Kapitel 11

 

11

 

Es war vier Uhr, als Goodman die kleine Station erreichte, die einen Kilometer von Monkshall entfernt lag. Er machte sich zu Fuß auf den Weg ins Dorf.

 

Er war eine gute Viertelstunde unterwegs, als er das Geräusch eines Autos hinter sich hörte. Er machte sich nicht die Mühe, sich umzuschauen, und war darum überrascht, als der Wagen langsamer fuhr und jemand ihn anrief. Es war Ferdie Fane, der am Steuer saß.

 

»Steigen Sie ein, junger Mann«, sagte er vergnügt. »Warum wollen Sie Ihre Sohlen ablaufen, wenn Sie die Reifen eines Bekannten abnützen können?«

 

Fane hatte ein rotes, erhitztes Gesicht, und seine Augen glänzten hinter der großen Hornbrille.

 

Mr. Goodman fürchtete, daß Fane zuviel getrunken hatte.

 

»Nein, danke vielmals, ich will lieber zu Fuß gehen.«

 

»Ach, reden Sie doch nicht solchen Unsinn. Steigen Sie ein!« erwiderte Ferdie bestimmt. »Ich kann viel besser fahren, wenn ich einen hinter die Binde gekippt habe, als wenn ich mit nüchternem Magen durch die Gegend gondele. Aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich nichts getrunken habe.«

 

Zögernd und vorsichtig stieg Goodman in den Wagen und nahm neben Fane Platz.

 

»Ich werde langsam fahren, Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben.«

 

»Glauben Sie, daß ich Angst habe?« fragte Goodman etwas heiser. »Das weiß ich bestimmt«, entgegnete Fane belustigt. »Wo sind. Sie denn eigentlich an diesem Tag gewesen?««

 

»Ich bin nach London gefahren.«

 

»Oh, das ist eine interessante Stadt, aber es wohnt sich nicht sehr nett dort.«

 

Fane hielt sein Wort und fuhr mit äußerster Vorsicht, wie Mr. Goodman beruhigt feststellen konnte. Er war neugierig, wie Ferdie zu dem Wagen gekommen war, und fragte ihn danach.

 

»Ich habe das Auto gegen schweres Geld von einem Räuber und Straßendieb aus dem Dorf geliehen. Können Sie auch fahren?«

 

Mr. Goodman schüttelte den Kopf.

 

»Es ist ein sehr glatter, guter Weg für einen Personenwagen, aber es ist unendlich schwer, hier mit einem Lastwagen entlangzufahren, besonders wenn man schwer geladen hat. Kennen Sie Lark Hill?«

 

Mr. Goodman nickte.

 

»Ein Lastwagen ist dort oben steckengeblieben, und ich glaube, er wird auch vorläufig nicht von der Stelle kommen, obwohl im Augenblick die Straße trocken ist. Wie schwierig muß es erst sein, mit einer schweren Last in einer regnerischen Nacht dort entlangzufahren! An dem steilen Hügel ist schon mehr als ein Chauffeur gescheitert.«

 

Er sprach über gleichgültige Dinge, bis sie zum Fuß des steilen Hügels kamen, wo der schwere Lastwagen noch verlassen an der Straßenseite stand.

 

»Sehen Sie, dort steht der Kasten«, sagte er mit Genugtuung. »Es wird eine ganze Menge Mühe und Arbeit kosten, um ihn wieder flott zu bekommen. Nur ein außerordentlich tüchtiger Chauffeur bringt so etwas fertig.«

 

Goodman lächelte.

 

»Ich habe niemals gewußt, daß es auch unter den Chauffeuren besonders tüchtige Leute gibt. Aber schließlich scheint es in jedem Beruf, so einfach er auch sein mag, einen Napoleon zu geben.«

 

»Darauf können Sie sich verlassen«, entgegnete Ferdie.

 

Bald hatten sie Monkshall erreicht, und Fane gab einem der Angestellten, der den Wagen ins Dorf zurückbringen sollte, ein Trinkgeld. Dann verschwand er ins Haus.

 

Goodman schaute sich um. Trotz seines Alters war seine Sehkraft noch sehr gut. In der Nähe der Ruine bemerkte er eine schlanke Gestalt – es war Mary. Sie erkannte ihn und kam ihm entgegen. Ihr Vater befand sich in seinem Arbeitszimmer, und sie wollte gerade zum Tee gehen. Er fand, daß sie etwas angestrengt und bleich aussah.

 

»Hat sich heute nichts ereignet?« fragte er schnell.

 

»Nein, Mr. Goodman, aber ich habe Angst vor der kommenden Nacht.«

 

Er legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.

 

»Aber, liebes Kind, Sie sollten wirklich von hier fortgehen. Ich muß einmal mit dem Colonel darüber sprechen.«

 

»Ach, bitte, tun Sie das nicht«, entgegnete sie schnell. »Vater will nicht haben, daß ich gehe. Aber die letzten Tage haben mich etwas nervös gemacht.«

 

»Ist der junge Mann wieder aufdringlich geworden?«

 

»Nein. Sie meinen Mr. Fane? Der war sehr nett zu mir, ich habe ihn heute nur ein paar Minuten gesprochen. Er ist mit einem Auto fortgefahren und fragte mich –« sie brach plötzlich ab.

 

»Hat er Sie eingeladen, mitzufahren? Der junge Mann hat vielleicht Nerven!«

 

»Er war aber wirklich sehr nett«, sagte sie schnell. »Ich war nur nicht in der Stimmung, eine Spazierfahrt zu machen. Soviel ich weiß, ist er soeben zurückgekommen. Oder waren Sie es, der mit dem Auto vor Monkshall hielt?«

 

Er erzählte ihr, daß er unterwegs Ferdie Fane getroffen habe, und Mary lachte zum erstenmal an diesem Tage.

 

»Es ist merkwürdig. Manchmal ist er vernünftig, und dann kann ich ihn recht gut leiden. Cotton scheint ihn zu hassen, er sagte mir heute, daß er kündigen würde, wenn Mr. Fane das Haus nicht verließe.«

 

Goodman lächelte.

 

»Sie scheinen ja recht viel Mühe und Sorgen in Ihrem Haushalt zu haben. Hoffentlich ist Mr. Partridge nett und liebenswürdig?«

 

Sie lächelte ein wenig.

 

»Ja, er ist reizend. – Heute habe ich ihn noch nicht gesehen«, fügte sie dann hinzu.

 

»Sie können das jetzt nachholen«, erwiderte er und zeigte zum Rasen hinüber.

 

Dort stand Mr. Partridge in seinem schwarzen Rock, aber man konnte ihn kaum vor dem dunklen Hintergrund der Bäume erkennen. Langsam ging er auf und ab und las dabei ein Buch. Aber allem Anschein nach war seine Aufmerksamkeit nicht vollkommen bei seiner Lektüre, denn er schloß das Buch und ging auf die beiden zu.

 

»Das ist doch hier ein herrliches Fleckchen Erde, meine liebe Miss Redmayne, ein wundervoller Platz, ein Paradies auf Erden!«

 

Bei Tageslicht sah sein Gesicht nicht so sanft und freundlich aus, im Gegenteil, seine Züge waren hart und scharf, und seine dunklen Augen hatten einen stechenden Ausdruck. Seine Stimme klang allerdings nach wie vor liebenswürdig, nur etwas zu salbungsvoll. Irgendwie mißfiel er Mary vom ersten Augenblick an, und jetzt erschien er ihr noch abstoßender als zuvor.

 

»Ich sah Sie mit einem Wagen kommen, Mr. Fane saß am Steuer«, wandte sich Partridge vorwurfsvoll an Goodman. »Dieser Mr. Fane ist doch ein merkwürdiger junger Mahn. Leider scheint er sich dem Alkohol zu sehr ergeben zu haben!«

 

»Ich kann aber tatsächlich bezeugen«, unterbrach ihn Mr. Goodman, »daß Fane heute vollkommen nüchtern ist. Er hat mich mit außerordentlicher Geschicklichkeit nach Hause gefahren. Er ist nur leicht erregbar, und vielleicht tut man ihm manchmal unrecht wegen seines seltsamen Verhaltens.«

 

Der Pfarrer warf den Kopf zurück. Er konnte Fane nicht leiden und hielt nicht viel von dessen Charakter.

 

Man konnte aber an Fanes Benehmen nichts aussetzen, als er kurz darauf zum Tee in der Halle erschien. Er hätte allein gesessen, wenn Goodman ihn nicht in den kleinen Kreis eingeladen hätte, der aus Mrs. Elvery, Mary und den beiden Herren bestand. Er war sehr ruhig, und obwohl er mehrere Male Gelegenheit gehabt hätte, in die Unterhaltung einzugreifen, hielt er sich zurück und blieb liebenswürdig und bescheiden.

 

Mary beobachtete ihn heimlich. Sie interessierte sich bereits mehr für ihn, als sie sich eingestehen wollte. Es fiel ihr auf, daß er älter sein mußte, als sie anfangs geglaubt hatte. Auch ihr Vater hatte das bemerkt. Fanes Haare waren an den Schlafen schon leicht angegraut, und obwohl das Gesicht sonst glatt und ohne Falten war, zeugten doch die entschlossenen, etwas harten Züge davon, daß er die Dreißig überschritten haben mußte. Vielleicht war er auch schon älter als vierzig.

 

Er hatte eine tiefe, etwas brüske Stimme. Mary fand, daß er ziemlich nervös war, denn ein- oder zweimal, als sie ihn ansprach, schrak er heftig zusammen, und er mußte sich Mühe geben, den Tee nicht zu verschütten, als er die Tasse gerade in der Hand hielt.

 

Nachdem sich die Gesellschaft zerstreut hatte, sprach Mary ihn an.

 

»Sie scheinen heute ein wenig geistesabwesend zu sein, Mr. Fane.«

 

»So, ist Ihnen das aufgefallen?« Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. »Es ist merkwürdig, daß die Gegenwart von Pfarrern mich immer ganz niedergeschlagen macht. Vielleicht meldet sich mein Gewissen, das ist sehr unangenehm.«

 

»Was haben Sie denn den ganzen Tag gemacht?« fragte sie.

 

Das ging sie eigentlich nichts an, und sie erkundigte sich schließlich auch nur, um die Unterhaltung fortzuführen.

 

»Ich habe nach Gespenstern gejagt«, erwiderte er.

 

Als er aber bemerkte, wie bleich sie wurde, taten ihm seine Worte leid.

 

»Entschuldigen Sie vielmals, das hätte ich nicht so unvermittelt sagen sollen.«

 

Aber trotz alledem hatte er es ernst gemeint. Das wurde ihr ganz klar, als sie allein in ihrem Zimmer war und über Ferdie Fane nachdachte. Bestimmt hatte er den ganzen Tag damit zugebracht, die Geistererscheinung zu ergründen. Ob er selbst wohl der Mönch in der schwarzen Kutte war? Aber dann ließ sie den Gedanken sofort wieder fallen. Das konnte und wollte sie nicht glauben.

 

Kapitel 12

 

12

 

Die Dunkelheit brach herein, und mit ihr breitete sich eine Atmosphäre des Geheimnisvollen und Schrecklichen über Monkshall aus.

 

Plötzlich schrillte das Telefon in der einsamen Halle. Cotton tauchte aus einem dunklen Winkel auf und eilte ans Telefon. Als er den Hörer abhob, vernahm er Hallicks Stimme, was ihm nicht gerade angenehm war. Er konnte den Chefinspektor nicht leiden und fürchtete immer, daß der Polizeibeamter sich zu sehr für seine Vergangenheit interessieren könnte.

 

»Ich möchte mit Sergeant Dobie sprechen.«

 

»Jawohl, ich werde ihn rufen.«

 

Das war jedoch nicht nötig, denn als sich Cotton umdrehte, stand der Sergeant direkt hinter ihm.

 

»Werde ich verlangt?«

 

Cotton reichte ihm den Hörer.

