gregorys Art. Er wird immer Dinge weitererzählen, selbst wenn ihn die Leute gebeten haben, sie für sich zu behalten. Er ist sehr stolz auf seinen Reichtum und prahlt gern damit, daß er anderen Leuten hilft.«

 

»Hatten Sie sich nicht heute mit ihm zum Essen verabredet?« fragte Mike und beobachtete sie scharf.

 

Sie biß sich auf die Lippe.

 

»Sie haben wohl unsere Unterhaltung gehört, als ich fortging? Nein, ich wollte nicht zum Essen zu ihm kommen. Das war nur eine List, um einen eventuellen Lauscher zu täuschen, der draußen umherschlich. Wir wußten, daß jemand an diesem Abend im Haus war. Waren Sie das?«

 

Mike nickte.

 

»So – dann bin ich beruhigt.« Sie seufzte tief auf. »Die paar Minuten in dem dunklen Raum waren fürchterlich für mich. Ich dachte, es wäre …« Sie zögerte.

 

»Bhag!« ergänzte Mike, und sie nickte.

 

»Ja. Sie vermuten doch nicht, daß Gregory Mr. Foß getötet hat?«

 

»Ich habe im allgemeinen jeden und keinen im Verdacht«, sagte Mike. »Haben Sie Bhag gesehen?«

 

»Nein, gestern abend nicht, früher natürlich. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur an ihn denke. Ich habe noch kein Tier gesehen, das soviel menschlichen Verstand hat. Manchmal, wenn Gregory ein wenig zuviel getrunken hatte, holte er den Affen heraus und ließ ihn allerhand Kunststücke machen. Wissen Sie, daß Bhag alle Schwertgriffe der Malaien ausführen kann? Gregory hat ihm das Fechten beigebracht. Er hatte ein hölzernes Schwert, das extra für ihn angefertigt war. Es hat mich immer erschreckt, wenn ich sah, daß er mit seinem Säbel hantierte.«

 

Mike sah sie mit großen Augen an.

 

»Also konnte Bhag wirklich fechten? Penne erzählte mir das, aber ich dachte, daß er übertrieben hätte.«

 

»Sicher konnte er das, Gregory hat ihm noch viel mehr beigebracht.«

 

»Wie stehen Sie zu Penne?« fragte Mike leichthin.

 

Sie wurde rot.

 

»Er war mein Freund«, sagte sie verlegen. »Ein sehr guter Freund – in finanziellen Dingen, meine ich. Früher hatte er mich einmal sehr gern. Wir waren – sehr gute Freunde.«

 

Mike nickte. »Ist das noch so?«

 

»Nein«, antwortete sie kurz. »Ich habe mit Gregory Schluß gemacht und will Chichester morgen verlassen. Ein Agent ist beauftragt, mein Haus zu vermieten. – Der arme Mr. Foß«, sagte sie, und Tränen standen in ihren Augen. »Der arme Mensch! Gregory hat das nicht getan, Mr. Brixan, darauf kann ich schwören. Vieles, was von Gregory erzählt wird, ist nicht wahr. Er ist ein Feigling, und obgleich er schon viel gefährliche Dinge ausführte, hat er doch immer Leute, die die schmutzige Arbeit für ihn tun.«

 

»Was verstehen Sie unter gefährlichen Dingen?«

 

Sie zögerte. Aber er wurde dringlicher.

 

»Er hat mir erzählt, daß er öfter in den Dschungel gezogen ist und Dörfer überfallen hat, um hübsche Mädchen zu rauben. Es soll einen Stamm geben, der besonders hübsche Frauen hat. Vielleicht hat er mir das auch alles nur vorgelogen, aber ich glaube doch, daß er in diesem Punkt die Wahrheit sprach. Er sagte mir, daß er gerade vor einem Jahr, als er in Borneo war, ein Mädchen von einem wilden Stamm im Inneren des Landes gestohlen habe. Kein Europäer würde von dort allein lebendig zurückkommen.«

 

»Machten diese Geständnisse denn gar keinen Eindruck auf Sie?« fragte Mike und sah sie scharf an.

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»Das war so seine Art«, war alles, was sie antwortete, und hieraus konnte Mike die weitesten Schlüsse ziehen, daß er ihr »guter Freund« war.

 

Sie gingen zu Jack Knebworths Haus zurück.

 

»Die Geschichte, die Penne berichtet; scheint mit dem vollkommen übereinzustimmen, was die Mendoza sagt. Es besteht jetzt kein Zweifel mehr, daß die Frau in dem obersten Turmzimmer das Mädchen war, das er gestohlen hat. Ebenso sicher ist, daß der braune Mann ihr Gatte war. Wenn sie von Griff Towers entkommen sind, wird es keine großen Schwierigkeiten machen, sie aufzufinden. Ich werde noch diese Nacht alle Polizeistationen im Umkreis von fünfundzwanzig Kilometer darüber informieren, und morgen früh werden wir wohl Nachricht bekommen.«

 

»Es ist ja schon Morgen«, sagte Jack, als er nach Osten sah, wo der Himmel bereits heller wurde. »Kommen Sie doch noch zu mir. Ich werde Kaffee machen. Die Nachricht von Foß‘ Tod hat mich sehr erregt. Ich hatte mir für heute eigentlich viel vorgenommen, aber vermutlich müssen wir die Arbeit um einen Tag verschieben. Die Schauspieler und die anderen Angestellten der Gesellschaft werden durch diese Nachricht auch nicht bei der Sache sein. Alle kennen Foß, obgleich er nicht sehr beliebt bei ihnen war. Es fehlt nur noch, daß Helen nervös wird – um das Unglück voll zu machen. Aber eben kommt mir ein Gedanke, Brixan, warum ziehen Sie nicht ganz zu mir? Ich bin Junggeselle, Sie haben einen Telefonanschluß und sind hier vollkommen unbeobachtet und können viel ungestörter arbeiten als im Hotel.

 

Der Vorschlag gefiel dem Detektiv, und er schlief schon diese Nacht in Jack Knebworths Haus. Zuvor hatte er aber noch ein eingehendes Telefongespräch mit Scotland Yard.

 

In der Frühe des nächsten Morgens war er bereits wieder in Griff Towers, und bei Tageslicht konnte er seine Untersuchungen genau durchführen. Aber es kam nichts Besonderes mehr zum Vorschein. Er befand sich in einer eigentümlichen Lage. Scotland Yard hatte besonders betont, daß Gregory Penne aus einer guten Familie stamme. Er war reich und angesehen, bekleidete das Ehrenamt eines Friedensrichters, und da seine Extravaganzen bisher nicht gegen das Gesetz verstoßen hatten, »können Sie einen Mann nicht henken, weil er ein Sonderling ist«, hatte ihm der Chefinspektor am Telefon gesagt.

 

Die Tatsache, daß Bhag ebenso wie der braune Mann mit seiner Frau verschwunden war, erregte Mikes Verdacht.

 

»Er ist die ganze Nacht nicht zurückgekommen«, sagte Sir Gregory. »Ich habe nichts von ihm gesehen. Es ist nicht das erstemal, daß er auf eigene Faust längere Zeit fortbleibt. Er findet dann einen Unterschlupf, wo man es nicht vermuten sollte. Auch jetzt hat er sich sicher irgendwo versteckt. Aber das macht nichts, er kommt bestimmt wieder.«

 

Als Mike durch Chichester fuhr, sah er jemanden und bremste seinen Wagen mit aller Gewalt. Es war ein Wunder, daß seine Reifen nicht platzten. Im Nu war er aus dem Wagen gesprungen und stand vor Helen.

 

»Es kommt mir vor, als ob ich Sie zehntausend Jahre nicht gesehen hätte«, sagte er scherzend. Zu jeder anderen Zeit hätte seine Bemerkung Helen zum Lächeln gebracht.

 

»Ich fürchte, Sie müssen mich entschuldigen, ich habe keine Zeit. Ich bin auf dem Weg zum Atelier«, sagte sie ein wenig kühl. »Ich versprach Mr. Knebworth, daß ich heute morgen frühzeitig kommen würde. Gestern nachmittag bat ich ihn, mir freizugeben.«

 

»Hat er das getan?« fragte Mike unschuldig.

 

»Ich hatte jemanden zum Tee eingeladen.«

 

Plötzlich erinnerte sich Mike und war wie vom Blitz erschlagen.

 

»Ist das möglich!« sagte er betroffen. »Ich bin wirklich ein unmöglicher Mensch!«

 

Sie wollte weitergehen, aber er hielt sie zurück.

 

»Ich wollte Sie wirklich nicht kränken oder verletzen, Helen«, sagte er leise. »Es hat sich eine neue Tragödie abgespielt, die Ihnen meine Vergeßlichkeit erklären wird!«

 

Sie stand still und schaute ihn an.

 

»Eine neue Tragödie?«

 

»Mr. Foß ist ermordet worden«, sagte er.

 

Sie wurde leichenblaß.

 

»Wann?« Ihre Stimme war ruhig, aber tonlos.

 

»In der letzten Nacht.«

 

»Es war nach neun!« sagte sie.

 

Er zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe.

 

»Wie kommen Sie darauf?«

 

»Weil ich um neun Uhr« – sie sprach langsam – »die Hand des Mannes sah, der ihn ermordete!«

 

»Am vorletzten Abend«, fuhr sie fort, »ging ich aus, um etwas Wolle zu kaufen, die ich brauchte. Es war kurz bevor die Läden geschlossen wurden … In der Stadt traf ich Mr. Foß und sprach mit ihm. Er war sehr nervös und unruhig. Er machte mir wieder denselben Vorschlag wie damals, als er mich besuchte. Sein Benehmen war so sonderbar, daß ich ihn fragte, ob ihn etwas bedrücke. Er sagte nein, aber er hätte eine Ahnung, daß sich etwas Furchtbares ereignen würde. Er fragte mich, ob ich schon länger in Chichester lebte und etwas über die Höhlen wüßte.«

 

»Die Höhlen?« fragte Mike schnell.

 

Sie nickte.

 

»Ich war sehr überrascht, ich hatte noch nie davon gehört. Er erzählte mir, daß sie in einer alten Chronik von Chichester erwähnt seien. Er hatte in den Führern nachgeschlagen, ohne irgend etwas darüber zu finden. Anscheinend gab es zu dieser oder einer anderen Zeit in der Nähe von Chellerton Höhlen, aber durch eine schwere Erdsenkung wurden sie verschüttet. Er war so verstört und sprach so abgerissen, daß ich annehmen mußte, er sei betrunken. Ich war froh, als ich mich verabschieden konnte. Ich ging zu meinem Geschäft und traf dort eine Statistin, die ich kannte. Sie fragte mich, ob ich mit ihr nach Hause gehen wollte. Ich hatte gar keine Lust dazu, konnte es aber nicht gut ablehnen, und so begleitete ich sie eben. Sobald ich konnte, machte ich mich los und ging geradewegs nach Hause.

