Die zwei ungleichen Brüder

 

Die zwei ungleichen Brüder

 

Mr. Rater mischte sich niemals in die Amtshandlungen eines Untergebenen ein, wenn es nicht dringend notwendig war. Der Untergebene war in diesem Fall ein einfacher Polizist, und er hatte die Aufgabe, Mrs. Stalmeester von dem bewußtlos am Boden liegenden Hausverwalter wegzureißen, der die Mieten einkassieren wollte. Der Mann hatte gedroht, sie auf die Straße zu setzen, wenn sie nicht ihre Miete zahlen würde. Daraufhin warf ihm die alte Frau einen Steinkrug an den Kopf, so daß er die Besinnung verlor. Wahrscheinlich kannte er ihren Charakter nicht genügend, sonst hätte er sofort den Rückzug angetreten, als sie nach dem Krug griff.

 

Sie war nahezu sechzig, groß und kräftig gebaut und hatte muskulöse Arme wie ein Hafenarbeiter. In ihrem Streit fand sie natürlich die Unterstützung aller Bewohner des Hauses Keller Row, Nr. 79, denn bei diesen Leuten waren Mieteinnehmer, Schulinspektoren und Polizisten gleich verfemt und verhaßt.

 

Als ein Parteigänger von Mrs. Stalmeester einen Spitzhammer packte, um den Polizisten anzugreifen, hielt es Chefinspektor Rater für nötig, einzugreifen.

 

Er riß die Frau von dem Bewußtlosen weg und zwang mit einem wohlgezielten Faustschlag den Mann mit dem Spitzhammer, sich von dem Schauplatz zurückzuziehen. Schließlich packte er Mrs. Stalmeester und trug sie in den Polizeiwagen, und als sie weiter tobte und wütete, half er, sie festzuschnallen. Eine halbe Stunde später mußte sie sich auf der Polizeistation verantworten. Sie erklärte in gebrochenem Englisch und vielen flämischen Worten, daß sie das Opfer eines gemeinen Angriffs sei, bis der Redner sie scharf zurechtwies und sie an ihre früheren Sünden erinnerte, die sie schon mehrfach mit der Polizei in Berührung gebracht hatten.

 

Sie war eine böse, gewalttätige Frau und der Schrecken ihrer Nachbarschaft. Fünfzehn Jahre lang hatte sie die Schweden, die Holländer und Schotten tyrannisiert, die in Keller Row in Greenwich wohnten. Die meisten von ihnen waren Seeleute und nahmen in unregelmäßigen Zwischenräumen auf den Schiffen Dienst, die von den Victoria-Docks abfuhren.

 

Mrs. Stalmeesters schimpfte noch eine Weile über die Gesetze und die Polizei, aber schließlich beruhigte sie sich.

 

»Fünfzehn Jahre wohne ich nun schon in der Gegend, und noch nie habe ich einen Streit mit jemand gehabt. Im Gegenteil, ich habe immer ruhig und zurückgezogen gelebt. Mein Sohn gibt mir sechs Pfund wöchentlich. Ich habe mich noch mit keinem Menschen verkracht, nur einmal mit meinem Bruder, aber das ist schon furchtbar lange her …«

 

Dann erzählte sie naiv eine Geschichte aus ihrem früheren Leben, ohne sich bewußt zu werden, daß sie damit ein Vergehen gegen Gesetz und Ordnung bekannte. Sie war sogar stolz auf ihre Handlungsweise. Mr. Rater hörte zu, ohne etwas zu erwidern.

 

Die Sache war vor vielen Jahren passiert, und schließlich handelte es sich dabei nur um Formalitäten. Deshalb wollte er gegen die Frau nichts unternehmen. Aber er war doch neugierig genug, die Angaben auf ihre Wahrheit hin nachzuprüfen.

 

Am nächsten Morgen wurde Mrs. Stalmeester von dem Polizeigericht mit einer empfindlichen Geldstrafe belegt, und außerdem erhielt sie eine ernste Verwarnung. Sie zahlte die Summe und die fällige Miete. Geld hatte sie genug, aber sie war von Natur aus geizig. Dann kehrte sie wieder in ihre Wohnung zurück, wo sie im darauffolgenden Winter starb.

 

Der Redner erfuhr nichts von ihrem Tod. Er war zu jener Zeit durch den Diamantendiebstahl in Chislehurst vollauf in Anspruch genommen. Der Fall lag ziemlich kompliziert, und obwohl man die Diebe fassen konnte, verzögerte sich ihre Verhaftung durch ungünstige Umstände so lange, bis die vierzehn großen Diamanten aus Lady Teighmounts altmodischem Diadem beiseite geschafft worden waren. Die alte, wertlose Goldfassung fand man allerdings. Der Redner war von diesem Resultat nicht gerade sehr befriedigt.

 

»Ich sage Ihnen die reine Wahrheit, Mr. Rater«, erklärte Harry Selt, der Hauptschuldige. »Ich habe die Steine einem Juden verkauft, seinen Namen kenne ich nicht. Er arbeitet mit einem großen Mann auf dem Festland zusammen. Nur zweihundert Pfund hat er mir dafür gegeben – damit kann man keine Sprünge machen. Ich habe gar keinen Grund, Ihnen was vorzulügen. Sie wissen ja selbst, wie viele Leute Sie deswegen schon ins Gefängnis gebracht haben.«

 

Mehr bekam der Redner aus Harry nicht heraus, und das war sehr unangenehm. Lady Teighmount war nämlich entfernt verwandt mit einem der Minister, und dieser bat eines Tages Mr. Rater zu sich, um einmal unter vier Augen mit ihm zu sprechen.

 

»Ich bitte Sie um eine persönliche Liebenswürdigkeit«, sagte er. »Meine Tante will die Diamanten unter allen Umständen wiederhaben. Sie sind ein Geschenk ihres verstorbenen Mannes – allerdings noch aus den neunziger Jahren. Und der Wert, den sie ihnen beimißt, ist eigentlich nur persönlich sentimentaler Art. Ist es Ihnen nicht möglich, durch Ihre Beziehungen zu der Verbrecherwelt die Steine zurückzukaufen? Zweitausend Pfund will ich für die Wiederbeschaffung zahlen, und es sollen keine weiteren Nachforschungen angestellt werden –«

 

»Das verträgt sich nicht mit meinem Diensteid«, entgegnete der Chefinspektor nüchtern.

 

»Ich weiß, ich weiß. Ich frage Sie auch nur, ob Sie mir den persönlichen Gefallen tun wollen, die Steine auf inoffiziellem Wege zu beschaffen?« Der Redner nickte nur, denn er hatte seiner Meinung nach schon genug gesprochen.

 

Man kann einen Hehler niemals direkt angehen, besonders ein Polizeibeamter ist dazu nicht imstande. Mr. Rater begann daher seine schwierigen Nachforschungen damit, daß er zunächst den Hundehändler Alf Barkin aufsuchte. Mit diesem Mann hatte er lange Auseinandersetzungen, die ihn nicht viel weiterbrachten. Dauernd schüttelte Barkin den Kopf und sagte: »Ich weiß wirklich nichts davon, Mr. Rater. Wenn ich etwas wüßte, würde ich es Ihnen sagen.« Aber schließlich willigte er ein, den Redner am Abend in eine kleine Kneipe in Deptford zu begleiten. Dort trafen sie einen gewissen Joseph Kreith, einen Möbelhändler. Der kannte oberflächlich einen Mann, dessen Freund sich durch einen Bekannten eventuell mit dem Hehler in Verbindung setzen konnte.

 

Zwölf Tage lang mühte sich der Chefinspektor ab. Wie gewöhnlich sagte er wenig, hörte aber gut zu und nahm aus den vielen Worten, die gemacht wurden, das Wesentliche für sich heraus.

 

Schließlich reiste er nach Brüssel und hatte dort im Hotel eine Zusammenkunft mit Henry Dissel, einem ziemlich kräftigen Mann von jugendlichem Aussehen, der eine große Hornbrille und einen kleinen Schnurrbart trug und lockiges blondes Haar hatte.

 

»Ich habe Ihren Brief erhalten, Monsieur«, sagte Henry Dissel, »und freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

 

Er legte die große, schwarze Aktentasche neben sich auf den Teppich und zog die scharfgebügelten Beinkleider hoch, als er sich setzte.

 

»Es stimmt, daß ich Kaufmann bin und verschiedene Vertretungen habe. Aber in Brasilien tätige ich selten Geschäfte. In Antwerpen kenne ich allerdings einige Leute, die mit Brillanten handeln. Sie haben die Steine manchmal auf rechte, manchmal auf unrechte Weise erworben. Danach kann ich im allgemeinen nicht fragen. Von meinem Bruder in London haben Sie gehört? Nun, eine große Freundschaft besteht gerade nicht zwischen uns. Er hat mir früher einmal viel Geld geliehen, und ich habe bei Roulette und Poker alles verspielt. Nachher gab es einen entsetzlichen Krach. Wenn ich nach London komme und ihn anrufe, heißt es immer, daß er nicht zu Hause ist.«

 

Er sah Mr. Rater strahlend an, als ob er ihm einen guten Witz erzählt hätte.

 

»Das ist ja alles ganz gut und schön, Monsieur Dissel, aber ich interessiere mich nicht besonders für Ihre Familienangelegenheiten. Liebenswürdigerweise haben Sie meinen Brief wegen der Brillanten beantwortet. Sind Sie tatsächlich in der Lage, die Steine zurückzukaufen?«

 

Dissel schaute ihn triumphierend an, faßte in die innere Brusttasche seines Rocks und brachte eine Ledertasche zum Vorschein. Er warf sie auf den Tisch und fischte zwischen vielen Papieren ein flaches Päckchen heraus. Langsam und vorsichtig schlug er das weiße Seidenpapier auseinander. Es kamen Diamanten zum Vorschein, die zu dreien und dreien noch besonders in Watte eingepackt waren.

 

»Hier sind sie. Zweihundertdreißigtausend Francs habe ich dafür gezahlt. Dreißigtausend verdiene ich dabei, das sage ich ganz offen. Jeder versteht, daß man nicht umsonst arbeiten kann.«

 

Der Redner ging zur Tür seines Schlafzimmers und rief den Fachmann, den er von London mitgebracht hatte. Die Steine wurden einzeln geprüft, während Henry Dissel interessiert zuschaute. Als alles in Ordnung befunden war, legte Mr. Rater zwanzig Hundertpfundnoten auf den Tisch. Der Belgier zählte sie sorgfältig nach und steckte sie dann in seine Brieftasche.

 

»Monsieur Dissel, können Sie mir nicht den Namen des Mannes angeben, von dem Sie die Steine gekauft haben?« Der Belgier zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf.

 

»Er mag ehrlich oder unehrlich sein. Wenn ich seinen Namen nenne, gibt es Nachforschungen und Reklamationen, und schließlich sagt der Mann: ›Monsieur Dissel, durch Sie habe ich all die Unannehmlichkeiten gehabt. In Zukunft will ich nichts mehr mit Ihnen zu tun haben!«

 

»Wie ist denn die Geschäftsadresse Ihres Bruder in London?«

 

»Theodor hat sein Büro in der Victoria Street, Nr. 960. Aber ich sagte Ihnen ja schon, daß wir nicht gut miteinander stehen. Es ist eigentlich schade.«

 

Der Redner runzelte die Stirn.

 

»Theodor? Welche Vornamen hat er denn sonst noch?«

 

»Theodor Louis Hazeborn – ich heiße Henry Frederick Dinehem.«

 

Mr. Rater sah ihn sonderbar an.

 

»Aha!« erwiderte er dann.

 

Ein anderer hätte wahrscheinlich viel mehr gesagt, aber Chefinspektor Rater ging ja bekanntlich sparsam mit seinen Worten um.

 

Dissel war belgischer Untertan und besaß seit zehn Jahren ein Geschäft am Boulevard Militaire. Der Redner hatte allerdings keinen besonders guten Eindruck von den Büroräumen, als er dort einen Besuch machte. Sie sahen unsauber und vernachlässigt aus, aber über dem Schreibtisch hing ein prachtvolles Diplom in goldenem Rahmen. Es war Mr. Dissel für eine hervorragende sportliche Leistung überreicht worden.

 

Da er mehrere Vertretungen hatte, reiste er viel. Von seiten der Polizei lag gegen ihn nichts vor, wie Mr. Rater festgestellt hatte. Er war deshalb eine geeignete Persönlichkeit, mit der internationale Hochstapler und Verbrecher in geschäftliche Verbindung treten konnten.

 

Theodor Louis Hazeborn – die Namen wollten dem Redner nicht aus dem Sinn, als er nach London zurückreiste.

 

Am Tage seiner Rückkehr hatte er das zweifelhafte Vergnügen, Lady Teighmount die vermißten Diamanten wieder zu übergeben. Sie war sehr schlechter Laune. Von Hause aus sparsam, ja beinahe geizig, ärgerte sie sich über jeden Schilling, den sie für die Beschaffung der Steine zahlen mußte. Außerdem glaubte sie, daß die Polizei die Brillanten ebensogut ohne Geld hätte wiedererlangen können, wenn sie es durch Zahlung einer Summe erreichte. Sie war sogar unhöflich genug, anzudeuten, daß die Polizei und der Chefinspektor von dem Betrag profitiert hätten.

 

Der Redner hörte kaum zu, denn seine Gedanken beschäftigten sich unausgesetzt mit den Brüdern Dissel.

 

Mit großer Geduld begann er, neue Nachforschungen anzustellen, und suchte alle Akten über Diamantendiebstähle zusammen. Wochenlang befragte und verhörte er Juwelendiebe, die im Gefängnis saßen. Über ein Dutzend Anstalten besuchte er, und zum Schluß hatte er auch einen gewissen Erfolg. Er entdeckte einen feststehenden Schmuggelweg, der von London nach Belgien führte. Dauernd wurden gestohlene Steine auf diese Weise von Agenten ins Ausland geschafft. Seine Nachforschungen führten nicht immer nach Brüssel, manchmal auch nach Lüttich oder nach Ostende. Aber jedesmal wurde der Betreffende in ein Cafe, ein Bierlokal oder eine kleine Kneipe bestellt, und immer wurde die Zusammenkunft in London vereinbart.

 

»Die Sache war so«, sagte ein Hehler, der eine lange Gefängnisstrafe in Maidstone absaß. »Wenn die Jungens irgendwo ein großes Ding gedreht hatten, wurde einer der bekannten Händler angerufen, und dann erhielt man bestimmte Nachricht, wo die Steine übergeben werden sollten. Ich weiß nicht, woher der Mann am Telefon Bescheid wußte, aber auf jeden Fall klappte es jedesmal. Dann hat einer die Sachen über den Kanal gebracht. Die Bezahlung war immer einwandfrei. Ich selbst habe solche Reisen gemacht.«

 

»Haben Sie denn niemals den Betreffenden gesehen?«

 

»Nein. Man wurde in ein Cafe bestellt, dann kam jemand herein und sagte: ›Er ist draußen.‹ Gewöhnlich wartete er in einem Auto an der Straßenecke, und zwar immer nach Einbruch der Dunkelheit. Mit unheimlicher Geschwindigkeit prüfte er die Diamanten im Schein einer Taschenlampe, nannte den Preis und zahlte sofort.«

 

Mehr konnte der Redner nicht erfahren.

 

Bald darauf stand ihm ein freier Tag zur Verfügung, und er besuchte den Bruder seines Brüsseler Bekannten.

 

Im Gegensatz zu Henry Dissels Geschäftsräumen besaß sein Bruder Theodor in London ein prachtvoll eingerichtetes Büro mit Mahagonitüren, Mahagonimöbeln und kostbaren Ledersesseln. An der Tür war das Firmenschild in Messingbuchstaben angebracht: Theodor Dissel, Dipl.-Ing.

 

Er war ein gutgewachsener, großer Mann in elegantem Anzug. Das Gesicht war glattrasiert, und die Haare sorgsam zurückgebürstet. Er hatte ein Monokel im Auge und trug tadellose Wäsche. Der Belgier sprach nur ein schlechtes Englisch und machte manche Fehler, aber Theodor konnte sich fließend und gut ausdrücken. Auch sein Benehmen war vornehm und zurückhaltend.

 

Eine Stenotypistin führte Mr. Rater in das Privatbüro, wo Theodor an einem eleganten Schreibtisch saß. Mr. Dissel verneigte sich ein wenig zeremoniell und steif. Das war vielleicht das einzige, was ihn als früheren Ausländer kennzeichnete.

 

»Ich habe das unangenehme Gefühl, daß Sie mich wegen meines Bruders sprechen wollen«, sagte er mit einem etwas verlegenen Lächeln. »Ich weiß, daß Sie vor ein paar Tagen eine geschäftliche Unterredung mit ihm hatten. Er hat mir geschrieben, daß Sie mich besuchen würden.«

 

»Und warum sind Sie darüber beunruhigt?« fragte der Redner geradezu.

 

Mr. Theodor Dissel ging in dem Zimmer auf und ab. Er hatte die Hände tief in den Taschen vergraben.

 

»Mein Bruder Henry ist ein etwas wilder Geselle, aber im Grunde ein guter Kerl. Mit Geld weiß er nicht umzugehen, und es besteht immer die Gefahr, daß er Schulden macht. Handelt es sich um irgendein geschäftliches Abkommen, das Sie mit ihm getroffen haben, oder hat er bei Ihnen Geld geliehen, das er nicht zurückzahlt? Direkt betrügerische Sachen hat er sich allerdings nie zuschulden kommen lassen.«

 

Das Verhalten Mr. Dissels verriet eine gewisse Ähnlichkeit, wie es der Redner erwartet hatte.

 

»Wenn es sich um Geld handelt …« Theodor zuckte hilflos die Schultern, »dann kann ich wenig tun. Ich habe ihm schon früher dauernd Geld vorgestreckt, bis jetzt sind es fünfzehntausend Pfund. Das Geld werde ich wohl nie im Leben wiedersehen.«

 

»Nein, es handelt sich nicht um Betrug«, erwiderte der Redner langsam. »Wenigstens nicht so, wie Sie es im Augenblick meinen. Besitzt Ihr Bruder die belgische Nationalität?«

 

Theodor nickte.

 

»Und Sie sind in England naturalisiert?«

 

»Ja.«

 

Mr. Rater sagte nichts darauf; er strich sich nur das Kinn mit der Hand. In seinen großen, blauen Augen schien sich etwas von den Sorgen Mr. Dissels zu spiegeln.

 

»Was Sie mir von Ihrem Bruder Henry erzählten, glaube ich Ihnen gerne. Er verkehrt mit Leuten, die nicht ganz einwandfrei sind. Wissen Sie, daß er Diamanten kauft und verkauft?«

 

Theodor zog die Augenbrauen hoch.

 

»Diamanten?« fragte er bedächtig. »Nein, das wußte ich nicht. Als er das letztemal in London war, machte er allerdings eine Andeutung, daß er mit dem hiesigen Juwelier Devreux in Geschäftsverbindung steht. Ich habe den Mann einmal getroffen, er sieht sehr wenig vertrauenerweckend aus.«

 

Der Redner schwieg einige Zeit.

 

»Da haben Sie ganz recht«, meinte er dann. »Devreux ist ein schlechter Charakter, ich kenne ihn.«

 

Der Chefinspektor ging zu seiner Wohnung zurück und dachte weiter über den Fall nach.

 

»Wirklich zu merkwürdig«, sagte er schließlich und entschied sich dafür, vorläufig nicht mehr daran zu denken. Die Sache würde sich schon von selbst weiter entwickeln.

 

Vierzehn Tage später kam Henry Dissel mit dem Zug in Ostende an. Es war ein warmer Septembertag, und auf dem Kanal herrschte Nebel. Er belegte eine Kabine erster Klasse und stellte dort seinen Lederkoffer ein. Dann aß er zu Mittag. Er hinkte auffällig, und als er an Deck erschien, gebrauchte er einen Stock.

 

An der englischen Küste wurde der Nebel dichter. Dissel war nach dem hinteren Teil des Schiffes gegangen und hatte sich dort auf das Geländer gesetzt. Ein Schiffsoffizier kam vorbei und machte ihn auf die Gefährlichkeit seines Sitzplatzes aufmerksam.

 

Nur mit Hilfe der Signalschüsse und der Sirenen konnte der Dampfer den Eingang zum Hafen von Dover finden. Mit einer Stunde Verspätung näherte er sich der Einfahrt.

 

Als das Schiff drehte – Fährschiffe fahren immer rückwärts ein –, vernahm ein Passagier zweiter Klasse einen Hilferuf. Dann hörte man etwas ins Wasser fallen. Mehrere Leute eilten an die Reling. Ein Steward sah den Stock Mr. Dissels im Wasser treiben, aber von dem Mann selbst war nichts zu sehen.

 

Es wurde sofort ein Boot hinuntergelassen. Die Matrosen fischten den Hut des Verunglückten auf, konnten ihn selbst jedoch nirgends entdecken.

 

Am Abend las Mr. Rater eine Notiz in der Zeitung:

 

Passagier fällt im Kanal über Bord. Ein Passagier des Dampfers »Prinzessin Georgine«, vermutlich Monsieur Henry Dissel aus Brüssel, fiel von der Reling, als der Dampfer in den Hafen von Dover einfuhr. Die Leiche ist bis jetzt noch nicht geborgen worden.

 

»Aha!« sagte der Redner vor sich hin. Die Tragödie schien keinen großen Eindruck auf ihn zu machen.

 

Die Leiche Henry Dissels war auch noch nicht gefunden, als der Redner dem Bruder in London einen Besuch machte, um ihm sein Beileid auszusprechen.

 

Theodor öffnete gerade den Lederkoffer, den ihm die Polizei von Dover geschickt hatte.

 

»Ich bin ganz außer Fassung«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Eben habe ich mit Brüssel telefoniert. Es ist nicht der geringste Grund vorhanden, warum Henry hätte Selbstmord verüben sollen. Sein Geschäft ging gut, seine Bücher und sein Betrieb waren in Ordnung, soweit das bei seinem Charakter überhaupt möglich war. Auf der Bank hatte er einen Kredit von über tausend Pfund. Vor ein paar Tagen hatte er allerdings einen kleinen Unfall beim Tennisspiel und war nicht ganz sicher auf den Füßen. Vielleicht ist der Umstand mit daran schuld, daß er ins Wasser fiel.«

 

»War er in einer Lebensversicherung?« fragte Rater.

 

Theodor nickte.

 

»Ach ja – das hatte ich ganz vergessen. Als ich damals seine Schulden bezahlte, bestand ich darauf. Es war vielleicht etwas herzlos von mir, aber ich mußte doch schließlich irgendeine Sicherheit in der Hand haben.«

 

»Lautete die Police auf fünfzehntausend Pfund?«

 

»Ja, soviel war er mir schuldig. Aber das Geld bedeutet im Augenblick gar nichts. Ich bin noch ganz benommen von diesem schrecklichen Unglück! Der arme Henry!«

 

»War die Versicherung auf den Namen Dissel ausgestellt?« unterbrach ihn der Redner.

 

Theodor zögerte.

 

»Nein, unser Familienname ist –«

 

»Stalmeester. Das weiß ich.«

 

Theodor war etwas aus der Fassung gebracht.

 

»Wir haben unseren Namen durch gerichtliche Eintragung ändern lassen –« begann er.

 

»Das ist mir auch bekannt. Ihre Mutter hatte zwei Brüder. Einer hieß Theodor Louis Hazeborn, der andere Henry Frederick Dinehem. Eine Woche nach Ihrer Geburt meldete Ihre Mutter Sie als Henry Frederick Dinehem auf dem Standesamt an. Aber eine Woche später zog sie in eine andere Gegend Londons und hatte zu jener Zeit eine heftige Auseinandersetzung mit Ihrem Onkel Henry. Um ihn zu ärgern, ging sie zum zweitenmal auf das Standesamt und meldete Sie als Theodor Louis Hazeborn an. Die Namen Ihres zweiten Onkels.«

 

Theodor wurde bleich und schwieg.

 

»Sie haben ein Doppelleben geführt, und Ihre beiden Namen sind Ihnen sehr zustatten gekommen. Mit einem kleinen Schnurrbart waren Sie Henry Dissel in Brüssel, und hier in London traten Sie als Theodor auf. Und in beiden Städten haben Sie gestohlene Steine gekauft. Sie sind einer der größten Hehler. Das inkorrekte Verhalten Ihrer Mutter hat der Polizei viele Schwierigkeiten bereitet.«

 

»Sie sind wahnsinnig!« rief Theodor. »Mein Bruder –«

 

»Sie sind doch selbst Ihr Bruder – und als Sie über Bord fielen, war das für Sie nicht weiter gefährlich. Ich sah doch in Ihrem Büro in Brüssel ein Diplom für Schwimmen über lange Strecken. Ihnen ist es nicht schwergefallen, an Land zu kommen. Und ich wette, daß in der Nähe von Dover ein Auto für Sie bereitstand. Lange genug habe ich darauf gewartet, Sie abzufassen. Nehmen Sie Ihren Hut und kommen Sie mit zur Polizeistation!«

 

Mord in Sunningdale

 

Mord in Sunningdale

 

Der Redner hatte einen Abteilungs-Chef, der ihm wenig Sympathie entgegenbrachte. Für gewöhnlich sind Vorgesetzte mit ihren Untergebenen nicht zufrieden, weil sie zuviel sprechen, aber in diesem Fall war es umgekehrt. Mr. Rater schwieg sich meistens aus und reizte gerade dadurch seinen Vorgesetzten zu größter Wut.

 

Major Dawlton bewohnte eine Villa in Sunningdale und hatte deshalb von vornherein ein besonderes Interesse für den Fall Aliford Gray. Er hatte Frau und Kinder, die in ihm einen bedeutenden Mann sahen, und bei seinen Nachbarn stand er in hohem Ansehen. Sie freuten sich, wenn sie einmal zum Essen eingeladen wurden und ihre Kenntnisse über Polizei und Verbrecherwelt erweitern konnten.

 

In Wirklichkeit hatte der Major kaum eine Ahnung von den Methoden, Verbrecher aufzuspüren und sie zu überführen. In der Hauptsache war er Verwaltungsbeamter, der sich mit finanziellen und statistischen Angelegenheiten zu beschäftigen hatte. Dies soll jedoch nur nebenbei bemerkt sein, und man muß zugeben, daß der Redner nicht leicht zu behandeln war und man sich wohl über ihn ärgern konnte.

 

Mrs. Aliford Gray war eine hübsche, schlanke Witwe von etwa dreißig Jahren. Ihre ausdrucksvollen Augen und ihr dunkles Haar standen in reizvollem Gegensatz zu ihrer etwas blassen Gesichtsfarbe. Ihr Blick war fast immer traurig und melancholisch. Sie wohnte in Fernley Cottage, einer kleinen Villa, die ein wenig abseits von der Hauptstraße lag und Mr. Leicester Vanne gehörte. Das Haus war wunderbar eingerichtet und besaß einen zwei Morgen großen, gepflegten Garten. Mrs. Gray hielt zwei Dienstboten, eine Frau von mittleren Jahren und deren Tochter, die zehn Minuten von der Villa entfernt wohnten. Sie selbst schlief ohne die geringste Furcht nachts allein in dem Haus.

 

Ihr bester Freund war Mr. Leicester Vanne, ein reicher junger Mann, der in der Park Lane wohnte. Es war nicht das geringste gegen ihn einzuwenden, aber er hatte eine Eigenschaft, die ihn auch mit Chefinspektor Rater in Verbindung brachte.

 

Eines Abends suchte ihn der Redner auf. Mr. Vanne ging nachdenklich in seinem Arbeitszimmer auf und ab und hatte die Hände in den Taschen vergraben. Mrs. Gray stand am Fenster und konnte ein Lächeln nicht ganz unterdrücken.

 

»Mir tut die Sache wirklich leid, Mr. Rater«, erklärte Vanne mit tiefem Bedauern. »Aber Sie müssen sich auch vorstellen, daß dieser Mann Mrs. Gray in der übelsten Weise beschimpfte. Es ist doch verständlich, daß ich mich vergessen habe.«

 

»Sie haben den Mann beinahe umgebracht!« bemerkte der Redner trocken und sachlich.