 

»Jawohl.«

 

»Was gibt es?« fragte Dobie, drehte sich dann um und gab Cotton ein Zeichen, daß er verschwinden solle. »Machen Sie schnell, daß Sie fortkommen«, sagte er schließlich, als Cotton noch zögerte.

 

»Haben Sie etwas gefunden?« fragte Hallick.

 

»Nein, nichts Besonderes, nur noch eine zweite leere Patronenhülse – Sie selbst haben ja die andere gesehen, bevor Sie fuhren.«

 

Es trat eine kleine Pause ein, bevor Hallick wieder sprach.

 

»Ich habe das Gefühl, daß sich heute abend etwas ereignen könnte. Haben Sie meine Privattelefonnummer …? Gut, dann rufen Sie mich sofort an, wenn etwas Außergewöhnliches geschehen sollte. Scheuen Sie sich nicht, mich nach dort zu holen, selbst wenn sich die Sache später als harmlos herausstellen sollte. Ich kann spätestens eine Stunde nach dem Anruf bei Ihnen sein.«

 

Als Mr. Goodman langsam in die Halle trat, legte Dobie den Hörer wieder auf. Der alte Herr trug seinen schwarzen Hausrock und hatte die Pfeife im Mund. Als Dobie zur Tür ging, rief ihm Goodman nach.

 

»Sie bleiben doch die Nacht hier im Haus, Mr. Dobie? … Das ist wenigstens eine Beruhigung!«

 

»Sie scheinen ziemlich nervös zu sein«, meinte Dobie lächelnd.

 

»Ja, ich kann es ruhig zugeben, ich fühle mich ein wenig beunruhigt. Wenn mir vorher jemand gesagt hätte, daß ich nervös werden könnte, hätte ich ihn ausgelacht.« Er zog seine Zigarrentasche heraus und hielt sie dem Sergeanten hin. Dobie nahm dankend eine duftende Havanna.

 

»Sie haben noch keinen neuen Anhaltspunkt gefunden?« fragte Goodman und machte es sich auf dem Sofa bequem.

 

»Nein, nicht den geringsten.«

 

Goodman lachte.

 

»Und wenn Sie irgendeine Neuigkeit wüßten, würden Sie mir die doch nicht verraten. Ich kenne die Art der Beamten von Scotland Yard, und schließlich dürfen Sie ja auch nicht Ihr Herz auf der Zunge tragen, Haben Sie eigentlich entdeckt, wer gestern durch das Fenster in die Halle schoß? Ich frage nur deshalb, weil ich den ganzen Tag in der Stadt war. Zu meiner Enttäuschung hat sich während meiner Abwesenheit allem Anschein nach hier nichts ereignet?«

 

»Nein, den wilden Schützen haben wir nicht finden können.«

 

Keiner der beiden bemerkte, daß die Tür aufging und daß Mr. Partridge in die Halle schaute.

 

»Ich habe heute einen Besuch in Scotland Yard gemacht«, sagte Mr. Goodman. »Dort hatte ich eine Unterredung mit Mr. Hallick. Ich muß sagen, er ist wirklich sehr liebenswürdig.«

 

»Da haben Sie vollkommen recht«, stimmte Dobie ihm herzlich bei.

 

John Hallick war einer der wenigen höheren Beamten, die keine Feinde unter ihren Untergebenen haben. Der Dienst ging ihm über alles, und er erkannte jede Leistung an.

 

»Die ganze Lage hier ist ziemlich ungewöhnlich«, sagte Goodman nachdenklich. »Mir ist noch nie so etwas begegnet. Wissen Sie, ich habe mir mit der Zeit eine Theorie gebildet.«

 

»Sie machen wohl neuerdings Mrs. Elvery Konkurrenz?« meinte Dobie gemütlich.

 

Goodman tat ein wenig beleidigt, fuhr dann aber unbeirrt fort.

 

»Als wir gestern morgen Connor hier tot in der Halle auffanden, mußte ich sofort an ein früheres Verbrechen denken – an die Beraubung des Goldtransports während des Krieges. Drei Leute waren in die Affäre verwickelt – O’Shea war der Führer der Bande, Marks und Connor arbeiteten mit ihm zusammen. Ich habe Mrs. Elvery absichtlich nichts darüber gesagt, sonst hätte sie mich gar nicht mehr in Ruhe gelassen. Aber ich interessiere mich auch für Verbrechen, und ich bin fest davon überzeugt, daß der ermordete Connor mit dem Goldraub etwas zu tun hatte.«

 

»Meinen Sie wirklich?«

 

Goodman lächelte.

 

»Sie bestärken mich nur in meiner Ansicht, weil Sie so unschuldig tun. Es war bestimmt derselbe Connor, der damals verurteilt wurde.«

 

»Haben Sie mit Mr. Hallick darüber gesprochen?« fragte Dobie.

 

Goodman verneinte.

 

»Nun, Scotland Yard hat ohnehin bereits die Presse informiert, darum kann ich Ihnen ruhig verraten, daß Sie mit Ihrer Vermutung recht haben.«

 

»Hm.« Goodman runzelte die Stirn. »Ich überlege mir nur, wie lange er im Gefängnis gesessen hat. Meiner Meinung nach kann er doch erst kürzlich entlassen worden sein?«

 

»Vor einem Monat. Er und Marks wurden kurz nacheinander entlassen.«

 

Mr. Goodman strahlte.

 

»Ich wußte doch, daß ich recht hatte. Für Namen und Tatsachen habe ich ein sehr gutes Gedächtnis.«

 

Dobie hatte eigentlich nichts mehr in der Halle zu tun, aber er blieb noch ein wenig.

 

»Sie werden doch wahrscheinlich nicht mehr lange hier in Monkshall wohnen?« fragte er. »Es ist doch gewöhnlich so, daß die Gäste fortziehen, wenn in einer Pension ein Mord passiert.«

 

Goodman schüttelte den Kopf.

 

»Ich wüßte nicht, warum ich fortziehen sollte. Ich bin ein alter Junggeselle und hasse jede Veränderung. Vielleicht bin ich ein wenig gefühllos, aber mich hat die Geschichte weniger beunruhigt als die anderen.«

 

Dann kam er wieder auf seine Theorie zurück.

 

»Nehmen wir einmal an, dieser Mord steht in Zusammenhang mit dem Raub des Goldtransports –«

 

Aber nun verhärteten sich die Züge des Sergeanten. Er zeigte sich nicht bereit, diese Angelegenheit mit Goodman zu besprechen, und er sagte das auch.

 

»Allerdings, Sie haben vollkommen recht«, entschuldigte sich Goodman schnell. »Es tut mir leid, daß ich nicht darauf Rücksicht nahm.«

 

»Nun, so schlimm ist es doch nicht«, entgegnete Dobie, und Goodman spürte, daß der Sergeant gern alles erzählt hätte, was er wußte. »Vielleicht sind Sie der Wahrheit näher, als Sie glauben.«

 

In diesem Augenblick wurden sie in ihrer Unterhaltung durch Mrs. Elvery und deren Tochter gestört, die in die Halle kamen. Mr. Partridge folgte ihnen und trug einen Wollknäuel.

 

Mrs. Elvery war nicht gerade sehr zurückhaltend. Sie zitterte vor Erregung, weil sie Goodman etwas Neues mitzuteilen hatte.

 

»Jetzt habe ich aber eine Überraschung für Sie!«

 

Goodman schloß resigniert das Buch, das er eben aufgeschlagen hatte.

 

»Wissen Sie auch, daß Mr. Partridge eine Autorität auf dem Gebiet des Spiritismus ist?«

 

»Und ich bin eine Autorität in der Zubereitung guten Kaffees«, entgegnete er mißmutig und nahm eine Tasse von dem Tablett, das Cotton eben hereinbrachte. »Wenn Sie hier guten Kaffee zu trinken bekommen, so haben Sie das nur mir zu verdanken. Ich habe das der Köchin erst mühsam beigebracht, und es hat einige Jahre gedauert, bis sie es richtig begriffen hat. Jetzt schmeckt der Kaffee wenigstens nicht mehr wie Spülwasser. Und nun kommen Sie ausgerechnet mit Spiritismus! Davon will ich nichts wissen.«

 

Mr. Partridge entschuldigte sich sofort.

 

»Sie haben aber auch etwas übertrieben«, wandte er sich an Mrs. Elvery. »Ich habe mich zwar mit Spiritismus beschäftigt, aber doch nur als Laie. Eine Autorität bin ich auf diesem Gebiet keineswegs.«

 

»Dann haben Sie also nichts dagegen, wenn es hier im Hause spukt?« fragte Goodman lächelnd.

 

Der Pfarrer sah ihn halb vorwurfsvoll an und nahm dann ebenfalls eine Tasse von dem Tablett, das ihm Cotton reichte.

 

Mary kam ins Zimmer, als Mr. Partridge gerade ausführlich über die Ermordung Connors sprach.

 

»Ich begreife wohl, wie schrecklich es für Sie alle gewesen sein muß, daß Sie unmittelbare Zeugen dieses furchtbaren Verbrechens waren –«

 

Veronika schaute aus dem Fenster, wurde blaß und sprang auf.

 

»Ich habe ein Gesicht am Fenster gesehen!« rief sie atemlos.

 

»Ziehen Sie doch die Vorhänge zu«, riet Goodman.

 

Ein paar Minuten später kam Fane ins Zimmer, und Mary sah, daß Regentropfen an seinem Mantel hingen.

 

»Sie sind ausgewesen?«

 

»Ja, ich habe mich im Park umhergetrieben«, entgegnete er.

 

Mary glaubte, daß er wieder getrunken hatte. Er sprach langsam und schleppend, und er schien auch nicht ganz sicher auf den Füßen zu stehen.

 

»Haben Sie den Mönch gesehen?« fragte Veronika.

 

Ferdie grinste.

 

»Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich Mr. Partridge gerufen, um den Geist zu beschwören.«

 

Der Pfarrer sah ihn vorwurfsvoll an.

 

»Es ist alles so entsetzlich! Natürlich habe ich auch von der Tragödie gehört, die sich in der vergangenen Nacht hier abgespielt hat.«

 

»Bitte, sprechen Sie nicht mehr darüber. Gibt es denn gar kein anderes Thema?« fragte Veronika.

 

»Aber es ist doch entsetzlich und grausam, wenn ein Mensch mitten in der Blüte seiner Jahre von hinnen muß«, predigte Partridge salbungsvoll. »Ich muß sagen, daß auch mich ein kalter Schauer überkam, als ich die Einzelheiten dieses grauenvollen Verbrechens hörte. Und soviel ich weiß, hat man noch nicht einmal den Namen des Toten feststellen können?«

 

Er nahm einen Schluck aus seiner Tasse.

 

»Da irren Sie sich. Wir kennen den Namen sehr wohl«, entgegnete Fane. »Ich wundere mich nur, daß Sie ihn noch nicht wissen.«

 

Ihre Blicke trafen sich.

 

»Der Name des Toten«, sagte Fane mit besonderem Nachdruck, »war Connor – Joe Connor.«

 

Die Tasse entfiel der Hand des Pfarrers und zerschellte auf dem Parkettfußboden. In seinem Gesicht zeigte sich größte Bestürzung.

 

»Connor«, wiederholte er leise. »Joe Connor!«

 

Ferdie beobachtete ihn scharf, dann nickte er.

 

»Haben Sie den Mann gekannt?«

 

»Ich – ich habe schon von ihm gehört.«

 

Mr. Partridge fiel das Sprechen schwer.

 

»Joe Connor!« sagte er noch einmal. Kurz darauf verließ er das Zimmer.

 

Mary, die Partridge aufmerksam beobachtet hatte, war darüber erstaunt. Sie fragte sich, ob Goodman von dem Vorgefallenen überhaupt etwas gemerkt hatte. Er hatte sich die ganze Zeit angeregt mit Mrs. Elvery unterhalten. Als sie zu ihm trat, sprach er darüber mit ihr.