 

Es war neun Uhr geworden, und die Straßen waren schon leer. Die Beleuchtung in Chichester ist nicht besonders gut. Aber ich konnte doch Mr. Foß erkennen. Er stand an der Ecke der Arundel Road und wartete auf jemanden. Ich hielt an, weil mir nichts daran lag, ihm noch einmal zu begegnen. Aber gerade, als ich mich umdrehen wollte, fuhr ein Auto in die Straße und hielt bei Mr. Foß.«

 

»Was war es für ein Wagen?« fragte Mike.

 

»Es war eine Limousine … Als sie um die Ecke bog, gingen ihre Scheinwerfer aus, was mich sehr überraschte. Mr. Foß wartete wohl nur darauf, denn er ging hinüber, lehnte sich zum Fenster und sprach mit jemandem in dem Wagen. Ich weiß nicht, warum – aber ich wurde plötzlich neugierig und wollte sehen, wer in dem Wagen saß und ging darauf zu. Ich war bloß noch vier oder fünf Schritte entfernt, als Mr. Foß zurücktrat und das Auto anfuhr. Der Fahrer streckte seine Hand aus dem Fenster, als ob er zum Abschied winken wollte, und als der Wagen an mir vorbeifuhr, winkte er noch. Das Innere war ganz dunkel.«

 

»War etwas Besonderes an der Hand?«

 

»Nein. Sie war nur etwas klein und frauenhaft weiß. An dem kleinen Finger saß ein großer Diamantring. Sein Feuer war außergewöhnlich schön, und ich wunderte mich, daß ein Mann solchen Schmuck trug. Sie mögen denken, daß ich einfältig bin, aber der Anblick dieser Hand jagte mir ein schreckliches Angstgefühl ein – ich weiß jetzt noch nicht, warum. Es war etwas Unnatürliches und Sonderbares an ihr. Als ich mich umblickte, entfernte sich Mr. Foß schnell in der anderen Richtung, und ich machte keinen Versuch, ihn einzuholen.«

 

»Sie sahen keine Nummer an dem Wagen?«

 

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich war nicht so neugierig.«

 

»Sie sahen auch die Silhouette des Mannes im Wagen nicht?«

 

»Nein, ich sah nichts. Sein Arm war erhoben.«

 

»Wie groß war der Diamant Ihrer Meinung nach?«

 

Sie zog die Lippen gedankenvoll zusammen.

 

»Er kam so schnell an mir vorüber, daß ich Ihnen nichts Genaues darüber sagen kann, Mr. Brixan. Es mag sein, daß ich mich irre, aber ich glaube, daß er ungefähr so groß wie meine Fingerspitze war. Ich konnte keinerlei Einzelheiten erkennen, obwohl ich den Wagen vorige Nacht wieder sah.«

 

Sie erzählte ihm nun, was sich in der letzten Nacht ereignet hatte, und er hörte gespannt zu.

 

»Der Mann sprach zu Ihnen – haben Sie seine Stimme erkannt?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, er flüsterte nur. Ich sah sein Gesicht nicht, aber ich glaube, daß er eine Mütze trug. Der Polizist sagte, daß er die Nummer des Wagens hätte aufschreiben wollen.«

 

»So, sagte er das?« bemerkte Mike sarkastisch. »Nun gut, dann hat wenigstens er eine Hoffnung.«

 

Eine Minute schwieg er in Gedanken, dann sagte er: »Ich möchte Sie zum Atelier begleiten, wenn Sie nichts dagegen haben.«

 

Er ließ sie in ihr Ankleidezimmer gehen, wo sie erfuhr, daß heute nicht gearbeitet wurde. Er selbst suchte Jack auf.

 

»Sie kennen doch alle Leute in dieser Gegend«, sagte er. »Ist Ihnen jemand bekannt, der eine große Limousine fährt und einen Diamantring am kleinen Finger der rechten Hand trägt?«

 

»Die einzige, die diese Schwäche hatte, war Stella Mendoza.«

 

Mike pfiff.

 

»An die hätte ich niemals gedacht«, murmelte er. »Und Helen beschrieb die Hand als klein und frauenhaft.«

 

»Die Hand der Mendoza ist nicht klein, aber sie könnte bei einem Mann natürlich so aussehen«, sagte Jack nachdenklich. »Und ihr Wagen ist keine Limousine. Aber das bedeutet ja nichts … Ich habe gerade Anweisung gegeben, daß heute gearbeitet werden soll. Wenn wir die Leute herumstehen lassen, kommen sie ganz außer Fassung.«

 

»Das dachte ich auch, ich wagte nur nicht, diesen Vorschlag zu machen«, sagte Mike lächelnd.

 

Ein Telegramm rief Mike am Mittag nach London, wo er eine Konferenz mit den obersten Fünf von Scotland Yard hatte. Das Resultat der zweistündigen Unterredung war der Beschluß, daß Sir Gregory Penne in Freiheit bleiben, aber beobachtet werden sollte.

 

»Wir glauben die Geschichte mit dem Mädchen von Borneo«, sagte der Chef ruhig. »Und alle Tatsachen stimmen zusammen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß Penne der Verbrecher ist. Aber wir müssen sehr vorsichtig vorgehen. In Ihrem Ministerium, Captain Brixan, können Sie sicher einiges riskieren. Aber die Polizei in diesem Land darf wegen Mordes keine Verhaftung vornehmen, wenn sie nicht ganz gewiß ist, daß eine Verurteilung folgen kann. Es mag etwas an Ihrer Theorie sein, und ich bin der letzte, der sie herabsetzen will, aber Sie müssen erst noch Paralleluntersuchungen anstellen.«

 

Mike fuhr am selben Tag nach Sussex. Er befand sich ungefähr vier Kilometer nördlich Chichester und war in größter Eile, als er eine Gestalt gewahrte, die mit ausgebreiteten Armen in der Mitte der Straße stand. Er fuhr langsamer. Es war Mr. Sampson Longvale, wie er zu seiner Verwunderung sah. Fast bevor der Wagen anhielt, sprang Mr. Longvale mit außerordentlicher Geschicklichkeit auf das Trittbrett.

 

»Ich habe die letzten zwei Stunden auf Sie gewartet, Mr. Brixan«, sagte er. »Haben Sie etwas dagegen, daß ich mich zu Ihnen setze?«

 

»Kommen Sie herein!« sagte Mike freundlich.

 

»Sie sind auf dem Weg nach Chichester, ich weiß. Wollen Sie bitte nach Dower House kommen? Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.«

 

Der Platz, an dem er den Wagen gestoppt hatte, lag gerade dem Ende der Straße gegenüber, die nach Dower House und zu der Besitzung Mr. Gregorys führte. Der alte Herr erzählte ihm, daß er von Chichester zurückgegangen sei und auf seinen Wagen gewartet habe.

 

»Ich erfuhr jetzt erst, Mr. Brixan, daß Sie Staatsbeamter sind«, sagte er mit einem würdevollen Kopfnicken. »Ich brauche Ihnen kaum zu sagen, wie hoch ich einen Menschen schätze, der der Sache der Gerechtigkeit dient.«

 

»Mr. Knebworth verriet Ihnen das wohl?« fragte Mike lächelnd.

 

»Ja, er sagte es mir«, stimmte Longvale bei. »Ich ging zu ihm, um Sie zu suchen, da ich das Gefühl hatte, daß Sie eine gewichtige Stellung im Leben einnehmen. Ich gestehe, daß ich zuerst annahm, Sie wären einer jener eitlen jungen Leute, die weiter nichts zu tun haben, als sich zu amüsieren. Ich habe mich sehr gefreut, zu erfahren, daß das ein Irrtum war. Es ist wirklich sehr befriedigend,« – Mike lächelte innerlich über den Wortschwall des alten Herrn – »weil ich Rat in einer bestimmten Sache brauche, den mir ein Rechtsanwalt nicht geben kann. Meine Lage ist ganz eigenartig, beinahe verwirrend. Ich bin ein Mann, der vor der Öffentlichkeit zurückschreckt, und bin fremder Einmischung in meine Angelegenheiten sehr abgeneigt.«

 

Sie hielten vor Dower House. Mr. Longvale stieg aus und öffnete das Tor. Als Mike durchgegangen war, schloß er es wieder. Anstatt direkt in sein Wohnzimmer zu gehen, stieg er die Treppe hinauf und bat Mike, mitzukommen. Er hielt vor dem Zimmer an, in dem Helen in jener Nacht ein so fürchterliches Erlebnis hatte.

 

»Ich möchte, daß Sie die Leute betrachten«, sagte Mr. Longvale ernst, »und mir sagen, ob ich in Übereinstimmung mit dem Gesetz gehandelt habe.«

 

Er öffnete die Tür, und Mike sah, daß jetzt zwei Betten in dem Raum standen. In dem einen lag, dick verbunden und anscheinend bewußtlos, der braune Fremde. In dem anderen schlief die Frau, die Mike in dem Turm gesehen hatte! Auch sie schien schwer verwundet. Ihr Arm war verbunden und geschient.

 

Mike holte tief Atem.

 

»Damit ist ein Rätsel gelöst«, sagte er. »Wo haben Sie diese Menschen gefunden?« fragte er.

 

Bei dem Klang seiner Stimme öffnete die Frau die Augen und blickte furchtsam zu ihm hinüber.

 

»Du bist verwundet worden?« fragte Mike auf holländisch. Aber sie gab keine Antwort. Sie wurde so aufgeregt bei seinem Anblick, daß Mike froh war, als er aus dem Zimmer kam. Erst unten im Wohnzimmer erzählte Mr. Longvale die Geschichte.

 

»Ich sah sie die letzte Nacht ungefähr um halb elf. Sie schwankten auf der Straße, und ich dachte, die wären betrunken. Aber glücklicherweise sprach die Frau, und da ich noch niemals eine Stimme vergessen habe, selbst wenn sie in einer mir fremden Sprache redete, erkannte ich sofort, daß es meine Patientin war, und ging auf sie zu. Dann sah ich auch, in welchem Zustand ihr Begleiter war. Als sie mich erkannte, begann sie aufgeregt zu sprechen. Ich konnte sie nicht verstehen, obwohl ich ahnte, was sie wollte. Der Mann war dem Zusammenbruch nahe. Ich brachte ihn mit Hilfe seiner Frau in dieses Haus und in das Zimmer, wo er nun liegt. Zum Glück hatte ich mir in der Erwartung, wieder zu ihr gerufen zu werden, einige Instrumente und Medikamente angeschafft, und konnte so den Mann pflegen.«

 

»Ist er schwer verletzt?« fragte Mike.