 

Der Sachverhalt war kurz folgender: Mr. Vanne und Mrs. Gray gingen spät am Nachmittag im Kensington-Park spazieren. Ein Bettler bat sie um ein Almosen, und als er es nicht erhielt, schimpfte er wütend. Wahrscheinlich hatte er vor Mr. Vanne nicht genügend Respekt und ließ sich durch dessen verhältnismäßig kleine und schlanke Gestalt täuschen. In Wirklichkeit war Vanne aber ein gut trainierter Sportsmann, und als der Bettler immer häßlichere Ausdrücke gebrauchte, wandte er sich plötzlich um, packte ihn buchstäblich am Kragen und warf ihn über das Brückengeländer in die Serpentine. Inzwischen war es dunkel geworden, und es kostete große Anstrengungen, den Mann wieder aus dem See zu retten. Er hatte viel Wasser geschluckt, und nur durch Anwendung künstlicher Beatmung gelang es, ihn allmählich wieder zu sich zu bringen. Jetzt lag er im Hospital. Dieser Vorfall war der Anlaß zu dem Besuch des Chefinspektors.

 

»Aber Dickie, du bist auch wirklich zu jähzornig.«

 

Mrs. Gray lachte leise und sah ihn mit einem zärtlichen Blick an.

 

»Welche Folgen hat die Geschichte denn für mich?« fragte Mr. Vanne nervös. »Ich hätte diese Vogelscheuche natürlich nicht ins Wasser werfen sollen. Merkwürdigerweise kannte mich der Kerl, er nannte mich sogar beim Namen. Erst als er drohte, mich zu ermorden, vergaß ich mich so weit, daß ich ihm einen Denkzettel gab. Will man mich deshalb anklagen?«

 

Der Redner konnte ihm darüber noch keine offizielle Auskunft geben. Er wollte vor allem einen eingehenden Bericht von Mr. Vanne haben, wie sich die Sache abgespielt hatte. Aber seiner Meinung nach hatte er keine Schwierigkeiten mehr zu gewärtigen. Der Bettler war sowohl der Londoner als auch der Provinzialpolizei als ein gefährlicher Kunde bekannt. Seine Personalakten sprachen gegen ihn, und er hatte schon oft im Gefängnis gesessen.

 

»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Mr. Vanne, dann schicken Sie jemand ins Hospital und besänftigen den Mann durch ein paar Pfund. Das sage ich Ihnen aber nicht als Polizeibeamter, sondern als Privatmann.«

 

Mrs. Gray hatte sich inzwischen gesetzt und schaute zum Fenster hinaus. Mr. Rater hatte den Eindruck, daß sie heimlich über ihren Freund lachte und es ihm nicht zeigen wollte.

 

Ein paar Tage später erwähnte Major Dawlton zufällig die beiden. Er kannte sie gut, da er nahe der Villa wohnte.

 

»Sie verkehren schon viele Jahre miteinander und sind sehr befreundet«, meinte er. »Die Leute in Sunningdale begreifen nicht, warum sie nicht heiraten.«

 

»Ach, die Leute in Sunningdale begreifen wahrscheinlich manches nicht«, erwiderte der Redner anzüglich und ging zu seinem Büro zurück.

 

Am nächsten Sonntagmorgen stand der Chefinspektor schon um halb fünf auf und bereitete sich gerade eine Tasse Tee, als das Telefon plötzlich klingelte. Wütend sah er auf den Apparat, denn er hatte mehrere Berichte zu schreiben, die er am besten in den frühen Morgenstunden erledigen konnte. Wieder läutete es. Er nahm den Hörer ab und erkannte die Stimme Major Dawltons, der sehr erregt sprach:

 

»Kommen Sie bitte hierher. Ich habe Scotland Yard bereits verständigt, daß Sie den Fall übernehmen. Die Fotografen und die Leute von der Fingerabdruckabteilung sind schon unterwegs.«

 

»Was ist denn passiert?« fragte der Redner schnell.

 

Es dauerte einige Sekunden, bevor die Antwort kam.

 

»… Mrs. Gray – wirklich eine nette Frau, die hier in der Nähe wohnt, ist ermordet worden!«

 

»Was, ermordet? Haben Sie schon irgendeine Spur?«

 

»Nein. Sie ist sicher ermordet worden. Ach, es ist zu schrecklich – eine so schöne Frau … Haben Sie mich verstanden, Mr. Rater?«

 

»Ja, vollkommen«, entgegnete der Chefinspektor ruhig. »Der Fall scheint ja sehr interessant zu sein.«

 

Er legte den Hörer auf, trank seinen Tee und wartete dann auf der Straße, bis das Polizeiauto ihn abholte.

 

»Halten Sie nicht an«, rief er dem Chauffeur zu, sprang auf das Trittbrett, riß die Tür auf und setzte sich neben den Fahrer. »Wissen Sie schon Genaueres?«

 

Keiner der Beamten im Wagen konnte ihm Einzelheiten berichten. Die Frau war ihnen vollständig unbekannt.

 

Der Redner klappte den Mantelkragen hoch und lehnte sich zurück, um zu schlafen.

 

Als der Wagen vor dem kleinen Haus hielt, wachte Mr. Rater wieder auf. Die Haustür stand weit offen, und in der Eingangsdiele brannte Licht. Dort traf er Major Dawlton, der mit dem Polizeiinspektor von Sunningdale sprach.

 

»Gut, daß Sie kommen, Mr. Rater. Die Berkshire-Polizei hat die Hilfe von Scotland Yard erbeten und uns zu dem Fall zugezogen.«

 

»Bin ich zugezogen oder Sie?« fragte Mr. Rater unfreundlich, denn der Major hatte nichts mit dem Außendienst zu tun.

 

»Natürlich Sie«, entgegnete Dawlton ärgerlich. »Ich bin gewissermaßen nur als – Zeuge hier. Nicht, daß ich etwas gesehen hätte«, fügte er schnell hinzu. »Aber die Leute kamen sofort zu meinem Haus und holten mich aus dem Bett.«

 

»Wo ist denn die Tote?«

 

Zum größten Erstaunen des Chefinspektors schüttelte der Major den Kopf.

 

»Das ist es ja gerade – sie ist nicht in der Wohnung, sie ist fortgeschafft worden! Hoffentlich waren Sie vorsichtig, als Sie von der Straße zum Haus gingen. Es sind nämlich Blutspuren draußen zu sehen. Aber das Verbrechen ist hier begangen worden.«

 

Er stieß die Tür zu dem kleinen Wohnzimmer auf, das hell erleuchtet war. Der Redner trat ein und sah sich um. In dem Raum herrschte große Unordnung. Tisch und Stühle waren umgeworfen, und eine Vase lag in Scherben auf dem Boden. Auf dem hellen Teppich zeigte sich ein großer, dunkler Blutfleck.

 

»Vielleicht wäre es besser, wenn ich Ihnen alles sagte, was sich zugetragen hat«, meinte der Major.

 

»Nein, das ist unnötig.« Der Redner konnte manchmal sehr kurz und abweisend sein. »Zunächst möchte ich feststellen: Bearbeite ich den Fall, oder bearbeite ich ihn nicht? Wenn ich ihn aber bearbeite, dann muß ich die Untersuchung auch allein führen, und Sie sind für mich dann weiter nichts als ein ganz gewöhnlicher Mitbürger.«

 

Der Major ärgerte sich, aber er zeigte es äußerlich nicht.

 

»Schön, dann werde ich draußen im Garten warten.«

 

»Warten Sie, wo Sie wollen«, erwiderte Mr. Rater und wandte sich an den Inspektor der Berkshire-Polizei.

 

Die Geschichte, die er von diesem Beamten erfuhr, war sehr einfach. Ein Polizist hatte auf seinem Rundgang um halb vier morgens gesehen, daß Licht in der Eingangsdiele der Villa brannte. Er öffnete das Gartentor, und als er zur Haustür kam, fand er sie nur angelehnt. Gleichzeitig bemerkte er eine große Blutlache auf der Schwelle. Er rief ins Haus, erhielt aber keine Antwort. Da er wußte, daß Mrs. Gray allein wohnte, wartete er nicht länger, ging hinein und entdeckte an den Wänden des Ganges überall Blutspuren.

 

Im Wohnzimmer brannte Licht, und er sah, daß hier ein Kampf stattgefunden haben mußte. Mehr konnte er jedoch nicht feststellen.

 

Mr. Rater rief die beiden Beamten von Scotland Yard, die mit ihm gekommen waren, und zeigte auf die polierten Messingstangen des Kamingitters.

 

»Hier sind Fingerabdrücke. Machen Sie eine Aufnahme davon. Wenn es Tag geworden ist, werde ich das ganze Zimmer genau untersuchen.«

 

Im Kamin lag noch Holzasche und ein angebranntes Stück Papier. Behutsam nahm er es heraus und betrachtete es genauer. Deutlich konnte er die Schriftzüge einer Frau erkennen.

 

»Versuchte, mich zu töten … Verteidigte mich selbst …«

 

Die Worte waren unregelmäßig und hastig geschrieben.

 

Nachdem er das verkohlte Blatt sorgfältig auf den Tisch gelegt hatte, ging er hinaus und machte einen Rundgang um das Haus. Die Morgendämmerung begann, und er konnte auch auf dem gepflasterten Weg vor dem Haus Blutspuren sehen. Es mußte jemand in blutendem Zustand auf die Straße geschafft worden sein. Dort verlor sich die Spur.

 

Mrs. Gray hatte einen kleinen Zweisitzer. Die Tür zur Garage war geschlossen, und man fand den Wagen vollkommen in Ordnung.

 

»Was schließen Sie aus dem Befund?« fragte der Major, der nicht länger schweigen konnte. »Es ist doch alles klar. Sie hatte Streit mit jemand, wurde ermordet und fortgebracht.«

 

»Ach, sind das die Hausangestellten?« unterbrach ihn der Redner, als er zwei Frauen quer über die Straße kommen sah. Er hatte nach ihnen geschickt, setzte aber keine großen Hoffnungen auf ihre Aussagen.

 

Zuerst führte er die Mutter, die die Stellung einer Köchin einnahm, ins Speisezimmer und stellte die gewöhnlichen Fragen an sie. Der Major erschien unaufgefordert zu der Vernehmung. Die Frau hatte schon erfahren, was geschehen war, und zitterte vor Aufregung.

 

»War gestern abend jemand hier?«

 

»Nur Mr. Vanne.«

 

Der Redner sah sie düster an. Das tat er gewöhnlich, wenn er überrascht war.

 

»Mr. Leicester Vanne.«

 

Sie nickte.

 

»Um welche Zeit war er hier?«

 

»Er war noch da, als ich fortging. Eine Bekannte von mir sah, daß sein Wagen etwa um Mitternacht nach London zurückfuhr. Ich möchte nichts sagen, was ich eigentlich nicht sagen sollte«, fügte sie mit nervöser Hast hinzu, »aber die beiden hatten einen schrecklichen Streit miteinander.«

 

»Wer?«

 

»Mrs. Gray und Mr. Vanne. Er brüllte und verlangte eine Erklärung für irgend etwas. Sie bat ihn, sich doch zu beruhigen und nicht so laut zu schreien.«

 

»Haben Sie an der Tür gelauscht?«

 

Die Frau wurde bleich.

 

»Ja – das muß ich zugeben. Ich hörte, wie Mrs. Gray sagte: ›Es ist mir unmöglich, dich zu heiraten. Den Grund dafür kann ich dir nicht sagen. Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du nicht so unvernünftig sein.‹«

 

»Und was geschah dann?« fragte der Redner, der den Inhalt der Angaben schnell notierte.

 

»›Ich würde dich eher umbringen, als dich verlieren oder einem anderen überlassen‹, sagte er. Darauf kann ich einen Eid leisten, obwohl er sonst sehr nett zu uns war und ich ihn nicht in Schwierigkeiten bringen möchte.«

 

»Haben die beiden noch miteinander gestritten, als Sie fortgingen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

Sie hatten sich in ruhigem Ton unterhalten, als die Köchin durch die geschlossene Tür Gute Nacht wünschte.

 

Ihre Tochter konnte nichts aussagen, weil sie schon eine Stunde vor Beginn der Auseinandersetzung gegangen war.

 

»Nun, was sagen Sie jetzt?« fragte der Major eifrig. »Die Sache wird doch immer klarer. Mr. Vanne blieb in der Wohnung und fing einen neuen Streit mit der Frau an …«

 

»Sie hat sich aber zur Ruhe gelegt«, erwiderte Mr. Rater kühl. »Und der Mann, der den Mord begangen hat, kam nicht durch die vordere Haustür herein, sondern von der Hinterseite. Wenn Sie um das Haus herumgehen, finden Sie die Spuren eines Stemmeisens an der Küchentür. Und das Schloß ist erbrochen!«

 

Der Major schwieg einen Augenblick.

 

»Ich kenne natürlich Mr. Leicester Vanne«, meinte er dann. »Er ist sehr jähzornig. Selbstverständlich müssen Sie in dieser Richtung Nachforschungen anstellen.«

 

»Der schlaue Gedanke ist mir auch bereits gekommen«, entgegnete der Redner ironisch.

 

Es war schon halb acht, als der Chefinspektor die Wohnung Mr. Vannes erreichte. Nach mehrfachen Erkundungen stellte er fest, daß der junge Mann sein Auto in einer nahen Mietgarage einstellte. Um acht Uhr kehrte Rater zurück und unterhielt sich mit dem Portier, der ihm aber keinen Aufschluß geben konnte, da er erst seit sieben auf seinem Posten war.

 

Die Wohnung lag in der ersten Etage und Mr. Vanne öffnete persönlich, als der Redner klingelte. Er erkannte den Beamten sofort wieder. Mit etwas abweisender Stimme wünschte er Guten Morgen, aber der Redner sah, daß es Vanne große Mühe kostete, eine ruhige Miene zu zeigen.

 

»Kommen Sie bitte herein.«

 

Mr. Vanne öffnete die Tür weiter. Der Redner stellte jedoch fest, daß er ein wenig zögerte und es ungern tat. Auch entdeckte er, daß er einen seidenen Schlafrock über einem Straßenanzug trug. Mr. Vanne sah müde aus und war unrasiert. Aus all diesen Anzeichen ging hervor, daß er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte.

 

Er führte seinen Besucher in ein kleines Arbeitszimmer.

 

»Nun, was kann ich für Sie tun?«

 

Mr. Rater sah ihn durchdringend an, bevor er antwortete.

 

»Ich komme wegen der verstorbenen Mrs. Gray.«

 

Mr. Vanne schaute ihn verblüfft an.

 

»Verstorben? Sie wollen doch nicht sagen, daß sie tot ist? Was meinen Sie denn damit?« fragte er ungläubig.

 

Der Redner erzählte in kurzen Worten, was sich seiner Meinung nach diese Nacht zugetragen hatte. Während er sprach, schwand die Angst allmählich aus Vannes Zügen, und schließlich lachte er laut auf.

 

»Wie absurd! Sie glauben tatsächlich, daß Mrs. Gray tot ist?«

 

Der Redner schwieg.

 

»Großer Gott, Sie bilden sich doch nicht etwa ein, daß ich sie umgebracht habe?«

 

»Ich bilde mir gar nichts ein«, erwiderte Mr. Rater. »Ich halte mich nur an Tatsachen. In der Villa in Sunningdale habe ich Blutspuren gefunden; ebenso auf dem Weg vor der Haustür. Außerdem kann man deutlich sehen, daß ein menschlicher Körper auf die Straße gezerrt wurde.«

 

Er machte eine eindrucksvolle Pause.

 

»Und dann habe ich auch in Ihrem Auto Blutflecken gefunden!«

 

Mr. Vanne hatte seine Fassung wiedergefunden. Etwas bleicher war er allerdings geworden, als er erkannte, in welch kritischer Lage er sich befand.

 

»Natürlich haben Sie den Wagen gesehen. Wie dumm von mir!«

 

»Welche Erklärung können Sie mir geben?«

 

Mr. Vanne zuckte die Schultern.

 

»Ich weiß nicht, wo Mrs. Gray ist, und ich kann Ihnen auch sonst nichts über den Fall sagen.«

 

Mr. Rater legte die Stirn in Falten und schaute hinaus.

 

»In Ihrem Wagen sind Blutspuren«, wiederholte er mit eigentümlicher Betonung. »Trugen Sie gestern Abendkleidung?«

 

Vanne nickte.

 

»Bitte zeigen Sie mir den Anzug und das Oberhemd.«

 

Vanne zuckte nicht mit der Wimper, als der Chefinspektor ihn scharf musterte.

 

»Ich habe etwas Kaffee verschüttet und den Einsatz beschmutzt, deshalb habe ich es verbrannt. Der Smoking und die Beinkleider waren alt, ich habe sie mit dem Frackhemd zusammen auch unten in die Zentralheizung geworfen, bevor der Portier aufstand. Ich teile Ihnen das deshalb mit, weil der Nachtportier es Ihnen wahrscheinlich später doch sagen wird. Er hat mich mit dem Paket in den Keller gehen sehen.«

 

»Natürlich waren Blutflecken daran«, meinte der Redner nachdenklich. »Am vergangenen Abend waren Sie mit Mrs. Gray zusammen in ihrer Villa, und Sie hatten einen heftigen Streit miteinander –«

 

Vanne machte eine verzweifelte Handbewegung.

 

»Es ist mein Fehler, daß ich so streitsüchtig bin«, erwiderte er niedergeschlagen. »Dieser entsetzliche Jähzorn! Aber ich verspreche Ihnen, daß ich von jetzt ab …«

 

»Wo ist Mrs. Gray?«

 

»Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich es nicht weiß. Seit gestern abend habe ich sie nicht wiedergesehen. Wenn Sie glauben, daß ich sie ermordet habe, dann verhaften Sie mich doch.«

 

Er zitterte vor Erregung.

 

»Da Sie zugeben, daß Sie zum Jähzorn neigen …«, begann der Redner.

 

»Ich weiß, daß es mein Fehler ist. Es tut mir außerordentlich leid, aber ich kann Ihnen weiter nichts über Mrs. Gray sagen. Wie unvorsichtig und dumm habe ich mich doch benommen!«

 

»Ja, das stimmt«, sagte der Chefinspektor, als er sich zur Tür wandte. »Ich komme später wieder, Mr. Vanne.«

 

Der Redner zog am Vormittag noch mehrere Erkundigungen ein und war mit dem Resultat zufrieden.

 

Gegen zwölf Uhr hielt man in Scotland Yard eine Konferenz ab, zu der Major Dawlton jedoch nicht zugezogen wurde. Um ein Uhr traf ein Telegramm von einem Arzt in Devonshire ein, das den Redner auf eine neue Spur brachte. Zu gleicher Zeit lief auch der Bericht eines kleinen Krankenhauses in der Nähe von Horsham ein, der die letzte Lücke ausfüllte.

 

Am Nachmittag ging Mr. Rater wieder zu Mr. Vanne, der ihn offenbar erwartete.

 

»Ich will Ihnen keine Schwierigkeiten machen«, erklärte er. »Ich hole bloß noch meinen Hut, dann komme ich mit Ihnen.«

 

»Ich habe nicht die Absicht, Sie zu verhaften, wenn Sie das meinen sollten. Nur muß ich Sie um Auskunft bitten, wo Sie den Mann gelassen haben.«

 

Mr. Vanne wurde bleich.

 

»Fünf Meilen hinter Horsham – ich habe ihn aber nicht auf der Straße liegenlassen –«

 

»Nein, er ist von selbst verschwunden«, erwiderte Mr. Rater. »Jetzt liegt er im Langwell Cottage-Hospital mit einer großen Wunde im rechten Oberarm … Unglaublich, wie solche Wunden bluten können.«

 

Vanne starrte ihn verwundert an.

 

»Lebt er denn noch?« flüsterte er.

 

Der Redner nickte.

 

»Der Mann leidet an Krämpfen – ich habe das in seinen Personalakten in Scotland Yard inzwischen feststellen können. Übrigens hat der Gefängnisarzt das auch bestätigt. Ich vermutete schon etwas Ähnliches. Diese Kerle sterben nicht so leicht, aber wenn sie einen Anfall bekommen, sieht es aus, als ob sie tot wären.«

 

Er nahm ein Telegramm aus der Tasche und faltete es auseinander.

 

»Henry Walter Wassing heißt er – als John Smith wurde er verurteilt. Ich fahre jetzt nach Horsham, um mir den Mann einmal anzusehen. Ich glaube, er wird nun wieder nüchtern und bei Besinnung sein. Hätte sich Mrs. Gray mir anvertraut, so hätte ich ihr genügend Material gegeben, und sie hätte sich in aller Stille von ihm scheiden lassen können. – Erzählen Sie mir jetzt einmal Ihre Geschichte im Zusammenhang.«

 

Mr. Vanne hatte sich inzwischen beruhigt und kam der Aufforderung des Chefinspektors nach.

 

»Ich traf Mrs. Gray vor etwa fünf Jahren zum erstenmal bei einer bekannten Familie und verliebte mich sofort in sie. Trotz meines jähzornigen Charakters erwiderte sie meine Neigung, nur weigerte sie sich, mich zu heiraten. Ich glaubte, sie wäre Witwe, und konnte infolgedessen den Grund für ihre Weigerung nicht verstehen. Ich wußte nicht, daß ihr Mann für ein schreckliches Verbrechen eine zehnjährige Zuchthausstrafe absaß. Sie wollte sich nicht scheiden lassen, da sie die Öffentlichkeit fürchtete. Dazu kam noch, daß sie sich heimlich hatte trauen lassen. Niemand wußte von dem entsetzlichen Leben, das sie an seiner Seite geführt hatte. Sie war gerade nahe daran, mir alles zu erzählen, weil sie gehört hatte, daß Wassing entlassen werden sollte, als er plötzlich unerwartet am Sonnabend nachts in ihrem Haus auftauchte. Er war betrunken und versuchte sie zu erwürgen. Zu ihrer Selbstverteidigung stach sie mit einem Dolch nach ihm, den ich ihr früher einmal als Brieföffner geschenkt hatte. Er stürzte zu Boden und blutete stark. Jetzt weiß ich glücklicherweise, daß er in eine Art Starrkrampf verfiel. Sie glaubte aber, daß sie ihn getötet hätte, und schrieb mir einen Brief. Sie hatte die Fassung vollständig verloren und wollte Selbstmord begehen. Während sie schrieb, wurde sie aber ein wenig ruhiger, verbrannte die Nachricht und erzählte mir am Telefon kurz, was sich zugetragen hatte. Ich fuhr mit meinem Wagen sofort nach Sunningdale, brachte sie zuerst in meine Wohnung und kehrte dann zur Villa zurück.

 

Zunächst hatte ich die Absicht, den vermeintlichen Toten an die Küste zu bringen und ihn dort am Ufer liegenzulassen. Aber ich machte Fehler über Fehler. Ich ließ das elektrische Licht im Flur brennen und die Haustür offenstehen. Dadurch ist natürlich alles vorzeitig herausgekommen. Es gelang mir, den Mann in den Wagen zu schleppen. Kurz hinter Horsham hatte ich durch eine Motorpanne eine Viertelstunde Aufenthalt. Während dieser Zeit muß er das Bewußtsein wiedererlangt haben und aus dem Wagen gekrochen sein. Ich stieg wieder ein und fuhr weiter. Erst nach zehn Minuten entdeckte ich, daß er nicht mehr bei mir war. Ich fuhr zurück, sah mich überall nach ihm um, konnte ihn aber nicht finden. Mrs. Gray hielt sich solange in meiner Wohnung auf. Sie ist jetzt in Bournemouth. Als Sie heute morgen zu mir kamen, erschrak ich sehr, denn ich fürchtete, daß Sie meine Zimmer durchsuchen würden. Um Zeit zu gewinnen, erzählte ich Ihnen, daß ich meine Kleider verbrannt hätte, was aber nicht stimmte. Wie haben Sie denn alles in so kurzer Zeit herausgebracht?«

 

Der Chefinspektor machte eine abwehrende Handbewegung.

 

»Die Fingerabdrücke auf dem Kamingitter wurden in Scotland Yard identifiziert, und dann ergab sich eins aus dem anderen. Übrigens hatte der Kerl einen Brief in der Tasche, den er selbst geschrieben hat. Daraus geht klar hervor, daß er die Absicht hatte, seine Frau umzubringen.«

 

Die Privatsekretärin

Die Privatsekretärin


Der Redner kannte die London and Southern Bank, weil er dort selbst ein kleines Konto hatte. Auch Mr. Baide, den Direktor der Piccadilly-Filiale, kannte er dem Aussehen nach, denn er hatte selbst einmal eine Zeitlang eine verhältnismäßig billige Wohnung in der St. James Street gehabt. Der Hauseigentümer kam ihm mit der Miete entgegen, da er die Anwesenheit eines so hohen Polizeibeamten für ein sicheres Abschreckungsmittel gegen Einbrecher hielt.


Wenn Mr. Rater morgens zuweilen am Fenster saß und seine Pfeife rauchte, sah er häufig Mr. Baide, der langsam die St. James Street nach Piccadilly zu ging. Der Bankmann hatte den Zylinder etwas in den Nacken geschoben und trug Sommer und Winter den Mantel offen. Er sah gewöhnlich nachdenklich aus, und der Redner hielt ihn für einen Philosophen.


Es war ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß Chefinspektor Rater gerade von der London and Southern Bank zu Hilfe gerufen wurde, als er sich um Mr. Joseph Purdew kümmerte, der früher wegen Betrugs und Vertrauensbruchs eine Strafe im Dartmoor-Gefängnis abgesessen hatte. Jetzt war der Mann Inhaber einer Firma, und Mr. Rater interessierte sich dafür, wie es augenblicklich mit seiner Ehrlichkeit stand. Joe Purdew hatte schöne Büroräume in einer vornehmen Straße im Westen Londons und betrieb dort das Geschäft eines Buchmachers und Kommissionsagenten. Pekuniär ging es ihm gut.


Joe schien sich über den Besuch des Chefinspektors nicht allzusehr zu freuen. Die äußere Herzlichkeit, mit der er ihn begrüßte, täuschte den Redner in keiner Weise.


»Aber treten Sie doch bitte näher, Mr. Rater. Darf ich Ihnen vielleicht ein Glas Wein anbieten?«


Joe war von untersetzter Gestalt und hatte eine etwas rote Gesichtsfarbe. Er lief hierhin und dorthin und gackerte wie eine alte Henne. Schließlich machte er die Mahagonitür sorgfältig zu, die zu dem äußeren Büro führte.


»Sonderbar, daß Sie heute zu mir kommen. Vor ein paar Tagen hatte ich die Absicht, Ihnen zu schreiben.«


»Was für einen Schwindel hatten Sie denn vor?« fragte Rater und machte eine abwehrende Handbewegung, als Joe Purdew eine Weinflasche aus dem Schrank holen wollte.


Joe strahlte.


»Aber Mr. Rater, das ist durchaus kein Schwindel. Ich betreibe ein anständiges Geschäft. Vierhundert der bestsituierten Leute Londons sind meine Kunden. Ich mache etwa tausend Pfund wöchentlich Verdienst. Sie sind alle etwas dumm, diese Leute, aber es ist doch schließlich kein Verbrechen, durch die Dummheit anderer Menschen Geld zu verdienen! Es geht bei mir absolut ehrlich zu, Mr. Rater. Mit den früheren Gewohnheiten habe ich vollständig gebrochen«, erklärte Joe mit tugendhaftem Gesicht. »Ich freue mich, daß ich ruhig in meinem Haus in Bayswater wohnen kann und nicht fürchten muß, daß jeden Augenblick ein Schutzmann kommt, mir auf die Schulter klopft und mich zur nächsten Polizeiwache mitnimmt. Wissen Sie noch, wie Sie mich damals in Southampton verhafteten? Aber Gott weiß, ich trage es Ihnen nicht nach.«


Mr. Rater hatte keinen besonderen Grund für seinen Besuch. Er hatte nur von Joes neuester Beschäftigung gehört und wollte sich einmal bei ihm umsehen.


Als er die Tür zum äußeren Büro öffnete, wäre er beinahe mit einer Dame zusammengestoßen, die gerade eintreten wollte. Sie war groß und stattlich, hatte kastanienbraunes Haar und verstand es ausgezeichnet, sich dezent zu schminken. Da sie außerdem sehr gut gekleidet war, vermutete der Redner, daß sie zu den »vierhundert bestsituierten Leuten Londons« gehörte, die Joe zu seinen Kunden zählte.