 

»Mrs. Elvery war heute abend ausnahmsweise interessant. Sie zeigte mir ihre Sammlung von Zeitungsausschnitten, die sie in ein Buch geklebt hat, besonders das Kapitel über Connor. Es besteht gar kein Zweifel, daß der Ermordete derselbe war, der damals mit dem Goldraub zu tun. hatte. Ich habe ein Bild von ihm in Mrs. Elverys Sammlung gesehen. Ich sah auch noch eine andere Aufnahme, die mich sehr interessierte. – Haben Sie Mr. Fane schon einmal getroffen, bevor er nach Monkshall kam?«

 

»War es etwa eine Fotografie von Mr. Fane?« fragte sie.

 

Er zögerte ein wenig, dann sagte er: »Ja, ich glaube, – Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt, und ich bin ziemlich sicher, daß Mr. Fane nicht das ist, was er hier vorgibt. – Aber ich bitte Sie, ihm das unter keinen Umständen zu erzählen.«

 

Sie war erstaunt über die Eindringlichkeit, mit der er sprach, und lachte.

 

»Selbstverständlich werde ich das nicht tun.«

 

»Mary!« Er sah über die Schulter und überzeugte sich, daß die anderen nicht zu ihnen herübersahen. »Mary, mein liebes Kind, warum wollen Sie diesen Platz nicht verlassen und nach London gehen?«

 

»Es ist merkwürdig, daß Sie die Frage an mich stellen«, entgegnete sie lächelnd. »Genau dasselbe hat Mr. Fane mich gefragt.«

 

»Der hat es aus einem anderen Grund getan«, fuhr er fort, und seine sonst so milde Stimme klang ungewöhnlich hart und rauh. »Ich sage es Ihnen, weil – nun ja, weil ich Sie gern habe. Glauben Sie nicht, daß ich sentimental werde. Trotz des Altersunterschieds liebe ich Sie, wie ich noch nie eine Frau geliebt habe.«

 

Sie war auf diese plötzliche Liebeserklärung nicht gefaßt und sah ihn erstaunt an.

 

»Überlegen Sie sich gut, was ich Ihnen gesagt habe. Und wenn Sie ›nein‹ sagen sollten – nun, dann kann ich es schließlich verstehen.«

 

Sie war froh, daß Cotton hereinkam und ihr sagte, daß ihr Vater sie in seinem Arbeitszimmer sprechen wolle. Und sie ging auch nicht wieder in die Halle zurück, bis Cotton im Zimmer ihres Vaters erschien und fragte, ob er das Haus abschließen solle.

 

»Bis auf Mr. Fane haben sich alle Gäste zurückgezogen«, sagte er. »Ich habe den Eindruck, daß er noch auf Sie wartet, Miss Mary.«

 

»Warum tut er das?« fragte Redmayne unangenehm berührt.

 

Cotton wußte es nicht.

 

Er hatte aber richtig vermutet. Ferdie Fane saß auf dem Sofa und hoffte, daß Mary zurückkehren würde. Er wollte ihr etwas Bestimmtes sagen, wollte sie dringend warnen. Als er hörte, daß sich die Tür öffnete, wandte er sich schnell um. Aber nicht Mary trat ein, sondern Mr. Partridge.

 

»Ach, verzeihen Sie«, sagte der Pfarrer, der sich wieder gefaßt hätte, »ich habe hier ein Buch liegenlassen.«

 

Fane erwiderte nichts, bis sich der Pfarrer anschickte, die Halle wieder zu verlassen.

 

»Die Geschichte mit Connor hat Ihnen einen kleinen Schock versetzt, nicht wahr, Mr. Partridge?«

 

»Wieso?« Partridge runzelte die Stirn. »Natürlich war ich traurig, als ich von dem Tod dieses armen Mannes hörte.«

 

Fane grinste.

 

»Cotton war noch trauriger darüber, denn er mußte die Scherben Ihrer Tasse vom Boden aufsammeln. Würden Sie nicht einen Augenblick Platz nehmen?«

 

Der Pfarrer setzte sich neben Ferdie auf das Sofa.

 

»Welch schreckliches Schicksal doch den armen Connor ereilt hat«, sagte er halb zu sich selbst.

 

»Connor war eben ziemlich verrückt«, entgegnete Fane kühl. »Er war nicht so klug wie sein Kumpan.«

 

»Wen meinen Sie denn?« fragte Mr. Partridge erstaunt.

 

»Ich meine Marks – haben Sie nie etwas von dem gehört? Er war der beste Mann O’Sheas. Kennen Sie den vielleicht auch nicht? Ich möchte wetten, daß Sie ihn nicht nur vom Hörensagen kennen, und wenn Sie ihn noch nicht wiedererkannt haben sollten, dann werden Sie sehr bald erfahren, wer er ist.«

 

Der Pfarrer schüttelte den Kopf.

 

»Von dem, was Sie da sagen, verstehe ich kein Wort. Wen sollte ich wiedererkennen?«

 

»Marks war ein ziemlich kluger Kopf«, fuhr Fane fort, »und ich möchte ihm wenigstens eine Chance geben.«

 

Plötzlich packte er den Pfarrer an seinen weißen Haaren, zerrte daran und hatte im nächsten Augenblick die Perücke in der Hand.

 

»Sie sind Marks!«

 

Der andere sprang auf. »Was, zum Teufel –«

 

Fane sah ihn unbarmherzig an.

 

»Machen Sie sich aus dem Staub, solange Sie noch können«, sagte er hart. »Ich warne Sie, wie ich Connor gewarnt habe. Sie fordern das Schicksal heraus, und Sie werden ihm nicht entrinnen können!« »Das ist meine Sache. Ich lasse mich nicht von Ihnen beeinflussen.«

 

Ferdie Fane nickte.

 

»Ich dachte mir schon, daß Sie meine Warnung in den Wind schlagen würden. Sie sind immer noch so selbstbewußt wie früher!«

 

»Mich können Sie nicht erschrecken«, entgegnete Marks und atmete schwer. »Sie wissen, warum ich hergekommen bin. Ich will meinen Anteil an der Beute, und ich gehe nicht eher, als bis ich ihn habe!«

 

»Gut, dann werden Sie eben als Toter hier hinausgetragen werden«, erwiderte Fane düster.

 

»Glauben Sie? Sie scheinen ja in die Zukunft sehen zu können. Aber ich will Ihnen etwas sagen. Ich erkannte Sie im selben Augenblick, als Sie mir gegenüber Connors Namen erwähnten. Es ist auch noch jemand anders hier im Haus, der Sie erkannt hat – der alte Goodman. Glauben Sie mir, der läßt nicht mit sich spaßen, dazu ist er zu weit in der Welt herumgekommen. Ich habe einen Blick aufgefangen, den er Ihnen zuwarf.« Fane war überrascht.

 

»Was sagen Sie da von Goodman? Sie sind ja glatt verrückt.«

 

»So, verrückt bin ich auch noch? Ich war heute nachmittag im Dorf und habe ihn beobachtet, wie er vom Postamt aus nach London telefonierte. Er hat sich nach Ihnen erkundigt. Übrigens war Miss Redmayne auch dort. Da staunen Sie wohl? Was werden Sie jetzt machen? Wollen Sie Goodman aus dem Weg räumen? Ich kenne Ihre Methoden – und ich weiß auch, daß Sie den Trick, als Betrunkener in der Gegend herumzulungern, schon früher angewandt haben.«

 

Fane hatte sich von seinem ersten Schrecken erholt.

 

»Ob er weiß, wer ich bin oder nicht, ist im Augenblick gleich. Auf jeden Fall habe ich Sie gewarnt«, sagte er streng. »Und wenn Sie meinen Rat nicht befolgen, geht es Ihnen genau wie Connor.«

 

Marks ging zur Tür.

 

»Sie haben mich allerdings deutlich genug gewarnt«, sagte er. »Aber der Mann, der mich schnappen will, muß sich beeilen.«

 

Im nächsten Augenblick trat er hinter die Portiere, öffnete die Glastür zum Park und trat in die Nacht hinaus.

 

Fane wartete einige Zeit. Dann hörte er Schritte in der Halle und ging durch eine andere Tür hinaus, die ebenfalls auf den Rasen führte.

 

Er sah, wie sich die Tür langsam öffnete. Mr. Goodman trat herein. Er sprach mit sich selbst, während seine Blicke von einem Tisch zum anderen wanderten. Er suchte seine Pfeife. Nach einer Weile fand er sie, steckte sie in die Tasche und ging langsam zur Tür zurück. Ais er etwas am Boden liegen sah, bückte er sich und hob es auf; es war die Perücke, die Marks hatte fallen lassen. Lange sah er darauf, dann spürte er plötzlich den kalten Luftzug, der durch die offene Glastür hereinströmte, und er trat auf die Portiere vor der Tür.

 

Er wollte die Portiere gerade zurückziehen, als er plötzlich von zwei Händen an der Kehle gepackt und in die Nische gezogen wurde.

 

Mary hatte sich bereits halb entkleidet, als sie auf den Kampf aufmerksam wurde, der unten ausgefochten wurde. Plötzlich hörte sie einen Schrei, schlüpfte in ihren Morgenrock und eilte die Treppe hinunter. Als sie die Tür aufstieß, lag der Raum in Dunkelheit wie vorher.

 

»All right«, sagte eine Stimme, dann leuchtete plötzlich das Licht auf.

 

Ferdie Fane stand neben dem Fenster. Seine Kleider und sein Haar waren zerzaust.

 

»Wo ist Mr. Goodman?« fragte sie atemlos. »Ich hörte seine Stimme – wo ist er geblieben?«

 

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, entgegnete Fane.

 

Sie entdeckte eine Blutspur auf seinem weißen Frackhemd … Als sie bewußtlos zu Boden sank, fing er sie in seinen Armen auf, und auch ihr Kimono wurde von Blut befleckt.

 

Kapitel 13

 

13

 

Um halb drei Uhr morgens waren alle Bewohner von Monkshall wach. Vor dem Haustor stand der mit Schmutz bedeckte Dienstwagen des Chefinspektors Hallick. Die Teppiche in der großen Halle und in anderen Räumen waren aufgerollt, weil man nach verborgenen Falltüren suchte. Mrs. Elvery saß schläfrig in ihrem auffälligen roten Morgenrock in einem Polstersessel. Als Hallick von einer Durchsuchung des Parks zurückkam, war sie eingenickt und schnarchte.

 

»Folgen Sie meinem Rat und gehen Sie zu Bett«, sagte er, als er sie weckte. »Es ist fast drei Uhr.«

 

Sie blinzelte und begann leise zu weinen.

 

»Der arme Mr. Goodman! Er war ein so netter Herr, selbst für einen Junggesellen. Nun wird es ganz still werden hier im Haus.«

 

»Wir wissen doch gar nicht genau, ob er tot ist«, erwiderte Hallick unwirsch.

 

»Aber es waren doch Blutspuren auf dem Fußboden!« Sie schluchzte aufs neue. »Und Mr. Partridge, haben Sie ihn gefunden?«

 

»Der gute Mr. Partridge«, sagte Mr. Hallick gereizt, »ist auf dem Weg nach London. Um den brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Übrigens ist er ein alter Zuchthäusler und heißt Marks.«

 

Plötzlich wurde Mrs. Elvery ganz wach und lebendig.

 

»Haben Sie schon Cotton verhört? Der hat sich am vergangenen Abend sehr merkwürdig benommen. Zweimal war er unten im Keller, und als er das zweite Mal die Treppe heraufkam, waren seine Hosen mit Staub bedeckt – wissen Sie, weshalb?«

 

»Das will ich gar nicht wissen«, erklärte Hallick gelangweilt.

 

»Der sucht nach dem Goldschatz, der hier im Hause versteckt liegt. Ja, da staunen Sie, Inspektor!«

 

»Ihrer Meinung nach liegt also der Goldschatz hier im Hause versteckt? Sie bringen die Geschichte von O’Shea mit den Vorfällen der letzten Tage in Verbindung? Woher haben Sie denn diese Weisheit?«

 

»Aus meinen Zeitungsausschnitten«, entgegnete Mrs. Elvery triumphierend.