 

»Er hat sehr viel Blut verloren, und obwohl keine Arterien verletzt oder Knochen gebrochen zu sein scheinen, sehen die Wunden recht bös aus. Nun kam mir der Gedanke«, fuhr er in seiner umständlichen Art fort, »daß dieser Eingeborene die Wunden nur als Folge irgendeiner schlechten Handlung empfangen haben kann. Ich dachte, es sei das beste, die Polizei zu benachrichtigen, daß die beiden unter meiner Obhut sind. Ich besuchte aber zuerst meinen besonderen Freund, Mr. Knebworth, und erzählte ihm meine Lage. Er sprach mir dann von Ihnen, und ich beschloß, Ihre Rückkehr abzuwarten, ehe ich weitere Schritte unternahm.«

 

»Sie haben ein Geheimnis gelöst, das mich quälte und haben zufälligerweise eine Sache bestätigt, die ich sehr skeptisch betrachtete«, sagte Mike. »Ich denke, es wäre sehr gut, die Polizei zu informieren – ich werde die Zentrale benachrichtigen und Ihnen einen Krankenwagen schicken, der die beiden Leute ins Krankenhaus bringt. Ist der Mann transportfähig?«

 

»Ich glaube, ja«, nickte der alte Herr. »Er liegt jetzt in tiefem Schlaf und scheint bewußtlos zu sein, aber das ist nicht der Fall. Die Leute können gerne hier bleiben, obwohl ich keine Bequemlichkeiten habe und mich allein versorgen muß, und es mich daher eher belästigt, denn ich bin nicht an solche Anstrengungen gewöhnt. Glücklicherweise kann die Frau viel für ihn tun.«

 

»Hatte er ein Schwert, als er ankam?«

 

Mr. Longvale biß sich ungeduldig auf die Lippen.

 

»Wie konnte ich das vergessen! Ja, hier ist es.«

 

Er wandte sich zu einer altertümlichen Kommode, zog ein Schubfach auf und nahm das Schwert heraus, das Mike über dem Kamin in Griff Towers gesehen hatte. Es war fleckenlos und war auch so, als Mr. Longvale es aus den Händen des braunen Mannes nahm. Er erwartete auch nicht, es anders zu sehen, denn für den Krieger des Ostens ist sein Schwert wie ein Kind, und wahrscheinlich war es die erste Sorge des Mannes, es zu reinigen.

 

Mike verabschiedete sich, fragte dann aber noch plötzlich:

 

»Würde es Sie sehr bemühen, mir ein Glas Wasser zu bringen, Mr. Longvale? Meine Kehle ist ganz ausgetrocknet.«

 

Mit einer Entschuldigung eilte der alte Herr weg und ließ Mike allein in dem Raum.

 

An einem Haken hing der lange Überrock des Herrn von Dower House und daneben ein gekräuselter Biberpelz und ein sehr alter Filzhut, den Mike herabnahm, als Longvale ihm den Rücken gewandt hatte. Die Bitte um ein Glas Wasser war keine Kriegslist, denn er war wirklich durstig. Aber Wißbegierde gehörte nun einmal zu seinem Beruf.

 

Der alte Herr kehrte schnell zurück und fand Mike bei der Untersuchung des Hutes.

 

»Woher stammt er?« fragte der Detektiv.

 

»Der Eingeborene trug ihn, als er kam«, sagte Mr. Longvale.

 

»Ich möchte ihn mitnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Mike nach langem Schweigen.

 

»Aber mit dem größten Vergnügen. Unser Freund oben wird für lange Zeit keinen Hut brauchen«, meinte er mit einem seltsamen Lächeln.

 

Mike ging zu seinem Wagen zurück, legte den Hut sorgfältig neben sich und fuhr nach Chichester. Den ganzen Weg über war er verwundert. Denn in dem Hut sah er die Initialen »L. F.« Wie kam der Hut von Lawley Foß auf den Kopf des braunen Mannes aus Borneo?

 

Kapitel 27

 

27

 

Mr. Longvales beide Patienten wurden in dieser Nacht ins Krankenhaus gebracht, und als von den Ärzten ein günstiger Bericht über das Befinden des Mannes kam, hatte sich das Rätsel für Mike gelöst.

 

Er besuchte seinen alten Lehrer an diesem Abend. »Wieder wißbegierig?« fragte er gutgelaunt, als Mike eintrat.

 

»Sehr wißbegierig, Sie haben recht!« sagte Mike. »Obwohl ich bezweifle, daß Sie mir heute helfen können. Ich bin auf eine alte Chronik von Chichester aus.«

 

»Ich besitze eine aus dem Jahre 1600. Sie sind der zweite seit kurzer Zeit, der sie sehen möchte.«

 

»Wer war der andere?« fragte Mike schnell.

 

»Ein Mann namens Foß –« begann Mr. Scott. Mike nickte, als ob er das wüßte. »Er wollte etwas über die Höhlen wissen. Ich hatte niemals gehört, daß es hier Höhlen von Bedeutung gäbe. Wenn es Cheddar gewesen wäre, hätte ich ihm genügend Aufschluß geben können. Auf dem Gebiet bin ich eine Autorität.«

 

Er führte Mike in die Bibliothek, nahm einen alten Band herunter und legte ihn auf den Tisch.

 

»Nachdem Foß gegangen war, sah ich auch nach. Sie sind nur auf Seite 385 erwähnt. Der Bericht steht in Zusammenhang mit dem Verschwinden einer Reitertruppe unter Sir John Dudley, Earl von Newport, während einer lokalen Fehde, die sich in der Zeit Stephans in dieser Gegend abspielte. Hier ist die Stelle.« Er deutete darauf.

 

Mike las die altertümliche Schrift:

 

 

›Der edle Earl beschloß, seine Ankunft zu erwarten, und führte zwei Compagnien Reiterei nachts in die großen Höhlen, die zu jener Zeit vorhanden waren. Nach dem unergründlichen Willen Gottes, in dessen Hand wir alle stehen, ereignete sich um acht Uhr in der Frühe ein großer Erdrutsch, der alle diese Ritter und Herren und Sir John Dudley, Earl von Newport, unter sich begrub und ihr Leben vernichtete, so daß sie nie wieder gesehen wurden. Dies ereignete sich neun Meilen von dieser Stadt an einem Ort, der von den Römern Regnum genannt wurde oder Ciffanceaster von den Angelsachsen.‹

 

 

»Sind die Höhlen jemals gefunden worden?«

 

Mr. Scott schüttelte den Kopf.

 

»Es gehen Gerüchte in der Gegend um, daß sie vor anderthalb Jahrhunderten von Alkoholschmugglern benutzt wurden, aber solche Gerüchte finden Sie ja überall.«

 

Mike nahm eine Karte von Chichester aus seiner Mappe, maß neun Meilen ab und umzirkelte die Stadt. Die Linie ging nahe an der Besitzung Sir Gregorys vorbei. »Es gibt zwei Griff Towers?« sagte er plötzlich, als er die Karte prüfte.

 

»Ja. Außer Pennes Besitzung gibt es noch einen Turm, der nach der berühmten Grenzmarke – dem wirklichen Griff in Towers, wie er ursprünglich hieß – genannt ist. Ich glaube, er steht entweder in oder in der Nähe von Pennes Besitztum – ein sehr alter, runder Turm, ungefähr sechseinhalb Meter hoch. Sein Alter wird auf nicht ganz zweitausend Jahre geschätzt. Da ich mich sehr für archäologische Dinge interessiere, habe ich die Ruine genau untersucht. Der untere Teil ist zweifellos römisches Mauerwerk – die Römer hatten hier ein großes Lager. Und in der Tat war Regnum einer ihrer Hauptstützpunkte. Es gibt allerhand Erklärungen für seine Entstehung. Wahrscheinlich war er zuerst eine Schanze oder ein Blockhaus. Meiner Meinung nach war der ursprüngliche römische Turm nur einige Fuß hoch und überhaupt nicht als Festungsbau gedacht. In späteren Zeiten wurden die Umfassungsmauern erhöht, ohne daß man eigentlich recht wußte, warum.«

 

Mike lachte in sich hinein.

 

»Wenn meine Annahme richtig ist, werde ich in dieser Nacht noch mehr von diesem römischen Kastell erfahren«, sagte er.

 

Er ließ seine Koffer vom Hotel in sein neues Quartier bringen. Als er zurückkam, sah er, daß der Abendtisch für drei Personen gedeckt war.

 

»Erwarten Sie Besuch?« fragte Mike. Er beobachtete Jack Knebworth, der mit den letzten Vorbereitungen für die Ausstattung des Tisches beschäftigt war. Er hatte als Junggeselle ausgesprochenen Sinn für hübsche Anordnung und setzte die Bestecke, Teller, Gläser und Servietten ganz genau auf ihren Platz.

 

»Ja. Eine Freundin von Ihnen.«

 

»Von mir?«

 

Jack nickte.

 

»Ich habe Miss Leamington zu Tisch gebeten. – Wenn ich aber sehe, daß ein Mann in Ihrem Alter rot wird, wenn der Name einer jungen Dame erwähnt wird, so kann ich ihn nur bemitleiden. Sie kommt teils aus geschäftlichen Gründen, teils um einmal außerhalb der Geschäftszeit mit mir zusammen zu sein. Heute hat sie nicht so gut gespielt, wie ich erwartete, aber vermutlich waren wir alle heute nicht auf der Höhe.«

 

Bald darauf kam Helen Leamington. An diesem Abend sah sie wirklich entzückend aus. Mike konnte sie nicht genug ansehen, und obgleich er es sich noch nicht eingestand, hatte er sie doch in sein Herz geschlossen.

 

Jack Knebworth half ihr beim Ablegen des Mantels.

 

»Als ich hierher kam«, sagte sie, »dachte ich, wie sich doch alles so schnell ändern kann. Früher hätte ich im Traum nicht daran gedacht, daß ich einmal bei Ihnen eingeladen sein würde, Mr. Knebworth.«

 

»Und mir ist es auch niemals im Traum eingefallen, daß Sie sich einmal so in die Höhe arbeiten würden, daß ich Sie so auszeichnen kann. Und in fünf Jahren werden Sie zu sich sagen: Warum in aller Welt war es mir damals so wichtig, bei dem simplen Knebworth ein einfaches Mahl einzunehmen?«

 

Er legte seine Hand auf ihre Schulter und führte sie in das Zimmer. Jetzt erst sah sie Mike. Der junge Mann fühlte mit Unbehagen, daß sie etwas enttäuscht schien. Aber nur eine Sekunde, dann erklärte sie ihm den Wechsel ihres Mienenspiels, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

 

»Ich dachte, wir würden nur über Filme sprechen«, sagte sie lächelnd.