Gleichzeitig hatte er den Eindruck, daß er sie schon irgendwo gesehen haben mußte. Das Gedächtnis spielte ihm einen Streich; denn die Erinnerung an sie war mit einer zerbrochenen Glasscheibe verbunden.


Er trat zur Seite, um ihr Platz zu machen, und sie rauschte majestätisch an ihm vorüber.


Als er nach Scotland Yard zurückkehrte, wurde ihm der erste Bericht über den Betrug bei der London and Southern Bank überreicht, der zwar zwei Folioseiten füllte, aber merkwürdig wenig Greifbares enthielt. Der Sachverhalt bestand darin, daß ein Scheck über fünfunddreißigtausend Pfund vorgezeigt und ausgezahlt worden war. Später hatte man festgestellt, daß die Unterschrift gefälscht war.


Mr. Baide kam in das äußere Geschäftszimmer, um Mr. Rater zu empfangen. Er sah sehr bekümmert und versorgt aus. Sein graumeliertes Haar war etwas zerwühlt, und sein müder Blick sprach von einer schlaflosen Nacht.


Die Piccadilly-Filiale der London and Southern Bank war erst kürzlich renoviert worden und bot das Letzte an luxuriöser Vornehmheit. Der Chefinspektor fühlte sich in diesen schönen Räumen wohl.


Mr. Baide führte ihn zu seinem Privatbüro, schloß vorsichtig die Tür und schob dann einen Stuhl für seinen Besucher an den Schreibtisch.


»Es ist eine direkt katastrophale Angelegenheit«, sagte er bedrückt. »Fünfunddreißig Jahre bin ich nun bei der Bank, aber noch niemals ist mir eine Fälschung vorgekommen.«


»Da haben Sie ja Glück gehabt«, meinte der Redner.


Er interessierte sich nicht für die Lebensgeschichte des Mannes, er wollte nur die Tatsachen über den gefälschten Scheck von fünfunddreißigtausend Pfund erfahren. Es stellte sich heraus, daß der Scheck von jemand präsentiert worden war, den niemand gesehen hatte. Der Kassierer hatte ihn nicht ausgezahlt, und die Eintragung in den Büchern war von einem Clerk vorgenommen worden, den keiner kannte …


»Von Mr. Gillans Sekretär erhielten wir die erste Nachricht, daß etwas nicht in Ordnung sei. Er kam zu mir, zeigte mir das Kassabuch und sagte, daß keine Eintragung über fünfunddreißigtausend Pfund darin stände. Wir haben eine Eintragung – allerdings in einer fremden Handschrift. Sehen Sie her.«


Er öffnete ein Kontobuch und deutete auf eine Zeile:


Offener Scheck über £ 35 000.-


»Nach langem Suchen haben wir schließlich auch den Scheck gefunden, der versehentlich falsch abgelegt war. Er ist zweifellos gefälscht. Hier ist er.«


Bei diesen Worten reichte er dem Detektiv ein Formular. Mr. Rater betrachtete es, roch daran, hielt es gegen das Licht und legte es schließlich wieder vorsichtig auf den Schreibtisch.


»Stammt es aus Mr. Gillans Scheckbüchern? Sicher haben Sie doch ein Verzeichnis der Hefte, die Sie Ihren Kunden aushändigen?«


Mr. Baide nickte.


»Ja, es war der vorletzte Scheck aus einem der Hefte, die wir Mr. Gillan vor einem Monat schickten. Wir übersenden ihm gewöhnlich zehn Hefte zu je hundert Formularen für das halbe Jahr. Mr. Gillan ist ein sehr reicher Börsenmakler am Grosvenor Square und hat sein Privat- und Geschäftskonto bei uns.«


Der Redner prüfte das kleine Blatt noch einmal. Über dem Namen der Bank standen in kleinen Buchstaben die Worte »Konto Thomas L. Gillan«, und in der linken Ecke war der Scheck mit den beiden Buchstaben C. E. gegengezeichnet.


»Wer ist denn C. E.?«


Mr. Baide lächelte schwach.


»Die beiden Buchstaben stehen für die Zahl fünfunddreißigtausend. A bedeutet zum Beispiel eintausend, B zweitausend und so weiter. Das ist ein zur Kontrolle vereinbarter Geheimcode.«


»Wer kennt ihn? Selbstverständlich sind Sie eingeweiht – aber wer sonst noch?«


»Es war nur eine Verabredung zwischen Mr. Gillan und mir selbst. Alle großen Schecks mußten mir vorgelegt werden, damit ich sie prüfen kann. Das Merkwürdige ist aber, daß mir dieser Scheck nicht vorgelegt wurde. Meine Privatsekretärin meinte noch heute morgen, daß ich den Betrug sicher erkannt hätte.«


»Wer ist denn Ihre Privatsekretärin?«


»Ich kann sie ja einmal kommen lassen.«


Mr. Baide drückte auf eine Klingel, und ein paar Sekunden später trat Miss Helen Lyne ein.


Sie war etwas über mittelgroß und sehr schlank. Das dunkle Haar trug sie zurückgekämmt, und die Hornbrille stand ihr vorzüglich. Der Redner hielt sie für etwa vierundzwanzig. Sie sah sehr intelligent und befähigt aus, trat ruhig und selbstbewußt auf und begegnete dem Blick des Detektivs, ohne die geringste Befangenheit zu zeigen.


Mr. Rater begrüßte sie mit einem Kopfnicken.


»Kennen Sie diesen Code?« fragte er dann ohne weitere Einleitung und zeigte auf die beiden großen Buchstaben in der Ecke des Schecks.


Einen Augenblick runzelte sie die Stirn.


»Ach, meinen Sie den Code, den Mr. Gillan für seine Schecks benützt? Ja, der ist mir bekannt.«


Mr. Baide machte ein erstauntes Gesicht.


»Ich habe Ihnen aber doch niemals etwas davon gesagt«, erwiderte er.


Sie lächelte leicht.


»Nein, aber die Sache ist doch so furchtbar einfach, daß ich sehr bald dahinterkam.«


»Der Scheck wurde nicht in Mr. Baides Abwesenheit vorgelegt?«


Sie schüttelte den Kopf.


»Nein, ich habe ihn niemals vorher zu sehen bekommen.«


Der Redner stellte noch einige Fragen an sie. Unwillkürlich hatte er den Eindruck, daß sie sich in gewisser Weise über ihn lustig machte, und wurde ärgerlich. Schließlich entließ er sie und wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte. Dann ging er langsam und leise nach und öffnete schnell. Aber die Sekretärin war nicht zu sehen.


»Wann haben Sie diese Dame engagiert?«


Mr. Baide seufzte.


»Sie ist sehr tüchtig, aber ich komme nicht besonders gut mit ihr aus. Vor sechs Monaten wurde sie mir von der Generaldirektion zugewiesen. Ich kann mich allerdings nicht über sie beschweren. Sie ist fleißig und macht öfter Überstunden.«


»Wo bewahren Sie denn Ihre Schlüssel auf?«


Baide führte ihn zu einem Safe, der in die Wand eingelassen war.


»Hier.« Er zeigte auf eine Reihe von ungefähr zwanzig Schlüsseln der verschiedensten Größen, die an Stahlhaken hingen.


»Kann Miss Lyne diesen Safe öffnen?«


»Für gewöhnlich nicht. Ein- oder zweimal habe ich sie geschickt, um einen Schlüssel zu holen. Ich vertraue ihr selbstverständlich in jeder Weise.«


Später vernahm der Redner noch den stellvertretenden Direktor, den Buchhalter und den Kassier, aber am Ende war er ebenso klug wie vorher.


»Der Betrug kann nur von einem Angestellten der Bank begangen worden sein, der Zutritt zu den Büchern hat und auch zu Ihrem Safe«, sagte er zu Mr. Baide, als er ging.


Dieser sah ihn gespannt an, aber wenn er hoffte, daß ihm der Redner seine Ansicht über den Fall mitteilen würde, täuschte er sich sehr.


Mr. Rater ging nach Scotland Yard zurück und teilte seinem Chef alle Einzelheiten mit, die er festgestellt hatte.


»Ach, der Scheck mit Gillans Unterschrift war gefälscht? Das ist merkwürdig. Einen Tag vor der Vorzeigung wurde nämlich Mr. Gillan fälschlicherweise totgesagt. Er sollte bei einem Flugzeugabsturz in Kent getötet worden sein. Aber offenbar handelte es sich um eine Verwechslung.«


Der Redner sah ihn nachdenklich an, schwieg aber.


Als er am nächsten Morgen wieder zur Bank ging, erfuhr er, daß Mr. Baide nicht erschienen war. Der Mann hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten, und es ging ihm anscheinend sehr schlecht.


»Nun, Sie können mir sicher auch behilflich sein«, wandte sich der Redner an Mr. Wynne, den stellvertretenden Direktor. »Lassen Sie mir doch eine Liste Ihrer Kunden zusammenstellen, die in den letzten zwölf Monaten gestorben sind –«


Er hörte einen unterdrückten Ausruf hinter sich und drehte sich schnell um.


Miss Lyne war geräuschlos eingetreten und starrte ihn verwundert an. Dann sagte sie etwas, das ihr der Redner nicht verzeihen konnte.


»Wie klug von Ihnen!«


Er sah sie noch sprachlos an und wußte nicht, was er auf diese vorlaute Äußerung erwidern sollte, als ein Angestellter hereinkam.


»Mrs. Luben-Kellner wünscht Sie zu sprechen«, wandte er sich an Mr. Wynne.


Der Name war dem Redner bekannt. Mrs. Luben-Kellner besaß einen Rennstall und hatte einen ganz bestimmten Ruf in der Sportwelt. Ihre Pferde hatten jedoch nur wenig Erfolg, und man hielt ihren Rennstall für einen der schlechtesten in England, obwohl sie große Summen für die Tiere ausgegeben hatte. Nach allgemeiner Ansicht rührten die Mißerfolge davon her, daß sie die Pferde selbst trainierte. Sie war der einzige weibliche Trainer Englands und sehr stolz auf diese Tatsache.


Der Bankmann sah den Chefinspektor zweifelnd an.


»Ich müßte die Dame eigentlich empfangen.«


»Soll ich herausgehen?«


»Nein, das Gespräch ist wohl kaum privat. Wenn Sie nichts dagegen haben, bitte ich sie hier herein.«


Der Redner schüttelte den Kopf. Er hatte niemals etwas dagegen, mit Leuten zusammenzukommen.


Die Dame trat ein, und Mr. Rater war nicht wenig erstaunt, als er dieselbe Frau erkannte, die er vor kurzer Zeit in Joe Purdews Büro getroffen hatte. Das Erkennen war gegenseitig. Sie warf dem Redner einen schnellen Blick zu, und als sie sprach, klang ihre Stimme ein wenig heiser.


»Es tut mir leid, daß ich Sie stören muß, aber – wo ist denn Mr. Baide?«


»Er fühlt sich nicht wohl«, entgegnete sein Stellvertreter. »Aber ich kann ebenso alles erledigen, was Sie wünschen.«


Sie sah wieder zu dem Redner hinüber und zögerte.


»Ich möchte die Sache aber mit Ihnen allein und nicht in Gegenwart von Fremden besprechen«, erwiderte sie etwas anmaßend. Ihre Stimme klang hart und gewöhnlich, und in ihrer Erregung zeigte sie, daß ihre Bildung und ihre guten Manieren nur angelernt waren.


Es blieb dem Chefinspektor nichts anderes übrig, als das Büro zu verlassen. Seltsamerweise mußte er bei ihrem Anblick aufs neue an eine zerbrochene Glasscheibe denken.


Nach einer Weile kam Mr. Wynne heraus, ging in Mr. Baides Büro und kehrte dann wieder zu der Dame zurück. Mr. Rater wartete, bis sie gegangen war.


»Wer ist denn das?« fragte er dann.


Mr. Wynne zuckte die Schultern. Er wußte nur, daß sie ein großes Einkommen besaß. Mehr konnte oder wollte er nicht über sie sagen, und Bankiers sind im allgemeinen – besonders Detektiven gegenüber – sehr zurückhaltend mit ihren Angaben über Kunden.


»Sie kam nicht, um etwas Geschäftliches mit mir zu besprechen, sondern um ein Notizbuch zu holen, das sie gestern in Mr. Baides Büro liegenließ.«


Der Redner hatte die Wartezeit dazu benützt, sich etwas eingehender mit der Sekretärin zu beschäftigen. Neue Tatsachen hatte er dabei allerdings nicht ans Licht bringen können. Nachdem er sich von Mr. Wynne verabschiedet hatte, trat er noch einmal bei ihr ein. Sie saß an ihrem Schreibmaschinentisch und hörte ihn nicht, da er die Tür geräuschlos öffnete. Als er sie anredete, schrak sie zusammen und schloß schnell das kleine Notizbuch, in dem sie gelesen hatte. Ihre Bewegung war so hastig, daß er Argwohn schöpfte.


»Was wollten Sie denn eigentlich vorhin mit Ihrer Bemerkung ›Wie klug von Ihnen!‹ sagen?«


Sie wandte sich in ihrem Drehstuhl um und sah ihm offen ins Gesicht. Zu seinem größten Unbehagen glaubte er wieder ein spöttisches Lächeln in ihren Zügen zu bemerken.


»Ich hatte eben die Überzeugung, daß Sie sehr scharfsinnig und geschickt handelten. Sie sind doch Mr. Rater?«


Er nickte.


»Jemand hat mir einmal erzählt, daß Sie sehr schweigsam wären, aber hier bei uns haben Sie eigentlich ziemlich viel geredet.«


Mr. Rater wurde plötzlich rot und war ärgerlich auf sich und auf sie.


»Bisher haben zwei Leute versucht, mich hinters Licht zu führen, und nur einer von ihnen ist dem Galgen entkommen!«


Sie lächelte freundlich.


»Dann gehe ich wahrscheinlich schlechten Zeiten entgegen! Es tut mir leid, Mr. Rater. Ich habe eben nur im Scherz gesprochen. Aber es war wirklich ein sehr kluger Gedanke von Ihnen. Sie haben sich sicher auch überlegt, daß bei einem Todesfall weniger Lärm über einen gefälschten Scheck gemacht wird, als wenn der Betreffende noch höchst lebendig ist und sich selbst um die Sache kümmern kann. Alle Leute glaubten doch, daß Mr. Gillan bei dem Flugzeugunglück umgekommen war. Aber er lebt noch und macht nun einen Mordsspektakel, wenn Sie diesen wenig damenhaften Ausdruck gestatten.«


Der Redner betrachtete sie mit einem sonderbaren Blick.


»Wie klug von Ihnen!« entgegnete er dann. »Sie wissen so viel, daß ich Sie eigentlich mit mir nach Scotland Yard nehmen möchte, um mich einmal gründlich mit Ihnen über den Fall auszusprechen!«


Sie schüttelte den Kopf.


»Das wäre nur Zeitverschwendung. Aber ich kann Ihren Standpunkt sehr gut verstehen. Warten Sie, ich will Ihnen einmal etwas zeigen.«


Sie zog die oberste Schublade ihres kleinen Schreibtisches auf und nahm ein ledergebundenes Notizbuch heraus. Sie blätterte schnell darin und deutete dann auf eine Seite, die ganz mit Zahlen beschrieben war. Er bemerkte, daß die letzte Eintragung »£ 35 000.–« lautete.


»Das ist das Notizbuch, das Mrs. Luben-Keller hier liegenließ… Ich habe gesagt, daß ich es nicht gesehen hätte.«


Der Redner nahm es ihr aus der Hand und steckte es ein.


»Sehr interessant. Aber nun möchte ich Ihnen auch ein paar recht merkwürdige Tatsachen mitteilen. Kennen Sie einen Joe Purdew?«


Zu seinem größten Erstaunen nickte sie.


»Er ist doch ein sehr gerissener Buchmacher?«


»Sehr gerissen!« antwortete sie trocken.


»Und außerdem ein niederträchtiger Charakter. Eine junge Dame geht jeden Abend zu ihm. Ihr Haar ist nicht so glattgekämmt wie das Ihre, und sie trägt auch keine Hornbrille.«


»Vielleicht tut sie das nur in seinem Büro. Sie ist bestimmt kurzsichtig«, erwiderte sie ruhig.


»Sie nennt sich aber nicht Miss Lyne, sondern Miss Larner, wenn ich mich nicht sehr irre.«


Sie lächelte.


»Sie sind wirklich klug«, sagte sie anerkennend.


»Es ist doch nichts Besonderes daran, daß ich Sie beobachtet habe. Aber nun erzählen Sie mir bitte, warum und weshalb Sie abends zu diesem offenkundigen Verbrecher gehen.«


Das Lächeln verschwand aus ihren Zügen.


»Ich führe seine Bücher. Er braucht nicht viel für meine Arbeit zu zahlen, und er hat es schließlich aufgegeben, Annäherungsversuche zu machen – das war zuerst eine recht unangenehme Geschichte.«


»Ist Mrs. Kellner eine Kundin von ihm?«


Sie nickte.


»Seine beste Kundin!«


»Ich kann sie nicht verstehen, und mich selbst begreife ich auch nicht. Sooft ich sie sehe, muß ich an zerbrochenes Glas denken –«


»Von einem Bilderrahmen?« meinte Miss Lyne.


Er sah sie verblüfft an, reichte ihr impulsiv die Hand und drückte sie herzlich.


»Wo wohnt sie?«


»In Pentley, Berkshire, wenn Sie sie besuchen wollen.«


»Ist sie verheiratet?«


»Ja. Sie ist auch beinahe ehrlich«, sagte sie ernst, »aber sie hat diese dumme Eitelkeit mit ihren Pferden – sie ist davon überzeugt, daß sie etwas vom Rennsport versteht. Ich habe den Eindruck, daß sie das Opfer ihres ersten Mannes geworden ist. Haben Sie einmal gesehen, wie ihr zweiter Mann in die Stadt kommt? Er fährt in einem großen Luxusauto, steigt aber jedesmal bei dem Denkmal im Green Park aus und geht den Rest des Wegs zu Fuß –«


Der Redner winkte ihr zu schweigen. Es war ihm peinlich, wenn ihm andere Leute über den Kopf wuchsen. Und diese Miss Lyne wußte wirklich zuviel.


*


Eine gute Stunde von London entfernt liegt ein kleines Dorf am Fuß der Birkshire-Hügel. In der Nähe der Ortschaft steht ein großes, rotes Haus, umgeben von einem schönen Garten. Der Redner fuhr mit seinem Auto nicht am Eingang vor, er machte es vielmehr wie der zweite Mann von Mrs. Kellner und näherte sich dem Gebäude zu Fuß. Von einem Gebüsch aus beobachtete er, daß die Tür weit offenstand, ging in die Diele, ohne zu klingeln, und lauschte.


Er hörte Stimmen in einem Zimmer jenseits der Treppe, schlich sich leise in die Nähe der Tür und horchte. Er schien sich wenig darum zu kümmern, was geschehen würde, wenn Dienstboten kämen und ihn beobachteten.


Mrs. Luben-Kellner konnte sehr ausfallend und heftig werden:


»… nun sitzt du hier herum und machst ein böses Gesicht, statt ins Büro zu gehen und dich dort zu zeigen …, was soll nun dieser Polizeimensch davon denken …, du wirst mich noch ruinieren! Daß du auch dieses verdammte Notizbuch im Büro liegenlassen mußtest, damit alle Leute es lesen können! Mr. Purdew sagt, daß er auch noch in die Sache hineingezogen wird.«


Der Redner hörte ein undeutliches Stöhnen, dann sprach die Frau wieder mit schriller Stimme weiter.


»Wenn du tust, was Joe – Mr. Purdew sagt, dann geht alles gut. Vor allem mußt du morgen wieder ins Büro gehen … niemand weiß etwas davon, und keinem wird auch nur im Traum einfallen, daß ausgerechnet du –«


In diesem Augenblick öffnete Mr. Rater die Tür. Mr. Baide saß zusammengesunken in einem großen Klubsessel, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben.


»Warum habe ich das bloß getan?« fragte er fassungslos. »Du bist an allem schuld, du hast mich dazu getrieben … Ich hasse Pferde und Pferderennen …, ich wünschte, ich hätte dich nie gesehen, ich wünschte, ich könnte dich endlich loswerden!«


»Dazu kann ich Ihnen verhelfen«, erwiderte Rater.


Baide sprang entsetzt auf.


*


»Es tut mir sehr leid, daß ich diese vorlaute Äußerung tat«, sagte Miss Lyne etwas beschämt. »Aber Sie müssen doch bedenken, Mr. Rater, daß ich Sie als einen Eindringling betrachtete. Dobells Detektivagentur bearbeitet diesen Fall nun schon seit zwei Jahren, und Harry Dobell ist mein Bruder. Seit sechs Monaten bin ich in der Bank tätig. Die Generaldirektion der Bank war nämlich schon seit langer Zeit mißtrauisch. Sooft ein Kunde plötzlich starb, gab es mit den Testamentsvollstreckern Auseinandersetzungen über einen großen Scheck, der am Tag vor dem Tode des Betreffenden ausgestellt worden war. Ich glaube, daß das Purdews Idee war. Sie kennen Ihn doch schon lange? Sobald er von einem geeigneten Todesfall hörte, wurde ein Scheck gefälscht, und der arme alte Baide mußte die Auszahlung bewerkstelligen. Manchmal kam es vor, daß kein Protest erhoben wurde, und die ganze Geschichte wäre wahrscheinlich nie ans Tageslicht gekommen, wenn nicht Mr. Gillan fälschlicherweise tot gemeldet worden wäre. Das Merkwürdigste ist aber, daß Mrs. Purdew alle Rennwetten bei ihrem Mann abschloß und obendrein noch erwartete, bei einem Gewinn ausgezahlt zu werden!«


Der Redner strich das Haar aus der Stirn zurück und lächelte etwas verlegen.


»Zu komisch, daß ich mich nicht gleich darauf besann! Ich habe ihr Bild doch in Joe Purdews Koffer gesehen, als ich ihn das letztemal in Southampton verhaftete!«


»Ich möchte überhaupt wissen, wie der arme Mr. Baide unter den Einfluß dieser Frau gekommen ist«, erwiderte Miss Lyne und schüttelte traurig den Kopf. »Er war so ein netter alter Herr. Welche Anklage erheben Sie denn gegen Mrs. Luben-Kellner?«


»Bigamie und Betrug.«


»Sie tut mir leid. Eigentlich ist sie schon gestraft genug. Das können Sie allerdings nicht verstehen, weil Mr. Purdew niemals versucht hat, Ihnen den Hof zu machen.«


Der geheimnisvolle Nachbar

 

Der geheimnisvolle Nachbar

 

Mr. Giles trat selbstbewußt und sicher in das Büro des Chefinspektors Rater. Schon an seiner Haltung war zu erkennen, daß er von Scotland Yard nichts zu fürchten hatte. Ein Lächeln lag auf seinem gesunden, roten Gesicht, und er sah tatsächlich aus wie einer, der ein gutes Gewissen hat.

 

»Guten Morgen, Mr. Rater. Sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie mich empfangen. Als ich Ihnen schrieb, dachte ich mir, wer weiß, ob der vielbeschäftigte Herr eine Minute Zeit für mich übrig hat.«

 

»Nehmen Sie Platz, Farmer«, erwiderte der Chefinspektor.

 

Der Besucher lächelte strahlend und zog einen Stuhl an den Schreibtisch. Den Spitznamen »Farmer« hatte er wegen seines blühenden Aussehens erhalten.

 

»Sie wissen ja, wie die Dinge in der Welt nun einmal liegen, Mr. Rater. Wenn jemand mal einen kleinen Konflikt mit der Polizei hatte und seine Existenz von neuem aufbaut, kommt er nicht gern wieder mit ihr in Berührung.«

 

»Sind Sie jetzt ordentlich geworden?« fragte der Redner und sah ihn prüfend und argwöhnisch an.

 

»Vollkommen. Wissen Sie, gesetzwidrige Sachen machen sich nicht bezahlt. Das ist Ihnen ja gut genug bekannt. Außerdem habe ich in letzter Zeit noch etwas Glück gehabt. Ein Onkel von mir hat mir das nötige Kapital gegeben, um ein Geschäft anzufangen. Gott sei Dank wußte der nichts von meinen früheren Dummheiten –«

 

»Was für ein Geschäft haben Sie denn?«

 

Der Mann nahm eine große Karte aus seiner Brieftasche und reichte sie ihm über den Schreibtisch hinüber.

 

 

 

J. Giles & Co. (früher Olney, Brown & Sterner)

Vertretungen

479, Cannon Street, E. C.

 

»Vertretungen? Das kann allerhand bedeuten. Was machen Sie denn eigentlich? Sind Sie Buchmacher?«

 

Aber der Farmer war Inhaber einer gutgehenden Generalagentur.

 

»Das Geschäft hebt sich von Monat zu Monat«, erklärte er begeistert. »In anderthalb Jahren habe ich die Firma so in die Höhe gebracht, daß ich den doppelten Umsatz habe wie früher. Mein Onkel … Ach, ich will Ihnen die reine Wahrheit sagen, Mr. Rater – ich habe das Geschäft nämlich mit eigenem Geld gekauft, mit tausendzweihundert Pfund. Ich bin immer vorsichtig gewesen, das wissen Sie. Beizeiten habe ich Geld auf die Seite gelegt. Es hat ja doch keinen Zweck, daß ich Ihnen Märchen erzähle. Sie sind zu klug, Ihnen kann man nichts vorflunkern. Aber ich habe mir schon seit langem vorgenommen, Sie einmal aufzusuchen und mit Ihnen zu sprechen –«

 

»Ich habe Sie neulich in der Stadt erkannt, und Sie haben mich auch bemerkt«, unterbrach ihn der Redner. »Ihre Firma ist vollkommen in Ordnung. Das habe ich schon geprüft.«

 

Der Farmer strahlte.

 

»Sehen Sie, auf Sie kann man sich verlassen! Ich sagte neulich noch zu meiner Frau – sie ist wirklich eine Lady – ›Molly, es gibt keinen klügeren Menschen als Mr. Rater‹. Das habe ich tatsächlich gesagt.«

 

»Sie sind also verheiratet?«

 

Mr. Giles nickte.

 

»Seit achtzehn Monaten. Kommen Sie doch einmal am Sonntagnachmittag zum Tee zu uns. Meine Frau ist wirklich sehr nett, die wird Ihnen gefallen. Und hübsch ist sie auch. In einer besonders hervorragenden Gegend wohne ich ja gerade nicht – Acacia Street 908. Wir haben ein paar merkwürdige Leute als Nachbarn. An einem der nächsten Tage will ich mir eine Wohnung im Westen mieten. Aber ich sage immer, man soll sich erst das Geld zusammensparen, bevor man es ausgibt!«

 

»Acacia Street 908!«

 

Der Redner hatte wohl Grund, sich zu wundern. Er kannte die Acacia Street. Es war eine lange Straße, an der kleine Einzelhäuser standen. Und er hatte nicht erwartet, den Inhaber der Firma Giles & Co., die in der City Büroräume hatte, in einer solchen Wohnung zu finden.

 

»Sie müssen meinen Standpunkt verstehen.« Der Farmer legte großen Wert darauf, dem Chefinspektor zu erklären, wie bescheiden seine Lebensansprüche waren. »Ich versuche jetzt, mich ehrlich durchzuschlagen. Aber was passiert, wenn ich in den Westen ziehe und eine große Wohnung nehme? Dann fängt die Polizei gleich an, sich zu erkundigen, ich treffe meine alten Freunde wieder, und die Versuchung für mich ist sehr groß. Eines Tages bin ich wieder auf der schiefen Ebene.«

 

»Na, das sind ja sehr solide Anschauungen.«

 

»Sehen Sie, Sie haben mich vollkommen verstanden«, sagte der Farmer, nahm seinen Hut vom Boden auf und strich ihn glatt.

 

»Kennen Sie eigentlich einen gewissen Smith – George Smith?« fragte er noch.

 

Der Redner schaute zur Decke hinauf.

 

»Ein außergewöhnlich seltener Name«, meinte er nachdenklich.

 

Der Farmer grinste.