 

»Ich möchte Sie jetzt aber wirklich bitten, zu Bett zu gehen«, sagte Hallick, und es gelang ihm endlich, sie zum Verlassen des Zimmers zu bewegen.

 

Sein Assistent, Sergeant Dobie, hatte sich eine Theorie gebildet, und um sie zu prüfen, mußten weitere Nachforschungen angestellt werden. Als die beiden allein waren, erklärte Dobie seine Ansicht.

 

»Redmayne? Nein, der kommt als Täter gar nicht in Frage! Warum sollte er …«

 

»Das wollte ich Ihnen auch gar nicht sagen«, erwiderte Dobie. »Redmayne ist vollständig bankrott. Er hat eine beträchtliche Summe von Goodman geliehen. Als Goodman verschwand, war es. das erste, daß er in das Zimmer des alten Mannes ging, einen Koffer öffnete und einen Schuldschein daraus entwendete. Sehen Sie, hier ist er.«

 

Hallick betrachtete das Papier nachdenklich.

 

»Rufen Sie Redmayne her.«

 

Bald darauf kam der Colonel mit unsicheren Schritten in die Halle.

 

»Ich möchte ein paar Fragen an Sie stellen«, sagte Hallick barsch.

 

»Es wird mir bald zuviel, immer wieder neue Fragen beantworten zu müssen«, sagte er unwillig.

 

»Das ist schon möglich«, erwiderte Hallick ironisch. »Wir haben hier ein Gespenst in Monkshall.« Er zog den Schuldschein aus der Tasche und hielt ihn dem Colonel hin. »Ist das etwa das Geheimnis, weswegen all diese seltsamen Dinge im Hause passieren? Klären sich damit die Spukgeschichten auf?«

 

»Das ist ein Schein über Geld, das ich mir borgen mußte«, erklärte Redmayne leise.

 

Hallick nickte.

 

»Vor zehn Jahren waren Sie Sekretär und Schatzmeister beim Roten Kreuz. Unerwartet wurde eines Tages die Kasse revidiert, wobei sich herausstellte, daß eine größere Summe fehlte. Ihre Verhaftung stand nahe bevor, als Sie plötzlich das Geld ersetzten – Sie haben es sich von Goodman geliehen?«

 

»Ja.«

 

»Vor ein oder zwei Stunden haben Sie Goodmans Papiere durchsucht. Suchten Sie nach diesem Schuldschein?«

 

»Ich lasse mich von. Ihnen nicht verhören«, sagte Redmayne und raffte sich auf. »Sie haben kein Recht, mich über meine Privatangelegenheiten auszufragen.«

 

»Colonel Redmayne«, entgegnete der Chefinspektor ruhig, »in der vorigen Nacht wurde ein Mann in Ihrem Haus ermordet, heute abend ist einer Ihrer Gäste unter merkwürdigen Umständen verschwunden, die daran denken lassen, daß auch er ermordet wurde. Ich habe also wohl das Recht, Fragen an Sie zu richten. Ich habe sogar das Recht, Sie zu verhaften, wenn Sie sich nicht anders verhalten.«

 

»Gut, dann verhaften Sie mich«, erwiderte der Colonel etwas unsicher.

 

»Nehmen Sie doch Vernunft an!« sagte Hallick unwirsch. »Hier im Haus hält sich jemand auf, den bisher niemand gesehen hat, jemand, den Sie verbergen und beschützen!«

 

»Wen meinen Sie?« fragte Redmayne unruhig.

 

»Meiner Meinung nach ist diese Anleihe bei Goodman nur vorgetäuscht worden. Zu der Zeit, als Sie das Geld borgten, standen Ihnen große Summen zur Verfügung. Sie haben dieses Haus gekauft, um einen Verbrecher zu beherbergen, gegen den Haftbefehl erlassen worden war – Leonard O’Shea.«

 

»Das ist eine Lüge!« stieß Redmayne heiser hervor.

 

»Dann will ich Ihnen noch etwas sagen. Irgendwo in diesem Hause liegt das Gold, das seinerzeit mit der ›Aritania‹ von Australien nach England gebracht wurde und auf dem Transport nach London verschwand. Und irgendwo in den Kellerräumen verbirgt sich ein halb Wahnsinniger.«

 

Der Colonel taumelte zurück.

 

»Ich habe alles getan, was ich tun konnte, um ihn fernzuhalten. Glauben Sie denn, daß ich ihn hier haben wollte …«

 

»Wir werden bald Klarheit in die Sache bringen.«

 

Hallick gab Dobie ein Zeichen, und der Sergeant führte den Colonel in sein Arbeitszimmer zurück, ohne daß dieser Widerstand leistete. Hallick folgte, und als die Tür hinter ihnen zufiel, kam Mr. Fane hinter den geschlossenen Vorhängen hervor. Er hatte die Kleider gewechselt und trug nun einen Golfanzug.

 

Er ging zum Fenster zurück und rief vorsichtig jemanden im Garten. Gleich darauf trat Mary aus der Dunkelheit.

 

»Es ist niemand hier, Sie können ruhig hereinkommen. Die Leute brauchen ja nicht unbedingt zu erfahren, daß Sie allein mit mir im Park spazierengingen.«

 

Sie zog ihren Regenmantel aus und ließ sich müde in einem Sessel nieder.

 

»Die Nacht ist so unheimlich, und doch fühlte ich mich da draußen in Ihrer Begleitung sicherer als hier im Haus.«

 

»Ich fühle mich im Augenblick nirgends recht sicher«, entgegnete Ferdie. »Ich werde hier schlafen – wo ist eigentlich Cotton?«

 

»Was wollen Sie denn von ihm?«

 

»Ich möchte noch etwas zu trinken haben«, sagte er und klingelte.

 

Cotton trat sofort ein, er mußte draußen vor der Tür gestanden haben. Sein Zeug war naß, und seine Stiefel waren schmutzig.

 

»Hallo!« Fane betrachtete ihn eingehend. »Sind Sie draußen im Park umhergeschlichen?«

 

»Ich habe mich nur etwas umsehen wollen. Das schadet doch niemandem.« Die Stimme des Butlers zitterte ein wenig.

 

»Sie waren wohl bei den Kriminalbeamten?« wandte sich Mary an Cotton. »Wie weit ist denn die Untersuchung fortgeschritten?«

 

Fane lachte leicht.

 

»Ich will wissen, ob die Beamten irgend etwas herausgefunden haben«, sagte sie ungeduldig.

 

»Ich kann Ihnen verraten, was die vermuten«, erwiderte Fane und sah sie fest an. »Die Polizei nimmt an, daß Mr. Goodman in diesem Raum ermordet wurde. Eine etwas sonderbare Auffassung – meinen Sie nicht auch?« Sie schauderte zusammen.

 

»Und die Beamten glauben auch, daß der Pfarrer nicht mehr am Leben ist. Ich hörte, wie der Sergeant dem Chefinspektor gegenüber diese Ansicht vertrat. Seiner Meinung nach muß Partridge hier ins Zimmer gekommen sein, während Goodman mit dem geheimnisvollen Mönch kämpfte, und der Unheimliche hat die beiden umgebracht.«

 

»Wer ist denn der Unheimliche?«

 

»So nennen sie diesen Mann«, mischte sich Cotton ein, »der in der schwarzen Mönchskutte herumläuft. Sie sagen, daß er jeden Tag zwei Stunden wahnsinnig ist. Es ist auch etwas Sonderbares, wenn man sich vorstellt, daß hier im Hause ein Wahnsinniger umherspukt und daß niemand weiß, wer es ist. Sie können in den Verdacht kommen, Mr. Fane, und ich auch.«

 

»Dann ist es wahrscheinlicher, daß Sie es sind«, entgegnete Fane scharf. »Bringen Sie mir eine halbe Flasche Sekt.«

 

Mary wartete, bis Cotton die Halle verlassen hatte.

 

»Mr. Fane – was ist mit Goodman geschehen?« fragte sie dann.

 

Er antwortete ihr erst, nachdem Cotton Glas und Flasche gebracht hatte und wieder gegangen war.

 

»Das ist wenigstens ein anständiger Tropfen«, meinte er und goß den schäumenden Sekt ein. »Das wird mir guttun. Ich habe ziemliche Kopfschmerzen.«

 

»Ich wünschte nur, Sie bekämen einmal solche Kopfschmerzen, daß Sie nicht wieder daran dächten, zu trinken«, erwiderte sie hitzig.

 

»Dann wollten Sie wohl am liebsten, daß ich tot wäre?«

 

Sie war sehr unzufrieden mit ihm; sie hatte gehofft, daß er ihr in dieser schweren Zeit eine Hilfe sein konnte.

 

Dann kam ihr ein Gedanke. »Was meinten Sie eigentlich, als Sie sagten, das wäre ein anständiger Tropfen?«

 

»Sehen Sie, nun verstehen wir uns schon besser. Das ist der erste Tropfen Wein in dieser Woche, ich kann Ihnen versichern, daß ich ziemlich nüchtern bin und fast keinen Alkohol trinke.«

 

Hatte er diese Worte tatsächlich im Ernst gesprochen? Hatte er seine Trunkenheit nur vorgetäuscht?

 

»Was geschah heute abend, als ich Sie hier in diesem Zimmer traf? Es hatte doch ein Kampf stattgefunden.«

 

Er schüttelte den Kopf und sagte scherzhaft: »Ich weiß es nicht. Irgend jemand schlug mir mit der Faust unter das Kinn. Daraus schloß ich, daß der Mann nicht mein Freund war.«

 

Aber dann wurde er plötzlich ernst.

 

»Würden Sie es tatsächlich gern sehen, wenn – wenn ich Ihnen helfen und für Sie sorgen würde?«

 

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, entgegnete sie, obgleich sie ahnte, worauf er hinaus wollte.

 

»Ich meine, Sie brauchen jemanden, der Sie beschützt.«

 

Er war näher an sie herangetreten.

 

»Glauben Sie denn, daß Sie überhaupt jemanden beschützen können?« erwiderte sie. Im nächsten Augenblick bedauerte sie ihre Äußerung, denn sie wußte, daß sie damit seine nächste Frage herausgefordert hatte.

 

»Wissen Sie denn nicht, Mary, daß ich sehr viel für Sie tue? Sehen Sie denn nicht …«

 

»Sie sollen mich nicht Mary nennen.«

 

»Aber wenn Sie doch so heißen? Sie können ruhig Ferdie zu mir sagen, wenn Sie wollen.«

 

»Nein, nicht – wenigstens jetzt nicht«, entgegnete sie ein wenig atemlos.

 

»Hat Goodman Ihnen nicht gesagt, daß er Sie sehr gern mag?«

 

Sie nickte.

 

»Der arme Mr. Goodman! Ja, er hat mich geliebt, und ich mochte ihn auch gern.«

 

Sie blickte sich plötzlich um, und er sah, daß sie Angst hatte.

 

»Was gibt es denn?« fragte er schnell.

 

»Ich weiß es nicht, aber ich habe das schreckliche Gefühl, als ob uns jemand belauscht. Und ich wünschte, daß sich der Betreffende bemerkbar machte. Dann wüßte man wenigstens, woran man ist.«

 

»Erwarten Sie jemanden?« fragte er überrascht.

 

»Ja, es soll noch ein Beamter von Scotland Yard kommen. Mrs. Elvery nannte ihn den großen Bradley.«

 

»Der arme Kerl!« sagte er und lachte. »Welchen Zweck hat es denn, den herzubringen? Ich bin tüchtiger als tausend Detektive, und mit O’Shea nehme ich es auch noch auf.« Er lachte sonderbar. »O’Shea, das ist ein Kerl!«

 

Sie trat einen Schritt von ihm zurück.

 

»Von dem habe ich gehört«, sagte sie langsam. »Wie sieht er denn aus?«

 

Er lachte aufs neue.