 

»Das sollen Sie auch«, erwiderte Mike. »Ich bin der beste Zuhörer auf der Welt. Der erste, der heute das Wort Mord erwähnt, wird zum Fenster hinausgeworfen.«

 

»Dann muß ich mich zur Flucht vorbereiten«, sagte sie gutgelaunt. »Denn ich möchte gern von Mord und Geheimnissen sprechen – später!«

 

Unter dem ermunternden Einfluß einer harmonischen Umgebung erschien das Mädchen in einem ganz neuen Licht. Alle Eigenschaften, die Mike ihr heimlich zugelegt hatte, erwiesen sich als wahr. Ihre Scheu und ihre fast kühle Reserve schmolzen in der Gesellschaft dieser beiden Menschen. Sie nahm an, daß der eine ihr zugetan war und der andere – nun ja, Mike war schließlich ein Freund.

 

»Ich habe heute nachmittag Detektiv gespielt«, sagte sie, nachdem der Kaffee serviert war, »und dabei habe ich interessante Entdeckungen gemacht. Ich erzählte Ihnen, daß ich gestern abend wieder das geheimnisvolle Auto sah. Zufällig konnte ich im Vorbeigehen das Muster sehen, das auf den Reifen der Hinterräder als Profil angebracht war. Als ich heute durch meine Straße ging, sah ich die Spur dieser Räder mitten auf dem schmutzigen Fahrdamm. Ich folgte ihr, und meine Vermutung bestätigte sich, daß sie nach dem Feldweg führte, der die Straße am Ende kreuzt. Es war die einzige Reifenspur auf diesem Weg. Zweifellos rührt sie von dem Wagen her, den der Fahrer mit der weißen Frauenhand lenkte. Ich sah in der Mitte der Straße Öl. Dort mußte der Wagen länger gehalten haben. Dies fand ich dort.« Sie öffnete ihre Handtasche und zog eine kleine dunkelgrüne Flasche daraus hervor. Sie trug kein Etikett und war nicht verschlossen. Mike nahm sie in die Hand, betrachtete sie aufmerksam und stellte einen starken, unangenehmen Geruch fest.

 

»Wissen Sie, was darin war?« fragte sie.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Lassen Sie mich auch einmal sehen«, sagte Jack Knebworth, nahm die Flasche aus Mikes Hand und führte sie an seine Nase. »Butylchlorid«, sagte er, und das Mädchen nickte.

 

»Ich dachte es mir gleich. Mein Vater war nämlich Apotheker, und als ich einmal in der Apotheke spielte, stand ein Schrank offen. Ich sah eine schöne Flasche darin, nahm sie und öffnete sie. Wer weiß, was mir zugestoßen wäre, wenn mein Vater mich nicht bemerkt hätte. Ich war damals noch ein Kind, aber ich habe den eigentümlichen Geruch nicht vergessen.«

 

»Butylchlorid.« Mike runzelte die Stirn. »Es ist bekannt unter den Namen ›Todestropfen‹. Dieses Mittel wird von Gaunern benützt, um Matrosen auszuplündern. Ein paar Tropfen in ein Weinglas genügen, um sie für lange Zeit bewußtlos zu machen.«

 

Mike nahm die Flasche wieder. Es war ein gewöhnliches Glas, wie es zur Aufbewahrung von Giften gebraucht wird, und als er näher hinsah, fand er auch das Wort »Gift« eingepreßt.

 

»Es ist keine Spur von einer Aufschrift zu finden«, sagte er.

 

»In Wirklichkeit besteht vielleicht gar kein Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Auto«, fügte Helen hinzu. »Es ist ja alles nur Vermutung von mir – ich habe eins ans andere gereiht.«

 

»Wo haben Sie die Flasche gefunden?«

 

»In einem Graben, der dort sehr tief und augenblicklich überflutet ist. Aber die Flasche fiel nicht so weit. Das war Entdeckung Nummer eins – hier ist Nummer zwei.«

 

Sie nahm einen sonderbar geformten, metallenen Gegenstand aus ihrer Tasche, der an beiden Seiten Bruchstellen zeigte.

 

»Wissen Sie, was das ist?« fragte sie.

 

»Nein«, sagte Jack und übergab Mike den Fund.

 

»Aber ich weiß es, weil ich es im Atelier gesehen habe«, sagte Helen. »Und Sie wissen es auch, nicht wahr; Mr. Brixan?«

 

Mike nickte.

 

»Es ist das Hauptgelenk einer Handschelle«, sagte er. »Das Gelenk, das beim Fesseln einschnappt.«

 

Es war mit rostigen Stellen bedeckt, die gereinigt worden waren. Helen sagte, daß sie das getan hätte.

 

»Das sind meine beiden Funde. Ich kann Ihnen meine Schlußfolgerungen nicht verraten, weil ich keine habe!«

 

»Diese Dinge brauchen überhaupt nicht aus dem Wagen geworfen worden zu sein«, sagte Mike. »Aber wie Sie sagen, besteht die Möglichkeit, daß der Besitzer des Autos die Gelegenheit wahrnahm, sie an dem einsamen Platz fortzuwerfen. Auf seinem eigenen Grund und Boden hätte er sie nicht brauchen können. Sicherer wäre es ja gewesen, wenn er sie ins Meer versenkt hätte. Aber so war es vermutlich leichter für ihn. Ich will sie aufheben.«

 

Er packte sie in Papier und steckte sie in die Tasche. Dann wandte sich die Unterhaltung wieder dem Film zu.

 

»Morgen werden wir Aufnahmen bei dem richtigen Griff Tower machen«, sagte Jeck Knebworth. »Er ist ein Wahrzeichen der ganzen Gegend – was belustigt Sie daran?« fragte er Mike.

 

»Nichts Besonderes. Ich hatte mir nur gleich gedacht, daß es so käme. Es war mein Gefühl, daß ich noch von dem verwünschten alten Turm hören würde!«

 

Kapitel 28

 

28

 

Mike war bedrückt. Er nahm die Geschichte mit der Limousine viel schwerer als das junge Mädchen, und besonders der Versuch, Helen in den Wagen zu locken, hatte ihn nervös werden lassen. Die Ereignisse der letzten Tage hatten es notwendig gemacht, den Detektiv, der ihr Haus bewachte, abzurufen. Bei dem Ernst der Lage entschied er sich aber, durch einen Ortspolizisten die Überwachung wieder aufnehmen zu lassen.

 

Nachdem er Helen in seinem Auto nach Hause gebracht hatte, fuhr er zur Polizeistation und bat um einen Mann. Aber es war zu spät, um den Inspektor selbst zu sprechen. Der Beamte, der die Aufsicht führte, wollte die Verantwortung nicht auf sich nehmen, den Befehl zu erteilen, und erst als Mike sich anschickte, an den Inspektor zu telefonieren, gab er widerwillig nach und entsandte einen uniformierten Polizisten, der in der Straße, in der Helen wohnte, auf und ab patrouillieren sollte.

 

Als Mike nach Hause kam, unterzog er die beiden Gegenstände, die Helen gefunden hatte, einer genauen Untersuchung. Butylchlorid war ein sehr schweres Gift …

 

Er prüfte das Gelenk der Handschelle noch einmal. Unheimliche Kraft hatte dazu gehört, das Verbindungsglied herauszubrechen. Dieses Geheimnis konnte er nicht enträtseln, und nachdem er sich lange vergeblich den Kopf darüber zerbrochen hatte, gab er es auf.

 

Bevor er sich zur Ruhe legte, erhielt er noch einen Anruf von Inspektor Lyle, der Griff Towers überwachte. Es hatte sich nichts Neues ereignet, und das Leben ging dort anscheinend seinen gewohnten Gang. Sir Gregory hatte den Inspektor ins Haus gebeten und ihm mitgeteilt, daß Bhag immer noch vermißt wurde.

 

»Diese Nacht müssen Sie noch dort bleiben«, sagte Mike. »Morgen werden wir den Posten aufheben. Scotland Yard ist der Ansicht, daß Sir Gregory nichts mit dem Tod von Foß zu tun hat.«

 

Ein Brummen auf der anderen Seite des Telefons drückte die Unzufriedenheit mit dieser Ansicht aus.

 

»Und ich behaupte, daß er trotzdem etwas damit zu tun hat«, sagte er. »Ich habe einen blutbefleckten, steifen Filzhut in den Feldern außerhalb der Mauer gefunden. Innen steht die Firma gedruckt: Chi Li Stores, Tjandi.«

 

Das war allerdings eine Neuigkeit.

 

»Schicken Sie ihn mir morgen früh her«, sagte Mike nach längerer Überlegung.

 

Gleich nach dem Frühstück am nächsten Morgen kam der Hut und wurde besichtigt. Knebworth, der das meiste von Mike gehört hatte, betrachtete das Fundstück neugierig.

 

»Wenn der Eingeborene Lawleys Hut trug, als er bei Mr. Longvale ankam, wo um alles in der Welt hat dann der Wechsel stattgefunden – es hätte doch nur zwischen Griff Towers und dem Haus des alten Herrn passieren können, es sei denn –«

 

»Es sei denn – was?« fragte Mike. Er hatte große Achtung vor Knebworths scharfem Verstand.

 

»Es sei denn,, daß der Wechsel im Hause von Sir Gregory stattfand. Sie sehen, daß keine Schnitte in dem Hut sind, obgleich er mit Blut befleckt ist. Da stimmt etwas nicht.«

 

»Es ist sehr sonderbar«, gab Mike zu. »Und trotzdem ist die Erklärung sehr einfach, wenn meine Theorie stimmt.« Er erzählte Knebworth nicht, welche Theorie er sich gebildet hatte.

 

Dann begleitete er Jack zum Atelier und sah den großen Autobus abfahren. Zu gerne wäre er aus irgendeinem Grund mitgekommen. Bei dieser lustigen, sorglosen Gesellschaft hätte er seine Unruhe und Sorge für einige Zeit vergessen.

 

Wie gewöhnlich jeden Morgen ließ er sich mit London verbinden, aber auch dort war nichts Neues vorgefallen. Es gab also wirklich keinen Grund, sich abhalten zu lassen. Sobald er sich entschieden hatte, stieg er in seinen Wagen und folgte der fröhlichen Schar.

 

Schon eine Viertelstunde, bevor er an Ort und Stelle war, sah er den alten Turm. Es war eine alte, verfallene Ruine, die den Eindruck einer ungewöhnlich hohen Schafhürde machte. Als er ankam, war der Autobus bereits von der Straße abgebogen und seitlich auf eine Wiese gefahren.

 

Die Schauspieler beendeten eben ihre Toilette und waren mit Schminken und Pudern gerade fertig geworden. Helen war im Augenblick nicht zu sehen. Sie kleidete sich in einem kleinen Zelt um. Jack Knebworth und der Operateur sprachen lebhaft über Tageslicht, Scheinwerfer und den Stand der Kamera.