 

»Der Mann wird Sie interessieren. Er ist mein direkter Nachbar, und es sollte mich sehr wundern, wenn der nicht auch schon im Gefängnis gesessen hätte. Er redet immer so bieder und ehrbar und geht zur Kirche, aber in der Nacht, als der Einbruch in Blackheath verübt wurde, war dieser George Smith die ganze Nacht aus dem Haus. Sie wissen doch, den Jungens sind dabei für achttausend Pfund Juwelen in die Hände gefallen! Um fünf Uhr morgens habe ich ihn nach Hause kommen sehen.«

 

»Ach, haben Sie bis in die frühen Morgenstunden in Ihrem Büro gearbeitet?« entgegnete der Redner langsam.

 

Mr. Giles wurde etwas verlegen.

 

»Nein, aber ich bin ein Frühaufsteher.«

 

»Das waren Sie schon immer«, erwiderte Mr. Rater ironisch und reichte seinem Besuch wenig begeistert die Hand.

 

Acacia Street 908! Und 910 wohnte ein anderer ihm bekannter Mann, der von Beruf Holzschnitzer war, sich nebenbei aber auch als Elektriker betätigte.

 

Das mochte ein Zufall sein – vielleicht aber ein sehr bedeutungsvoller. Jedenfalls dachte der Redner längere Zeit darüber nach.

 

Giles kehrte zu seinem Büro in der Cannon Street zurück, wo er schöne Räume im zweiten Stockwerk eines Geschäftshauses besaß. Er hatte tatsächlich eine Firma, die Pleite gemacht hatte, gekauft und zwei Angestellte übernommen, aber er kümmerte sich verhältnismäßig wenig darum. Die Firma Giles & Co. wurde eigentlich von dem Geschäftsführer geleitet, der alle wichtigen Briefe schrieb und seinem Chef nur Schecks ins Zimmer brachte, die entweder auf der Vorder- oder auf der Rückseite zu unterzeichnen waren. Mr. Giles selbst behielt sich eine andere Tätigkeit vor, von der seine Angestellten nicht die geringste Ahnung hatten.

 

Die Verschiffung gebrauchter Autos nach Indien und dem Fernen Osten ist ein rentables Geschäft, wenn man nicht zuviel für die Wagen zahlt, und Mr. Giles zahlte fast gar nichts dafür. Er besaß eine große Garage in der Nähe der London Docks, wo große Holzkisten für die Autos gemacht wurden, und verdiente ein Vermögen durch diesen unreellen Handel. Wie man dieses Geschäft betrieb, hatte er von einem Leidensgenossen im Dartmoor-Gefängnis erfahren. Er war bereits auf dem Weg, der größte Autohehler Londons zu werden. Merkwürdigerweise entwickelte sich auch seine andere Firma glänzend.

 

In der Nacht vor seinem Besuch bei Mr. Rater war er in einem gestohlenen Wagen nach Sunningdale gefahren. Zwei Komplicen begleiteten ihn, und sie erbeuteten bei einem Einbruch für tausendfünfhundert Pfund Schmuck und Silber. Und dies war nicht sein erstes Abenteuer dieser Art, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war.

 

Er hatte sich mit seinen Leuten eine sehr einfache Arbeitsmethode zurechtgelegt. Ein Mitglied der Bande stahl irgendein Auto und nahm in einer stillen Straße im Vorüberfahren zwei Kollegen mit. Dann fuhren sie zu dem Haus, das sie vorher genau ausgekundschaftet hatten. Es war Giles jedoch nicht ganz leichtgefallen, die nötigen Leute aufzutreiben. Higgy James, den er schließlich fand, machte ihm einen Vorwurf.

 

»Sie sind ja recht tüchtig in Ihrem Fach, Farmer, aber Sie haben immer diese verdammte Pistole bei sich. Wenn Sie die nicht zu Hause lassen, mache ich nicht mit. Sie sind schon einmal sieben Jahre ins Loch gewandert, weil Sie einen Schutzmann angeschossen haben, und wenn Sie das nächstemal erwischt werden, bleiben Sie lebenslänglich drin. Und jeder, der mit Ihnen gefangen wird, kann sich auf dasselbe gefaßt machen.«

 

Das Silber aus dem letzten Raub war längst eingeschmolzen, und die Firma Giles & Co. verkaufte die Barren im rechtmäßigen Handel.

 

An diesem Tage verließ der Farmer sein Büro früher und ging zu seiner Wohnung in der Acacia Street. Als er an Nr. 910 vorüberkam, wo sein unliebsamer Nachbar wohnte, blickte er düster nach den dunklen Fenstern.

 

Er schloß die eigene Haustür auf und trat in das Speisezimmer. Helen, seine junge Frau, die neben dem Kamin saß und nähte, erhob sich schnell. Auch ein Fremder, der die Beziehungen dieser beiden Menschen zueinander nicht kannte, hätte unwillkürlich den Eindruck haben müssen, daß sie sich trotz ihres erzwungenen Lächelns entsetzlich vor dem Mann fürchtete. Wenn ihre Schönheit schon nach so kurzer Ehe gelitten hatte, war das nur auf Giles häßliche Behandlung zurückzuführen. Aber die Narbe war fast verschwunden, wie er mit Befriedigung feststellte. Es war doch immerhin möglich, daß dieser verdammte Rater eines Tages seine Einladung ernst nehmen und ihn tatsächlich besuchen könnte.

 

»Bring mir Tee«, sagte er kurz.

 

»Ja, sofort.«

 

Als sie zur Tür ging, rief er sie zurück.

 

»Hat sich der Kerl von nebenan hier herumgetrieben?«

 

»Nein, er hat nicht mit mir gesprochen, und ich habe ihn auch nicht gesehen …«

 

»Lüg mir bloß nichts vor«, erwiderte er drohend. »Wenn ich einmal nach Hause komme und dich abfasse, wenn du mit ihm über die Gartenmauer schwätzt, dann kannst du was erleben!«

 

Sie antwortete nicht, wurde aber bleich, während sie noch an der Tür wartete.

 

»Ich habe dich aus dem Rinnstein aufgelesen – du warst doch weiter nichts als eine verhungerte Verkäuferin. Bis über die Ohren hast du in Schulden gesteckt! Warum ich dich überhaupt geheiratet habe, ist mir selbst ein Rätsel. Wahrscheinlich habe ich damals eine Art Sonnenstich gehabt. Dann habe ich so einem hergelaufenen Ding wie dir eine schöne Wohnung eingerichtet und dir alles gegeben, was man sich nur wünschen kann!«

 

»Ich bin dir ja auch sehr dankbar dafür«, entgegnete sie schnell, aber er brachte sie durch eine abwehrende Handbewegung zum Schweigen.

 

»Bring mir jetzt endlich den Tee!«

 

Er wachte oft morgens auf und ärgerte sich, daß er dieses junge Mädchen geheiratet hatte. Männer sollten sich eigentlich nur um ihr Geschäft kümmern, und er war nun einmal ein Einbrecher. Mit Bigamie sollte er sich nicht befassen. Dadurch hatte er auch Scotland Yard einen Grund gegeben, einzugreifen, sobald etwas von seiner ersten Ehe bekannt wurde. Und diesen Unsinn hatte er gerade in dem Augenblick gemacht, als er die ersten dreitausend Pfund beiseite geschafft und bei einer Bank eingezahlt hatte. Je mehr er über die Gefahr nachdachte, die ihm von dieser Seite drohte, desto mehr haßte er seine Frau. Aber trotzdem paßte es ihm durchaus nicht, daß sich sein Nachbar um sie kümmerte. Er hätte den Mann vielleicht für seine eigenen Zwecke benützen können, wenn der alte Narr nicht eines Nachts an die Wand geklopft hätte und später selbst erschienen wäre. Smith hatte einen Mantel über seinem Pyjama an und fragte, was denn das Schreien zu bedeuten hätte. Der Mann sah nicht schlecht aus, nur war er schon etwas grau und verschlossen. Als der Farmer ihn an der Kehle nahm und auf die Straße werfen wollte, hatte ihn Smith einfach am Kragen gepackt und zu Boden geworfen.

 

Giles schaute grübelnd ins Feuer, bis die junge Frau das Tablett mit dem Tee brachte und auf den Tisch setzte.

 

Lange Zeit übersah er ihre Anwesenheit vollständig, und als er dann zu ihr sprach, würdigte er sie keines Blicks.

 

»Es ist möglich, daß ein gewisser Rater hier Besuch macht. Das ist ein Mann von Scotland Yard und ein alter Freund von mir. Ich kenne alle Beamten im Polizeipräsidium, das bringt mein Geschäft mit sich. Aber du wirst ihm nichts über mich erzählen – verstanden?«

 

»Ja«, sagte sie schüchtern.

 

»Womit verdient der Kerl von nebenan eigentlich seinen Unterhalt?«

 

»Das weiß ich nicht, Joe.«

 

»Das weiß ich nicht, Joe!« ahmte er sie höhnisch nach. »Du weißt überhaupt nichts, dumme Gans!«

 

Sie schrak vor seiner erhobenen Faust zurück, und er lachte laut auf.

 

»Benimm dich, dann tu ich dir nichts. Heute abend kommt ein Herr zu mir. Sobald er hier erscheint, verschwindest du oben im Schlafzimmer. Wenn ich dich brauche, rufe ich dich.«

 

Er sah auf die Uhr und gähnte, ging nach oben zum Badezimmer, zog sich um und sagte dann, daß er eine Stunde lang Spazierengehen wollte. Als sie noch jung verheiratet waren, hatte sie einmal den Fehler begangen und gefragt, wohin er ginge. Das hatte sie nicht wieder getan.

 

Sie wartete, bis er die Haustür zuwarf, und schaute ihm hinter den Vorhängen des Wohnzimmers nach. Dann eilte sie durch die Küche und ließ alle Türen offen, damit sie hören konnte. Sie wußte, daß ihr Nachbar das Zuwerfen der Haustür auch gehört haben mußte.

 

Er wartete bereits im Garten auf sie. Im Schatten sah seine Gestalt düster und dunkel aus.

 

»Ich mußte ihn belügen, Mr. Smith. Ich sagte, ich hätte nicht mit Ihnen gesprochen. Aber was soll ich nun tun?«

 

Ihre Stimme zitterte vor Verzweiflung, und doch fühlte Helen eine gewisse Erleichterung, daß sie sich diesem Manne anvertrauen konnte. Jeden Abend ging sie um dieselbe Stunde in den Garten und besprach mit dem Nachbarn ihre trostlose Lage.

 

»Schon gut, Sie haben ja heute auch noch nicht mit mir geredet«, beruhigte er sie. Seine Stimme klang etwas rauh, aber freundlich. »Hat er Sie wieder geschlagen?«

 

Sie schüttelte den Kopf. Es war gerade noch hell genug, daß er das sehen konnte.

 

»Nein, seitdem Sie neulich kamen, hat er mich in Ruhe gelassen. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll, Mr. Smith. Ich fürchte mich so entsetzlich vor ihm. Er gibt mir überhaupt kein Geld, ich kann also nicht von ihm fort. Und wenn ich meine alte Stelle bei Harridge wieder annähme, würde er mich sicher bis dorthin verfolgen. Ich habe schon oft daran gedacht, einfach den Gashahn aufzudrehen. Dann hätte doch dieses Elend ein Ende.«

 

»Das ist aber vollkommen verkehrt gedacht«, sagte der Mann energisch. »Ich werde schon einen Ausweg für Sie finden –«

 

»Wer ist eigentlich Mr. Rater von Scotland Yard?« fragte sie plötzlich.

 

»Wie kommen Sie denn darauf?« entgegnete er, offenbar ziemlich bestürzt.

 

»Joe sprach heute über ihn. Er sagte, daß der Herr wahrscheinlich zu uns kommen würde. Kennen Sie ihn?«

 

»Ja, ich kenne ihn«, antwortete er nach einer kleinen Pause. »Ich traf ihn neulich. Wann kommt er denn?«

 

Sein Ton klang beinahe ängstlich, und sie wunderte sich, in welcher Beziehung er zu Mr. Rater stehen mochte.

 

»Ich weiß nicht, ob er überhaupt kommt. Joe sagte nur, daß es möglich wäre. Dann fragte er auch noch, womit Sie Ihr Geld verdienen.«

 

Mr. Smith lachte leise vor sich hin.

 

»So, das möchte er wissen? Nun, da können Sie ihm ganz wahrheitsgemäß sagen, daß ich ein Holzschnitzer bin. Er hat mich doch oft genug an meiner Arbeitsbank gesehen. Außerdem habe ich noch eine Privatbeschäftigung, aber die geht niemand etwas an, und darüber spreche ich nicht.«

 

»Dazu haben Sie vermutlich auch allen Grund, Sie gemeiner Lump!«

 

Helen schrie auf und wandte sich entsetzt um. Ihr Mann stand direkt hinter ihr. Er hatte sich leise herangeschlichen und den letzten Teil ihrer Unterhaltung gehört. Sie wollte an ihm vorübereilen, aber er packte sie so fest am Arm, daß sie wieder laut aufschrie.

 

»Du bleibst hier! So treibst du dich also herum, wenn ich abends ausgehe! Mit ihnen rede ich später noch, Smith!«

 

Er zog seine Frau ins Haus und riegelte die Tür zu.

 

Mr. Smith, der sonst kaum empfindlich war, zuckte zusammen, als er Helens Schmerzensschreie hörte …

 

Sie lag auf dem Bett und war schließlich zu schwach, um noch zu schreien oder zu weinen.

 

Mr. Giles knöpfte seine Weste zu und zog seinen Rock an.

 

»So, nun mach, daß du zu Bett gehst, und sei froh, daß ich dir nicht das Genick umgedreht habe!«

 

Er schloß die Schlafzimmertür ab, ging nach unten in die Küche und suchte eine leere Sodawasserflasche. Dann verließ er das Haus und klopfte an Mr. Smiths Tür. Er war befriedigt, daß die Diele dunkel blieb, als sein Nachbar kam und öffnete.

 

»Nun, was gibt’s?«

 

Offenbar hatte der Mann Joe Giles erkannt.

 

»Ich wollte einmal mit Ihnen reden«, erwiderte der Farmer höflich. »Vor allem möchte ich Sie darum bitten, nicht immer mit meiner Frau zu sprechen. Sie ist unvorsichtig, und ich wünsche nicht, daß sie in eine schiefe Lage kommt …«

 

Giles täuschte seinen Nachbarn so vollkommen, daß dieser nicht auf seiner Hut war. Erst als es schon zu spät war, entdeckte Smith die Flasche. Er versuchte noch, den Kopf zur Seite zu drehen, als Giles mit aller Gewalt auf ihn einschlug, fiel dann auf die Knie und brach zusammen. Der Farmer schloß die Tür vorsichtig und ging in sein Haus zurück. Eine halbe Stunde saß er in seinem Wohnzimmer, brütete vor sich hin und war mit sich und der ganzen Welt zerfallen. Was sollte nun werden, wenn der Mann zur Polizei ging und ihn anzeigte? Er hatte wieder einmal eine zu verrückte Sache angestellt!

 

Von Zeit zu Zeit legte er das Ohr an die dünne Trennungswand, und schließlich atmete er erleichtert auf, als sich der Mann im Nebenhaus wieder bewegte und umherging. Er setzte sich so, daß er durch das Fenster die Haustür beobachten konnte, denn er erwartete, daß Mr. Smith nun jeden Augenblick zu ihm kommen würde.

 

Aber es verging eine halbe Stunde, dann eine ganze, und es ereignete sich nichts.

 

Der Farmer lächelte. Sein Nachbar hatte wahrscheinlich guten Grund, nicht zur Polizei zu gehen.

 

Um zehn Uhr kam Higgy, sein treuester Helfer. Sie hatten einen neuen Plan gut vorbereitet. Es handelte sich diesmal um eine große Villa an der Grenze von Horsham. Die Familie war verreist; aber es hielten sich sieben Dienstmädchen und zwei ältere Diener im Haus auf.

 

»Die alte Dame, der der Kasten gehört, ist in Bournemouth«, sagte Higgy. »Sie hat aber ihren ganzen Schmuck in dem Safe zurückgelassen. Für gewöhnlich kann man das Ding nicht sehen, weil es in die Wand eingelassen ist, und zwar direkt hinter dem Bett. Stokey Barmond war gestern dort. Er hat sich mit einer Zofe angefreundet und alles gesehen. Er meint, die Sache sei sehr leicht. Ein alter, französischer Schrank, den man beinahe mit dem Fingernagel aufmachen kann! Genauso altmodisch ist auch der Schmuck, aber die Steine sind gut.«

 

»Wie kommt man am besten mit dem Auto dorthin?«

 

Higgy erklärte es ihm. In einer naheliegenden Nebenstraße konnte man parken. Dann kletterte man über eine niedrige Mauer und war auf dem Grundstück. Er legte einen Plan auf den Tisch, und der Farmer betrachtete ihn genau.

 

»Glänzend«, meinte er dann. »Sagen Sie also Stokey, er soll morgen abend einen Wagen besorgen und mich am Ende von Denmark Hill abholen.«

 

»Aber nehmen Sie ja keine Pistole mit!« warnte Higgy. Das sagte er regelmäßig, wenn sie auf eine Unternehmung auszogen.

 

»Glauben Sie denn, ich wäre so dumm?« fragte der Farmer verächtlich.

 

Als er sich am nächsten Abend in seinem Zimmer fertigmachte, steckte er doch einen Browning ein und sah vorher nach, ob er auch geladen war. Er wußte sehr gut, daß er zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt werden würde, wenn ihn die Polizei das nächstemal faßte. Und das war ihm zu langweilig, dann wollte er lieber gleich an den Galgen kommen.

 

Am Morgen hatte er gesehen, daß sein Nachbar einen Verband über der Stirn trug. Der Schlag hatte Smith nicht mit voller Härte getroffen, sondern nur gestreift. Der Holzschnitzer stand an dem kleinen, eisernen Zaun, der seinen Vorgarten einschloß, und Mr. Giles griff erschrocken nach seinem Totschläger, als er den Mann bemerkte. Diese Waffe trug er stets bei sich.

 

»Guten Morgen«, sagte der Nachbar. »Ich habe ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen.«

 

»Na, los, wenn Sie die Absicht haben«, erwiderte der Farmer, hielt sich jedoch in genügender Entfernung.

 

Aber Mr. Smith schüttelte den Kopf.

 

»Den Zeitpunkt werden Sie selbst bestimmen«, entgegnete er, und mit dieser geheimnisvollen Bemerkung verschwand er in seinem Haus.

 

Tagsüber beobachtete Mr. Smith den Farmer dauernd, und als dieser am Abend ausgegangen war, um seinen schändlichen Plan zur Ausführung zu bringen, ging er zur nächsten öffentlichen Telefonzelle und ließ sich mit Mr. Rater verbinden. Die Trennungswand zwischen den beiden Häusern war nicht sehr stark, und Mr. Smith, der ein Bastler war, hatte sich selbst ein Mikrofon konstruiert …

 

»Ich hätte mir das an Ihrer Stelle nicht bieten lassen, Smith«, sagte der Chefinspektor.

 

»Sie wissen doch ganz genau, daß ich vor Gericht nicht als Zeuge auftreten kann. Darüber habe ich mich schon den ganzen Tag geärgert.«

 

Der Redner wartete nur so lange, bis sich Scotland Yard mit der Sussex-Polizei in Verbindung gesetzt hatte, dann stieg er in ein Dienstauto und fuhr in die Richtung nach Horsham davon.

 

Der Farmer verstand es, derartige Überfälle zu organisieren. Auf die Minute genau wurde er an der angegebenen Stelle abgeholt. Higgy lenkte den Wagen, während Stokey Barmond hinten saß.

 

»Heute abend haben Sie einen guten Wagen erwischt«, meinte Giles gutgelaunt, was ein großes Lob bedeutete.

 

Sie fuhren in einem Regenschauer durch Horsham, der eine Beobachtung durch die Polizei sehr erschwert hätte, auch wenn Higgy nicht schon die Nummer des gestohlenen Wagens geändert und die Spitze des Kühlers mit einer Haube zugedeckt hätte.

 

Als sie in die Nähe des Schauplatzes kamen, erkundigte sich Higgy nochmals ängstlich, ob Giles keine Pistole bei sich hätte.

 

»Was ist denn heute mit Ihnen los?« fuhr ihn der Farmer böse an. »Werden Sie denn dafür bestraft, wenn ich eine Waffe in der Tasche habe? Dafür muß ich doch geradestehen, nicht Sie.«

 

Aber Higgy blieb hartnäckig.

 

»Ich möchte eine klare Antwort hören. Haben Sie eine Schußwaffe bei sich oder nicht?«

 

»Nein, ich habe keine bei mir«, entgegnete der Farmer ärgerlich.

 

Higgy sagte nichts mehr, aber er war nicht überzeugt. Er hatte die Aufgabe, bei dem Wagen zu bleiben, und nahm sich fest vor, mit dem Auto zu verschwinden, sobald irgendein Schuß fallen würde. Dann war er schon halb in Horsham, bevor der Farmer nur auf die Straße kommen konnte, und eine Entschuldigung hatte er sich für diesen Fall auch bereits zurechtgelegt.

 

Der Wagen fuhr in die Nebenstraße ein und kam zum Stehen. Nach einer kurzen, leisen Unterhaltung kletterten der Farmer und Stokey über die Mauer und verschwanden im Dunkeln. Inzwischen wandte Higgy den Wagen, so daß dieser in umgekehrter Richtung stand. Dann wartete er, während er den Motor laufen ließ. Nach einer Viertelstunde hatte ihn das monotone Geräusch beinahe eingeschläfert.

 

Aber plötzlich fuhr er auf, denn er hörte Schritte, und der Schein einer elektrischen Lampe streifte sein Gesicht.

 

»Steigen Sie aus. und machen Sie keinen Lärm!« befahl eine harte Stimme.

 

Higgy sah, daß die Straße von Polizisten wimmelte. Zwei kletterten bereits über die Mauer.

 

Der Farmer hatte mit seinen Hilfsinstrumenten ein Schlafzimmerfenster von außen geöffnet. Der Safe war leicht zu bewältigen, wie er erwartet hatte. In einer Viertelstunde hatte er ihn aufgebrochen und alle Taschen mit den Wertsachen vollgestopft. Als er auf die Veranda hinaustrat, war Stokey, der dort auf Posten gestanden hatte, verschwunden.

 

Giles schwang sich über das Geländer und ließ sich hinunter.

 

Aber unten packte ihn eine Hand am Arm. Wild riß er sich los, als er undeutlich die Umrißlinien eines Helms erkannte. Er war nur noch einige Schritte von der Mauer entfernt, als ihn der Polizist einholte und zu Boden warf. Im nächsten Augenblick war er jedoch schon wieder auf den Füßen.

 

»So, das haben Sie davon!« rief er wütend und schoß zweimal aus der Tasche. Dann eilte er zur Mauer und kletterte hinüber. Auf der anderen Seite wurde er von zwei Beamten in Empfang genommen, die schon auf ihn gewartet hatten.

 

»Es war ein Polizist, mit dem ich gerungen habe«, sagte der Farmer sofort, um seine Unschuld zu beteuern. »Er wollte mir die Pistole wegnehmen, und dabei entlud sie sich.«

 

»Das können Sie ja den Geschworenen erzählen«, erwiderte der Redner eisig.

 

*

 

Es war ein alltäglicher Mord. Nur die Tatsache, daß ein Polizist erschossen worden war, lenkte das allgemeine Interesse auf den Prozeß. Beim Polizeigericht sowohl als auch vor den Geschworenen wurde der Farmer glänzend verteidigt. Da er dreitausend Pfund besaß, konnte er sich das ja leisten. Infolgedessen dauerte der Prozeß statt eines Tages zwei, aber der Ausgang blieb deshalb doch der gleiche. Die Zeitungsberichterstatter spitzten ihre Bleistifte; die Gerichtsdiener lehnten gelangweilt an der Wand; Die Zuhörer und auch die Geschworenen wußten, daß der Prozeß nur mit der Verurteilung des Schuldigen enden konnte. Nur der Richter und der Verteidiger nahmen noch mit einigem Interesse an der Verhandlung teil.

 

Aber als das Todesurteil ausgesprochen war und Giles unter der Aufsicht von drei Wärtern ins Gefängnis von Wandsworth gebracht wurde, hielt er seine Sache noch immer nicht für aussichtslos.

 

Seine Berufung wurde jedoch von der nächsthöheren Instanz verworfen, und nun bat er Mr. Rater um eine Unterredung.

 

Der Chefinspektor suchte den Farmer auch tatsächlich in der Zelle auf und wurde von dem Mann mit einem Grinsen begrüßt.

 

»Nun haben Sie mich also wirklich so weit gebracht, daß ich gehenkt werde, Rater. Aber warum haben Sie denn den Higgy mit drei Jahren davonkommen lassen?«

 

Der Redner schwieg.

 

»Und dann dieser gemeine Kerl, der Smith, der glaubte natürlich, ich hinterlasse meiner Frau das Geld, damit er sie heiraten kann. Aber damit Sie es nur wissen, Mr. Rater, sie ist gar nicht meine Frau. Ich bin nämlich schon vorher verheiratet gewesen. Die Ehe mit ihr ist vollkommen ungültig, und die Frau bekommt keinen Cent!«

 

Er erzählte dem Chefinspektor alle Einzelheiten über seine erste Ehe, aber nicht aus Reue, sondern aus Rache.

 

»Ich werde es ihr schon eintränken. Sie soll nichts von mir haben! Immer war sie ein Mühlstein an meinem Hals!«

 

Auch Mr. Rater hatte er aus reiner Gemeinheit rufen lassen. Der Chefinspektor sagte ihm offen, was er von ihm dachte, aber Giles grinste nur selbstzufrieden.

 

»Smith heiratet sie nicht – wenigstens nicht meines Geldes wegen.«

 

»Über Smith brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, begann der Redner, brach aber plötzlich ab.

 

»Der Kerl ist ein Spitzbube«, sagte der Farmer höhnisch.

 

»Ich habe ihn schon lange durchschaut. Er geht immer nachts aus und bleibt ein paar Tage fort. Er lebt ganz allein für sich, und ich gehe mit Ihnen die größte Wette ein, daß Sie Berge von gestohlenen Dingen bei ihm finden.«

 

Der Redner war froh, als er den Farmer verlassen konnte.

 

Über seinen Nachbar ärgerte sich Giles bis zum letzten Augenblick und sprach dauernd mit seinen Wärtern über ihn, aber die Leute hörten ihm kaum zu.

 

»Ich wünschte nur, ich hätte ihm tatsächlich den Schädel eingetrommelt. Man kann mich ja doch nur einmal henken, auch wenn ich fünfzigtausend Menschen umgebracht hätte. Aber die Narbe an der Stirn wird er noch lange herumtragen. Sehen Sie, hier habe ich ihn getroffen.« Er zeigte auf die Stelle.

 

Schließlich kam der letzte Morgen. Mr. Giles ließ geduldig das Gebet des Geistlichen über sich ergehen. Trotz der langen Haft sah er frisch und blühend aus, und er schien nicht die geringste Furcht vor der Hinrichtung zu empfinden. Als der Pfarrer zu Ende war, erhob sich Giles erleichtert.

 

»Nun wollen wir uns einmal den Henker ansehen«, sagte er, aber das Wort erstarb ihm im Munde, denn der Mann trat gerade in seine Zelle ein. Er hatte einen schwarzen Strick in der Hand. Giles starrte ihn entsetzt an. Deutlich erkannte er die Narbe an seiner Stirn. Es war kein Zweifel, das war Smith – sein geheimnisvoller Nachbar!

 

»Donnerwetter!« rief er atemlos. »Das haben Sie also gemeint, als Sie sagten, Sie hätten ein Hühnchen mit mir zu rupfen? Und ich würde den Zeitpunkt selbst bestimmen …«

 

Smith antwortete nicht, denn er sprach niemals während der Geschäftsstunden.

 

Der Redner

 

Der Redner

 

Allgemein nannte man Chefinspektor Oliver Rater durch Zusammenziehung seines Vor- und Familiennamens »Orator«. Das heißt auf deutsch »Redner«. Die Entstehung des Spitznamens ist ohne weiteres klar, aber weniger bekannt ist die Tatsache, daß der Chefinspektor eigentlich sehr wenig sprach und daß diese Bezeichnung daher eine ironische Bedeutung hatte. Aber sowohl seine Vorgesetzten als auch andere Leute wußten sehr gut, daß er dafür um so mehr dachte.