 

»Etwa so wie ich – nur nicht so hübsch.«

 

Sie nickte, aber ihre Stimme klang jetzt nur noch wie ein Flüstern.

 

»Sie wissen nur zu gut, wer O’Shea ist«, sagte sie. »Als Sie gestern draußen im Park mit Connor sprachen, stand ich am Fenster und hörte, wie Sie ihm drohten.«

 

Er schwieg eine Weile.

 

»Ich habe ihn gewarnt«, sagte er schließlich.

 

Und als ob er der Unterredung ein Ende machen wollte, schob er einen Sessel so hin, daß dieser der Wand zugekehrt war. Dann nahm er einen Wandschirm, der in einer Ecke stand, und stellte ihn hinter den Sessel.

 

»Was wollen Sie denn?«

 

»Ich will jetzt schlafen«, entgegnete er kurz.

 

»Aber warum stellen Sie den Sessel denn dorthin?« fragte sie erstaunt.

 

»Hier ist die alte Tür, die die Mönche immer benutzten«, entgegnete er. lächelnd. »Wenn irgendein Geist in einer schwarzen Kutte erscheint, muß er durch diese Tür kommen.«

 

Hallick kehrte in diesem Augenblick mit Mr. Redmayne zurück.

 

»Zum Teufel, was machen Sie denn hier?« fuhr er Fane an.

 

Der hatte eine Decke vom Sofa genommen, die Mrs. Elvery zurückgelassen hatte, und deckte sich damit zu.

 

»Ich will schlafen.«

 

»Das ist hier aber nicht der richtige Platz. Gehen Sie auf Ihr Zimmer«, sagte Redmayne unfreundlich.

 

»Lassen Sie ihn ruhig hier«, legte sich Hallick ins Mittel, der sehr nachsichtig gegen Fane zu sein schien.

 

Der Chefinspektor fühlte einen Lufthauch und zog die Vorhänge zurück. Die Glastür dahinter stand offen.

 

»Schließen Sie die Tür, wenn wir hinausgegangen sind, Miss Redmayne, und öffnen Sie die Tür nur, wenn Sie die Stimme Ihres Vaters erkennen. Wir gehen jetzt in den Park.«

 

»Es wäre besser, wenn du auf dein Zimmer gingst«, sagte der Colonel, aber Hallick schüttelte den Kopf.

 

»Ich will hier warten«, sagte Mary.

 

»Aber Liebling …«

 

»Lassen Sie sie nur ruhig hier«, meinte Hallick. »Mr. Fane wird ihr nichts zuleide tun.«

 

Inzwischen hatte sich Ferdie bequem in den Sessel zurückgelehnt. Er glaubte, daß Mary den Raum verlassen hatte, aber in Wirklichkeit war sie noch dort. Sie schlich sich auf Zehenspitzen herbei und sah um die Ecke des Wandschirms. Als sie bemerkte, daß er die Augen geschlossen hatte, drehte sie alle Lichter aus, mit Ausnahme einer Lampe. Dann ging sie leise zur Tür und öffnete. Sie drehte sich noch einmal um und sah zu Ferdie hinüber. So bemerkte sie nicht, daß plötzlich ein Mann in der Türöffnung erschien und dicht hinter ihr stand. Es war eine große Gestalt – von Kopf bis Fuß in eine schwarze Kutte gekleidet. Auch das Gesicht war von der großen Kapuze bedeckt, nur zwei runde Öffnungen jm Stoff machten es dem Mann möglich, hindurchzusehen. Sie ahnte nichts von der Gefahr, plötzlich wurde sie von zwei starken Armen gepackt. Eine große Hand legte sich auf ihren Mund.

 

Starr vor Schrecken erkannte sie die Mönchsgestalt. Im nächsten Moment verlor sie die Besinnung.

 

Ohne weiter ein Geräusch zu machen, zog der Mann sie in den Flur, schloß die Tür leise hinter sich und trug sie davon. Er ging an der Tür ihres Vaters vorbei und verschwand in einem kleinen Zimmer, das als Abstellraum benutzt wurde. Dort öffnete er eine Falltür, legte das bewußtlose Mädchen über die Schulter und stieg die steinerne Treppe hinab. Dann ließ er sie zu Boden gleiten, um die Falltür wieder zu schließen.

 

Kapitel 14

 

14

 

Hallick und Redmayne fragten die Posten, die im Park aufgestellt worden waren, aber keiner der Beamten hatte die geheimnisvolle Erscheinung eines Mönchs gesehen. Ebensowenig hatten sie bis jetzt eine Spur von Goodman und Marks gefunden.

 

»Marks wird jetzt schon in London sein«, sagte Hallick, als sie über den feuchten Rasen gingen. »Den werden wir bald gefunden haben.«

 

»Warum ist der überhaupt hierhergekommen?«

 

»Er suchte das Gold, das hier versteckt ist – den Schatz Ihres Freundes O’Shea, der ihn irgendwo hier in den Kellergewölben untergebracht hat. Ich werde O’Shea noch in dieser Nacht verhaften, und ich kann Ihnen nur den Rat geben, Colonel uns nicht in den Weg zu kommen. Ich habe so eine Ahnung, daß es gefährlich werden könnte. Nehmen Sie Ihre Tochter mit nach London. Ich stelle Ihnen gern einen Polizeiwagen zur Verfügung.«

 

»Aber sie wird nicht mitkommen wollen. Wie soll ich ihr das alles so plötzlich erklären?«

 

»Das brauchen Sie ihr nicht so genau zu erklären«, entgegnete Hallick kurz, »Sagen Sie ihr doch die Wahrheit, oder warten Sie meinetwegen, bis die Sache zur Gerichtsverhandlung kommt. Meiner Meinung nach hat O’Shea Ihnen das Geld gegeben, daß Sie Monkshall kaufen konnten.«

 

»Nein, das stimmt nicht. Er hat es schon vor dem Überfall auf den Goldtransport gekauft«, erwiderte der Colonel »Ich befand mich damals in, einer verdammt ungemütlichen Situation. Jeden Augenblick fürchtete ich, daß man mich verhaften würde. Wie O’Shea von meiner Lage erfahren hat, weiß ich nicht. Ich hatte früher niemals etwas von dem Mann gehört. Als er mir aber anbot, Geld zu leihen, und mir ein festes Einkommen und einen prächtigen Wohnsitz in Aussicht stellte, habe ich natürlich nicht nein gesagt. Ich bin ja eigentlich ein Arzt, und als er mir dann erklärte, daß er diese Anfälle habe, glaubte ich ihm helfen zu können. Ich wußte damals nicht, daß er O’Shea war. Das habe ich erst vor etwa einem Jahr erfahren.«

 

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. »Sind nicht früher einmal drei Leute hier gewesen?« fragte Hallick dann und nannte die Namen der vermißten Beamten von Scotland Yard. »So? Die kamen vom Yard?« Der Colonel nickte. »Ja, die waren ein oder zwei Tage hier und verschwanden dann, ohne ihre Rechnungen zu bezahlen.«

 

»Sie sind hier ermordet worden.« Hallicks Stimme klang hart und grimmig. »Und O’Shea ist der Mörder – wenn sie nur soviel Verstand gehabt hätten, mir anzuvertrauen, was sie wußten, dann hätte ich sie retten können. Aber sie wollten den Ruhm für sich allein, O’Shea entdeckt zu haben, und das war ihr Verderben.«

 

»Was, O’Shea hat die Beamten hier im Haus umgebracht?« fragte Redmayne bestürzt.

 

Inzwischen waren sie wieder beim Haus angelangt, und Hallick klopfte leise an die Glastür. Aber es meldete sich niemand. Auch als er aufs neue klopfte, erhielt er keine Antwort.

 

»Ich glaube, wir gehen besser zur Haustür und klingeln Cotton.«

 

Es dauerte lange, bis dieser die Tür öffnete.

 

»Wo ist Miss Redmayne?« fragte Hallick.

 

»Ich habe sie nicht gesehen. Aber hier im Sessel schläft jemand er hat sich eine Decke übergezogen. Ich bekam einen schönen Schrecken, als ich hinter den Wandschirm guckte.«

 

»Das ist Fane, lassen Sie den in Ruhe.«

 

Hallick knipste alle Lampen an.

 

Er hatte das eigentümliche Gefühl, daß sich etwas Schreckliches ereignen würde.

 

»Suchen Sie vor allem Ihre Tochter«, sagte er zum Colonel.

 

Redmayne verließ den Raum, und gleich darauf hörte der Chefinspektor ihn im darüberliegenden Zimmer. Fünf Minuten später kam der Colonel bleich und zitternd zurück.

 

»Sie ist nicht in ihrem Zimmer. Ich glaube auch nicht, daß sie sich im Haus aufhält. Ich habe überall nachgesehen.«

 

»Wissen Sie nicht, wo Miss Redmayne ist, Cotton?«

 

»Nein.«

 

»Was ist denn das?« sagte Hallick plötzlich und nahm etwas vom Boden auf. Es war ein Gürtel. Die beiden sahen sich bestürzt an.

 

»Dann ist er hiergewesen – das war der Mönch!« sagte Redmayne entsetzt.

 

Hallick nahm den Wandschirm fort und zog den Sessel zur Seite.

 

»Fane, wachen Sie auf – Miss Redmayne ist verschwunden.« Er zog die Decke zur Seite, die das Gesicht des Schläfers bedeckte und stieß einen Fluch aus, denn der Mann, der in dem Sessel lag, war nicht Fane, sondern Marks. Und Marks war tot.

 

Im Banne des Sirius

 

Im Banne des Sirius

 

Der Redner war nicht gerade in bester Stimmung, als das Telefon läutete. Er sah sich hilflos nach seinem Assistenten um, denn er liebte es nicht, persönlich an den Apparat zu gehen.

 

»Ist dort Mr. Rater?«

 

Die Stimmen junger Damen sind am Telefon schwer zu unterscheiden, aber Mr. Rater wußte sofort, wer ihn anrief.

 

»Ja, Miss Linstead. Was gibt es?«

 

Es wäre unverzeihlich von ihm gewesen, wenn er sie vergessen hätte, denn noch vor einem Jahr war sie seine Sekretärin gewesen. Das junge Mädchen mit den dunklen Locken war sehr scheu und zurückhaltend. Auf den Wunsch ihres Onkels hatte sie ihre Stellung in Scotland Yard aufgegeben. Dieser Mann erinnerte sich plötzlich daran, daß er eine Nichte hatte, und richtete ihr eine schöne Wohnung in Mayfair ein.

 

»Könnte ich Sie einmal sprechen, Mr. Rater? Es handelt sich um eine für mich sehr wichtige Angelegenheit …, mit der Polizei hat sie allerdings nichts zu tun; das heißt, in einer Beziehung vielleicht doch – Sie waren früher immer so freundlich zu mir …«

 

Sie sprach etwas zusammenhanglos, und er schloß daraus, daß sie aufgeregt sein mußte.

 

Nachdenklich rieb er seine Stirn. Er war im allgemeinen schwer zugänglich, und es gab nur wenig Menschen, mit denen er gern zu tun hatte, dagegen sehr viele, die ihm im Innersten unsympathisch waren. Zu Betty Linstead fühlte er sich jedoch hingezogen. Abgesehen davon, daß sie sehr hübsch war, arbeitete sie fleißig und gewissenhaft und sprach vor allem nicht viel. Junge Sekretärinnen, die viel redeten, konnten ihn zur Verzweiflung bringen.

 

»Ich habe gerade nicht viel zu tun, ich werde einen Besuch bei Ihnen machen«, versprach er.

 

Er hatte schon die unbestimmte Vorstellung, daß Brook Manor ein sehr vornehmes Haus sein mußte, aber als er vor dem Eingang stand, war er doch erstaunt über das prunkvolle Portal aus Bronze und Glas und über die vornehme Livree des Portiers. Schwere, dicke Teppiche lagen auf Gängen und Treppen, und Bettys Wohnung war in der luxuriösesten Weise ausgestattet. Auch die junge Dame selbst hatte sich vollständig verändert. Das war nicht mehr die einfache, bescheiden gekleidete Sekretärin, die er von früher her kannte. An ihren Handgelenken glänzten kostbare Armbänder, deren Wert ungefähr vier Jahreseinkommen des Chefinspektors ausmachten. Unwillkürlich wurde seine Haltung ihr gegenüber etwas reservierter.