 

Mike war zu vernünftig, um jetzt zu stören. Er ging zu dem Turm und beschaute sich das verschiedenartige Mauerwerk, das Generationen auf die ursprünglichen Fundamente getürmt hatten. Er verstand nicht viel von Mauerwerk, aber er konnte erkennen, bis zu welcher Höhe die Römer gebaut hatten. Er glaubte, dann auch noch den Teil zu unterscheiden, der in der Sachsenzeit aufgeführt worden war.

 

Einer der Hilfsarbeiter stellte eine Leiter auf, die Roselle gebrauchen sollte. Die Geschichte, die gefilmt wurde, handelte von einem Mädchen, das zuerst Choristin war und später die Frau eines hohen Adeligen wurde, der sich mit Archäologie befaßte. Der arme junge Mann, den sie in ihrer Jugend geliebt hatte – Mike vermutete mit Recht, daß Reggie Conolly diese traurige Rolle zu spielen hatte –, war immer zur Hand, um ihr zu helfen. Auch jetzt, wo sie in einem Verlies der Zitadelle eingeschlossen war, befreite er sie.

 

Der eigentliche Turm war in Arundel aufgenommen worden, in dem alten Griff Tower sollte nur gezeigt werden, wie das Mädchen an einem Tau aus ihrem Gefängnis entkam.

 

»Es ist verteufelt schwer, da herunterzukommen«, sagte Reggie düster. »Wenn auch im Innern der weißen Leinentücher ein festes Tau angebracht ist, damit die Geschichte nicht reißen kann, so ist doch Miss Leamington entsetzlich schwer. Versuchen Sie es doch selbst einmal, sie aufzuheben, Mr. Knebworth. Ich möchte gerne wissen, ob Sie sich dabei amüsieren würden!«

 

Mike stand dabei. Er hätte am liebsten diese Aufforderung gleich in die Tat umgesetzt.

 

»Was von mir in dieser Rolle verlangt wird, ist denn doch zu viel«, wehrte sich Reggie. »Ich bin kein Höhlenmensch, ich habe Knebworth auch gesagt, daß das keine Rolle für mich ist! Warum muß dann ausgerechnet hiervon eine Großaufnahme gemacht werden? Man könnte doch irgendeine Puppe dazu nehmen. Das würde auch genügen. Oder das einfachste wäre, wenn Miss Leamington allein herunterkletterte.«

 

»Das ist doch ganz einfach«, sagte Knebworth, der herbeigekommen war und die letzten Sätze gehört hatte. »Miss Leamington wird sich am Tau halten, so daß Sie nicht ihr ganzes Gewicht zu tragen haben. Sie brauchen nur sehr mutig und hübsch auszusehen.«

 

»Das ist alles gut und schön«, grollte Reggie. »Aber in meinem Kontrakt steht nichts davon, daß ich Taue hinauf- und hinunterklettern muß. Jeder von uns hat seine Zuneigungen und seine Abneigungen – aber derartige Dinge hasse ich.«

 

»Versuchen Sie es«, sagte Jack kurz.

 

Ein Requisitenarbeiter hing das Tau an einem Nagel auf, den er an der Innenseite des Turmes eingeschlagen hatte. Das obere Ende der Mauer kam nicht mit auf die Aufnahme. Die eigentliche Flucht war in Arundel schon festgehalten. Hier sollte nur die Großaufnahme gemacht werden. Die erste Probe hätte beinahe mit einem Unglücksfall geendet. Mit einem Schrei ließ Connolly seine Last fallen, und Helen wäre abgestürzt, wenn sie sich nicht selbst schnell am Tau gehalten hätte.

 

»Noch einmal versuchen!« rief Jack wütend. »Denken Sie doch daran, daß Sie eine Männerrolle spielen! Jackie Googan hätte seine Sache besser gemacht als Sie!«

 

Die Szene wurde noch einmal mit größerem Erfolg wiederholt, und als nach der dritten Probe Reggie ganz erschöpft war, rief Knebworth plötzlich: Kamera! und die Aufnahme begann.

 

Soviel Schattenseiten Connolly auch haben mochte, und wie schwer es auch war, mit ihm fertig zu werden, zweifellos war er ein Künstler. Obwohl diese ungewöhnliche Anstrengung ihn sehr mitgenommen hatte, schwebte ein holdes Lächeln auf seinen Lippen, und er schaute das Mädchen liebreich an, während die Kamera auf einer beweglichen Plattform sich langsam nach unten bewegte, um mit dem abwärts gleitenden Liebespaar gleichen Schritt zu halten. Jetzt waren sie auf dem Erdboden angekommen, und Connolly schaute Helen noch mit einem letzten, sprechenden Blick an.

 

»Das genügt«, sagte Jack.

 

Reggie ließ sich erschöpft niedersinken.

 

»Alle Wetter!« stöhnte er, indem er seine schmerzenden Armmuskeln betastete. »So etwas mache ich nie wieder, ich habe genug von der Rolle, Mr. Knebworth. Es war furchtbar! Ich dachte, ich würde sterben.«

 

»Nun, Sie sind aber nicht gestorben«, sagte Jack gutmütig lächelnd. »Ruhen Sie sich aus, dann wollen wir die Flucht filmen.«

 

Der Standpunkt der Kamera wurde etwa zwanzig bis dreißig Meter seitlich verlegt, und während Reggie Connolly sich auf dem Rasen ausruhte, ging Helen zu Mike.

 

»Ich bin sehr froh, daß die Aufnahme vorbei ist«, sagte sie erleichtert. »Mir tut der arme Connolly leid. Während der Aufnahme hat er so geschimpft, daß ich beinahe laut lachen mußte. Dann hätten wir die Sache noch einmal aufnehmen können.«

 

Ihr eigener Arm war braun und blau gestoßen, und das Tau hatte ihr die Haut am Handgelenk abgeschürft. Mike hatte plötzlich den verrückten Wunsch, diese kleine Wunde zu küssen, aber er beherrschte sich.

 

»Wie habe ich mich benommen? Sah ich einigermaßen annehmbar aus? Ich fühlte mich wie ein Bündel Stroh.«

 

»Sie sahen wundervoll aus«, sagte er begeistert. Sie blickte ihn von unten herauf schelmisch an, aber dann senkte sie die Augen.

 

»Wahrscheinlich sind Sie voreingenommen«, sagte sie und gab sich Mühe, unbeteiligt zu erscheinen.

 

»Das ist möglich«, sagte Mike. »Was gibt es innerhalb des Gemäuers zu sehen?« fragte er.

 

»Innerhalb des Turmes? Nichts außer einer Menge Felsen und wildem Gestrüpp und einem wundervollen Zwergbaum. Es war ganz hübsch.«

 

Er lachte. »Eben haben Sie doch gesagt, daß Sie froh wären, daß es vorüber ist. Ich vermute, daß Sie von der Aufnahme sprachen und nicht vom Inneren des Turmes.«

 

Sie nickte schalkhaft und zwinkerte mit den Augen.

 

»Mr. Knebworth hat gesagt, daß er die Sache noch einmal bei Nacht aufnehmen wird, wenn er mit der Tagaufnahme nicht zufrieden ist. Der arme Mr. Connolly! Dann wird er wohl seine Rolle im Stich lassen.«

 

In dem Augenblick hörte man die Stimme von Jack Knebworth.

 

»Nehmen Sie die Leiter nicht weg, Collins!« rief er. »Legen Sie sie ins Gras hinter dem Turm. Es ist möglich, daß wir heute abend wieder hierher kommen. Lassen Sie alles hier, was durch das Wetter nicht leidet. Sie können es morgen früh abholen.«

 

Helen sah enttäuscht aus.

 

»Ich fürchte, daß er seinen Vorsatz ausführt«, sagte sie. »Mir macht es nicht viel aus, aber die Nervosität Connollys macht mich auch unsicher. Ich wünschte, Sie spielten die Rolle.«

 

»Das wäre ganz nach meinem Sinn«, sagte Mike mit solcher Begeisterung, daß sie rot wurde.

 

Jack Knebworth trat zu ihnen.

 

»Haben Sie oben auf der Mauer etwas liegenlassen, Helen?« fragte er und zeigte auf den Turm.

 

»Nein, Mr. Knebworth«, sagte sie erstaunt.

 

»Sehen Sie nur, was hat das zu bedeuten?«

 

Er zeigte auf ein Etwas, das sich über der höchsten Stelle des Turmes erhob. »Es bewegt sich!« rief er bestürzt.

 

Während er sprach, zeigte sich langsam ein Kopf, ein Paar übermäßig starke, haarige Schultern folgten, dann schob sich ein Bein über die Mauer – es war Bhag!

 

Sein buschiger Pelz war grauweiß von Staub, und sein Gesicht sah mit diesem Puder ganz grotesk aus. Mike schaute scharf hin. Als das Tier beide Hände ausstreckte, sah er, daß jedes seiner Handgelenke von einer zerbrochenen Fessel umschlossen war.

 

Mit einem Schrei klammerte sich Helen an Mikes Arm.

 

»Was ist das?« fragte sie. »Ist das nicht das Ungetüm, das in mein Zimmer kam?«

 

Mike machte sich vorsichtig von ihr los und lief zum Turm. Bhag sprang und fiel auf den Boden. Er richtete sich einen Augenblick auf, wandte sein wütendes Gesicht Mike zu, nahm Witterung, und mit einem seltsamen, zwitschernden Geräusch lief er auf Händen und Füßen quer durch die Felder und verschwand dann hinter dem nahen Hügel.

 

Mike eilte ihm nach. Aber als er den großen Affen wieder zu Gesicht bekam, hatte der schon einen Vorsprung von etwa fünfhundert Metern. Bhag lief, so schnell er konnte, und hielt sich immer in der Nähe der Hecken, die die Felder abteilten. Es hatte keinen Zweck, ihn zu verfolgen, und der Detektiv ging langsam zu der erstaunten Gesellschaft zurück.

 

»Es ist nur ein Orang-Utan, der Sir Gregory gehört. Er ist vollkommen harmlos«, sagte er. »Er wurde seit drei Tagen vermißt.«

 

»Er muß sich im Turm verborgen haben«, sagte Knebworth.

 

Mike nickte.

 

»Ich bin sehr froh, daß er nicht gerade in dem Moment herauskam, als ich die Aufnahme machte«, sagte der Direktor, indem er die Stirn runzelte. »Haben Sie denn nichts gesehen, Helen, als Sie da oben waren?«

 

Mike sah, daß sie blaß war. Ihre Hand zitterte.

 

»Jetzt haben wir auch die Aufklärung für das abgebrochene Glied der Handschelle«, sagte Knebworth plötzlich.

 

»Haben Sie das bemerkt?« fragte Mike schnell. »Das erklärt wohl das Bruchstück, das Helen gefunden hat, aber noch lange nicht die Flasche mit Butylchlorid.«

 

Er hielt bei diesen Worten Helens Arm, und sie fühlte an dem Druck seiner Hand, daß er erregt war.