 

Er war hochgewachsen und breitschultrig und hatte regelmäßige, klare Züge, aber sein Gesicht blieb meist unbewegt. Wenn sich jemand mit ihm unterhielt, hatte er zweifellos zunächst den Eindruck, daß der Chefinspektor ihm nicht glaubte. Außerdem kam ihm am Ende des Gesprächs zum Bewußtsein, daß Mr. Rater kaum zehn Worte gesagt hatte. Mancher Verbrecher hatte ein so vollständiges Alibi, daß es lächerlich schien, ihn in Gewahrsam zu halten. Wenn er aber dem Redner vorgeführt wurde, brachte ihn oft genug das tödliche Schweigen dieses Mannes zur Verzweiflung, und er bekannte schließlich doch die Wahrheit.

 

Als Mr. Rater an einem Februarnachmittag in der Ecke eines großen Saales stand, in dem eine Hochzeitsfeier abgehalten wurde, hüllte er sich wieder wie gewöhnlich in tiefes Schweigen. Auf großen Tischen waren die Geschenke aufgebaut, die von den Gästen bewundert wurden.

 

Im allgemeinen lädt man einen Chefinspektor der Geheimpolizei nicht ein, um Hochzeitsgeschenke zu bewachen. Der Redner hatte sich aber freiwillig zu dieser Aufgabe angeboten, obwohl er selbst zu den Gästen gehörte. Der verstorbene Vater der Braut war eng mit ihm befreundet gewesen. Angela Marken erinnerte sich daran, als sie die Liste der einzuladenden Personen aufstellte.

 

»Aber Liebling«, sagte ihre Mutter ärgerlich, »du kannst doch unmöglich einen Polizeibeamten zu der Gesellschaft bitten. Das halte ich einfach für lächerlich.«

 

Angela seufzte und lehnte sich in ihren Stuhl zurück.

 

»Ach, das ist doch nicht so schlimm«, erwiderte sie ein wenig gelangweilt. »Er bekleidet immerhin ein hohes öffentliches Amt.« Nach einem kleinen Zögern fragte sie: »Wie wäre es, wenn ich Donald Grey zur Feier bitten würde?«

 

Mrs. Marken zog die Augenbrauen hoch und sah ihre Tochter verwundert an.

 

»Das geht unter keinen Umständen, Angela. Ich verstehe wirklich nicht, wie du auf solche Einfälle kommst. Donald ist ja ein ganz netter junger Mann, und ich schätze ihn persönlich außerordentlich, aber du kannst doch nicht seinetwegen an deinem Hochzeitstage sentimental werden. Ich bitte dich, er verdient im Jahr dreihundert Pfund!«

 

»Schön, dann werde ich es nicht tun«, entgegnete Angela ruhig und adressierte den Briefumschlag an den Chefinspektor. »Vielleicht beaufsichtigt Mr. Rater die Wertsachen für uns. Das wäre sehr nett von ihm – und wir könnten dann schließlich auch ein paar Pfund sparen«, fügte sie ein wenig bitter hinzu.

 

Warum sie in so trüber Stimmung war, wüßten nur wenige Gäste. Lord Eustace Lightley war reich und erbte wahrscheinlich in absehbarer Zeit einen Herzogstitel. Er hatte auch ein hübsches Gesicht und stand außerdem in dem Ruf, poetisch veranlagt zu sein. Vom Standpunkt der großen Menge aus war er jedenfalls eine glänzende Partie für die Tochter eines mittellosen Feldmarschalls.

 

Angela sah an ihrem Hochzeitstage sehr schön aus, obwohl ihr Gesicht kaum Farbe hatte. Sie trat vollkommen sicher und selbstbewußt auf, und als sie in ihrem Brautkleid im Saal erschien, gefiel sie dem Redner ausnehmend gut.

 

Später traf er auch den Bräutigam, aber dieser große, schlanke Herr mit den etwas hageren Zügen und dem langen Schädel war ihm aus irgendeinem Grunde sofort unsympathisch. Er hatte eine Gesichtsfarbe wie Milch und Blut, die einem jungen Mädchen besser gestanden hätte als einem Mann von fünfunddreißig Jahren. Hätte der liebe Gott Mr. Rater die Aufgabe gestellt, Menschen zu formen, so wäre dieser Lord Eustace Lightley sicher nicht geschaffen worden!

 

Der Lord schien nervös und gereizt zu sein und zeigte sich wenig liebenswürdig. Die erste und einzige Unterhaltung zwischen ihm und dem Redner verlief deshalb auch nicht besonders befriedigend.

 

»Ach so, Sie sind ein Detektiv?« fragte Sir Eustace von oben herab.

 

Der Redner nickte, was für ihn schon gleichbedeutend mit einer langen Antwort war.

 

»Aber warum stehen Sie denn in der Ecke? Von hier aus können Sie doch gar nichts sehen! Es wäre viel besser, wenn Sie auf das Podium gingen.« Er zeigte auf die große Musiknische, von der aus man den ganzen Saal überschauen konnte.

 

Mr. Rater legte die Stirn in Falten.

 

»Hier sind Sie tatsächlich vollkommen nutzlos«, fuhr der Lord fort. »Ebensogut könnten Sie auf dem Grosvenor Square stehen.«

 

»Ich werde auch sofort hinausgehen«, erwiderte der Chefinspektor und verließ das Fest, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

 

Das war die erste und einzige Begegnung, die er mit Lord Eustace Ligthley hatte.

 

Als er aus der Haustür trat, wandte sich ein gutgekleideter junger Mann an ihn, der ein kleines Paket trug, und erkundigte sich, wie er wohl am besten den Lord allein sprechen könnte. Offenbar kannte er Mr. Rater dem Aussehen nach; das Bild des Chefinspektors erschien ja auch häufig genug in den Zeitungen.

 

»Es ist merkwürdig, was für romantische Geschichten im Leben passieren, Mr. Rater. Dinge, die man kaum für möglich hält. Schon über hundert Jahre hat die Familie des Lords nur in unserer Apotheke gekauft. Wir liefern ihm alles, was er an Medizinen und Drogen braucht. Und als er in Syrien lungenkrank wurde – das ist allerdings schon einige Jahre her –, haben wir ihm alles dorthin nachgeschickt. Jetzt ist er wieder ausgeheilt. Er machte damals zu seiner Kräftigung eine Arsenkur, und wir schickten ihm jede Woche …«

 

Mr. Rater hörte interessiert zu, was der junge Mann zu berichten wußte.

 

*

 

Ein Vierteljahr später brachte Mr. Rater seinen Sommerurlaub in Ostende zu. Da er Junggeselle war, konnte er für eine Erholungsreise ziemlich viel Geld ausgeben. Für Ostende entschied er sich, weil er dort bestimmt viele Landsleute treffen würde, die ihn am wenigsten in dem belgischen Seebad vermuteten und über seine Anwesenheit nicht gerade sehr erfreut sein würden.

 

Wenn er auf Urlaub war, las er gewöhnlich keine Zeitung. Aber nachdem er im Hippodrom eine kurze Unterhaltung gehört hatte, ließ er sich sofort die neuesten Londoner Blätter geben und fand auch kurz darauf, was er suchte. Es war nur eine kleine Notiz.

 

Zu unserem größten Bedauern müssen wir den Tod von Lord Eustace Lightley melden. Seit einigen Wochen lag er krank darnieder und starb in der vorigen Nacht plötzlich in seiner Stadtwohnung in der Hart Street, Mayfair.

 

»So, so!« murmelte der Redner nachdenklich vor sich hin.

 

Wenn er seiner eigenen Neigung hätte folgen dürfen, hätte er der Witwe ein Glückwunschtelegramm geschickt. Die Todesanzeige erinnerte ihn wieder an die Unterredung, die er damals mit dem jungen Mann aus der Apotheke hatte, und er machte sich eine Notiz in sein Tagebuch, um später darauf zurückzukommen. Da ihn aber in den nächsten Tagen eingehende Konferenzen mit den Ostender Polizeibehörden vollauf in Anspruch nahmen, vergaß er die Angelegenheit. Es waren nämlich mehrere Juwelendiebstähle in den großen Hotels begangen worden, während die Gäste beim Diner saßen oder sich im Kasino aufhielten.

 

Mr. Rater unterbrach seine Untätigkeit und sah sich unter seinen verdächtigen Landsleuten um, die sich zur Zeit in dem belgischen Seebad aufhielten.

 

Soweit er feststellen konnte, kamen fünf Individuen zweifelhaften Charakters in Frage, aber der Mann, nach dem er vor allem ausschaute, befand sich nicht in Ostende. Nach allen Nebenumständen zu urteilen, waren die Einbrüche typisch für einen gewissen Bill Osawold. Der Redner telefonierte mit Scotland Yard und hörte zu seiner großen Enttäuschung, daß sich der Mann zur Zeit in London aufhielt, wo ihn die Polizei schon seit einem Monat beobachtet hatte.

 

»Beinahe hätten wir ihn hier an dem Tag verhaftet, an dem die großen Diebstähle in Ostende begangen wurden«, sagte der Beamte am Apparat. »Ein Schutzmann sah ihn mitten in der Nacht aus einem Haus im Westen herauskommen und erkannte ihn. Aber anscheinend hat ihn tatsächlich eine Dame zu Hilfe gerufen, weil ihr Mann plötzlich schwer erkrankte. Ihr Telefon funktionierte nicht, und deshalb rief sie ihn von der Straße herein und bat ihn, einen Arzt zu holen.«

 

»Pech!« erwiderte der Redner.

 

Am nächsten Tag wurde der richtige Dieb gefaßt, und damit war das Geheimnis gelöst.

 

Mr. Rater kehrte gestärkt und gekräftigt von seinem Urlaub nach London zurück und war in so freundlicher Stimmung, daß er sogar einem Mitreisenden antwortete, der mit ihm über das Wetter sprach.

 

In London stürzte er sich sofort wieder auf die Arbeit, und es warteten auch bereits zahlreiche Aufgaben auf ihn.

 

Eines Tages ging er durch den Hyde Park, als ihn plötzlich eine rauhe Stimme anrief.

 

»Hallo, Inspektor! Wollen Sie nicht eine kleine Spazierfahrt mit mir machen?«

 

Der Redner wandte sich langsam um und war erstaunt über den Anblick, der sich ihm bot. In einer prachtvollen, teuren Limousine saß ein elegant gekleideter Herr. Diamantringe mit großen Steinen glänzten an seinen Fingern.

 

»Steigen Sie doch bitte ein, Inspektor«, sagte Bill Osawold vergnügt.

 

Offenbar glaubte er nicht, daß seine Einladung angenommen würde, denn als der Redner die Tür des Wagens tatsächlich öffnete und einstieg, zeigte sich Bestürzung in Bills Gesicht, und er kniff die Augen zusammen. Der Tätigkeit des Chefinspektors hatte er es zu danken, daß er schon dreimal für empfindlich lange Zeit ins Gefängnis gewandert war.

 

»Nun, geschäftlich scheint es Ihnen nicht schlecht zu gehen«, meinte Mr. Rater und sah ihn scharf an.

 

Osawold räusperte sich verlegen und machte eine unruhige Bewegung.

 

»Habe selten jemanden gesehen, der einen so kompletten Eindruck machte wie Sie«, fuhr der Redner fort.

 

Bill Osawold sah auch wirklich tadellos aus. Er trug einen schwarzweiß karierten Anzug, der ihm vorzüglich stand, dazu ein seidenes Hemd mit passendem, weichem Kragen. Die Brillantnadel in seinem Schlips war allerdings etwas zu groß.

 

»Ich lasse mir jetzt nichts mehr zuschulden kommen, Inspektor«, erwiderte Bill mit etwas belegter Stimme. »Eine Tante von mir ist gestorben und hat mir eine Menge Geld hinterlassen. Sie müssen einmal zu mir kommen und sehen, wie schön ich es habe.«

 

Mr. Rater betrachtete ihn so eingehend vom Kopf bis zum Fuß, als ob seine Augen Staubsauger wären, die gründlich und sorgfältig auch das letzte Stäubchen erfassen wollten.

 

»So? Eine Tante? Na, die wird ja sehr zufrieden mit ihrem Neffen sein, wenn sie jetzt durch ein Himmelsfenster herunterguckt und den eleganten Wagen und den schönen Anzug bewundern kann. Sie wohnte wohl früher in Australien?«

 

»Nein, in Amerika.« Bill grinste. »Wenn Sie einmal durstig sind und gern etwas trinken wollen, dann kommen Sie doch zu mir – ich wohne Bloomsbury Mansions, Nr. 107.«

 

»Danke schön, wenn ich etwas trinken will, gehe ich lieber in ein Lokal«, entgegnete der Redner freundlich.

 

Die Verwunderung, die sich in seinen Zügen spiegelte, war nicht erheuchelt, sondern echt.

 

»Es ist doch kaum zu glauben«, sagte er nachdenklich. »Bei unserer letzten Begegnung habe ich Sie auf frischer Tat oben auf dem Dach von Albemarle Mansions erwischt. Fünf Jahre haben Sie brummen müssen, weil Sie eine Schußwaffe bei sich trugen!«

 

Bill ließ sich nicht gern an die Vergangenheit erinnern.

 

»Das hat nun alles aufgehört«, erwiderte er mit einer abwehrenden Handbewegung. »Seitdem mein Onkel gestorben ist –«

 

»Ach, ich dachte, es wäre eine Tante gewesen!«

 

»Natürlich war es eine Tante! Also, seit der Zeit habe ich nichts Unrechtes mehr getan. Ich komme auch nicht mehr mit der schlechten Gesellschaft zusammen, mit der ich früher verkehrte.

 

Der Redner betrachtete Bill wie ein Kassierer einen gefälschten Scheck, und er war in mancher Beziehung nicht zufrieden. Mr. William Osawold hatte auch noch andere Verbrechen begangen als Einbrüche. Er war ein wilder und leidenschaftlicher Bursche. Der Chefinspektor erinnerte sich daran, daß Bill einmal wegen Vergewaltigung und Notzucht auf mehr als vier Jahre von der Bildfläche verschwinden mußte, und sprach auch von dieser Angelegenheit.

 

»Ich muß damals direkt verrückt gewesen sein«, entgegnete Mr. Osawold und schüttelte den Kopf. »Aber das Mädel hat das Blaue vom Himmel heruntergelogen, und Sie haben es mir auch ordentlich eingetränkt.«

 

»Das tue ich immer.«

 

Der Wagen war inzwischen am Marble Arch angekommen, und Osawold klopfte dem Chauffeur.

 

»Hier muß ich Sie leider absetzen, Inspektor. Ich habe nämlich eine Verabredung mit einer Freundin«, sagte er und atmete erleichtert auf, als sein Feind außer Sicht war.

 

Er hatte tatsächlich eine Verabredung, und zwar mit einer hübschen Verkäuferin, die unvorsichtigerweise eine Einladung zum Lunch in seiner Wohnung angenommen hatte.

 

Um fünf Uhr nachmittags wurde Mr. Rater von einem Bezirk aus angerufen – es handelte sich um Bill Osawold. Die junge Verkäuferin war verstört und entsetzt zur Polizeiwache gekommen. Sie war kaum vernehmungsfähig, aber sie beschuldigte den Mann schwerer sittlicher Vergehen.

 

»Gut, ich komme«, erwiderte der Redner freundlich.

 

Als er von Scotland Yard nach Whitehall ging, war der erste, dem er begegnete, Bill Osawold. Der Verbrecher wollte gerade zum Bahnhof fahren und hatte allem Anschein nach die Absicht, das Land für immer zu verlassen, denn auf dem Dach des Autos lagen ein großer Kabinen- und zwei riesige Lederkoffer. Der Wagen fuhr an Mr. Rater vorbei, wurde aber gleich gegenüber dem Parlamentsgebäude an einer Straßenkreuzung aufgehalten. Bevor der etwas phlegmatische Verkehrspolizist dem wartenden Wagen das Zeichen zur Weiterfahrt gab, war der Redner herangekommen und öffnete die Tür.

 

»Steigen Sie aus«, sagte er. »Und etwas lebhaft, bitte!«

 

Bill gehorchte wütend. Die Farbe wich aus seinem Gesicht, als der Chefinspektor einen uniformierten Polizisten heranwinkte.

 

»Durchsuchen Sie die Taschen des Mannes«, befahl er kurz. »Ich habe ihn in Verdacht, daß er eine Schußwaffe trägt.«

 

Der starke, kräftige Schutzmann führte die Aufgabe gründlich durch.

 

Fünf Minuten später stand Bill vor dem Pult des Sergeanten in der Cannon Row-Polizeistation und antwortete auf die Fragen nach seinen Personalien.

 

»Das ist eine abgekartete Geschichte!« rief er ärgerlich. »Was das Mädchen gegen mich sagt, sind die gemeinsten Lügen! Sie kam aus freiem Willen – seit Wochen hat sie mich verfolgt –«

 

»Bis jetzt ist überhaupt noch von keinem jungen Mädchen die Rede gewesen«, bemerkte der Redner.

 

Bills häßliches Gesicht verzog sich zu einem höhnischen Grinsen.

 

»Sie glauben wohl, Sie haben mich? Aber diesmal ist die Sache anders als sonst. Diesmal habe ich Geld hinter mir! Wenn ich will, kann ich dafür sorgen, daß Sie hinausfliegen!«

 

»Bringen Sie ihn in die Zelle mit der harten Pritsche«, sagte der Redner freundlich. »Wenn er sich zur Wehr setzt, geben Sie ihm einen kräftigen Kinnhaken, damit er zunächst einmal das Aufstehen wieder vergißt.«

 

Bills Eigentum lag auf dem Pult des Sergeanten. Es befanden sich darunter eintausendsiebenhundertfünfzig Pfund in Banknoten, eine kleine, geladene Browningpistole und verschiedene Brillantringe. Mr. Rater sah sich diese Dinge eingehend und nachdenklich an, ließ die Nummern der Banknoten aufschreiben und schickte dann drei Beamte aus, um Nachforschungen anzustellen.

 

In der Zeit, die von der Verhandlung vor dem Polizeigericht bis zu dem eigentlichen Prozeß verging, erfuhr er viele Einzelheiten. Einen Einbruch oder Raub konnte er Osawold allerdings nicht nachweisen.

 

Der Angeklagte wurde von den besten Verteidigern vertreten, und zwar nicht nur vor dem Polizeigericht, sondern auch während des Strafverfahrens selbst. Drei der bekanntesten und angesehensten Rechtsanwälte setzten sich für ihn ein. Infolgedessen dauerte der Prozeß, der unter gewöhnlichen Umständen nur ein paar Stunden in Anspruch genommen hätte, drei Tage. Es wurde eine Reihe von Leuten verhört, die die Glaubwürdigkeit der Hauptzeugin erschüttern und widerlegen sollten. Das gelang auch bis zu einem gewissen Grade.

 

Aber der Gerechtigkeit wurde doch Genüge getan, denn der Staatsanwalt war ein kluger Mann und überführte Bill Osawold langsam, aber sicher.

 

Am zweiten Verhandlungstag sah der Redner eine Dame auf der Galerie, deren Gesicht ihm sehr bekannt vorkam. Eine Weile später fiel ihm plötzlich ein, daß es Lady Angela Lightley war. Sie folgte den Vorgängen mit außerordentlichem Interesse, und es schien sie nicht nur reine Neugierde hergeführt zu haben. Bei manchen Aussagen, die für den Angeklagten katastrophal waren, zuckte sie zusammen.

 

Das Ende der Verhandlung kam. Die Geschworenen sprachen nach kurzer Beratung Bill Osawold schuldig.

 

Der Richter mit den hageren Zügen setzte seinen Klemmer auf, sah einen Augenblick nach dem Gefangenen hinüber und dann zu den Geschworenen.

 

»Ist sonst noch irgend etwas gegen diesen Mann vorzubringen?« fragte er mit harter, sachlicher Stimme.

 

Der Redner erhob sich, trat in den Zeugenstand, leistete mit erhobener Hand den Eid und gab dann eine kurze, aber schwerwiegende Auskunft.

 

» … der Angeklagte ist ein Dieb und Einbrecher. Außerdem hat er ein ähnliches Verbrechen wie dieses schon einmal begangen und ist deshalb zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Er hat einen sehr schlechten Ruf und ist einer der gefährlichsten Verbrecher, die Scotland Yard kennt.«

 

Wütend sprang Osawold von der Anklagebank auf.

 

»Das sollen Sie noch bereuen, Rater!« schrie er.

 

Der Richter tauchte die Feder ein und schrieb.

 

»Sie werden zu einer Zuchthausstrafe von zwölf Jahren verurteilt«, sagte er.

 

Vier Gefängniswärter waren nötig, um den Tobenden aus dem Gerichtssaal in seine Zelle zu schaffen. Rater wartete draußen in der großen Eingangshalle und beobachtete die Leute, die das Gebäude verließen. Lady Angela konnte ihm nicht aus dem Weg gehen. Er sah, wie sie erblaßte, dann errötete und wieder bleich wurde.

 

»Ach, Mr. Rater, was werden Sie nur von mir denken … Ich schreibe ein Buch über Verbrechen …, es war ein ganz schrecklicher Fall, nicht wahr?«

 

Sie tat ihm beinahe leid, daß sie ihre Bestürzung über diese plötzliche Begegnung mit ihm so wenig verbergen konnte. Sie zitterte an allen Gliedern.

 

»Sahen Sie mich schon während der Verhandlung? Ich dachte nicht, daß Sie mich wiedererkennen würden.«

 

»Sie wollen ein Buch schreiben, Mylady«, fragte er ruhig. Dann erinnerte er sich plötzlich daran, daß er ihr sein Beileid aussprechen mußte.

 

»Ach ja«, erwiderte sie hastig. »Meine Ehe war nicht sehr glücklich. Ich konnte kaum mit meinem Mann auskommen. Er war sehr – schwierig. In drei Monaten verheirate ich mich wieder – mit Mr. Donald Grey. Er hat jetzt eine gute Stellung im Auswärtigen Amt.«

 

Sie sah sich um, als ob sie einen Ausweg suchte, um ihm zu entkommen. Aber er begleitete sie noch hinunter.

 

»Haben Sie diesen Mann eigentlich früher schon gesehen?« fragte er.

 

Sie blieb entsetzt stehen.

 

»Osawold? Nein! Wie sollte ich denn dazu kommen?«

 

»Ein wirklich gemeiner Charakter«, sagte der Redner halb zu sich selbst. »Er hatte eine ziemlich große Summe bei sich, als wir ihn verhafteten. Ich möchte nur wissen, wie er zu dem Geld kam.«

 

»Es tut mir leid, aber darüber kann ich Ihnen auch keine Auskunft geben«, entgegnete sie atemlos. Das Sprechen fiel ihr schwer, und er hätte darauf schwören mögen, daß sie dicht vor einem Nervenzusammenbruch stand.

 

»Irgend jemand hat seine Verteidigung bezahlt. Es ist nichts von dem Geld verlangt worden, das wir für ihn in Verwahrung haben, und ich nehme deshalb an, daß er einflußreiche Freunde hat. Darf ich Sie einmal besuchen, Lady Angela?«

 

Sie zögerte.

 

»Ja«, erwiderte sie schließlich und gab ihm ihre Adresse. Sie wohnte in einem vornehmen Hotel im Westen.

 

Als sie auf die Straße traten, wurde sie ruhiger, und es gelang ihr, sich wieder einigermaßen zu fassen.

 

»Sie sind wahrscheinlich an solche Fälle so gewöhnt, daß es Ihnen nichts mehr ausmacht, zuzuhören. Aber mich hat es furchtbar mitgenommen. Ich habe niemals geglaubt, daß es so abscheuliche Menschen geben könnte. Wird er Berufung einlegen?«

 

Er fühlte, daß es sie große Überwindung kostete, diese Frage an ihn zu richten.

 

»Das nehme ich ohne weiteres als selbstverständlich an. Er scheint ja über sehr viel Geld zu verfügen.«

 

»Glauben Sie auch, daß er Erfolg damit haben wird? Auf der Galerie sagte jemand, daß der Richter verschiedene Bemerkungen gemacht hätte, die seine Voreingenommenheit gegen den Angeklagten bewiesen …«

 

Rater beobachtete sie scharf und schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Osawold hat nicht die geringste Aussicht auf Erfolg, wenn er Berufung einlegt.«

 

»Ach!« Sie sagte dieses eine Wort so verzweifelt, daß er sie bestürzt anschaute.

 

»Ich wünschte, Sie würden sich mir anvertrauen, Lady Angela«, sagte er ernst.

 

»Warum denn?« fragte sie schnell.

 

»Sie haben schwere Sorgen, und ich könnte Sie vielleicht davon befreien. Ihr Vater war einer meiner besten Freunde. Ich würde alles tun, um seiner Tochter zu raten und zu helfen.«

 

Sie zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Ich fürchte nur, das können Sie nicht, es sei denn, daß Sie das Buch für mich schrieben!«

 

Sie winkte ihrem Chauffeur, und Mr. Rater sah dem vornehmen Wagen nachdenklich nach.

 

Die Pflicht rief ihn in das Gefängnis von Pentonville, um den Verurteilten noch einem Verhör zu unterwerfen. Es handelte sich um einen der Brillantringe, der sich als gestohlenes Gut erwiesen hatte. Daß Osawold der Dieb war, hatte der Redner keinen Augenblick geglaubt, und die Aussage des Mannes, wie er in den Besitz des Stücks gekommen war, klang auch vollkommen überzeugend.

 

»Ich habe ihn von Louis Rapover. Dreiundvierzig Pfund habe ich dafür bezahlt. Wenn er gestohlen ist, kann ich nichts dazu. Ich weiß nichts davon. Deshalb können Sie mich doch wohl nicht vor Gericht stellen lassen, Mr. Rater.«

 

»Na, da sind Sie ja diesmal ein Unschuldslämmchen«, meinte der Chefinspektor etwas ironisch. »Wollen Sie übrigens gegen das letzte Urteil Berufung einlegen?«

 

Bill nickte.

 

»Machen Sie sich darüber nur keine Sorgen, ich komme schon damit durch. Meine Freunde müssen dafür sorgen, sonst geht es ihnen schlecht. Mir zwölf Jahre aufzuknallen …, das alte Schwein! Legen Sie doch ein gutes Wort für mich ein, wenn ich wieder vor die Geschworenen komme. Ich gebe Ihnen auch ein schönes Stück Geld ab.«

 

»Kommt für mich nicht in Frage, Bill«, erwiderte der Redner.

 

*

 

Die Berufung wurde vor dem Königlichen Gerichtshof im Strand verhandelt. Zwei Stunden vor Beginn der Sitzung brachte man Bill Osawold in das Gerichtsgebäude. Er kam in einem Auto, begleitet von drei Gefangenenwärtern, und wurde in einen kleinen, zellenartigen Raum geführt, der unter den Verhandlungssälen lag. Um zehn Uhr erschien ein junges Mädchen aus dem Restaurationsraum, um ihm das Frühstück zu bringen.

 

Ein Polizist begleitete sie und ging vor ihr die enge Treppe hinunter. Er war bereits außer Sicht, bevor sie das erste Podest erreicht hatte.

 

»Ach, entschuldigen Sie einen Augenblick.«

 

Die Kellnerin wandte sich um und sah eine Dame hinter sich, die ein kostbares Trauerkleid französischer Machart trug. Ein dichter, schwarzer Schleier fiel über den Rand ihres Hutes und verdeckte ihr Gesicht.

 

»Bringen Sie das Frühstück für Mr. Osawold?« fragte sie in gebrochenem Englisch.

 

»Ja.«

 

»Gehört der Polizist zu Ihnen?« fragte die Dame weiter und zeigte die Treppe hinunter.

 

Die Kellnerin schaute in die Richtung, konnte aber niemand bemerken.

 

»Wen meinen Sie denn?«

 

»Ach, ich dachte, ich hätte eben noch einen Polizisten gesehen.«

 

Mehr wurde nicht gesprochen. Die Dame drehte sich um und wäre beinahe mit Chefinspektor Rater zusammengestoßen, der von einem höheren Treppenabsatz aus die Szene interessiert beobachtet hatte. Mit einer Entschuldigung eilte sie an ihm vorbei, ohne aufzublicken. Sie stieg die Treppe so schnell hinauf, als ob sie fürchtete, verfolgt zu werden.