 

»Ich bin Ihnen so dankbar, daß Sie gekommen sind, Mr. Rater«, sagte sie atemlos. »Darf ich Ihnen Artur – Mr. Artur Menden vorstellen?«

 

Ihre Nervosität hatte sich allerdings nicht gebessert, seitdem sie Scotland Yard verlassen hatte. Und wenn Mr. Rater schon verwundert war über die Eleganz der Wohnung, so überraschte ihn doch noch mehr die Anwesenheit dieses hübschen jungen Mannes.

 

»Es ist alles entsetzlich kompliziert«, begann Betty verlegen. »Es handelt sich nämlich um meinen Onkel und – Artur. Mein Onkel wünscht nicht, daß ich Artur heirate …«

 

Der Redner wußte kaum, was er darauf erwidern sollte. Zwar hatte er erwartet, daß es sich um irgendein schweres Problem handeln würde, aber daß sich die junge Dame in einen ihrer Familie nicht genehmen Herrn verliebt haben könnte, wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Sie schien zu ahnen, was in ihm vorging, und drängte ihn rasch zu einem großen, bequemen Lehnsessel.

 

»Ich muß Ihnen alles von Anfang an erzählen. Sie kennen doch Onkel Julian – natürlich, er ist sehr bekannt. Wie Sie wissen, ist er Junggeselle. Trotzdem war er immer sehr gut und lieb zu mir. Auch früher schon, als ich noch in Stellung war, hat er mir eine monatliche Unterstützung gezahlt, gerade genug, um leben zu können. Er hätte mir mehr geben können, aber er schätzt junge Damen, die sich ihren Unterhalt selbst verdienen. Damals sah ich ihn nur selten, ungefähr alle sechs Monate einmal, wenn wir uns nicht zufällig begegneten. Am Weihnachtstag speiste ich gewöhnlich mit ihm, wenn er in London war, und einmal lud er mich auch in sein Haus nach Ascot ein. Aber wir fühlten uns im allgemeinen beide nicht wohl bei solchen Zusammenkünften.«

 

»Du müßtest aber eigentlich Mr. Rater noch erklären, daß man nichts an Mr. Linstead aussetzen kann. Er hat nur eine Abneigung gegen junge Damen«, meinte Artur Menden. »Er ist ja ein komischer, alter Herr«, fügte er lachend hinzu, »und ich habe eigentlich keine Ursache, eine Lanze für ihn zu brechen, aber ich bin ihm gegenüber nicht ganz offen gewesen –«

 

»Der Fehler lag ganz auf meiner Seite«, unterbrach ihn Betty.

 

»Seit wann geht es Ihnen denn so gut?« fragte der Redner und zeigte auf die prachtvollen Möbel und die luxuriöse Einrichtung.

 

»Das möchte ich Ihnen ja gerade alles erzählen. Als ich noch in Scotland Yard für Sie arbeitete, bekam ich eines Tages einen dringenden Brief von meinem Onkel, in dem er mich bat, mit ihm zu Abend zu speisen. Ich kannte Artur damals schon; wir sind seit langem miteinander befreundet. Ich traf meinen Onkel also im Carlton, und er machte mir einen merkwürdigen Vorschlag. Er versprach mir, diese Wohnung für mich zu mieten, sie wundervoll einzurichten und mir außerdem eine jährliche Rente von fünftausend Pfund zu zahlen, wenn ich nicht heiraten würde. Zuerst wußte ich nicht, was ich dazu sagen sollte, aber bei der zweiten Zusammenkunft überredete er mich, auf seinen Wunsch einzugehen. Ich glaube, keine junge Dame hätte es sich lange überlegt, ein solches Angebot anzunehmen. Er ist der Bruder meines Vaters; ich bin seine einzige Verwandte und gelte als seine Erbin.«

 

Sie machte eine kleine Pause, bevor sie weitersprach.

 

»Damals machte ich mir keine großen Sorgen über die Bedingung, daß ich mich nicht verheiraten sollte. Ich hatte den Eindruck, daß er mich durch diese Maßnahme vor Unglück und Enttäuschungen bewahren wollte. Aber ich entdeckte bald, daß er die Sache bedeutend ernster nahm, als ich jemals dachte. Er fand heraus, daß ich mit Artur freundschaftlich verkehrte, und engagierte wohl Detektive, um uns zu beobachten. Eines Tages kam er sehr erregt hierher und bat mich aufs neue dringend, weder Artur noch sonst jemand zu heiraten. Hoch und heilig mußte ich ihm versichern, daß ich ihm unbedingt Mitteilung machen sollte, falls ich mich doch einmal in einen Mann verlieben würde und ihn heiraten wollte.«

 

»Kennt Ihr Onkel Mr. Menden?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Er hatte auch nichts gegen ihn, bis er erfuhr, daß ich ihn gern habe.«

 

»Und dann?«

 

»Dann war er schrecklich – er tat alles, was in seiner Macht stand, um Artur zu ruinieren.«

 

Mr. Menden unterbrach sie. Er war ziemlich jung und hatte noch einen ausgesprochenen Sinn für Gerechtigkeit.

 

»Ich glaube nicht, daß man diesen Ausdruck gebrauchen darf. Er bot mir nur eine Stellung in Argentinien an, um mich außer Landes zu bringen. Das kann man nicht gerade ›ruinieren‹ nennen. Natürlich wollte ich nicht, daß Betty ihre hohe Rente verliert, aber zum Glück verdiene ich genug, um uns beide zu unterhalten.«

 

»Dann haben Sie also die Absicht, zu heiraten?«

 

»Wir sind schon seit vier Monaten verheiratet«, erwiderte Betty langsam und sah Mr. Rater furchtsam an.

 

»Donnerwetter!« sagte der Redner.

 

Sie nickte schnell.

 

»Natürlich haben wir heimlich geheiratet, aber …, ich weiß nicht, es war eigentlich nicht recht von mir. Aber ich hatte nicht den Mut, es Onkel Julian zu sagen, und ich bat auch Artur, es ihm zu verschweigen. Heute habe ich ihm nun geschrieben, daß ich morgen heiraten werde. Wir sind nämlich nur auf dem Standesamt gewesen, und ich möchte mich gern noch kirchlich trauen lassen.«

 

»Sie sind also längst verheiratet, stellen Ihrem Onkel gegenüber eine falsche Behauptung auf und wünschen, daß ich Sie aus all diesen Schwierigkeiten und Widersprüchen heraushole?«

 

»Nein, das meine ich nicht«, sagte die frühere Miss Linstead rasch. »Wir haben nicht gegen das Gesetz verstoßen. Unsere Ehe ist vollkommen rechtsgültig. Artur hat sich vorher darüber erkundigt. Und ich habe den speziellen Wunsch, mich auch kirchlich trauen zu lassen – aus einem ganz bestimmten Grund.«

 

Der Redner seufzte schwer.

 

»Das ist ja alles sehr interessant, aber ich sehe noch nicht, wie ich Ihnen helfen könnte.«

 

Die beiden jungen Leute warfen sich einen Blick zu, dann begann Mr. Menden zu sprechen.

 

»Mr. Rater, Betty ist zu der Überzeugung gekommen, daß ihr Onkel nicht mehr ganz normal sein kann. Es ist nicht der Verlust des Geldes, der ihr Sorge macht. Sie fürchtet sich davor, was mir passieren könnte, wenn Julian Linstead von ihrer Verheiratung erfährt. Es ist doch direkt absurd, mit allen Mitteln erzwingen zu wollen, daß Betty unverheiratet bleibt. Sonst ist er wirklich ein sehr umgänglicher und liebenswürdiger Herr, und deshalb kann ich sein Verhalten in dieser Beziehung nicht verstehen. Ich glaube kaum, daß er einen Feind auf der Welt hat, und ich mache mir auch keine Sorgen darüber, was mir geschieht, sondern was er Betty antun könnte.«

 

Allmählich verstand Mr. Rater.

 

»Ach so, Sie wollen polizeilichen Schutz haben?«

 

Die beiden nickten so lebhaft wie zwei furchtsame Kinder, die Sicherheit gefunden haben, und der Redner konnte kaum ein Lachen unterdrücken.

 

»Ich glaube, Sie sind wirklich zu ängstlich«, erwiderte er. »Aber ich will sehen, was ich tun kann.«

 

Es wäre verhältnismäßig einfach gewesen, das Haus bewachen zu lassen, aber er hielt es für überflüssig, die Zeit dreier Beamter für diesen Zweck zu opfern. Seine Sorglosigkeit sollte sich jedoch rächen.

 

*

 

Julian George Linstead war Antiquitätenhändler, der erfolgreich an der Börse spekulierte und es eigentlich nicht mehr nötig hatte, sich um sein Geschäft zu kümmern. Im Grunde liebte er seinen Beruf auch nicht so sehr, aber er hatte nun einmal seine Tatkraft dafür eingesetzt und betrieb ihn aus Gewohnheit weiter.

 

Er war ein Junggeselle von fünfundvierzig Jahren und sah trotz seines etwas verschlossenen und düsteren Wesens sehr gut aus. In seinem äußeren Auftreten war er liebenswürdig, und er hatte auch einen gewissen Sinn für Humor. Zu seinen Gunsten muß noch erwähnt werden, daß er zu allen wohltätigen Sammlungen reichlich beisteuerte, jedoch verlangte, daß sein Name nicht genannt wurde.

 

Er wohnte in der Curzon Street, wo ihn Mrs. Aldred, eine ältere Frau, betreute. Ihr Mann versah die Stelle eines Hausmeisters und Kammerdieners.

 

Mr. Linstead war Mitglied eines vornehmen Klubs, gehörte der Konservativen Partei an und war, soweit man feststellen konnte, in keine Liebesabenteuer verwickelt. Die Schätzung zur Einkommensteuer nahm er als einen Akt des Schicksals hin und führte auch sonst das Leben eines ruhigen und geachteten Bürgers. Das hinderte ihn aber nicht, Erholungsreisen ins Ausland zu machen. Man sah ihn in Deauville und am Lido, wenn die Saison es erforderte, und jährlich brachte er im Winter drei Wochen in St. Moritz zu.

 

Natürlich hatte er auch seine besondere Liebhaberei, und zwar galt sein Spezialinteresse okkulten Dingen. Aus diesem Grunde war er auch ein Freund des Professors Henry Hoylash, der sich nicht nur als Astronom, sondern auch als Astrologe betätigte und häufige Besuche in der Curzon Street machte.

 

Der Professor, ein kleiner Herr mit sanftem Charakter, konnte die Ereignisse der großen Politik mit erstaunlicher Sicherheit voraussagen. In seinen Kreisen war er als der ›Siriusmann‹ bekannt, da alle seine Prophezeiungen in irgendeiner Weise mit diesem Stern zu tun hatten. Zum Ausgangspunkt seiner Berechnungen nahm er stets die Stellung des Sirius zu der Zeit, als die großen Pyramiden in Gizeh gebaut wurden. Die Astrologie hat viele Anhänger; auch Mr. Linstead, der früher nicht einmal gewußt hatte, daß ein Stern Sirius existierte, fühlte sich stark zu ihr hingezogen. Auch Ägypten, das er nur als großes Ausbeutungsobjekt der Firma Thomas Cook & Sons betrachtet hatte, erschien ihm plötzlich in neuem, geheimnisvollem Licht.

 

Und eines Abends überredete Professor Hoylash Mr. Linstead, statt eine Reise in die Schweiz zu machen, einmal nach Ägypten zu gehen.