 

»Fürchten Sie sich?«

 

»Ja, ich fürchte mich sehr«, gestand sie. »Wie schrecklich sah das Vieh aus! War es Bhag?«

 

Er nickte. »Das war Bhag. Ich vermute, daß er sich in dem Turm verborgen gehalten hat … Haben Sie wirklich nichts gesehen, als Sie oben auf dem Rand der Mauer saßen?«

 

»Ich bin froh, daß ich ihn nicht gesehen habe, sonst wäre ich wahrscheinlich hinuntergefallen. Es sind sehr viele Sträucher da, unter denen er sich wahrscheinlich versteckt hatte.«

 

Mike wollte nun selbst das Innere besichtigen. Die Leiter wurde wieder an den Turm gestellt. Er kletterte bis zum Rand der Mauer und schaute hinunter. Am Grunde der Steinmauer fiel der Boden merkwürdig ab. Er erinnerte ihn an die Granattrichter, die er während des Krieges in Frankreich gesehen hatte. Den eigentlichen Boden des Turmes konnte man nicht erkennen, da er von dichtem Weißdorngebüsch überdeckt war, das besonders in der Mitte sehr dicht stand. Er sah noch einige Felsblöcke und die zerzausten Äste eines alten Baumes.

 

Sicherlich gab es hier reichlich Gelegenheit, sich zu verbergen. Wahrscheinlich hatte sich Bhag die ganze Zeit hier versteckt und von seinen Anstrengungen und schweren Verwundungen ausgeruht. Mike hatte etwas gesehen, was von keinem der anderen beobachtet wurde – der Affe hatte mehrere Wunden, und die eine Ohrmuschel war glatt auseinandergehauen.

 

Er stieg die Leiter wieder hinunter und ging zu Knebworth.

 

»Ich denke, unsere Arbeit ist für heute beendet«, sagte Jack unwirsch. »Ich fürchte, daß die Damen ziemlich erschrocken sind. Es wird wohl eine lange Zeit dauern, bis ich die Mädchen wieder hierher zu einer Nachtaufnahme bekomme.«

 

Mike brachte den Direktor in seinem Wagen zur Wohnung zurück. Während des ganzen Weges dachte er an Bhags merkwürdiges Aussehen. Jemand hatte dem Affen Handschellen angelegt. Er vermutete das damals schon, als Helen ihm das abgebrochene Stück der Fessel gab. Kein menschliches Wesen konnte eine solche Handschelle zerbrechen. Bhag war entflohen, aber wohin und wie? Und warum war er nicht nach Griff Towers zu seinem Herrn zurückgekehrt?

 

Als er den Direktor abgesetzt hatte, fuhr er geradewegs nach Griff Towers. Er fand den Baron auf dem Rasen beim Golfspiel. Penne war noch ganz verbunden, aber er hatte sich schon gut erholt.

 

»Jawohl, Bhag ist zurück – er ist vor einer halben Stunde wiedergekommen. Der Himmel mag wissen, wo er solange war. Ich habe schon oft gewünscht, daß der Kerl sprechen könnte, aber noch nie so eindringlich wie gerade jetzt. Jemand hatte ihm eiserne Handschellen angelegt. Gerade im Moment habe ich sie ihm abgenommen.«

 

»Kann ich sie sehen?«

 

»Wußten Sie das?«

 

»Ich habe ihn vorhin gesehen. Er kam aus dem alten Turm da auf dem Hügel.« Mike zeigte in die Richtung.

 

»Das ist merkwürdig – was zum Teufel hat er denn dort gemacht?«

 

Sir Gregory legte gedankenvoll seine Hand ans Kinn.

 

»Früher ist er auch schon öfters fort gewesen, aber meistens entfernte er sich nicht weiter als drei Kilometer. Es steht genügend Gebüsch in der Gegend, in dem er sich verstecken kann. Hierher kommen wenig fremde Leute. Einmal hat ihn ein Wilddieb gesehen, und der dumme Kerl hat nach ihm geschossen. Er konnte von Glück sagen, daß er mit dem Leben davonkam – hat man die Leiche von Foß gefunden?«

 

Der Baron hatte das Spiel wieder aufgenommen und schaute auf den Ball, der zu seinen Füßen lag.

 

»Nein«, sagte Mike ruhig.

 

»Glauben Sie, daß sie gefunden wird?«

 

»Ich wäre nicht erstaunt, wenn es so wäre.«

 

Sir Gregory hatte die Hände auf den Golfschläger gelegt und schaute nach dem Wald hinüber.

 

»Wie ist das Gesetz in diesem Lande? Angenommen, ein Mann tötete unglücklicherweise einen Diener, der versucht hatte, ihn mit dem Messer zu stechen?«

 

»Er würde angeklagt werden«, sagte Mike, »und der Spruch der Geschworenen würde lauten: Totschlag in Notwehr. Man würde ihn dann freilassen.«

 

»Aber angenommen, er hätte die Sache nicht angezeigt – angenommen, er – nun, wollen wir einmal sagen, er hätte die Leiche verborgen – hätte sie begraben – und hätte alles auf sich beruhen lassen?«

 

»Das ändert natürlich die Sache … Er würde sich dadurch einer ziemlichen Gefahr aussetzen«, sagte Mike. »Besonders« – dabei sah er den Baron scharf an – »wenn eine Freundin, mit der er sich nachher entzweite, zufälligerweise Zeugin der Tat war.«

 

Gregory Penne blickte schnell zu dem Detektiv hinüber und wurde puterrot.

 

»Nehmen wir einmal an, sie versuchte Geld von ihm zu erpressen durch die Drohung mit einer polizeilichen Anzeige?«

 

»Dann würde sie wegen Erpressung ins Gefängnis kommen«, sagte Mike geduldig, »und vielleicht auch wegen Mittäterschaft während oder nach der Tat.«

 

»Würde sie in solchem Fall wirklich ins Gefängnis kommen?« fragte Gregory interessiert. »Würde sie der Mittäterschaft beschuldigt, wenn sie zusah, wie der Mann erschlagen wurde …? Wohlgemerkt, es ereignete sich vor Jahren. Es gibt doch ein Gesetz über Verjährungsfristen, nicht wahr?«

 

»Nicht für Mord«, sagte Mike.

 

»Mord? Würden Sie denn das Mord nennen?« fragte Gregory Penne sichtlich erregt. »In Notwehr? Das ist doch Unsinn!«

 

Die Sache wurde Mike nach und nach klar. Stella hatte ihn einmal einen Mörder genannt. Mikes reger Geist begann zu arbeiten. Er konnte den ganzen Vorgang vollständig und sicher rekonstruieren. Ein Diener, wahrscheinlich einer der braunen Leute, der malaiischen Sklaven, war verrückt geworden und lief Amok. Penne hatte ihn getötet – vielleicht in Notwehr – und war jetzt vor den Folgen bange. Er erinnerte sich an Stellas Worte: »Penne prahlt nur immer, eigentlich ist er ein Feigling.« Das war der Kern der Sache.

 

»Wo haben Sie denn Ihr unglückliches Opfer begraben?« fragte er eisig.

 

Der Baron schaute ihn entsetzt an.

 

»Begraben? Was meinen Sie damit?« fragte er aufgebracht. »Ich habe niemand ermordet oder begraben. Ich habe Ihnen nur einen möglichen Fall vorgetragen.«

 

»Es klang aber doch sehr nach Wirklichkeit und weniger nach Hypothese«, sagte Mike. »Aber ich will Sie mit der Frage nicht in Verlegenheit bringen.«

 

Tatsächlich interessierte sich Mike sehr für solche Verbrechen, aber im Augenblick handelte es sich um den Kopfjäger, und da mußte er solche Dinge vorläufig außer acht lassen. Er wollte aber später darauf zurückkommen.

 

Aber da war noch etwas anderes, das er nicht einmal sich selbst eingestand. Sir Gregorys Gemeinheit und seine Verrücktheiten, seine schmutzigen Liebesabenteuer waren doch zu widerwärtig. Er hätte ihn gern an den Galgen gebracht, aber er war seiner Sache noch nicht sicher.

 

»Es ist doch merkwürdig, wie man zu solchen Fragen kommt«, sagte Penne. »Ein Mensch wie ich, der doch nicht viel zum Denken gezwungen ist, versteift sich auf ein solch abstraktes Problem und kommt nicht davon los. Dann würde sie tatsächlich der Mittäterschaft schuldig sein? Darauf steht Zuchthaus.«

 

Dieser Gedanke schien ihn sehr zu befriedigen, und er war fast liebenswürdig, als sich Mike nach einer Besichtigung der zerbrochenen Handschellen von ihm verabschiedete. Es waren alte, englische Handfesseln.

 

»Ist Bhag sehr verletzt?« fragte Mike, als er die Eisen aus der Hand legte.

 

»Nicht gerade bedeutend, er hat ein oder zwei Wunden abbekommen«, sagte Penne ruhig. Er machte keine Versuche, die Ereignisse der Nacht zu verschweigen. »Der arme Kerl, wollte mir beistehen, aber der Malaie hätte ihn beinahe getötet. Tatsächlich wurde Bhag von ihm niedergeschlagen, aber er war ihm dicht auf den Fersen, der Mordskerl.«

 

»Was für einen Hut trug der Malaie?«

 

»Keji? Ich weiß es nicht. Ich nehme an, daß er einen hatte, aber ich bemerkte es nicht. Warum?«

 

»Ich fragte bloß«, sagte Mike leichthin. »Vielleicht hat er ihn in den Höhlen verloren.«

 

Er beobachtete Penne scharf, als er dies sagte.

 

»Höhlen? Davon habe ich noch nie etwas gehört. Was ist damit? Gibt es hier in der Nähe überhaupt Höhlen?« fragte Sir Gregory unschuldig. »Sie wissen unheimlich Bescheid in der Topographie dieses Landes, Brixan. Ich lebe nun schon zwanzig Jahre hier, aber ich verliere noch jedesmal den Weg, wenn ich nach Chichester gehe.«

 

Das Rätsel der Höhlen beschäftigte Mike mehr als irgendeine andere Seite dieses geheimnisvollen Falles. Er erinnerte sich an Mr. Longvale, der eine ganz genaue Kenntnis der Gegend hatte. Als er zu ihm fuhr, war er nicht zu Hause. Erst einige Zeit später kehrte er in seinem altertümlichen Auto von Chichester zurück. Das Geräusch dieses Wagens hörte man schon lange, bevor er an einer Straßenbiegung in Sicht kam. Mike brachte seinen Wagen zum Stehen, und Longvale tat dasselbe.

 

»Ja, die Maschine macht viel Spektakel«, gab der alte Herr zu und wischte sich seinen kahlen Kopf mit einem buntgeblümten Taschentuch ab. »Ich fange erst an, mir die Errungenschaften der letzten Jahre anzueignen. Persönlich glaube ich nicht, daß ein geräuschloser Wagen mich so befriedigen würde. Man fühlt doch immer, daß etwas geschieht!«

 

»Sie sollten sich einen Rolls-Royce kaufen«, sagte Mike.