 

Mr. Rater sah ihr eine Sekunde nach, ging dann aber rasch hinter der Kellnerin her. Dicht vor der Zellentür erreichte er sie, nahm die Kaffeetasse vom Tablett, betrachtete sie einen Moment zerstreut und ließ sie dann plötzlich zu Boden fallen, wo sie in tausend Stücke zerschellte.

 

»Es tut mir leid, ich bin heute morgen etwas nervös«, sagte er. »Ich werde dafür sorgen, daß die Scherben aufgekehrt werden. Gehen Sie gleich zurück und holen Sie eine andere Tasse Kaffee. Und sagen Sie in der Wirtschaft, daß Chefinspektor Rater für den Schaden aufkommt.«

 

Er wartete bei dem Gefangenenwärter, bis das Mädchen zurückkam, dann stieg er die Treppe zur Halle hinauf.

 

Später war er bei der Verhandlung zugegen, als die drei Richter die Berufung verwarfen und die außerordentlich lange Zuchthausstrafe bestätigten, die fast einem Todesurteil gleichkam.

 

*

 

Um vier Uhr nachmittags wurde Lady Angela der Besuch gemeldet, den sie im stillen schon erwartet hatte. Mit düsterem Gesicht saß sie in ihrem Wohnzimmer. Rings um sie her lagen viele Zeitungen auf dem Boden verstreut.

 

»Lassen Sie Mr. Rater eintreten«, sagte sie so leise, daß sie den Auftrag wiederholen mußte.

 

Bei dieser Gelegenheit war der Redner wirklich einmal gesprächig. Er unterhielt sich mit Lady Angela über das Wetter, über den Lärm des Straßenverkehrs und über die hohen Kosten des Hotellebens. Dann kam er schließlich auf die Sache zu sprechen, die ihn zu ihr geführt hatte.

 

»Die Berufung Ihres Freundes ist nicht durchgegangen.«

 

»Warum nennen Sie denn diesen. entsetzlichen Menschen meinen Freund?« fragte sie, ohne ihn anzusehen.

 

»Ach ja, man kann ihn eigentlich kaum so bezeichnen.« Er lächelte liebenswürdig. »Auf jeden Fall ist er nicht mein Freund. Ich hatte ihn wegen einer Reihe von Juwelendiebstählen in Ostende in Verdacht, telefonierte von dort nach Scotland Yard und erfuhr dabei etwas sehr Merkwürdiges. Der Beamte erzählte mir nämlich, daß man Osawold an demselben Morgen aus Ihrem Haus kommen sah, an dem Ihr Mann starb.«

 

Sie erwiderte nichts darauf.

 

»Nun ist es insofern schlimm mit mir«, fuhr der Redner fort, »als ich mir immer gleich Theorien bilden muß. Ich denke darüber nach, was sich wohl hinter verschlossenen Türen abgespielt haben mag, bis ich schließlich einen Zusammenhang entdeckte. Deshalb habe ich auch versucht, eine Erklärung für Ihr großes Interesse an Bill Osawold zu finden, und ich glaube, das ist mir gelungen.

 

Manches bringt man allerdings nicht bloß durch Nachdenken heraus.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Was schüttete zum Beispiel heute morgen die französische Dame in den Kaffee, der Bill Osawold gebracht wurde? Ich sah, wie sie den Inhalt eines Fläschchens hineingoß, als die Kellnerin einen Augenblick wegschaute. Vielleicht war die Dame überhaupt keine Französin? Auf jeden Fall war sie aber wahnsinnig vor Furcht. Das ist nicht der richtige Weg, einen Mann vom Sprechen abzuhalten. Wenn Sie mit der Psyche der Verbrecher so vertraut wären wie ich, Lady Angela, wüßten Sie auch, daß die Drohungen solcher Menschen nicht zu fürchten sind. Bill Osawold erreicht auch nichts, wenn er eine Dame verrät, die ihm geholfen hat. Außerdem wird er nicht mehr lange leben, wenn der Gefängnisarzt seinen Zustand richtig beurteilt. Sollte er Ihnen jemals schreiben, schicken Sie mir seine Briefe nur zu. Aber ich glaube nicht, daß Sie noch etwas von ihm hören werden.«

 

Der Chefinspektor nahm seinen Hut und schaute ein paar Sekunden nachdenklich aus dem Fenster.

 

»Ich gehe jetzt, Lady Angela«, sagte er dann. »Vielleicht schreiben Sie mir an einem der nächsten Tage einmal, wie Ihr verstorbener Mann, der soviel Arsen zu sich nahm, Sie in eine schwierige Lage gebracht hat.«

 

Sie sprang auf und stand bleich und zitternd vor ihm.

 

»Sprachen Sie nicht eben von Arsen … Woher wußten Sie denn das?«

 

»Er hat ein paar Jahre in Syrien zugebracht, und ich weiß, daß auch andere Europäer dort dieser Schwäche verfallen sind. An Ihrem Hochzeitstage traf ich einen jungen Mann aus der Apotheke, der ein Paket Arsen für ihn abgeben sollte. Die Leute fangen erst mit kleinen Dosen an und nehmen schließlich so viel von dem Gift zu sich, daß man ein ganzes Regiment Soldaten damit unter die Erde bringen könnte, und bei diesem Stadium war Ihr Mann angelangt.«

 

 

Erst drei Monate später erhielt Mr. Rater einen Brief von Lady Angela.

 

… ich war entsetzt, als ich diese schreckliche Angewohnheit entdeckte. Ich hatte das nicht für möglich gehalten … Unser Zusammenleben war sehr unglücklich. Er war schrecklich nervös, gereizt, niederträchtig und grausam. Zweimal hat er mich in seiner kindischen Wut geschlagen. Ich wollte es damals dem Doktor sagen, aber er drohte mir, dann abzustreiten, daß er jemals Arsen genommen hätte, und dem Arzt zu erklären, daß ich ihn vergiften wollte.

 

Später litt er an sehr schwerer Bronchitis, so daß er nicht mehr ausgehen konnte und ich das Arsen für ihn beschaffen mußte. Schließlich weigerte sich sein Apotheker, ihm weitere Mengen zu liefern. Eines Nachts gab ich ihm das Gift nicht. Ein schrecklicher Auftritt war die Folge. Ich gab ihm dann etwas, aber er wollte mehr und schrie vom Bett aus: ›Ich werde den Leuten schon sagen, daß du mich vergiften willst! Du willst ja nur mein Geld haben – deshalb bringst du mich um!‹ Im selben Augenblick hörte ich ein Geräusch, sah mich um und entdeckte einen brutal aussehenden Menschen, der mir vollkommen fremd war. Er stand in der offenen Tür, die zu meinem Zimmer führte. Eustace stöhnte auf und fiel in die Kissen zurück. Sie können vermuten, daß der Fremde Bill Osawold war. Er war ins Haus eingebrochen, Zeuge der Szene gewesen und glaubte nun wirklich, daß ich meinen Mann umgebracht hatte. Wäre ich nicht so verwirrt gewesen, und hätte ich ruhig nachgedacht, so hätte ich einen Arzt zugezogen und ihm die Wahrheit erzählt. Man hätte ja leicht nachweisen können, daß Eustace seit Jahren Arsen nahm. Aber in jenem Augenblick war ich außer mir vor Furcht und Entsetzen. Ich gab dem Mann Geld und schickte ihm später mehr. Sie können, sich nicht vorstellen, was ich in den Tagen der Gerichtsverhandlung durchmachte. Es gelang ihm, mir aus dem Gefängnis eine Nachricht zuzusenden, daß er mich anzeigen würde, wenn ich nicht für Freisprechung sorgte. Als seine Berufung verhandelt werden sollte, trieb mich meine wahnsinnige Angst dann schließlich zu jenem schrecklichen Versuch.

 

Der Redner las den Brief zweimal, durch und warf ihn dann ins Feuer.

 

Der Verbrecher aus Memphis, USA

 

Der Verbrecher aus Memphis, USA

 

Es gab in London eine Gesellschaft von Herren und Damen, die ihre Zeit und ihr überflüssiges Geld der Bekehrung von Gewohnheitsverbrechern widmeten. Jeden Donnerstagabend versammelten sich alle Leute der Unterwelt, die gerade nicht von der Polizei gesucht wurden oder durch ihre Tätigkeit in Anspruch genommen waren, in der Duvern Hall. Dort wurden von bedeutenden Persönlichkeiten Reden gehalten. Auch Schriftsteller von Ruf befanden sich unter ihnen.

 

Bei den Vorstandssitzungen beglückwünschten sich die Mitglieder zu dem außerordentlichen Fortschritt ihrer Bestrebungen und nahmen Kenntnis von Eintragungen in den Büchern, die etwa so lauteten:

 

»H. X., ein Mann von siebzehn Vorstrafen, hat jetzt eine Beschäftigung bei der Firma B. & C. gefunden und ist mit einem Wochenlohn von fünfunddreißig Schilling zufrieden.«

 

Wenn sich dann später zufällig herausstellte, daß dieser X. zu seinen fünfunddreißig Schilling wöchentlich noch einen kleinen Nebenverdienst durch Diebstähle bei seiner Firma verschaffte, wurde sein Name. aus dem Buch der Gnade gestrichen, und man vergaß die Angelegenheit so schnell wie möglich.

 

Die Mitglieder dieser Gesellschaft hatten immer noch nicht eingesehen, daß jedes Pfund, das man zur Besserung eines Gewohnheitsverbrechers ausgab, hinausgeworfenes Geld war.

 

Manchmal hielten auch pensionierte Polizeibeamte Ansprachen in dem Verein. Ihre Reden troffen von honigsüßen Worten und von brüderlicher Nächstenliebe. Die Zuhörer kritisierten später die Redner auf ihre eigene Art und Weise.

 

»Hast du auch die Diamantnadel in seiner Krawatte gesehen? Ich möchte nur wissen, wo er die geklaut hat. Früher im Dienst hat er nicht gewagt, sie zu tragen!«

 

Nur wenige aktive Beamte hatte man aufgefordert, sich an den Bestrebungen des Vereins zu beteiligen, und Chefinspektor Oliver Rater hatte auch nur mit größtem Widerwillen eingewilligt, »ein paar Worte« in der Versammlung zu sprechen.

 

An dem Abend, an dem er erschien, war der große Saal überfüllt. Das war auch natürlich, denn er hatte viele persönliche Bekannte in der Verbrecherwelt, denen er das Handwerk gelegt hatte.

 

Seine Ansprache selbst war kurz, rauh und grob.

 

»Es macht mich direkt krank, euch alle hier sitzen zu sehen«, begann er. »Wenn ihr behauptet, ein anständiges Leben führen zu wollen, so muß man das erst einmal in eure Sprache übersetzen. Ihr meint, daß es schon eine Besserung und eine anständige Beschäftigung bedeutet, wenn ihr zwischen zwei Einbrüchen zur Abwechslung einmal die dummen Spießer brandschatzt, indem ihr bei ihnen eine Stellung annehmt.

 

Zwei von euch haben vorige Woche versucht, mich zu überfallen. Sie hatten herausgebracht, daß ich hier sprechen wollte – ich danke euch jedenfalls für dieses Kompliment! Die Mehrzahl von euch fühlt sich immer noch am wohlsten, wenn sie im Kittchen sitzt. Dort seid ihr zu Hause. Einer von euch ich will keinen Namen nennen – kam letzten Donnerstag aus dem Gefängnis, sozusagen auf Urlaub. Und er hatte natürlich nichts Besseres zu tun, als sofort ein paar Wechsel zu fälschen. Ihr faßt die ganze Sache hier als einen großen Jux auf. Aber ich warne euch. Ich halte hier keine schönen Reden und predige euch nicht wer weiß was vor. Es wäre schade, wenn man auch nur eine Träne um euch vergösse! Ich habe nur ein einziges Mal einem von euch zu einer Anstellung verholfen. Und was war der Dank? Er hat seinem Arbeitgeber einen neuen Anzug gestohlen und nachher einen Einbruch ins Finsbury verübt. Der Mann paßte eben auch nur nach Dartmoor. Es ist nicht einer unter euch, der nicht behauptet, daß die Verfolgungen der Polizei ihn ins Elend gebracht hätten.

 

So, nun ist es für heute genug. Das ist die längste Rede, die ich je in meinem Leben gehalten habe. Die meisten von euch werde ich ja bei den Gerichtssitzungen wiedersehen, und wenn das nicht der Fall ist, dann nur aus dem Grund, weil ich nicht jedem Strafprozeß persönlich beiwohnen kann.«

 

Das war nun allerdings gerade keine Ansprache im Sinne des Vorstandes. Die Mitglieder des Vereins waren über alle Maßen entsetzt über die Deutlichkeit, mit der Mr. Rater den Leuten die Meinung gesagt hatte.

 

Ihre Empörung zeigte sich später darin, daß sie wegen dieses Vorfalls eine Beschwerde an den Polizeipräsidenten schickten. Der antwortete ihnen, daß er ihren Brief vom 21. d. M. erhalten hätte und die Sache untersuchen würde.

 

»Ich wäre doch gar zu gern dabeigewesen, als der Redner sprach«, sagte er und warf den Beschwerdebrief in den Papierkorb. »Jetzt hat er wahrscheinlich seinen ganzen Vorrat an Beredsamkeit für die nächsten zwei Jahre verbraucht, und wir bringen kein Wort mehr aus ihm heraus.«

 

Aber unter all den vielen Leuten hatte der Chefinspektor doch einen aufmerksamen Zuhörer. Die Gesellschaft hatte die blonde Stenotypistin Lydia Grayne angestellt, die sehr schön und auch sehr fleißig war. Sie hatte bereits sieben verschiedene Einladungen zum Abendessen abgeschlagen, die sie von sieben Mitgliedern des Vorstands erhalten hatte. Und dieser Vorstand setzte sich aus sieben älteren, wohlwollenden Herren zusammen.

 

Lydia Grayne trat schüchtern an den Redner heran, als er gerade das Gebäude verlassen wollte.

 

»Ach, verzeihen Sie, dürfte ich Sie vielleicht um Ihr Autogramm bitten, Mr. Rater?«

 

Er lächelte sie freundlich an, nahm das Buch, das sie ihm hinhielt, und schrieb seinen Namen hinein, ohne ein Wort zu sagen.

 

Sie erzählte ihm dann, daß sie aus Kanada stammte und erst seit drei Monaten in England war. Später erfuhr er, daß sie ihre Stellung aufgegeben hatte, aber erst einige Zeit nachher hörte er. welche neue Beschäftigung sie gefunden hatte.

 

Scotland Yard hatte damals gerade einen Gast: Captain Martin J. Snell aus Philadelphia in den Vereinigten Staaten. Im allgemeinen konnte der Chefinspektor gesprächige Leute nicht leiden, aber aus einem ganz bestimmten Grund ertrug er nicht nur die Gesellschaft dieses Amerikaners, sondern ermunterte ihn auch noch direkt zum Reden. Zur Erklärung muß gesagt werden, daß der Redner zu jener Zeit an Schlaflosigkeit litt.

 

Captain Snell war nach Europa gekommen, um hier kriminalistische Studien zu treiben, und einen Monat hatte er für, Scotland Yard angesetzt. Man hatte ihm bereits alles gezeigt, was es zu sehen gab, vom Kriminalmuseum bis zum Fundbüro. Den Abend verbrachte er gewöhnlich in Mr. Raters Wohnung und erzählte ihm merkwürdige Abenteuer.

 

»In Memphis hatten wir einen ganz verflixten Spitzbuben. Der Kerl hieß Lew Oberack und war der gerissenste Betrüger, dem ich jemals begegnet bin …«

 

Kaum hatte der Amerikaner zu sprechen begonnen, so nickte der Redner auch schon sanft ein, denn Captain Snells Stimme klang monoton, beruhigend und einschläfernd. Hätte aber Mr. Rater dem klugen Mann zugehört, so hätte er manche wertvolle Mitteilung erfahren und hätte vor allem auch die Vorgänge im Hause eines gewissen Dimitri Horopolos von Anfang an richtig verstanden.

 

Mr. Horopolos war ein sehr reicher Grieche, der nicht nur eine große Handelsfirma besaß, sondern auch Bank- und Finanzgeschäfte betrieb. Fast an allen internationalen Transaktionen war er beteiligt.

 

Er sah sehr gut aus, hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, dunkle Augen und einen schwarzen Schnurrbart. Außerdem bildete er sich sehr viel auf seine Körperkräfte ein, denn er war ein trainierter Sportsmann und Athlet, auf seine Reitkunst und auf sein schönes Haus am Elman Square. Besonders eitel war er auf die Wirkung, die seine Persönlichkeit auf Frauen ausübte.

 

Einmal erhielt Chefinspektor Rater eine direkte Beschwerde über ihn und suchte ihn infolgedessen auf. Der Grieche empfing ihn mit einem verbindlichen Lächeln.

 

»Aber mein lieber Freund, das ist doch ganz absurd! Das Mädchen hat sich mir an den Hals geworfen. Ich habe alles getan, um sie zur Vernunft zu bringen, und als sie durchaus nicht hören wollte, habe ich ihr eben gekündigt. Ein Mann in meiner Stellung ist solchen Anklagen immer ausgesetzt.«

 

»Um eine Anklage handelt es sich ja gar nicht.«

 

Später ging der Redner zu der jungen Dame, aber er hatte keinen Erfolg, da sie die Öffentlichkeit fürchtete. Nach einer Weile erfuhr er, daß die Nachfolgerin ihre Stelle ebenfalls schleunigst verlassen hatte. Auch dieses Mädchen konnte er nicht veranlassen, ihm den wahren Grund zu erzählen.

 

Kurz darauf traf Mr. Horopolos den Redner zufällig in der Bond Street.

 

»Ich habe meine Sekretärin schon wieder verloren. Ich weiß wirklich nicht, was ich anstellen soll, damit die Damen mit mir zufrieden sind.«

 

Mr. Rater kaute an seiner Zigarre und sah den Griechen böse an.

 

»Haben Sie einmal versucht, alles zu unterlassen, was ihnen mißfallen könnte, und sich anständig zu benehmen?«

 

Dimitri faßte das als einen Witz auf und lachte. Er war an diesem Morgen sehr zufrieden mit sich und der Welt, denn endlich hatte er eine Perle von einer Sekretärin gefunden. Es war eine blonde junge Dame mit großen, blauen Augen, die sein Angebot angenommen hatte. Soweit er feststellen konnte, war sie fremd in London und hatte weder Verwandte noch Freunde in der Stadt. Sie hatte allerdings seinen Vorschlag abgelehnt, in seinem Haus zu wohnen. Aber das war seiner Meinung nach eine Schwierigkeit, die man später noch aus dem Weg schaffen konnte. Schließlich konnte man ja nicht alles auf einmal erwarten.

 

Der Redner erfuhr auch sehr bald, daß eine neue Sekretärin bei Mr. Horopolos eingetreten war, denn der Grieche sandte mit einer Kühnheit, die seiner klassischen Vorfahren würdig gewesen wäre, die junge Dame mit einem Schreiben nach Scotland Yard.

 

»Mein lieber Mir. Rater, ich habe mit meinen Sekretärinnen bisher soviel Unannehmlichkeiten gehabt, daß ich Ihnen die Dame, die ich jetzt engagiert habe, hiermit vorstellen möchte. Bitte teilen Sie mir mit, ob Sie mit ihr zufrieden sind. Ich habe Ihnen Ihre Aufgabe erleichtert, denn Sie können sie nun gleich warnen, was Sie ja bei allen hübschen Mädchen zu tun pflegen, die ich anstelle.«

 

Der Redner sah zu der bescheidenen jungen Dame hinüber, die ihm am Schreibtisch gegenübersaß.

 

»Nun, Miss Grayne, Sie scheinen ja auch keinen großen Gefallen daran gefunden zu haben, Gewohnheitsverbrecher zu bekehren?«

 

Sie freute sich, daß er sich noch auf ihren Namen besann.

 

»Aber jetzt habe ich eine sehr nette Stellung, Mr. Rater. Mr. Horopolos ist äußerst liebenswürdig, und er sieht auch sehr gut aus. Ich habe noch nie einen so hübschen Chef gehabt.«

 

Der Redner zögerte, denn er wußte nicht, ob unter diesen Umständen noch eine Warnung am Platze war. Wahrscheinlich hatte Dimitri Miss Grayne schon erklärt, daß man in Scotland Yard nicht gut auf ihn zu sprechen sei und daß verschiedene seiner früheren Sekretärinnen den Posten sehr schnell verlassen hätten. Vielleicht war er aber auch schon zu einer Verständigung mit ihr gekommen. Diesen Gedanken lehnte er jedoch sofort wieder ab, als er ihr ins Gesicht sah.

 

»Sie werden finden, daß der Grieche sehr gut zahlt, aber er ist vielleicht etwas zu freundlich. Daran können weder Sie noch ich etwas ändern. An Ihrer Stelle würde ich genaue Bürostunden mit ihm vereinbaren und mich daran halten.«

 

Sie war ihm sehr dankbar für diesen Rat.

 

»Ich weiß nicht, wie die Arbeitszeit für Stenotypistinnen in England liegt. Wann kann man abends nach Hause gehen?«

 

»Sobald es dunkel wird.«

 

Am selben Abend saß der Redner wieder in seinem Wohnzimmer am Kamin und hörte Mr. Snell zu.

 

»… um wieder auf diesen Oberack zurückzukommen. Ich erzählte Ihnen doch schon von ihm – er stammt aus Memphis, USA –«

 

»Memphis« war das letzte Wort, das zu Mr. Raters Bewußtsein durchdrang, dann schlief er ein.

 

*

 

Die neue Sekretärin rechtfertigte den guten Eindruck, den Mr. Horopolos zuerst von ihr gehabt hatte, täglich mehr. Sie war nicht kleinlich, nahm nichts übel und lachte über Scherze, bei denen ihre Vorgängerinnen keine Miene verzogen oder höchstens ein empörtes Gesicht gemacht hätten. Außerdem war sie sehr tüchtig und erledigte seine Korrespondenz in ungewöhnlich kurzer Zeit.

 

»Mein liebes Kind, Sie sind wirklich sehr brauchbar und charmant«, sagte er und klopfte ihr auf die Schulter.

 

So begannen gewöhnlich seine Annäherungsversuche.

 

Sie schaute mit ihren blauen Augen zu ihm auf und lächelte.

 

»Ich glaube, daß es mir hier sehr gut gefallen wird. In meiner letzten Stellung –«

 

Sie erzählte ihm von den unangenehmen Erfahrungen, die sie bei dem Inhaber einer Teefirma gemacht hatte, und sprach auch über andere unerfreuliche Erlebnisse in früheren Stellungen.

 

»So, Verbrecher haben Sie also auch schon einmal bekehren wollen?« meinte er belustigt. Er war noch nie im Gefängnis gewesen, und man konnte ihn infolgedessen auch nicht offiziell bekehren. »Dabei müssen Sie sich aber doch entsetzlich gelangweilt haben.«

 

Gewöhnlich bekam er viele Briefe mit der Morgenpost und erledigte sie, bevor er zur Stadt ging. Gegen vier Uhr nachmittag kehrte er dann zurück und beschäftigte sich mit den Eingängen, die im Lauf des Tages noch angekommen waren. Er hatte sich ein schönes, großes Haus gebaut, in dem er eine zahlreiche Dienerschaft unterhielt.

 

»In den nächsten Tagen zeige ich Ihnen einmal meine Diamantensammlung«, sagte er mit Nachdruck, denn er war sehr stolz auf diese Schätze.

 

Die Mitteilung machte auch den größten Eindruck auf Miss Grayne.

 

»Haben Sie denn die kostbare Sammlung hier in Ihrem Haus?«

 

Er lächelte.

 

»Nicht im, sondern unter dem Haus«, erklärte er und freute sich über ihren Eifer. »Es wird Sie sicher auch interessieren, daß schon sechsmal versucht worden ist, bei mir einzubrechen. Zweimal sind die Leute, die zu den gerissensten Banden von Paris gehörten, auch tatsächlich ins Haus gekommen. Aber wenn das selbst zweihundert verschiedenen Banden gelungen wäre, so könnten sie doch niemals in meine Stahlkammer eindringen.«

 

Und seine Behauptung war nicht übertrieben. Das kleine Gewölbe aus Stahl und Beton war im Keller eingebaut und besaß eine sechzig Zentimeter starke Tür und einen Entlüftungsschacht.

 

»Sie müssen sich die Anlage einmal ansehen«, sagte er.

 

In Wirklichkeit hatte er allerdings nicht die Absicht, sie ihr zu zeigen, denn er hütete diese Stahlkammer eifersüchtig und ließ Tag und Nacht den Zugang bewachen.

 

Er war der aufmerksamste Chef, den man sich denken konnte. Lydia Grayne war noch keine Woche bei ihm tätig, als er darauf bestand, sie persönlich zum Ausgang zu begleiten, wenn sie das Haus verließ.

 

Eines Abends stand er wieder unter der Haustür und sah ihr nach, als sie die Straße nach links hinunterging. Plötzlich bemerkte er, daß ein Mann aus dem Schatten trat und mit ihr sprach. Einen Augenblick blieb sie stehen, während der Fremde ernst auf sie einredete, dann drehte sie sich rasch um und kam zu Mr. Horopolos zurück.

 

»Was ist denn passiert?« fragte er.

 

»Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Vermutlich ist es ein Polizeibeamter«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. »Er sagte mir, daß ich mich vor Ihnen sehr in acht nehmen und abends nicht zu lange in Ihrem Haus bleiben sollte.«

 

Dimitri schob sie leicht beiseite und eilte wütend auf den Mann zu. Im Licht einer Laterne konnte er sein Gesicht deutlich sehen. Es war länglich und schmal. Außerdem hatte der Unbekannte einen dunklen Schnurrbart und buschige, schwarze Augenbrauen.

 

»Zum Teufel, wie kommen Sie denn dazu, die Dame anzusprechen?« fragte er. »Sind Sie etwa ein Polizist? Dann gehen Sie gefälligst zu Ihrem Mr. Rater zurück und bestellen Sie ihm von mir, daß ich mich bei Scotland Yard beschwere, wenn man mich weiter derartig niederträchtig behandelt!«

 

Der Fremde lächelte.

 

»Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich ein, Polizeibeamter bin?« fragte er ruhig. »Und wenn ich es bin – was haben Sie dagegen einzuwenden, daß ich ein Mädchen vor den Gefahren der Straße warne?«

 

Mr. Dimitri wollte gerade grob antworten, aber er besann sich eines Besseren und kämpfte seine Erregung nieder.

 

»Kommen Sie mit und trinken Sie ein Glas bei mir«, erwiderte er so liebenswürdig, als es ihm im Augenblick möglich war.

 

Der Mann zögerte einen Moment, als ob ihm die Aufforderung ungelegen käme, dann änderte sich sein Benehmen aber plötzlich.

 

»Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie in Unannehmlichkeiten gebracht habe, aber Sie wissen ja, ich habe meine Pflicht zu erfüllen …«

 

»Kommen Sie mit«, wiederholte Dimitri.

 

Gehorsam folgte ihm der andere. Miss Grayne stand noch an der Haustür, und der Grieche entließ sie mit einem kurzen Gruß. Dann führte er den Mann in sein kostbar ausgestattetes Arbeitszimmer und bot ihm einen Stuhl an. Der Fremde setzte sich etwas befangen auf eine Kante und hielt den Hut auf den Knien.

 

»Ich verlange nicht von Ihnen, daß Sie mir Ihre Dienstgeheimnisse preisgeben sollen«, begann Mr. Horopolos mit einem verbindlichen Lächeln, während er seinem Besucher einen Whisky-Soda einschenkte. »Aber wenn Sie tatsächlich den Auftrag haben, mich zu beobachten, kann ich Ihnen viel Mühe ersparen. Ich habe absolut nicht den Wunsch, mich mit der Polizei schlecht zu stellen, im Gegenteil, ich möchte recht gut mit ihr stehen.«

 

Der Mann räusperte sich, nahm das Glas und leerte es.

 

»Es ist aber meine Pflicht –« begann er.

 

»Ach, darauf kommt es gar nicht an«, unterbrach ihn Dimitri freundlich. »Sie müssen doch vor allem auch für sich selbst sorgen, das ist Ihre erste Pflicht. Werden Sie alle Tage hierherkommen?«

 

Der Fremde, der sich schließlich als Mr. Olcott vorstellte, nickte.