 

Mr. Rater stellte Nachforschungen an und erfuhr, was allgemein über Mr. Linstead bekannt war. Einer der Detektive lud Mr. Aldred zu einem Glas Whisky-Soda ein, horchte ihn aus und bekam zu hören, daß Mr. Linstead der beste Dienstherr war, den man sich überhaupt wünschen konnte.

 

»Er hat sich allerdings in letzter Zeit viel mit Geistern, Spiritismus und solchem Zeug befaßt. Seitdem er den alten Professor kennt, redet er von ägyptischen Göttern und dergleichen verrückten Dingen. Aber schließlich ist ja jeder Mensch berechtigt, sein Steckenpferd zu haben.«

 

Der Detektiv wollte noch mehr von Mr. Linsteads okkulten Neigungen erfahren.

 

»Da ist weiter gar nichts dabei«, erklärte der Hausmeister. »Es macht ihm eben riesigen Spaß, Horoskope aufzustellen. Mich hat er auch schon gefragt, an welchem Tag und zu welcher Stunde ich geboren bin, ebenso meine Frau. Mehr merke ich nicht davon.«

 

Mr. Linstead schien jedoch seine astrologischen Studien sehr ernst zu betreiben. Er besaß eine umfangreiche Bibliothek okkulter Literatur, hatte sich ein Modell der großen Pyramiden herstellen lassen, das man auseinandernehmen konnte, und brachte abends viele Stunden mit mystischen Berechnungen zu.

 

Der Redner interessierte sich nicht für diese Lieblingsbeschäftigung Mr. Linsteads. Kaum hatte er die nötigen Erkundigungen eingezogen, so vergaß er die ganze Angelegenheit, denn er sah in diesem Fall wirklich nichts Ungewöhnliches. Schließlich durfte sich ein reicher Mann doch um die Verhältnisse seiner Nichte kümmern, die später einmal sein großes Vermögen erben sollte. Er kehrte nach Scotland Yard zurück, unterzeichnete einige Briefe, hörte die Berichte seiner unmittelbaren Untergebenen und ging dann nach Hause.

 

Am Abend legte er sich frühzeitig zur Ruhe, und da er einen gesunden, festen Schlaf hatte, hörte er zunächst das Klingeln des Telefons nicht. Endlich wachte er doch auf, stieg leise fluchend aus dem Bett und ging zum Apparat.

 

»Hier ist Artur Menden«, meldete sich eine heisere, ängstliche Stimme. »Sie erinnern sich doch, daß ich gestern in Bettys Wohnung mit Ihnen sprach?«

 

»Ja – was ist denn los?«

 

Mendens aufgeregter Ton verriet dem Redner sofort, daß etwas Besonderes vorgefallen sein mußte.

 

»Betty ist entführt worden – ich spreche von ihrer Wohnung aus.«

 

»Entführt?« wiederholte Mr. Rater erstaunt und fuhr sich über die Augen, um festzustellen, daß er wirklich wachte. »Zum Donnerwetter, was meinen Sie denn eigentlich? Aber erzählen Sie mir jetzt keine Einzelheiten, ich komme sofort zu Ihnen.«

 

In höchster Eile kleidete er sich an, aber er war nicht wenig ärgerlich, daß ein höherer Polizeibeamter mitten in der Nacht wegen eines solchen Unsinns aus dem Bett geholt wurde.

 

Als er in Bettys Wohnung ankam, fand er Mr. Menden sehr aufgeregt. Bis Mitternacht hatte der junge Mann von ihrem Verschwinden keine Ahnung gehabt.

 

Obwohl die beiden verheiratet waren, wohnten sie doch getrennt. Im allgemeinen brachten sie den Abend miteinander zu, aber diesmal war er auf ihren Wunsch schon eher nach Hause gegangen. Um halb elf wurde er von einem Unbekannten angerufen. Der Mann gab an, im Auftrag der Ingenieurfirma zu sprechen, für die Menden arbeitete, und ersuchte ihn, sofort zum Hause des Seniorchefs in Kingston Hall zu gehen. Es wäre ein Telegramm aus Bermuda eingetroffen, das der Chef mit ihm besprechen wollte. Mr. Menden wußte, daß seine Firma dort zur Zeit einen großen Auftrag ausführte.

 

Er hatte nicht den geringsten Verdacht, nahm eine Autodroschke und fuhr nach Kingston. Als er zum Haus seines Chefs kam, war dort eine Geburtstagsfeier im Gange, und niemand wußte etwas von dem Anruf. Ebensowenig war ein Telegramm aus Bermuda eingetroffen. Erstaunt und verärgert über den schlechten Scherz fuhr Menden zu seiner Wohnung zurück.

 

Viertel vor eins kam er dort an, und schon auf dem Korridor hörte er das Telefon klingeln. Bettys Dienstmädchen war am Apparat. Sie hatte eine ganze Stunde lang versucht, mit ihm in Verbindung zu kommen.

 

Um elf Uhr war Betty angerufen worden, angeblich von dem Portier von Mr. Mendens Haus. Sie sollte sofort zu seiner Wohnung kommen. Er hatte noch mehr gesagt, aber davon hatte ihre Herrin nichts erzählt. Vor dem Haus wartete ein Auto, und das Mädchen sah, daß Betty mit dem Mann sprach, der daneben stand. Darauf wäre Betty eingestiegen und fortgefahren.

 

»Warum haben Sie denn Ihrer Herrin nicht ein Auto besorgt?« fragte der Redner.

 

Sie erklärte, daß Sie nicht angezogen und Betty schon abgefahren war, als sie sich angekleidet hatte. Beim Fortgehen hatte sie ihr nur noch schnell zugerufen, wohin sie fuhr.

 

»Haben Sie den Mann oder den Wagen erkannt?«

 

Sie schüttelte den Kopf. Es war sehr dunkel, aber sie glaubte, daß es ein Rolls Royce gewesen sein müßte. Jedenfalls war es ein großer Luxuswagen.

 

Sie blieb nun auf, um auf die Rückkehr ihrer Herrin zu warten. Als diese um zwölf noch nicht wieder erschienen war und auch nicht angerufen hatte, wurde sie ängstlich und klingelte bei Menden an, erhielt aber keine Antwort.

 

Weitere Auskunft konnte sie nicht geben.

 

»Julian Linstead steckt dahinter, es kann sonst niemand sein«, sagte Artur nervös und aufgeregt. »Ich habe auf Sie gewartet, Mr. Rater, sonst wäre ich schon persönlich zu seiner Wohnung gefahren.«

 

Der Redner konnte auch keine andere Erklärung für das Verschwinden der jungen Dame finden. Sie hatte keine Freunde in London, und auf keinen Fall wäre sie allein mit einem Fremden fortgefahren.

 

Ein schwacher Anhaltspunkt ergab sich aus der Tatsache, daß sie Schlafanzug, Morgenrock, Pantoffeln und Toilettengegenstände mitgenommen hatte.

 

Kurz darauf trafen Mr. Rater und Artur Menden bei Mr. Linstead ein. Sie klopften eine Zeitlang an der Tür, bis der Hausmeister schließlich im Schlafrock öffnete.

 

Mr. Aldred hatte seine äußere Erscheinung etwas zu auffällig in Unordnung gebracht, um glaubhaft vorzutäuschen, daß er eben aus dem Schlaf gerissen worden sei. Das Haar hing ihm wirr ins Gesicht, und der Redner bemerkte außerdem sofort, daß die Schuhe des Mannes vollkommen zugeschnürt waren.

 

»Nein, Mr. Linstead ist nicht zu Hause. Er ist heute morgen fortgefahren. Soviel ich weiß, ist er nach Paris gereist.«

 

Er sprach etwas zu laut, und Mr. Rater sah ihn scharf an.

 

»Ich bin Polizeibeamter«, sagte er nur und beobachtete, daß die Augenlider des Hausmeisters nervös zuckten. »Ich möchte einen Brief an Mr. Linstead schreiben. Lassen Sie mich bitte herein.«

 

Mr. Aldred nickte stumm, führte ihn in das vornehme Arbeitszimmer und drehte das Licht an. Der Redner setzte sich an den Schreibtisch, sah sich im Zimmer um, bückte sich dann und nahm den Papierkorb auf. Darin fand er zwei zusammengeknitterte Briefumschläge, legte sie auf den Tisch und glättete sie. Der eine war von Betty adressiert und am vergangenen Vormittag aufgegeben worden.

 

Mr. Rater winkte den Hausmeister zu sich.

 

»Dieser Brief wurde heute morgen an Mr. Linstead abgeschickt und ist heute nachmittag hier angekommen. Wer hat ihn denn geöffnet?«

 

Der Mann schluckte verlegen, sagte aber nichts.

 

»Dr. Linstead hat das Schreiben erhalten und gelesen«, fuhr Mr. Rater fort. »Er kann also nicht heute morgen nach Paris gefahren sein.«

 

Mr. Aldred war in die Enge getrieben und wußte nichts zu erwidern.

 

»Wohin ist Mr. Linstead gegangen?«

 

Der Hausmeister schüttelte nur den Kopf und murmelte zusammenhanglose Worte. Offenbar wußte er darüber auch nichts Genaueres. Er sagte schließlich, daß Mr. Linstead zwei Häuser auf dem Lande besäße und manchmal dorthin führe. Das eine lag in Brighton, das andere in Sunningdale. Außerdem hatte sein Herr einen Bungalow an der Themse, dessen Lage Aldred aber nicht kannte. Und die Themse war ein langer Fluß, wie der Redner ironisch bemerkte, an dem viele Villen und Bungalows reicher Leute standen.

 

Mr. Rater fragte auch die anderen Dienstboten aus, konnte aber nichts von ihnen erfahren. Wenn jemand etwas über Mr. Linsteads Aufenthalt wußte, so war es Mr. Aldred, aber der hüllte sich in Schweigen. Schließlich schickte ihn der Chefinspektor weg und beriet sich mit Mr. Menden.

 

»Meiner Meinung nach ist die Sache nicht so ernst, wie Sie annehmen. Aber ich werde schon mehr herausbringen, wenn ich mir diesen Hausmeister einmal vornehme. Gehen Sie eine Stunde lang spazieren und kommen Sie dann wieder. Sie wissen wohl, daß ich in dieser Angelegenheit keinen amtlichen Auftrag habe und daß ich mich den größten Schwierigkeiten aussetze, wenn ich noch weitere Schritte unternehme.«

 

Als sich der junge Mann entfernt hatte, rief der Redner Mr. Aldred und gab sich eine halbe Stunde lang mit ihm ab. Er verhörte ihn in der schärfsten Weise, durchsuchte die offenen Schubladen des Schreibtisches und nahm endlich ein paar Bände von Mr. Linsteads okkultistischen Büchern vom Regal. Als er darin blätterte, lernte er Teufel und Götter kennen, von deren Existenz er bisher keine Ahnung gehabt hatte. Aber seine hauptsächlichste Entdeckung machte er in einem Fach des Schreibtisches.

 

Als Artur Menden zurückkam, hatte Mr. Rater seine Nachforschungen zu einem gewissen Abschluß gebracht und sich eine Meinung gebildet.

 

»Ich glaube nicht, daß Ihrer jungen Frau eine Gefahr droht. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, gehen Sie jetzt ruhig nach Hause und legen sich schlafen. Ich warte hier, bis Onkel Julian auftaucht.«

 

»Wissen Sie denn, wo er sich augenblicklich aufhält?«

 

Der Chefinspektor schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, aber darauf kommt es im Moment auch gar nicht an«, erwiderte er kurz.

 

Menden verabschiedete sich widerwillig von ihm, aber er war zu aufgeregt, um sich zur Ruhe zu legen. Als der Redner später zum Fenster hinausschaute, sah er den jungen Mann auf der anderen Seite der Straße auf- und abgehen.

 

Um halb sieben Uhr morgens hörte Mr. Rater, daß jemand das Haustor aufschloß, kam dem Hausmeister zuvor und schickte ihn wieder in sein Zimmer zurück. Dann öffnete er schnell die Tür.