 

»Ich dachte auch schon daran«, sagte Longvale ernst. »Aber ich liebe nun einmal alte Dinge, das ist meine Eigentümlichkeit.«

 

Mike fragte ihn nach den Höhlen, und zu seinem größten Erstaunen bestätigte ihm der alte Herr ihr Vorhandensein.

 

»Ich habe häufig davon gehört. Als ich noch ein Junge, war, erzählte mir mein Vater, daß es hier in der Gegend sehr viele Höhlen gibt und daß der glückliche Entdecker des Eingangs große Mengen von altem Branntwein finden würde. Aber bisher hat niemand, soviel ich weiß, den Zugang entdecken können. Er müßte aber hier in der Gegend liegen.« Dabei zeigte er in die Richtung des Griff Towers. »Aber vor vielen Jahren …« Dann erzählte er von dem Erdrutsch und von dem Verschwinden zweier Heerhaufen tapferer Ritter und Edelleute. Wahrscheinlich hatte der alte Herr die Geschichte derselben Quelle entnommen wie Mike.

 

»Die volkstümliche Legende berichtet, daß ein unterirdischer Strom in der Nähe von Seley Bill ins Meer fließt … Aber Sie wissen ja, Landleute leben in solchen Legenden. Wahrscheinlich ist nichts Wahres daran.«

 

Inspektor Lyle wartete bereits auf den Detektiv, als er ankam. Er hatte aufsehenerregende Nachrichten für ihn.

 

»Diese Annonce erschien heute morgen im ›Daily Star‹«, sagte er.

 

Mike nahm ihm die Zeitung ab. Die Anzeige hatte denselben Wortlaut wie die frühere:

 

›Sind Ihre geistigen und körperlichen Beschwerden unheilbar? Zögern Sie noch am Rande des Abgrundes? Fehlt Ihnen Mut? Schreiben Sie dem Wohltäter. Fach …‹

 

»Antworten werden erst morgen früh eintreffen. Briefe sollen an einen Zeitungsladen in der Lamberth Road umadressiert werden. Major Staines wünscht, daß Sie diese Spur verfolgen.«

 

Die Spur war in der Tat sehr gut getarnt. Um vier Uhr am nächsten Nachmittag humpelte eine lahme alte Frau in den Laden des Zeitungsagenten in der Lamberth Road. Sie fragte nach Briefen, die an Mr. Vole adressiert seien. Es wurden ihr drei ausgehändigt. Sie zahlte die Gebühr, steckte die Umschläge in eine alte, abgenutzte Handtasche und humpelte wieder auf die Straße, indem sie murmelte und mit sich selbst sprach. Nachdem sie die Lamberth Road hinuntergegangen war, stieg sie in eine Straßenbahn nach Clapham, und in der Nähe des Parks stieg sie aus. Sie ging durch die Straßen der Mittelstandshäuser, bis sie in ein ärmliches, unansehnliches Viertel gelangte.

 

Die Gegend wurde immer armseliger, und schließlich kam sie zu einem niedrigen Bogengang, dessen Steinpflaster seit langen Jahren nicht ausgebessert worden war. Es war eine Sackgasse, deren Häuser alle gleich gebaut waren. Vor dem letzten hielt sie an, zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. Sie wollte eben wieder schließen, als sie sah, daß ein großer, gutaussehender Herr im Eingang stand, der ihr gefolgt sein mußte.

 

»Guten Abend, Mütterchen!« sagte er.

 

Die Alte schaute ihn argwöhnisch an und murmelte etwas. Nur Krankenhausdoktoren und Beamte des Armenhauses, also Leute, die irgend etwas mit Wohltätigkeitsinstituten zu tun hatten, nannten alte Frauen Mütterchen. Manchmal taten es aber auch die Polizisten. Ihr altes, häßliches Gesicht bekam noch mehr Falten bei diesem unangenehmen Gedanken.

 

»Ich möchte ein wenig mit Ihnen sprechen!«

 

»Kommen Sie herein!« sagte sie mit schriller Stimme.

 

Der Fußboden in dem Eingangsflur war an vielen Stellen kaputt und unglaublich schmutzig. Aber er war noch in glänzender Verfassung im Vergleich zu der schrecklichen Unordnung, die in ihrem Wohnzimmer und in der Küche herrschte.

 

»Woher kommen Sie? Vom Hospital oder von der Polizei?«

 

»Polizei«, sagte Mike. »Geben Sie mir die drei Briefe, die Sie eben abgeholt haben.«

 

Zu seiner Überraschung sah die alte Frau erleichtert auf.

 

»Ach, ist das alles?« sagte sie. »Das tue ich nun schon seit langen Jahren für einen alten Herrn.«

 

»Wie heißt er?«

 

»Ich kenne seinen Namen nicht. Die Adresse auf den Briefen ist richtig. Ich sende sie alle an ihn.«

 

Aus einem Haufen Kram holte sie drei Kuverts hervor, deren Adresse mit Maschine geschrieben war. Mike erkannte die Type sofort wieder. Sie waren an eine Straße in Guildford adressiert.

 

Mike nahm die Briefe und las zwei davon; der dritte war eine von ihm selbst geschriebene Antwort auf die Annonce. Das jetzt folgende scharfe Verhör brachte ihn aber nicht weiter. Die Frau erhielt monatlich ein Pfund für ihre Bemühungen. Das Geld sandte ihr der Unbekannte jedesmal in einem Brief, in dem er ihr auch mitteilte, wo sie die nächsten abholen sollte.

 

»Sie war etwas verrückt und machte einen fast idiotischen Eindruck«, sagte Mike mit Abscheu, als er Major Staines berichtete. »Auch die Nachforschungen in der Guildforder Straße haben nichts ergeben. Dort sitzt ein anderer Agent, der die Briefe nach London zurückschickt, wo sie niemals ankommen. Da ist noch ein Haken bei der Sache. In ganz London gibt es diese Adresse nämlich nicht, und ich kann nur vermuten, daß die Briefe unterwegs abgefangen werden. Ich habe die Polizei in Guildford beauftragt, dieser Sache auf den Grund zu gehen.«

 

Major Staines war sehr verärgert.

 

»Ich hätte Ihnen diesen Fall doch nicht zur Bearbeitung übergeben sollen«, sagte er. »Ich habe die besten Absichten gehabt, als ich es tat. Scotland Yard macht jetzt Schwierigkeiten und sagt, man hätte den Kopfjäger längst fangen können, wenn sich nicht andere Leute hineingemischt hätten. Sie kennen ja selbst die unglaubliche Eifersucht zwischen den einzelnen Behörden. Und ich brauche Ihnen doch wohl nicht erst zu erzählen, wieviel unangenehme Bemerkungen ich zu hören bekomme, die ich wirklich nicht verdiene.«

 

Mike sah seinen Vorgesetzten nachdenklich an.

 

»Ich werde den Kopfjäger verhaften, aber ich bin mehr denn je davon überzeugt, daß wir ihn nicht eher überführen können, als bis wir etwas Näheres – über die Höhlen wissen!«

 

Staines zog die Stirne kraus.

 

»Ich verstehe nicht ganz, Mike. Von welchen Höhlen sprechen Sie?«

 

»In der Nähe von Chichester liegen Höhlen. Foß wußte auch von deren Existenz und brachte sie sogar in Verbindung mit dem Kopfjäger. Geben Sie mir noch vier Tage Zeit, Major, und ich werde über beides Bescheid wissen. Und wenn ich keinen Erfolg habe« – er machte eine Pause – »wenn ich keinen Erfolg habe, können Sie mir guten Morgen sagen, wenn Ihnen mein Kopf aus der nächsten Kiste des Kopfjägers entgegenschaut!«

 

29, 30 und 31 fehlen im Buch

 

29, 30 und 31 fehlen im Buch

 

Am zweiten Tag nach Mikes Besuch in London fühlte sich Helen ganz verlassen auf der Welt, wußte aber selbst nicht warum. Und doch war ihr Spiel im Film glänzend, und Jack Knebworth, der sonst sehr mit seinem Lob geizte, war begeistert von einer kleinen Szene, die sie mit Connolly gespielt hatte. Er lobte sie so sehr, daß selbst Reggie sich nicht ausschließen wollte und seine frühere abfällige Meinung über Helen einer Revision unterzog.

 

»Ich will ganz frei und offen sprechen«, sagte er aufrichtig. »Die Leamington ist gut, es ist ganz selbstverständlich, daß ich ihr immer mit Rat und Tat zur Seite stehen werde, und nichts hilft so – wenn ich einen richtigen Ausdruck gebrauchen darf –«

 

»Gebrauchen Sie ihn ruhig«, sagte Jack Knebworth.

 

»– als wenn man einen vollendeten Künstler zum Partner hat. Mir kann es natürlich nichts nützen, aber sie bringt es sehr viel weiter dadurch, sie entwickelt ihr Selbstbewußtsein und ihren Mut. Obgleich ich eine unangenehme, schreckliche Zeit hinter mir habe, fühle ich doch, daß sie eine dankbare Schülerin ist.«

 

»Sieh mal an«, brummte Knebworth. »Ich möchte gerne dasselbe von Ihnen sagen, Reggie. Aber unglücklicherweise werden Sie durch all die Erziehung, die ich Ihnen gab und die Sie noch bekommen werden, nicht um einen Deut besser.«

 

Reggies überlegenes Lächeln hätte einen weniger ruhigen Mann als Knebworth leicht gereizt.

 

»Sie haben vollkommen recht«, sagte Reggie ernsthaft. »Ich kann mich nicht mehr steigern. Ich habe den Zenit meines Ruhmes erreicht, und ich zweifle, daß Sie noch einen ähnlichen Schauspieler wie mich finden werden. Ich bin sicher der beste jugendliche Liebhaber in diesem Lande, vielleicht auf der ganzen Welt. Ich hatte drei Angebote, nach Hollywood zu gehen, und Sie würden nicht glauben, welche Schauspielerin mich gebeten hat, als ihr Partner zu spielen.«

 

»Von alledem glaube ich Ihnen kein Wort«, sagte Jack gleichmütig. »Aber wenn Sie Miss Leamington über alle Maßen loben, haben Sie recht. Sie ist großartig, und ich glaube, daß es vollkommen richtig ist, wenn Sie sagen, daß es Ihnen nicht zu großem Vorteil gereicht, als ihr Partner Zu spielen. Ihr gegenüber sehen Sie aus wie abgestandenes, saures Bier.«

 

Später fragte Helen selbst ihren weißhaarigen Chef, ob es wahr wäre, daß Reggie England bald verlassen würde, um seine Stellung zu verbessern.