 

»Nur am Sonntag nicht.«

 

Dimitri lachte.

 

»Gut, ich verspreche Ihnen, mich über Sonntag anständig zu benehmen.«

 

Bei diesen Worten zog er seine Brieftasche und nahm eine Zehnpfundnote heraus.

 

»Das kann ich aber wirklich nicht annehmen. Ich könnte in die größten Schwierigkeiten kommen.«

 

»Ach, Unsinn! Wenn man Sie hört, gibt es überhaupt nur Schwierigkeiten auf der Welt. Das ist geradezu ein Komplex der Polizeibeamten.«

 

Er redete Mr. Olcott zu, und nach einiger Zeit steckte der Mann den Geldschein widerstrebend ein.

 

Am nächsten Abend kam Mr. Dimitri an ihm vorbei, und Olcott grüßte respektvoll. Am dritten Abend lud ihn der Grieche wieder zu sich ins Haus.

 

»Ich möchte wirklich gern wissen, welchen speziellen Auftrag Sie haben«, sagte er, als Olcott vor einem großen Glas Whisky-Soda saß.

 

Olcott hustete verlegen.

 

»Wenn ich ganz offen sein soll, komme ich in große Schwie –«

 

»Schwierigkeiten wollten Sie wohl sagen«, ergänzte Mr. Horopolos ärgerlich, »Also, welche Instruktionen haben Sie?«

 

Nach einer Weile brachte er den Mann zum Reden.

 

Olcott hatte den Befehl, das Haus zu überwachen, bis Miss Grayne herauskam, und dann noch eine Stunde länger zu bleiben, um zu sehen, ob sie nicht etwa wieder zurückkehrte.

 

»Wenn Sie nun aber Überstunden machen muß – was passiert dann?«

 

»Ich muß Mr. – ich will keinen Namen nennen – berichten, ob sie bis halb zehn das Haus verlassen hat.«

 

Der Grieche lächelte verächtlich.

 

»Eine so alberne Geschichte ist mir bisher doch noch nicht vorgekommen. Nun gut, Olcott, ich werde Ihnen sagen, wenn Sie früher nach Hause gehen können!«

 

Seine Freundschaft mit der Sekretärin entwickelte sich nach Wunsch. Sie hatte sogar seine Einladung zu einem Abendessen in einem vornehmen Restaurant angenommen. Aber Dimitri dachte gar nicht daran, mit ihr dorthin zu gehen. Im gegebenen Augenblick wollte er den Schauplatz einfach verlegen.

 

Als er sie aber am Morgen des festgesetzten Tages bat, abends um zehn zu ihm ins Haus zu kommen, machte sie doch ein ängstliches Gesicht.

 

»So ein kleines Essen zu zweien würde aber doch sehr nett sein«, meinte er. »Und es ist doch nichts dabei, wenn wir hier in meinem Speisezimmer dinieren.«

 

Sie schüttelte den Kopf. Plötzlich erinnerte sich die blonde junge Dame an Gesetze des guten Tons und sagte, daß sie dann wenigstens einen Freund mitbringen möchte.

 

»Aber das ist doch eine ganz ausgefallene Idee«, erwiderte er lächelnd. »Überlegen Sie es sich noch einmal.«

 

Sie überlegte es den ganzen Tag und änderte ihre Pläne. Zuerst sollte das Essen um sieben stattfinden, dann um neun, und schließlich einigte sie sich mit ihm auf halb. neun. Und er mußte ihr auch versprechen, sie nach Hause zu begleiten. Er stimmte jedem ihrer Vorschläge bei, denn sie war das schönste Mädchen, das er kennengelernt hatte.

 

*

 

Chefinspektor Rater saß in seinem Büro in Scotland Yard. Sein Freund aus Amerika hatte ihm gegenüber Platz genommen, den Raum mit dem Rauch seiner Zigarre erfüllt und den Redner in gewohnter Weise zum Einschlafen gebracht.

 

»… wir sprachen doch über diesen Kerl aus Memphis, den gerissensten Betrüger, der jemals …«

 

Als der Redner aufwachte, war sein Besucher verschwunden. Ein Bote hatte Mr. Rater aufgeweckt. Ärgerlich schaute der Redner auf den halbvollendeten Bericht, der vor ihm lag, und den er bei Snells Ankunft unterbrochen hatte. Das Dokument sollte am nächsten Morgen vor elf dem Polizeipräsidenten vorgelegt werden.

 

Er war noch halb im Schlaf und hörte dem Boten kaum zu.

 

»Was ist denn los?« fragte er und gähnte.

 

»Vor fünf Minuten kam ein Herr und sagte, daß ich Ihnen das persönlich übergeben sollte.«

 

Mr. Rater nahm das zerknitterte Papier, und glättete es. Der kleine Zettel war offensichtlich aus einem Notizbuch ausgerissen. Die Bleistiftschrift war zittrig und undeutlich:

 

»Um Himmels willen, helfen Sie mir! Der Grieche hat mich in seine Stahlkammer eingeschlossen. Ich ging zu ihm zum Abendessen.« Dann waren verschiedene Worte unleserlich. »Bitte, helfen Sie mir.

 

Lydia Grayne.«

 

Der Redner war plötzlich vollkommen wach. Er sah auf die Uhr – sie zeigte zehn. Lydia war zu dem Griechen gegangen! Eine weitere Erklärung war überflüssig. Er dachte im Augenblick nicht darüber nach, auf welche Weise diese Botschaft zu ihm gelangt sein mochte. Das war belanglos. Er klingelte, sah aber dann, daß der Bote noch neben ihm stand, und gab ihm den Auftrag, sofort das Überfallkommando zu alarmieren.

 

Fünf Minuten später raste das Polizeiauto mit höchster Geschwindigkeit nach Westen. Mit einem unsanften Ruck hielt der Wagen vor dem Haus des Griechen, und der Redner war der erste, der auf die Straße sprang.

 

Zweimal läutete er, bevor er Antwort erhielt, und zu seinem Erstaunen öffnete ihm dann Dimitri selbst. Er trug einen Schlafrock und sah den Beamten düster an.

 

»Was wollen Sie denn hier?« fragte er böse.

 

»Ich will wissen, wo Lydia Grayne ist!«

 

»Hier ist sie jedenfalls nicht«, erwiderte Mr. Horopolos wütend. »Ihr verdammter Polizeispitzel hätte Ihnen das wahrhaftig mitteilen können!«

 

»Wollen Sie mich freiwillig ins Haus lassen, oder soll ich erst einen amtlichen Befehl dazu ausstellen lassen?«

 

Dimitri machte die Tür weiter auf und ging vor dem Redner die Treppe hinauf. Oben drehte er sich ärgerlich um.

 

»Einer von Ihren Leuten könnte tatsächlich die Tür wieder zumachen!«

 

Von der Dienerschaft war niemand zu sehen, was Mr. Rater als ein sehr verdächtiger Umstand erschien. Erst später erfuhr er, daß sich die Hausangestellten in einem Teil des Gebäudes aufhielten, der vollkommen abgeschlossen werden konnte.

 

Dimitri führte die Beamten nicht in sein Arbeitszimmer, sondern zu einem kleinen Salon. Der Redner sah einen für zwei Personen gedeckten Tisch.

 

»Vielleicht erklären Sie mir jetzt, was Ihr Besuch zu bedeuten hat?« fragte der Grieche ungehalten.

 

Der Chefinspektor reichte ihm den Zettel, den er bekommen hatte.

 

Dimitri las die Botschaft und runzelte die Stirn.

 

»Das ist eine verdammte Lüge«, sagte er dann wild. »Sie wollte kommen, aber bis jetzt ist sie noch nicht erschienen.«

 

»Sie haben doch eine Stahlkammer im Keller?«

 

Mr. Horopolos zögerte.

 

»Allerdings. Ich verwahre dort meine Wertsachen. Sie glauben doch nicht etwa, daß ich die junge Dame dort eingeschlossen hätte? Das wäre doch wirklich zu lächerlich. Ich sagte bereits, daß sie heute abend kommen wollte, aber –«

 

»Ich möchte mir einmal diese Stahlkammer ansehen«, entgegnete der Redner bestimmt.

 

»Aber Miss Grayne ist doch gar nicht da – ich erwarte sie ja erst. Sie sehen dach an dem gedeckten Tisch und an den unberührten Platten, daß noch niemand gekommen ist.«

 

»Das ist für mich noch lange kein Beweis. Ich möchte mir einmal diesen unterirdischen Raum ansehen.«

 

Dimitri Horopolos wurde erst dunkelrot, dann bleich und sah aus, als ob er vor Wut explodieren würde. Aber schließlich ging er ins Nebenzimmer und kam nach kurzer Zeit mit zwei kleinen Schlüsseln zurück.

 

»Da Sie so verdammt neugierig sind, will ich Ihnen den Platz zeigen.«

 

Sie stiegen zusammen eine enge Treppe hinunter, und am Ende eines langen Ganges schloß der Grieche eine Stahltür auf. Er schaltete das Licht ein, und Mr. Rater schaute sich in dem kleinen, engen Raum um. Auf Glaskonsolen lagen viele hundert Lederbeutel.

 

Aber dafür interessierte er sich nicht. Er bemerkte einen Stuhl, einen Tisch und ein Feldbett, aber Lydia konnte er nicht entdecken.

 

»Haben Sie noch ein anderes ähnliches Gewölbe hier?«

 

»Nein. Und ich habe Ihnen jetzt schon x-mal erklärt, daß Miss Grayne noch nicht gekommen ist.«

 

Der Redner sah sich noch einmal betreten um. Er konnte die Sache nicht verstehen. Hatte ihm jemand einen Streich gespielt? In diesem Raum konnte sich keine Maus verstecken!

 

Als sie wieder zum Erdgeschoß hinaufstiegen, fluchte und schimpfte Dimitri in den verschiedensten Sprachen, weil man ihn in seiner Ruhe gestört hatte. Seine Stimme wurde immer schriller und überschlug sich schließlich. Wild fuchtelte er mit den Händen in der Luft herum, so daß die Brillantringe an seinen Fingern glänzten und glitzerten.

 

»Es ist ja sehr interessant, daß Sie sich so aufregen, aber ich bin tatsächlich berechtigt, Ihr Haus zu durchsuchen. Und ich bin auch jetzt noch nicht sicher, daß sich die junge Dame nicht hier aufhält.«

 

»Dann durchsuchen Sie doch gefälligst das Gebäude!« brüllte Dimitri.

 

Das war eine Aufforderung, die sich der Redner nicht entgehen ließ.

 

Aber so gründlich seine Beamten auch vorgingen, sie fanden nichts, und der Chefinspektor mußte schließlich unverrichteter Dinge und höchst verblüfft zu seinem Wagen zurückkehren.

 

Dimitri schlug donnernd hinter ihm die Tür zu und ging wütend in sein Wohnzimmer, wo er nervös auf und ab wanderte. Gerade wollte er einem Diener den Auftrag geben, den Tisch im Salon wieder abzuräumen, als es unten klopfte. Vielleicht war das Lydia! Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken. Er eilte den Gang entlang und riß die Tür auf …

 

Mr. Olcott stand vor ihm.

 

»Zum Teufel, was wollen Sie denn noch?«

 

»Lassen Sie mich schnell herein«, bat der Mann leise. »Ich komme gerade von Mr. Rater. Er hat mich furchtbar abgekanzelt. Hat er Ihre Stahlkammer durchsucht?«

 

»Natürlich hat er das getan«, entgegnete Dimitri wild.

 

Er schloß die Tür, und sie gingen zu dem kleinen Salon, in dem der gedeckte Tisch stand.

 

»Nun, was wollen Sie? Sie sind mir ja ein netter Helfer! Haben Sie etwa Miss Grayne gesehen und zurückgeschickt?«

 

Olcott schüttelte ungeduldig den Kopf.

 

»Ich möchte nur noch wissen, Mr. Horopolos, ob der Chefinspektor die Schlüssel zu der Stahlkammer mitgenommen hat?«

 

»Selbstverständlich hat er das nicht getan!«

 

»Sind Sie Ihrer Sache auch ganz gewiß?« fragte der Mann ernst.

 

Der Grieche steckte die Hand in die Tasche seines Schlafrocks und holte einen Ring heraus, an dem sich die beiden Schlüssel befanden.

 

»Sehen Sie, hier sind sie.«

 

»Dann geben Sie sie mir sofort, und rühren Sie sich nicht, sonst jage ich Ihnen eine Kugel durch den Schädel«, erwiderte Mr. Olcott, in dessen Hand sich plötzlich eine Browningpistole zeigte.

 

Dimitri wäre vor Schrecken beinahe in Ohnmacht gefallen. Widerstandslos ließ er sich binden und knebeln. Dann ging Mr. Olcott mit den Schlüsseln in den Keller, um die Schätze der Stahlkammer zu untersuchen.

 

*

 

Als der Redner nach Scotland Yard zurückkehrte, saß Mr. Snell wieder an seinem gewohnten Platz. Aber Mr. Rater war jetzt nicht in der Stimmung, seine Geschichten anzuhören. Da der Captain aber die Methoden der Verbrecher sehr gut kannte, erzählte er ihm, was er eben erlebt hatte.

 

»Donnerwetter!« rief der Amerikaner. »Das sieht ganz nach diesem gerissenen Kerl aus Memphis aus. Das ist der größte Spitzbube und Betrüger, der jemals gelebt hat. Er arbeitet nämlich immer mit seiner Frau zusammen. Sie hat strohblonde Haare und dunkelblaue Augen. Und immer richtet sie es so ein, daß sich jemand in sie verliebt. Aber sie wählt stets einen schlechten Charakter als Opfer. Dann taucht ihr Mann, der Kerl aus Memphis, auf, gibt sich als Detektiv aus und stiehlt dem Mann alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Ich möchte wetten, daß …«

 

Bevor Mr. Snell den letzten Satz beenden konnte,« eilte der Redner schon zu dem Polizeiauto zurück, das der Chauffeur gerade zur Garage bringen wollte. Er sprang auf das Trittbrett und winkte zwei Detektiven, die ihm schleunigst folgten. Als er in das Haus des Griechen kam, brach er die Tür zu dem kleinen Salon auf und befreite Dimitri. Währenddessen war der »gerissene Kerl aus Memphis, USA« mit seiner blonden Frau längst in einem schnellen Wagen nach Osten davongefahren.

 

Kapitel 9

 

9

 

Dower House lag abseits von der Hauptstraße. Die Besitzung bestand aus einer Menge unregelmäßiger kleiner Gebäude, die sich hinter verwilderten Hecken und schiefen Mauern erhoben. Früher hatte sich ein Pförtner um das Anwesen gekümmert, aber sein Häuschen lag verlassen da, die Fenster waren zerbrochen, und das Ziegeldach war schwer beschädigt. Die Tore standen schon seit Generationen offen und lehnten zertrümmert gegen die Mauer.

 

Wo früher saftige, gutgepflegte Rasenflächen prangten, zeigte sich nun ein wüstes Dickicht von Unkraut und Sträuchern. Wo einst die früheren, vornehmen Bewohner Kricket und Golf spielten, wuchsen jetzt Disteln und wilde Kamillen. Mike Brixan sah auf den ersten Blick, daß nur ein Teil des Hauses bewohnt war, denn nur in einem Flügel waren die Fensterscheiben unversehrt. Fast alle anderen waren zerbrochen oder mit Staub und Spinnweben bedeckt, so daß man hätte meinen können, sie seien mit Ölfarbe gestrichen.

 

Er war belustigt und erstaunt, als er zum erstenmal die sonderbare Erscheinung Mr. Sampson Longvales sah, der aus seinem Haus trat, um die Gesellschaft zu begrüßen. Sein kahler Kopf leuchtete in der Nachmittagssonne. In seinen rehfarbenen Hosen, seiner Samtweste und dem altväterlichen Spazierstock sah er genauso aus, wie Gregory ihn beschrieben hatte.

 

»Ich freue mich sehr, Sie bei mir zu sehen, Mr. Knebworth. Ich habe allerdings nur ein sehr bescheidenes Haus, aber ich entbiete Ihnen einen um so herzlicheren Willkommensgruß. In meinem kleinen Speisezimmer ist Tee serviert. Wollen Sie mir bitte die Mitglieder Ihrer Gesellschaft vorstellen?«

 

Diese Höflichkeit und Würde einer früheren Zeit entzückten Mike Brixan, und er fühlte sich zu dem alten Herrn hingezogen, der in diese moderne Zeit einen Schimmer liebenswerter Vergangenheit hineintrug.

 

»Ich möchte gern noch eine Szene aufnehmen, bevor das Licht zu schlecht wird, Mr. Longvale«, sagte der Direktor. »Wenn Sie nichts dagegen haben, daß der Tee schnell eingenommen wird, kann ich den Schauspielern noch eine Viertelstunde Zeit geben.« Er sah sich um. »Wo ist Foß?« fragte er. »Ich muß noch etwas an der einen Szene ändern.«

 

»Mr. Foß wollte zu Fuß von Griff Towers nachkommen«, sagte einer der Leute. »Er blieb noch zurück, um mit Sir Gregory zu sprechen.«

 

Jack Knebworth war wütend auf seinen saumseligen Dramaturgen.

 

»Hoffentlich ist er nicht dort geblieben, um sich wieder Geld zu borgen«, sagte er ungehalten zu Mike, »Der Mensch wird mir noch meinen ganzen Kredit verderben, wenn ich ihm nicht auf die Finger sehe.«

 

Anscheinend hatte er seine Abneigung gegen den neuen Statisten überwunden und fühlte, daß niemand sonst unter der ganzen Gesellschaft war; den er ins Vertrauen ziehen konnte, ohne die Disziplin zu untergraben.

 

»Neigt er denn zum Schuldenmachen?« fragte Brixan.

 

»Er hat niemals Geld und versucht sich immer etwas durch irgendwelche faulen Tricks zu verdienen. Dabei fällt er dann gewöhnlich herein und hat nachher weniger als zuvor. Wenn ein Mensch erst so anfängt, dann ist er nicht mehr weit vom Gefängnis entfernt. – Wollen Sie die Nacht auch hier bleiben? Ich glaube nicht, daß Sie hier schlafen können. Sie werden wahrscheinlich nach London zurückkehren?«

 

»Heute abend nicht«, sagte Mike ruhig. »Machen Sie sich aber meinetwegen keine Sorge. Ich möchte Ihnen ganz und gar keine Umstände machen.«

 

»Kommen Sie, ich will Sie dem alten Herrn vorstellen«, sagte Knebworth leise. »Er ist ein sonderbarer Kauz, aber gutherzig wie ein Kind.«

 

»Nach allem, was ich von ihm gesehen habe, gefällt er mir gut.«

 

Als alle Mr. Longvale vorgestellt waren, sagte der alte Herr: »Ich fürchte, daß im Speisezimmer nicht genügend Platz ist. Deshalb habe ich eine kleine Tafel in meinem Studierzimmer decken lassen. Vielleicht nehmen Sie und Ihre Freunde den Tee dort ein.«

 

»Oh, das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Mr. Longvale. Habe ich Ihnen schon Mr. Brixan vorgestellt?«

 

Der alte Mann nickte lächelnd.

 

»Ich werde seinen Namen sowieso kaum behalten. Das ist eine ganz merkwürdige Schwäche, die sich schon bei meinem Urgroßonkel Charles zeigte. Als er seine Memoiren schrieb, brachte er alles durcheinander. Daher kommt es auch, daß man viele Erlebnisse, die er erzählte, später für erfunden hielt.«

 

Er führte sie in einen schmalen Raum, der sich von der Vorder- bis zur Rückwand des Hauses ausdehnte. Dunkles Gebälk trug die Decke. »Die Holztäfelung, die im Laufe der Zeit spiegelblank geworden war, schaute mindestens auf ein Alter von fünfhundert Jahren zurück. Hier hängen keine gekreuzten Schwerter über dem Kamin, dachte Mike Brixan und mußte bei diesem Gedanken innerlich lächeln. Statt dessen sah er dort das Porträt eines schönen alten Herrn. Würde und Vornehmheit sprachen aus dem Gesicht und der anziehenden Erscheinung. Es lag etwas Grandioses in der Haltung dieses Mannes, das man am besten mit dem Wort »majestätisch« bezeichnen konnte.

 

Longvale machte keine Bemerkung über das Gemälde. Als der Tee in aller Eile beendet war, ging man hinaus. Mike Brixan setzte sich auf die Gartenmauer und beobachtete dort die letzte Szene, die bei Tageslicht aufgenommen wurde. Auch ihm fiel die schauspielerische Begabung Helens auf. Er wußte genug über Filmaufnahmen, um zu verstehen, welche Erleichterung es für den Direktor bedeutete, daß er eine so gute Schauspielerin hatte. Schnell und leicht führte sie alle die Bewegungen aus, die ihr der alte Mann suggerierte.

 

Sonst wäre es ihm vielleicht lächerlich vorgekommen, wenn Jack Knebworth die Rolle eines jungen Mädchens gespielt hätte. Aber jetzt sah er mit Interesse, wie er sein Kinn schüchtern in die Hand legte und mit zierlichen Schritten von einer Seite der Szene zu der anderen ging. Er wußte, daß der Amerikaner ein Künstler war, der in großen Umrissen die Gestalten herausarbeitete und die feinere künstlerische Durchbildung des Ausdrucks seinen Schauspielern überließ. Helen Leamington war nicht mehr sie selbst, sondern nur noch Roselle; die Erbin einer Besitzung, die ihr eine böse Kusine streitig machen wollte. Die Geschichte selbst erkannte er wieder. Sie baute sich aus bekannten Motiven auf.

 

»Das ist ja alles irgendwoher zusammengeschrieben«, sagte Jack Knebworth mit philosophischer Ruhe. »Es ist nur schade, daß ich mich vorher nicht genügend darum gekümmert habe. Die ganze Sache hat Foß zusammengestellt. Wenn ich mir noch soviel Mühe gäbe, könnte ich keine originelle Idee von ihm darin entdecken.«

 

Mr. Foß war, wenn auch spät, wieder auf der Bildfläche erschienen. Brixan fragte sich, was er wohl so vertraulich mit Sir Gregory besprochen haben mochte.

 

Er ging zum Wohnzimmer zurück und konnte dort vom Fenster aus beobachten, wie das Tageslicht immer mehr abnahm. Er mußte über die eigenartige Wirkung nachdenken, die Helen auf ihn ausübte.

 

Mike Brixan hatte im Lauf der Jahre viele schöne Frauen aus vielen Ländern und allen Gesellschaftskreisen kennengelernt. Er hatte gute und schlechte getroffen. Einige hatte er hinter Schloß und Riegel gebracht, und er hatte erlebt, daß eine von ihnen als Spionin an einem grauen Wintermorgen von französischen Soldaten in Vincennes erschossen wurde. Er hatte manche gern gehabt, eine beinahe geliebt, aber jetzt stellte er mit objektiver Selbstkritik fest, daß er ernstlich in Gefahr schwebte, sich in ein Mädchen zu verlieben, das er heute morgen zum erstenmal gesehen hatte.

 

»Das ist doch wirklich sonderbar!« sagte er laut.

 

»Was ist denn so sonderbar?« fragte Knebworth, der unbemerkt in das Zimmer gekommen war.

 

»Ich habe mir auch schon den Kopf darüber zerbrochen, worüber Sie sich so ernste Gedanken machen«, sagte Mr. Longvale lächelnd, der den jungen Mann die ganze Zeit über schweigend beobachtet hatte.

 

»Ich – hm – ich dachte über das Bild nach.« Mike Brixan drehte sich um und zeigte auf das Gemälde über dem Kamin. In mancher Beziehung sagte er auch die Wahrheit. »Mir kommt das Gesicht so bekannt vor«, sagte er. »Aber das ist ja nicht möglich, denn es ist doch offenbar ein altes Gemälde.«

 

Mr. Longvale steckte zwei Kerzen an und beleuchtete damit das Porträt. Mike schaute das Bild wieder an, und aufs neue machte die majestätische Haltung des Mannes tiefen Eindruck auf ihn.

 

»Es ist mein Urgroßonkel Charles Henry«, sagte Mr. Longvale stolz, »oder der ›große Herr‹, wie man ihn in unserer Familie mit Bewunderung nennt.«

 

Brixan hatte sich während der Erklärung des alten Herrn halb dem Fenster zugewandt … Plötzlich schien sich der Raum vor seinen Augen zu drehen. Jack Knebworth sah, wie er bleich wurde, und ergriff ihn am Arm.

 

»Was ist los?« fragte er.

 

»Nichts«, antwortete Mike unsicher.

 

Knebworth folgte seinem Blick und sah aus dem Fenster.

 

»Was war denn das?« rief er aus.

 

Mit Ausnahme des schwachen Lichtes, das die beiden Kerzen verbreiteten, und des Zwielichtes, das durch das Fenster vom Garten herkam, lag der Raum im Dunkeln.

 

»Haben Sie das gesehen?« fragte Knebworth, eilte zum Fenster und schaute hinaus.

 

»Was war es denn?« fragte Mr. Longvale, indem er zu ihnen trat.

 

»Ich könnte einen Eid darauf leisten, daß ich ein Gesicht im Fenster sah. Haben Sie es auch gesehen, Brixan?«

 

»Auch ich habe etwas bemerkt«, erwiderte Mike beunruhigt. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich einmal in den Garten gehe?«

 

»Ich glaube, es war der Kopf eines großen Affen«, sagte Knebworth.

 

Mike nickte. Er verließ den Raum und ging den langen, mit Fliesen bedeckten Gang zum Garten hin. Er nahm einen Browning aus seiner hinteren Tasche, entsicherte und steckte ihn dann in seinen Rock.

 

Er verschwand, und fünf Minuten später sah Knebworth vom Fenster aus, wie er den Gartenweg entlangging. Er lief zu ihm hinaus.

 

»Haben Sie irgend etwas gefunden?«

 

»Im Garten war nichts. Sie müssen sich geirrt haben.«

 

»Haben Sie es denn nicht auch gesehen?«

 

Mike zögerte.

 

»Ich glaube, etwas gesehen zu haben«, sagte er und gab sich den Anschein, als ob es ihm gleichgültig wäre. »Wann werden Sie die Nachtaufnahmen machen?«

 

»Sie haben bestimmt etwas gesehen, Brixan – war es ein Gesicht?«

 

Mike Brixan nickte.

 

Kapitel 40

 

40

 

Eine Guillotine!

 

In der Mitte der Höhle erhob sich das hohe Rahmenwerk, steif und starr. Es war blutrot angestrichen, und die Einfachheit seiner Konstruktion machte es nur um so schrecklicher.

 

Mikes Augen wurden magnetisch von dieser fürchterlichen Maschine angezogen. Er sah den Korb, in den die Köpfe fielen, das breite dreieckige Messer oben in der Höhe, die bewegliche Plattform mit den herunterhängenden Fesseln, den schwarz angestrichenen Halsring, der das Opfer so lange in der richtigen Stellung hielt, bis das Messer niedersauste. Er kannte die schreckliche Maschine in all ihren Einzelheiten, er hatte sie in der grauen Morgendämmerung vor französischen Gefängnissen in Tätigkeit gesehen. Soldaten hielten die schaulustige Menge zurück, und eine kleine Gruppe von Beamten stand in der Mitte des leeren Platzes. Noch lag der Klang des fallenden Beiles in seinem Ohr.

 

»Die Witwe!« sagte Longvale in guter Laune.

 

»Hilfe, um Himmels willen, Hilfe! Brixan, ich will noch nicht sterben!« Penne rief es in Verzweiflung und Todesangst.

 

»Die Witwe!« sagte Longvale noch einmal leise.

 

Er stand ohne Hut da, auf seinem kahlen Kopf spiegelte sich das Licht der hellen Lampen, aber es war nichts Lächerliches in seiner Erscheinung.

 

Zärtlich fuhr er mit der Hand über das rote Holz der Maschine. »Wer soll ihr erster Bräutigam sein?«

 

»Ich nicht, ich nicht!« schrie Penne.

 

Longvale ging langsam zu ihm hin, beugte sich zu ihm herunter und stellte ihn wieder auf die Füße.

 

»Nur Mut«, sagte er leise, »die Stunde ist da.«

 

 

Jack Knebworth ging die Fahrstraße entlang und sah, wie das Polizeiauto in rasender Hast nach Chichester zurückkam.