 

»Ich glaube nicht«, sagte Jack. »Ich habe noch keinen Schauspieler kennengelernt, der nicht immer noch einen besseren Vertrag hätte machen können. Wenn er ihn dann aber vorzeigen soll, so ist er gewöhnlich im Büro eines Rechtsanwaltes eingeschlossen und kann nicht herausgeholt werden. In der Filmbranche der ganzen Welt gibt es immer wieder Schauspieler und Schauspielerinnen, die mit dem nächsten Dampfer nach Hollywood fahren, um zu zeigen, wie man wirklich spielen muß. Aber alle Passagierdampfer würden leer fahren, wenn sie auf diese Fahrgäste angewiesen wären. Das ist ja alles nur Bluff. Es gehört eben zum Künstlerleben, sich selbst und anderen etwas vorzumachen.«

 

»Ist Mr. Brixan zurückgekommen?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich habe nichts davon gehört. Vor einer halben Stunde kam ein übel aussehender Bursche ins Atelier und fragte, ob er schon zurück wäre.«

 

»Ein übel aussehender Strolch?« fragte sie. »Ich habe ihn gesprochen. Er sagte, daß er einen Brief für Mr. Brixan hätte, den er ihm nur persönlich abgeben wollte.«

 

Sie sah aus einem Fenster, von dem aus man die Zufahrtsstraße zu dem Atelier beobachten konnte. Draußen an der Straßenecke stand ein heruntergekommener Mann. Er trug eine ausgeblichene, zerschlissene Golfkappe, unter der langes, dünnes schwarzes Haar, untermischt mit einigen grauen Fäden, unordentlich hervorschaute. Anscheinend hatte er kein Hemd an, denn der Kragen seines unglaublich schlechten Rockes war hochgeschlagen. Die nackten Zehen guckten vorn aus seinen Schuhen heraus.

 

Er mochte ungefähr sechzig sein, aber es war schwer, sein genaues Alter festzustellen. Es schien, als ob seine grauen Bartstoppeln nicht mehr mit einem Rasiermesser in Berührung gekommen waren, seitdem er das letztemal im Gefängnis saß. Seine Augen waren entzündet und seine Nase tiefrot, ins Bläuliche spielend. Die Hände hatte er in die Hosentaschen gesteckt. Man hätte glauben können, daß dies der, einzige Halt für das Kleidungsstück war, bis man die rote Schnur sah, die er um seine Hüften gebunden hatte. Während er so dastand, schurrte er im Takt mit den Füßen und pfiff eine traurige Melodie dazu. Von Zeit zu Zeit zog er eine Hand aus der Tasche und befühlte den etwas schmutzigen Briefumschlag. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß er ihn noch besaß, verwahrte er ihn wieder und trippelte im Takt auf seinem Wachtposten weiter.

 

»Glauben Sie nicht, daß Sie den Brief lesen müßten?« fragte Helen besorgt. »Er könnte doch wichtige Nachrichten enthalten.«

 

»Das dachte ich auch«, sagte Jack Knebworth. »Aber als ich sagte, daß er ihn mir zeigen sollte, grinste er nur.«

 

»Wissen Sie, woher er kommt?«

 

»Ich weiß nicht mehr als irgendeine Nebelkrähe«, meinte Jack ruhig. »Und nun wollen wir Mike Brixan einmal vergessen und uns wieder Roselle zuwenden. Die Aufnahmen, die wir draußen am Turm gemacht haben, könnten nicht besser sein. Ich will also die Nachtaufnahmen weglassen, und von jetzt ab werden wir sehen, daß wir schnell vorwärtskommen mit unserer Arbeit.«

 

Die Aufnahmen für den Film waren schwierig. Es war sehr mühsam, die einzelnen Szenen so gut durchzuarbeiten, daß alle Pointen herauskamen. Noch nie hatte er so viele Mitspieler zu dirigieren gehabt, seitdem er hier in England tätig war. Und auch für Helen war es ein anstrengender Tag. Sie war vollkommen erschöpft, als sie ihren Heimweg antrat.

 

»Haben Sie nicht Mr. Brixan gesehen?« hörte sie plötzlich eine Fistelstimme neben sich, als sie den Bürgersteig erreichte. Sie drehte sich erschrocken um. Sie hatte gar nicht mehr an den Herumtreiber gedacht.

 

»Nein, er ist nicht dagewesen«, sagte sie. »Sie würden besser Mr. Knebworth noch einmal aufsuchen. Er wohnt bei ihm.«

 

»Als ob ich das nicht wüßte! Ich weiß alles, was man nur irgend von ihm wissen kann.«

 

»Ich glaube, er ist in London – dann werden Sie das ja auch wissen.«

 

»Er ist nicht in London«, sagte der andere beinahe vorwurfsvoll. »Wenn er in London wäre, würde ich doch nicht hier herumlaufen. Gestern ist er von London weg. Ich werde auf ihn warten, bis er kommt.«

 

Sie war einen Augenblick über seine Hartnäckigkeit belustigt, aber alles andere als froh gestimmt.

 

Sie ging quer über den Markt. Plötzlich kam ein großes Auto in rasender Fahrt daher, und sie mußte schnell zur Seite springen. Sie erkannte den Wagen Stella Mendozas. Stella fuhr manchmal äußerst rücksichtslos.

 

Sie hatte es sehr eilig und schimpfte, als sie einem Fußgänger ausweichen mußte. Sir Gregory war plötzlich geneigt, ihre Wünsche zu erfüllen, und sie wollte schnell zu ihm, bevor er seine Meinung wieder änderte. Da erkannte sie Helen, brachte den Wagen zum Stehen, riß die Tür auf und sprang heraus.

 

»Wenn ich in zwei Stunden von Griff Towers nicht wieder zurück bin, benachrichtigen Sie bitte die Polizei«, rief sie der erstaunten Helen schnell zu. Und ehe diese sich recht besinnen konnte, was vorgefallen war, fuhr Stella schon wieder davon.

 

Kapitel 22

 

22

 

Als Mike fortging, fand er Stella vor der Tür am Eingang des Ateliers. Er erinnerte sich, daß sie zu Mittag nach Griff Towers eingeladen war. Zu seinem größten Erstaunen kam sie quer über die Straße auf ihn zu.

 

»Ich möchte Sie gerne sprechen, Mr. Brixan – ich ‚abe nach Ihnen hineingeschickt.«

 

»Dann ist Ihre Botschaft irrtümlicherweise Mr. Knebworth ausgerichtet worden«, sagte Mike lächelnd.

 

Sie zuckte die Achseln, um ihre Verachtung für Jack Knebworth und alles, was mit ihm zusammenhing, auszudrücken.

 

»Ich wollte nur Sie sprechen. Sind Sie nicht Detektiv?«

 

»Ja, das bin ich«, sagte Mike und war gespannt, was jetzt kommen sollte.

 

»Mein Wagen wartet hinter jener Ecke. Könnten Sie mit mir kommen?«

 

Mike zögerte. Er hätte zu gern Helen gesprochen, obwohl er ihr nichts Neues zu sagen hatte.

 

»Mit Vergnügen«, sagte er dann zu Stella.

 

Sie fuhr ihren Wagen mit großer Gewandtheit selbst und war anscheinend so darin vertieft, daß sie während der Fahrt nicht mit ihm sprach.

 

Von ihrem niedlichen, hübschen Wohnzimmer aus hatte er einen schönen Ausblick auf die South Downs. Er war gespannt auf das, was sie ihm zu erzählen hatte.

 

»Mr. Brixan, ich muß Ihnen etwas mitteilen, was Sie eigentlich wissen müssen.«

 

Ihr Gesicht war bleich und ihr Benehmen merkwürdig nervös.

 

»Ich weiß nicht, was Sie über mich denken, wenn ich es Ihnen gesagt habe, aber ich muß es eben wagen. Ich kann nicht länger darüber schweigen.«

 

Ein schrilles Klingeln in der Diele unterbrach sie.

 

»Das Telefon. Wollen Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen?«

 

Eilig ging sie hinaus und ließ die Tür leicht angelehnt. Mike hörte, daß sie schnell und ärgerlich antwortete. Dann war sie lange ruhig, sie hörte zu, ohne selbst zu sprechen. Etwa nach zehn Minuten kam sie wieder ins Zimmer. Ihre Augen glänzten, und ihre Wangen hatten sich gerötet.

 

»Würden Sie es sehr übelnehmen, wenn ich Ihnen meine Mitteilung erst später mache?«

 

Sie hatte mit Sir Gregory gesprochen, dessen war Brixan sicher, obgleich sie seinen Namen nicht erwähnt hatte.

 

»Solch eine günstige Gelegenheit wird sich nicht so bald wieder finden, Miss Mendoza«, sagte er ermutigend.

 

Sie biß sich auf die Lippen.

 

»Ja, ich weiß. Aber ich habe Gründe, warum ich im Augenblick nicht sprechen kann. Würden Sie mich morgen aufsuchen?«

 

»Gewiß«, sagte Mike höflich. Heimlich war er froh, daß er gehen konnte.

 

»Soll ich Sie zurückfahren?«

 

»Danke, nein, ich kann gehen.«

 

»Ich will Sie wenigstens bis zur Stadt bringen, ich fahre in der Richtung«, bat sie.

 

Natürlich mußte sie den Weg fahren, dachte Mike, wenn sie nach Griff Towers wollte. Er war seiner Sache so sicher, daß er sich nicht einmal die Mühe nahm, sie danach zu fragen. Als sie ihn bei seinem Hotel absetzte, wartete sie nicht einmal, bis er auf den Fußsteig gegangen war, sondern fuhr sofort weiter.

 

»Es ist ein Telegramm für Sie angekommen«, sagte der Portier. Er ging in das Büro des Geschäftsführers und kam mit einem braunen Umschlag zurück, den Mike eilig öffnete.

 

Im ersten Augenblick konnte er die verhängnisvolle Botschaft nicht begreifen, die das Telegramm enthielt. Erst als er sie zum zweitenmal las, wurde sie ihm verständlich:

 

›Kopf in der Nähe des Chobham Common heute am frühen Morgen gefunden. Sofort nach Polizeistation Leatherheed kommen.

 

Staines‹

 

 

Eine Stunde später brachte ihn ein Auto in rasender Fahrt dorthin. Staines wartete auf der Treppe auf ihn.

 

»Heute bei Tagesanbruch gefunden«, sagte er. »Der Mann ist bis jetzt noch nicht identifiziert.«

 

Er führte Mike zu einem Nebengebäude. In einem kleinen Raum stand mitten auf dem Tisch eine Kiste. Staines öffnete den Deckel, und Mike warf einen Blick auf das wachsbleiche Gesicht. Er wurde weiß bis in die Lippen.

 

»Großer Gott!« stieß er hervor.

 

Es war der Kopf von Lawley Foß.