 

»Er ist nicht dort – er ist nicht auf der Polizeistation gewesen«, sagte der Fahrer, als er aus dem Wagen sprang.

 

»Möglicherweise ist er zu Mr. Longvales Haus gegangen.«

 

»Ich habe Mr. Longvale gesprochen, er hat mir gerade gesagt, daß Mr. Brixan nach Chichester gegangen ist.«

 

Knebworth konnte sich das alles nicht zusammenreimen. Plötzlich blitzte ein Gedanke in ihm auf. Longvale! Es war schon immer etwas Besonderes mit ihm. War es möglich …? Er erinnerte sich jetzt, daß Longvale häufig den Wunsch geäußert hatte, in seiner Lieblingsrolle gefilmt zu werden, und zwar in einer Episode aus dem Leben seines großen Vorfahren. Er hatte ihm ja auch ein Manuskript darüber eingereicht.

 

»Wir müssen sofort zu ihm hin und ihn heraustrommeln.«

 

In schnellster Fahrt kamen sie vor dem Haus an. Aber niemand meldete sich auf ihr starkes Klopfen.

 

»Das ist sein Schlafzimmer«, sagte Knebworth und zeigte auf ein Fenster, das mit Eisengittern gesichert war. Man sah, daß innen Licht brannte. Inspektor Lyle warf einen Kieselstein mit solcher Heftigkeit, daß das Glas der Fensterscheibe splitterte. Trotzdem meldete sich niemand.

 

»Das ist doch unerhört!« sagte Knebworth.

 

»Versuchen Sie das Fenster zu öffnen!« befahl Lyle.

 

»Soll ich es aufstoßen?«

 

»Ja, sofort!«

 

Einen Augenblick später suchte man das Fenster mit aller Gewalt aufzubrechen, aber man stieß auf unerwarteten Widerstand, der nicht zu überwinden war.

 

»Die Fensterscheiben sind mit Stahlschienen armiert«, sagte der Detektiv. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich versuche, eins der Fenster im Obergeschoß zu öffnen.«

 

Mit Hilfe eines anderen kam er nach oben und machte einen Fensterflügel auf. Es war gerade das Fenster, durch das Helen damals Bhag gesehen hatte. Gleich darauf war er im Zimmer und half einem zweiten Beamten heraufzuklettern. Nach ein paar Minuten waren die Riegel der Tür zurückgeschoben und das Schloß geöffnet.

 

Sie fanden die kleine Petroleumlampe und entzündeten sie.

 

»Was ist das?« Inspektor Lyle zeigte auf den Haken und den Flaschenzug, der noch oben an dem Balken hing.

 

Jack Knebworth stieß einen Schrei aus. »Hier ist Brixans Pistole«, sagte er und hob die Waffe vom Boden auf.

 

»Öffnet alle Schubladen, jeden Schrank, klopft die Wände ab – vielleicht sind geheime Türen da. Dergleichen findet man in allen alten Häusern aus der Tudorzeit.«

 

Die Nachforschungen blieben ohne Erfolg. Inspektor Lyle kam wieder in das Zimmer zurück. Ein Polizist kam herein und meldete, daß er die Garage gefunden hätte. Es war ein ungewöhnlich langes Gebäude, und als man es öffnete, stand nur das alte Auto darin, das weit und breit in der ganzen Gegend bekannt war. Aber offensichtlich war dies nur die Hälfte des Schuppens. Hinter der weißgetünchten Wand, wo das Auto stand, mußte noch ein anderer Raum liegen. Man konnte aber keine Tür sehen. Als man das Äußere des Schuppens besichtigte, fand man eine massive Ziegelwand bis zum Ende der Garage.

 

Knebworth klopfte an die innere Wand.

 

»Das ist ja Holz«, rief er.

 

In einer Ecke hing eine Kette, die scheinbar keinen besonderen Zweck hatte. Aber als man genauer untersuchte, entdeckte man, daß sie durch ein Loch der rohverputzten Decke hindurchging. Der Inspektor zog daran, und die Wand öffnete sich nach hinten. Dort stand noch ein zweiter Wagen. Er war so aufgestellt, daß man nur den Kühler sehen konnte. Knebworth riß die Decke herunter.

 

»Das ist ja das Auto!«

 

»Was für ein Auto?« fragte der Inspektor.

 

»Das ist der Wagen, in dem der Kopfjäger immer fuhr«, sagte Knebworth schnell. »Er saß auch darin, als Brixan ihn verhaften wollte. Den würde er immer wieder erkennen. Brixan befindet sich irgendwo hier in Dower House, und wenn er in die Hände des Kopfjägers gefallen ist, dann gnade ihm Gott!«

 

Wieder eilten sie in das Haus und versuchten sich den Flaschenzug zu erklären. Plötzlich bückte sich der Inspektor und zog den Teppich zurück. Die Falltür wurde sichtbar. Einer der Polizisten riß sie auf. Lyle kniete nieder und schaute durch. Knebworth sah sein verstörtes Aussehen.

 

»Zu spät, zu spät!« murmelte er.

 

Kapitel 41

 

41

 

Der Wahnsinnsschrei eines Mannes in Todesfurcht klingt furchtbar. Mikes Nerven waren zäh, aber er mußte seine letzte Kraft zusammennehmen, um seine Selbstbeherrschung diesmal zu bewahren. Seine gefesselten Hände krampften sich zusammen.

 

»Ich warne Sie«, sagte er.

 

Der alte Mann drehte sich lächelnd nach seinem zweiten Gefangenen um, aber er antwortete nicht. Er hob den halb bewußtlosen Gregory so leicht auf, als ob er ein Kind wäre, und trug ihn zu der schrecklichen Maschine, wo er ihn mit dem Gesicht nach unten auf die bewegliche Plattform legte. Er beeilte sich keineswegs, Mike sah, daß er sich Zeit ließ. Diese Beschäftigung schien ihm ein unbeschreibliches Vergnügen zu verursachen. Dann trat er vor die Maschine und öffnete die Lunette. Man hörte, wie ein Haken einschnappte. Sie blieb geöffnet stehen.

 

»Das ist meine Erfindung«, sagte er.

 

Mike schaute einen Augenblick an dem schrecklichen Henker vorbei nach dem hinteren Ende der Höhle. Er sah dort eine Erscheinung, die ihm das Blut in die Wangen trieb. Zuerst glaubte er, daß er träume und die unglaubliche Nervenanspannung Halluzinationen bei ihm auslöse.

 

Helen!

 

Sie stand dort in dem grellen Licht und war so mit Erde bedeckt, daß es schien, als trüge sie ein graues Kleid.

 

»Wenn Sie sich bewegen, schieße ich!« rief das Mädchen.

 

Mike hob sich auf seine Knie, und es gelang ihm, sich schwankend aufzurichten. Longvale hörte die Stimme.

 

»Mein verehrtes Fräulein«, sagte er äußerst liebenswürdig, »welch ein Wink des Schicksals!

 

Langsam ging er auf sie zu, ohne auf die ausgestreckte Pistole zu achten.

 

»Schießen Sie!« rief Mike mit heiserer Stimme. »Um Himmels willen, schießen Sie!«

 

Sie zögerte eine Sekunde, dann drückte sie ab. Aber der Schuß ging nicht los. Mit Erde verklebt, funktionierte der feine Mechanismus nicht mehr.

 

Sie wandte sich zur Flucht, aber Longvales Arm umschlang sie schon, und mit der Hand zog er ihren Kopf an seine Brust.

 

»Meine Schöne«, sagte er, »nun wird die Witwe zum Witwer, und Sie werden seine erste Braut!«

 

Sie war völlig gelähmt und konnte keinen Widerstand mehr leisten. Eine ihr ganz unbekannte Schlaffheit überkam sie; obgleich sie bei vollem Bewußtsein war, konnte sie sich nicht nach eigenem Willen bewegen oder sprechen. Mike versuchte wie wahnsinnig, seine Hände zu befreien. Er wünschte, daß sie ohnmächtig werden würde, damit ihr der Anblick des Schrecklichen, das jetzt geschehen würde, erspart bliebe.

 

»Wer kommt nun zuerst dran?« murmelte der alte Mann. Er fuhr mit der Hand über den kahlen Kopf. »Es wäre das beste, wenn Mylady den Anfang machte und voranginge, damit ihr die Todesschrecken erspart blieben – und trotzdem…«

 

»Nein, Sie sollen die erste sein«, sagte er zu Helen, schnallte den halb bewußtlosen Gregory los und legte ihn auf den Boden.

 

Mike sah, wie Longvale den Kopf hob und horchte. Es kamen dumpfe Töne von oben, als ob Leute im Haus wären. Wieder änderte er seine Absicht, beugte sich nieder und stellte Gregory Penne auf die Füße. Mike überlegte sich, warum er ihn so lange hielt, so starr aufgerichtet dastand und ihn dann plötzlich zu Boden warf. Aber dann wunderte er sich nicht länger. Eine Gestalt kam über den Boden der Höhle, ein großer haariger Körper erschien, dessen wütende Augen auf den alten Mann gerichtet waren.

 

Es war Bhag! Sein zottiges Fell war mit Blut verklebt, sein Gesicht staubbedeckt. Genauso hatte ihn Mike damals aus dem Turm kommen sehen. Er hielt inne, beschnüffelte den stöhnenden Mann auf dem Boden und streichelte ihn mit seiner dicken Tatze zärtlich. Plötzlich sprang er ohne irgendeine Vorbereitung auf Longvale zu und streckte den alten Mann mit einem Schlag zu Boden. Er versuchte vergeblich, sich gegen das Tier zu wehren. Einen Augenblick stand Bhag über ihm, sah auf ihn hinab und bewegte seinen Mund, als ob er zu ihm sprechen wollte. Dann packte er ihn und legte ihn auf das bewegliche Brett. Er neigte die Plattform und schob sie nach vorn.

 

Mike starrte entsetzt hin. Der riesige Affe hatte eine Hinrichtung gesehen! Er war ja in der Nacht aus der Höhle entkommen, in der Foß ermordet wurde. Sein halbmenschliches Gedächtnis hatte die Einzelheiten genau behalten. Mike konnte beobachten, wie Bhags Verstand arbeitete, um sich den Vorgang wieder zu vergegenwärtigen.

 

Bhag tastete an dem Holzgestell herum und berührte die Feder, die die Lunette festhielt. Mit einem Schlag fiel sie auf den Hals des Kopfjägers. In diesem Augenblick hörte Mike oben ein Geräusch. Er blickte hinauf und sah, wie die Falltür geöffnet wurde. Bhag hörte es auch, aber er war von seiner Beschäftigung so in Anspruch genommen, daß er sich nicht stören ließ. Longvale war wieder zum Bewußtsein gekommen und versuchte mit äußerster Anstrengung, seinen Kopf aus der Lunette zu befreien. Er begann verworren zu sprechen, aber plötzlich schien er das Tragische seines Schicksals zu begreifen. Er wehrte sich nicht mehr und lag ruhig da. Man sah, wie sich seine beiden Hände krampfhaft um den Rand der Plattform klammerten, auf der er lag.

 

Inspektor Lyle sah von oben, wie die Klinge blitzartig hinunterzuckte und hörte ein unbeschreibliches Knacken. Das war selbst für seine starken Nerven fast zuviel.

 

Von unten kam eine Stimme herauf: »Kommen Sie schnell herunter, Inspektor! Im Büfett finden Sie ein Tau, lassen Sie sich daran herunter, aber bringen Sie eine Pistole mit.«

 

Eine Minute später war der Detektiv unten.

 

»Von dem Affen droht keine Gefahr«, sagte Mike zu ihm.

 

Bhag hatte sich über seinen bewußtlosen Herrn gebeugt wie eine Mutter über ihr Kind.

 

»Bringen Sie zuerst Miss Leamington fort«, sagte Mike mit leiser Stimme, als der Detektiv ihm die Handfesseln löste. Das Mädchen lag stumm und bewußtlos neben der Guillotine. Glücklicherweise hatte sie nichts von der Tragödie gesehen, die sich soeben in ihrer Gegenwart abgespielt hatte. Ein zweiter Detektiv war an dem Tau heruntergerutscht. Der alte Jack Knebworth war der dritte, der in die Höhle hinabkletterte.

 

Mike ging zu dem Baron, nahm ihm die Handfesseln ab und legte ihn auf den Rücken. Ein Blick auf ihn sagte ihm genug. Sir Gregory war in einem verzweifelten, wenn auch nicht hoffnungslosen Zustand. Bhag merkte, daß Mike es nicht schlecht mit seinem Herrn meinte, und verhielt sich ruhig. Brixan erinnerte sich daran, wie er den großen Affen zum erstenmal kennengelernt hatte und wie er alle Befehle Gregorys ausführte.

 

»Hebe ihn auf«, sagte er zu Bhag und sprach in genau derselben Art wie damals Gregory.

 

Ohne Zögern beugte sich Bhag herab und nahm den bewußtlosen Mann vom Boden auf. Mike zeigte ihm den Weg zur Treppe und führte ihn die Stufen hinauf.

 

Das ganze Haus wimmelte von Polizisten, die erstaunt waren, als Bhag mit seiner Last erschien.

 

»Trage ihn die Treppe hinauf und lege ihn aufs Bett!« befahl Mike.

 

Knebworth hatte Helen schon in seinem Wagen nach Chichester gebracht. Er wollte nicht, daß sie in dem Haus des Schreckens wieder zum Bewußtsein kommen sollte.

 

Mike ging zusammen mit Inspektor Lyle noch einmal zur Höhle hinunter und durchsuchte sie kurz. Die menschlichen Körper ohne Kopf erinnerten an furchtbare Tragödien. Sie kamen auch in die große Höhle, deren Boden mit Knochen bedeckt war.

 

»Hier haben wir die Bestätigung der alten Legende«, sagte er mit heiserer Stimme. »Das sind die Knochen der Ritter und Krieger, die durch den Erdrutsch in der Höhle eingeschlossen wurden. Dort können Sie deutlich die Skelette der Pferde sehen.«

 

Wie aber kam Helen hierher? Etwas später fand er jedoch ihre Spuren, die ihm zeigten, daß sie in die Höhle hineingeglitten war.

 

»Dieses Rätsel wäre also auch gelöst«, sagte er. »Griff Tower ist von den Römern offensichtlich gebaut worden, um Menschen und Tiere davor zu bewahren, in die Höhle zu fallen. Zufällig war es auch ein guter Entlüftungsschacht. Ich zweifle keinen Augenblick, daß der Kopfjäger die Höhle nicht nur als Bergungsplatz für seine Opfer verwenden wollte, die er ermordete, sondern sie auch als Ausweg benutzen wollte, wenn er einmal fliehen mußte!«

 

Als er dann später die Laterne, die Kerze und die Streichhölzer fand, die Helen hatte fallen lassen, wußte er, daß er mit seiner Ansicht recht hatte.

 

Sie kamen zur Guillotine zurück, auf der noch der Rumpf des Kopfjägers lag. Mike stand lange Zeit schweigend davor und schaute auf die reglose Gestalt auf der Plattform.

 

»Wie konnte er nur die Leute überreden, zu ihrer eigenen Hinrichtung zu kommen?« fragte der Inspektor.

 

»Diese Frage muß ein Psychologe beantworten«, erwiderte Mike. »Zweifellos kam er mit vielen in Berührung, die sich mit dem Gedanken des Selbstmordes trugen, vor der Tat aber zurückschreckten. Er handelte für sie. Daß er nachher die Köpfe fortgesandt hatte, entsprang wohl dem Wunsch, den Frauen und Familien seiner Opfer die Versicherungssummen zukommen zu lassen.

 

Er arbeitete mit außerordentlicher Schlauheit. Die Antworten auf seine Annoncen bestellte er, wie Sie wissen, zu einem Zeitungshändler, wo sie von der alten Frau abgeholt wurden, die sie an eine zweite Adresse sandte. Dort wurden sie in besonders präparierte Kuverts gesteckt und scheinbar nach London adressiert. Ich habe herausgebracht, daß diese Kuverts in einem besonders lichtundurchlässigen Kasten aufbewahrt waren. Der unbekannte Auftraggeber hatte angeordnet, daß sie nicht eher herausgenommen werden durften, als bis man sie zur Post brachte. Eine Stunde, nachdem sie aufgegeben waren, wurde die Adresse unsichtbar, und eine neue erschien an ihrer Stelle auf dem Briefumschlag.«

 

»Benützte er dazu die sogenannte Zaubertinte?« Mike nickte.

 

»Das ist ja ein Trick, der häufig von Verbrechern angewandt wird. Die letzte Adresse war natürlich Dower House. – Wir wollen die Lampen ausmachen und nach oben gehen.«

 

Drei Lampen verlöschten. Lyle sah sich noch einmal um. Ihre beiden Gestalten warfen lange, gespenstische Schatten.

 

»Wir wollen das unten lassen«, sagte er.

 

Mike stimmte ihm bei.

 

Kapitel 4

 

4

 

In dem Atelier der Knebworth-Filmgesellschaft waren verschiedene Damen und Herren in Straßenkleidung versammelt. Sie warteten schon fast eine Stunde.

 

Jack Knebworth saß in seiner gewöhnlichen Stellung zusammengekauert in einem Segeltuchstuhl. Er strich nervös über sein glattrasiertes Kinn und schaute von Zeit zu Zeit auf die große Uhr, die über der Tür zum Direktionszimmer hing.

 

Es hatte gerade elf Uhr geschlagen, als Stella Mendoza hereinschwebte, umgeben von einer Wolke von süßem Veilchenduft. Im Arm trug sie ihren kleinen Pekinghund.

 

»Arbeiten Sie nach der Sommerzeit?« fragte Knebworth langsam, »oder dachten Sie vielleicht, daß die Aufnahmen für heute nachmittag angesetzt wären? Fünfzig Leute haben Ihretwegen warten müssen, Stella!«

 

»Da kann ich nichts ändern«, sagte sie und zuckte verächtlich die Schultern. »Sie haben mir doch gesagt, daß die Aufnahmen auswärts stattfinden, und ich glaubte natürlich nicht, daß Sie so fürchterliche Eile haben würden. Ich mußte doch erst meine Sachen packen.«

 

»Selbstverständlich haben Sie viel Zeit, aber wir nicht!«

 

Jack Knebworth rechnete damit, daß er durchschnittlich dreimal im Jahr einen großen Krach bekam. Das war nun der dritte. Den ersten hatte er mit Stella, den zweiten hatte er mit Stella, und den dritten hatte er natürlich wieder mit Stella.

 

»Ich habe Sie doch für zehn Uhr hierher bestellt, alle diese Damen und Herren warten nun seit Viertel vor zehn.«

 

»Was wollen Sie denn nun eigentlich aufnehmen?« fragte sie und warf den Kopf ungeduldig zurück.

 

»Natürlich Sie!« sagte Jack grimmig. »Gehen Sie schnell in Ihre Garderobe und vergessen Sie nicht, die Perlohrringe abzunehmen. Sie haben eine arme, halbverhungerte Choristin zu spielen. Wir wollen heute in Griff Towers drehen, und ich sagte dem Besitzer, daß ich um drei Uhr nachmittags fertig sein würde. Wenn Sie Greta Garbo oder Marlene Dietrich wären, wollte ich nichts sagen, wenn man einmal eine Stunde auf Sie warten müßte. Aber zehn Stella Mendozas machen noch nicht einen einzigen solchen Star aus. Vergessen Sie das nicht!«

 

Jack Knebworth erhob sich von seinem Stuhl und zog langsam seinen Mantel an. Das war von verhängnisvoller Vorbedeutung. Stella wurde rot vor Ärger. Ihre dunklen Augen schossen Blitze. Sie war aufs tiefste beleidigt und in ihrer Eitelkeit gekränkt.

 

Früher hieß Stella nur Maggie Stubbs und war die Tochter eines Kolonialwarenhändlers in der Provinz, und Jack nahm sich jetzt heraus, mit ihr zu sprechen, als ob sie noch Maggie Stubbs wäre. Er schien ganz vergessen zu haben, daß sie eine große Künstlerin war, einer der leuchtenden Sterne am Filmhimmel, eine Göttin, deren süßes Lächeln die Zuschauer in den Kinos der ganzen Welt bezauberte. Oder sollte etwa ihr Presseagent gelogen haben?

 

»Schon gut, wenn Sie einen Krach haben wollen, können Sie ihn haben, Knebworth. Ich verlasse Ihre Filmgesellschaft, und zwar sofort. Ich weiß, was ich mir schuldig bin. Übrigens hätte das Manuskript sowieso geändert werden müssen, um mir die Möglichkeit zu geben, meine Persönlichkeit richtig entfalten zu können. Die männlichen Rollen überwiegen viel zu sehr in dem Stück. Die Leute, die ins Kino gehen, zahlen ihr Geld nicht, um sich Männer anzusehen. Die Behandlung, die Sie mir zukommen lassen, ist meiner nicht würdig, Knebworth – ich will ja zugeben, daß ich manchmal etwas hitzig bin, aber Sie können von einer Künstlerin meiner Art nicht erwarten, daß sie ein Stück Holz ist!«

 

»Ich kann nur feststellen, daß Sie sich wieder einmal aufführen, als ob Sie einen Kopf wie ein Stück Holz hätten!« brummte der Direktor. Als er den wütenden Ausdruck in ihrem Gesicht sah, fuhr er fort: »Früher haben Sie mal zwei Jahre lang kleine Rollen in Hollywood gespielt, und als Sie dann nach England kamen, hatten Sie gelernt, sich in Szene zu setzen. Temperament haben Sie – das heißt, darunter verstehe ich, daß Sie zum Doktor laufen und sich Atteste ausstellen lassen, wenn ein Film halb gedreht ist, und dann so lange nicht erscheinen, bis ihr Gehalt um fünfzig Prozent erhöht ist! Gott sei Dank ist dieser Film noch nicht einmal zum achten Teil gedreht. Geben Sie nur ruhig Ihre Stellung auf, Sie niederträchtige Gans! Machen Sie, daß Sie fortkommen!«

 

Stella kochte vor Wut. Ihre Lippen zitterten. Sie konnte nicht sprechen, drehte Jack den Rücken und sauste aus dem Atelier. Es war ganz ruhig geworden, keiner sagte ein Wort. Jack Knebworth ließ seine Blicke über die Leute schweifen.

 

»Jetzt ereignet sich das große Wunder«, sagte er ironisch. »Jetzt kommt der Moment, wo eine Statistin, die mit einer kranken Mutter in ärmlichsten Verhältnissen lebt, über Nacht zur Berühmtheit wird. In Hollywood passieren noch ganz andere Dinge. Wir werden jetzt eine zweite Mary Pickford entdecken!«

 

Die Statistinnen lächelten. Einige hofften, andere waren neidisch, aber keine sprach. Helen war zu Eis erstarrt, ihre Stimme versagte.

 

»Bescheidenheit gehört nicht zu unserem Fach«, sagte Jack liebenswürdig. »Wer hält sich für fähig, die Rolle der Roselle in diesem Film zu übernehmen? Ich will eine Statistin diese Rolle spielen lassen. Ich will dieser verrückten Stella einmal zeigen, daß wir selbst unter unserem Personal genügend junge Damen haben, die sie ersetzen können. Mir hat doch noch gestern jemand gesagt, daß er gern eine Rolle haben möchte – das waren Sie –«

 

Er zeigte auf Helen. Ihr Herz schlug mit rasender Heftigkeit, als sie zu ihm hinging.

 

»Vor sechs Monaten habe ich eine Probeaufnahme von Ihnen machen lassen«, sagte der Direktor nachdenklich. »Da war irgend etwas auszusetzen – was war es doch gleich?«

 

Dabei wandte er sich an den Operateur. Der junge Mann nickte, als ob er sich darauf besinnen könnte.

 

»Waren es nicht die Fußgelenke?« fragte er auf gut Glück. Er wußte, daß Knebworth sehr auf schlanke Fesseln hielt.

 

Jack schaute schnell auf Helens Füße. »Nein, das kann es nicht sein – suchen Sie schnell den Filmstreifen heraus, wir wollen ihn gleich ansehen.«

 

Zehn Minuten später saß Helen an der Seite des alten Mannes in dem kleinen Projektionsraum und sah, wie ihre Probeaufnahme vorgeführt wurde.

 

»Das Haar war es«, sagte Knebworth triumphierend. »Ich wußte doch, daß etwas auszusetzen war. Kurzes Haar bei Damen kann ich nicht recht leiden, da sehen die Mädchen zu schnippisch und zu naseweis aus. Haben Sie jetzt eine andere Frisur?« fragte er und ließ das Licht andrehen.

 

»Ja, Mr. Knebworth.«

 

Er betrachtete sie mit fachmännischer Bewunderung.

 

»Sie werden die Rolle spielen«, sagte er zögernd. »Gehen Sie in den Ankleideraum und nehmen Sie die Kleider von Miss Mendoza. Aber ich muß Ihnen vorher noch etwas sagen«, bemerkte er und hielt sie einen Augenblick zurück. »Mag nun der Versuch mit Ihnen gut oder schlecht ausfallen, bei meiner Gesellschaft haben Sie keine große Zukunft. Machen Sie sich keine Hoffnungen. In England liegen die Dinge nun einmal so, daß eine Filmschauspielerin nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie einen Filmdirektor heiratet. Und ich möchte gleich von vornherein sagen, daß ich nicht die Absicht habe, Sie zu heiraten, selbst wenn Sie mich auf den Knien darum bitten sollten. Das ist die einzige Möglichkeit, in England als Filmstar berühmt zu werden – und wenn Sie das nicht fertigbringen, dann ist Ihr Erfolg gleich …«

 

Dabei schnippte er mit den Fingern.

 

»Ich möchte Ihnen einen Rat geben, Kind. Wenn Sie in diesem Film Talent beweisen, dann gehen Sie zu einem der großen Filmdirektoren in England und lassen sich von ihm engagieren. Wissen Sie, zu einem, der drei Klubsessel und einen Blumentopf mit einer Palme zusammenstellt und dieses Szenarium einen Salon nennt. Geben Sie dem Fräulein – wie ist doch gleich wieder Ihr Name – das Manuskript, Harry! So, nun gehen Sie an irgendeinen ruhigen Ort und studieren Sie Ihre Rolle. Harry, sehen Sie nach dem Ankleideraum! Und Sie haben eine halbe Stunde Zeit, das Manuskript zu lesen.«

 

Wie im Traum ging Helen in den schattigen Garten, der sich an der Längsseite des Ateliers hinzog. Sie setzte sich auf eine Bank und versuchte, ihre Gedanken auf die maschinengeschriebenen Seiten zu konzentrieren. War es denn Wirklichkeit, was sie erlebte? – Da hörte sie Schritte auf dem Kiesweg, und schaute erschreckt auf. Der junge Mann, der sie heute morgen besucht hatte, kam auf sie zu. Es war Mike Brixan.

 

»Ach bitte, unterbrechen Sie mich jetzt nicht!« bat sie aufgeregt. »Gerade habe ich eine Rolle bekommen – ich muß noch viel lesen.«

 

Er sah, daß seine Gegenwart sie außer Fassung brachte, und wandte sich zum Gehen.

 

»Es tut mir sehr leid –« begann er.

 

In ihrer Bestürzung hatte sie die losen Blätter des Manuskriptes auf die Erde fallen lassen, und als er sich gleichzeitig mit ihr bückte, um sie aufzuheben, stießen ihre Köpfe zusammen.

 

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung – so etwas kommt in vielen Lustspielen vor«, sagte er.

 

In dem Augenblick sah er auf das Blatt Papier, das er in der Hand hatte, und begann unwillkürlich zu lesen. Da stand eine eingehende Beschreibung des Schauplatzes einer Szene.

 

›Eine große geräumige Gefängniszelle, nur durch eine düstere Hängelampe erleuchtet. In der Mitte des Hintergrundes führt eine durch ein großes, eisernes Gitter geschlossene Tür ins Freie. Man sieht eine Schildwache auf und ab gehen.‹

 

»Großer Gott!« stöhnte Mike und wurde blaß bis in die Lippen.

 

Die »u« der Maschinenschrift waren verwischt und die »g« kamen nur schwach. Eine unheimliche Entdeckung! Es wurde ihm zur Gewißheit, daß dieses Blatt auf derselben Maschine geschrieben war, die der Kopfjäger benutzte, um seine schrecklichen Todesnachrichten in die Welt zu senden.