 

Julian Linstead sah übermüdet aus und war so schläfrig, daß er nicht einmal bemerkte, daß ein Fremder in der Halle stand. Er ging an ihm vorbei und begab sich sofort in sein Arbeitszimmer. Dort wunderte er sich über den Zigarrenrauch, der von Mr. Raters Zigarre herrührte, und als er sich umwandte, stand der Chefinspektor vor ihm.

 

»Was – was ist denn passiert?« fragte er mit stockender Stimme.

 

»Ich bin Ihretwegen hier!«

 

Linstead erkannte ihn plötzlich.

 

»Sie sind doch Mr. Rater von Scotland Yard?« erwiderte er erregt und nervös.

 

Der Redner nickte.

 

»Wo ist Miss Linstead?« fragte er dann kurz.

 

»Meinen Sie meine Nichte?« Julian gab sich alle Mühe, unbefangen zu erscheinen. »Um Himmels willen, ist ihr etwas zugestoßen? Aber woher soll ich denn das wissen?«

 

»Wo ist sie?«

 

»Ich schwöre Ihnen –«

 

»Lassen Sie doch diese Mätzchen, Mr. Linstead«, entgegnete der Redner ärgerlich. »Ich bin nicht die ganze Nacht aufgeblieben, damit Sie mir hier schließlich Märchen vorerzählen. Sie ist in Ihrem Bungalow an der Themse, das ist ganz klar. Ich weiß nur nicht genau, wo er liegt. Aber wenn ich nach Scotland Yard gehe, kann ich das schnell genug herausbekommen!«

 

Mr. Linstead sah ihn bleich und verstört an.

 

»Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig«, sagte er und schien plötzlich um Jahre gealtert zu sein. »Sie ist tatsächlich dort, wo Sie sagen, aber sie ist sicher, und es geht ihr gut. Ich habe sie am Abend dorthin gebracht und eine Krankenwärterin aus der Irrenanstalt engagiert, die sie betreut. Es wird ihr nichts passieren, und ich hoffe, daß sie zur Vernunft kommt ich will damit gerade nicht sagen, daß sie geisteskrank ist«, fügte er schnell hinzu, »nur …«

 

»Nur achten Sie viel zu sehr auf das, was Ihr verrückter Freund, dieser Professor Hoylash, sagt«, entgegnete der Redner ruhig.

 

Julian Linstead schaute schnell auf.

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Und aus diesem Grund wollen Sie auch Ihre Nichte daran hindern, zu heiraten. Nun, ich kann Ihnen etwas mitteilen, das Sie sicher sehr interessiert: Sie ist längst verheiratet!«

 

In Mr. Linsteads Blick zeigten sich Angst und Entsetzen.

 

»Was – sie ist verheiratet?« fragte er mit heiserer Stimme.

 

»Ja, bereits vor vier Monaten ist sie standesamtlich getraut worden.«

 

Der Schrecken wich allmählich wieder aus Linsteads Zügen, und schließlich seufzte er erleichtert auf.

 

»Vor vier Monaten schon? Aber das ist doch unmöglich –«

 

»Es ist nichts unmöglich. Nur die Horoskope stimmen manchmal nicht. Ich habe etwas in Ihren Büchern gelesen, und das übrige konnte ich mir zusammenreimen. Außerdem habe ich zwei Horoskope in Ihrem Schreibtisch gefunden, die Professor Hoylash aufgestellt hat – das eine für Sie, das andere für Ihre Nichte. Der gute Mann hat ausgerechnet, daß Sie an dem Hochzeitstag Ihrer Nichte sterben würden. Und vier Monate nach diesem gefährlichen Zeitpunkt sind Sie noch munter und vergnügt am Leben!«

 

»Aber sie hat mir doch nie gesagt, daß sie … Warum hat sie mir denn dann geschrieben, daß sie morgen – in einer Kirche heiraten würde?«

 

»Sie wird schon ihren Grund dafür haben«, erwiderte der Redner trocken. »Es sollte mich nicht wundern, wenn Sie bald Großonkel würden.«

 

Geschmuggelte Smaragde

 

Geschmuggelte Smaragde

 

Chefinspektor Rater hatte einen Freund beim Finanzamt, der beinahe ebenso schweigsam war wie er selbst. Wenn er sich einmal erholen wollte, machte er mit diesem Mann weite Spaziergänge. Manchmal ließ Mr. Rater dann im Laufe des Tages die Bemerkung hören, daß es nach Regen aussähe, und beim nächsten Ausflug tat sein Freund eine ähnliche Äußerung. Gelegentlich sagte auch der Beamte vom Finanzamt, daß sie wahrscheinlich den falschen Weg gegangen wären, aber gewöhnlich nahmen sie den richtigen und hatten also keine Veranlassung, darüber zu reden. Zuweilen brachten die beiden Freunde das ganze Wochenende miteinander zu. Dann saßen sie in einem flachen Boot, das am Ufer festgebunden war, und machten schweigend Jagd auf die stummen Fische.

 

Ein gewisser Mark Ling, der hauptberuflich ein Verbrecher war, besaß in der Nähe von Marlow eine Villa, und es war sein Lieblingstraum, daß der Chefinspektor eines guten Tages mit dem Kahn umkippen und ertrinken möchte. Stundenlang lag er flach auf der Wiese, drückte sich ins Gras und beobachtete die beiden reglosen Gestalten, die wie holzgeschnitzte Götterstatuen in ihrem Fahrzeug saßen. Aber das Schicksal erfüllte seinen Wunsch nicht, obwohl er schon einen Bootshaken mitgebracht hatte, um den verhaßten Mr. Rater auch lange genug unter Wasser zu halten.

 

Manchmal hatte Mr. Ling selbst Besuch. Steiny Lamb hatte manche Interessen mit ihm gemeinsam, und sie sprachen meist über geschäftliche Angelegenheiten. Und zwischen ernsthaften Unterhaltungen über Nachschlüssel, Fensteröffner und die beste Art, Polizeistreifen aus dem Weg zu gehen, lagen sie lange Zeit im Grase und beobachteten Mr. Rater und seinen Freund.

 

»Man kann ja sein eigenes Wort nicht verstehen bei dem vielen Gerede«, meinte Mark ironisch. »Ich möchte nur wissen, wer der andere Kerl ist.«

 

»Der sieht nicht so aus, als ob er von der Polente wäre«, entgegnete Steiny.

 

»Polypen befreunden sich nicht miteinander«, erklärte Mark. »Sie trauen einander nicht, weil sie sich zu gut kennen.«

 

Mark hatte auch eine Stadtwohnung in Soho. Er gehörte nicht zu den Verbrechern, die drei Monate des Jahres in Armut und Schmutz zubringen, vierzehn Tage in Saus und Braus leben und die übrigen achteinhalb Monate im Gefängnis sitzen. Im Gegenteil, Mark Ling verdiente dauernd viel Geld. Er ließ seine Pläne durch kleinere Leute ausführen, hinter denen er sich versteckte. Auch Steiny war für ihn tätig; aber er war etwas zu neugierig.

 

»Wer hat denn neulich das Ding in Leicester gedreht?« fragte er bei seinem Besuch in Marlow.

 

Mark sah ihn böse an. Die Sache in Leicester war eine unangenehme Angelegenheit. Fast ein volles Jahr hatte er damit zugebracht, alle Einzelheiten über die berühmte Gürtelschnalle der Familie Couper in Erfahrung zu bringen, und dann war ihm ein anderer zuvorgekommen und hatte ihm das Stück vor der Nase weggeschnappt. Es waren vierzehn Brillanten auf der Schnalle, und jeder Stein hatte etwa vierzehn Karat. Alle Juweliere kannten das Stück.

 

»Ich weiß es nicht, aber ich vermute, daß es die Birmingham-Bande war«, erwiderte Ling ärgerlich. »Und ich bin froh, daß ich nichts damit zu tun habe. Ich möchte nur wissen, wie die Kerle die Steine aus dem Lande schaffen wollen! Wer das versucht, legt sich ja selbst den Strick um den Hals.«

 

Es gab nur wenig Leute, die etwas von Mark Lings eigentlicher Tätigkeit ahnten. Er war mehr als nur ein tüchtiger Einbrecher, er war auch der Schlaueste, wenn es galt, die Beute zu veräußern. Er konnte gestohlene Juwelen ins Land und ebenso über die Grenze schmuggeln; er kannte alle bedeutenden Hehler auf dem Festland und wußte immer, wo die gestohlenen Dinge den besten Unterschlupf fanden. Innerhalb weniger Tage konnte er gestohlene englische Banknoten, deren Nummern notiert waren, in einem Dutzend fremder Städte unterbringen.

 

Bei seinen Auftraggebern stand er jedoch nicht in dem besten Ruf, denn Steine und Geld verschwanden manchmal bei dem Transport. Die Leute gaben sich nach außen hin mit der Erklärung zufrieden, daß er die Polizei auf dem Festland hätte bestechen müssen, aber sie waren gewarnt und beschäftigten ihn nicht so leicht wieder. In gewisser Weise hatten sie ihn jedoch sehr nötig, denn Postpakete nach Brüssel, Antwerpen und Amsterdam werden häufig von den Zollbeamten geöffnet, und auf diese Weise waren schon viele unrechtmäßig erworbene Schmuckstücke verlorengegangen.

 

Mark machte aber trotzdem Geschäfte, da er drei verschiedene Sprachen beherrschte, zu reisen verstand und besser als jeder andere mit Zollbeamten fertig wurde.

 

Aber einmal betrog er einen kleinen Hehler in Newcastle, und der merkte sich die Sache.

 

In Scotland Yard gab man sich die größte Mühe, den Verbleib der berühmten Gürtelschnalle ausfindig zu machen. Man hätte das kaum glauben sollen, wenn man den Redner beim Angeln sah.

 

Steiny war ziemlich klein und hatte ein faltiges, pockennarbiges Gesicht. Außerdem besaß er zwei Untugenden: Er schwätzte, und er war neugierig, besonders neugierig wegen eines kürzlich verübten Einbruchs, bei dem äußerst wertvolle Schmuckstücke gestohlen worden waren.

 

»Bei der Sache in Burrow Hill waren Sie doch auch dabei, Mr. Ling?«

 

Mark maß ihn mit einem kalten Blick.

 

»Wer hat Ihnen denn den Bären aufgebunden?«

 

Steiny entschuldigte sich sofort.

 

»Sie wissen doch, daß viel geredet wird. Aber ich will Ihnen lieber die Wahrheit sagen, Mr. Ling. Ich sah, wie Sie aus dem St.-Pancras-Bahnhof kamen, am Morgen, nachdem das Ding gedreht wurde, und da habe ich mir eben die Geschichte zusammengereimt.«

 

»Merkwürdig, daß Sie immer die verkehrten Schlußfolgerungen ziehen«, erwiderte Mark lächelnd. »Übrigens, was diesen Geldverleiher betrifft… Ich kann Ihnen die Werkzeuge und alles Nötige beschaffen, und ich kann Ihnen auch sagen, wo Sie einen Wagen bekommen. Wieviel Leute brauchen Sie denn dazu?«

 

Steiny überlegte und meinte, daß drei genügen würden.

 

Für die Beschaffung der Werkzeuge und des Wagens partizipierte Ling an dem Gewinn solcher Unternehmungen, an denen er persönlich nicht teilnahm.

 

»Hoffentlich nehmen Sie mir nicht übel, was ich vorhin sagte«, bat Steiny, der wohl bemerkte, daß die Situation gespannt war. »Sie sind ein großer Mann, und ich möchte gern weiter mit Ihnen arbeiten. Sie fahren auch nicht schlecht dabei. Ich kenne mehr Leute im Fach als Sie, vor allem einen Hehler, von dem Sie sicher noch nie etwas gehört haben. Darauf gehe ich jede Wette mit Ihnen ein. Ich bin der einzige, der ihn ausfindig gemacht hat und seine Methoden kennt.«

 

»Wenn ich Ihren Rat und Ihre Kenntnis brauche, werde ich mich schon bei Ihnen erkundigen.

 

»Ich wollte eigentlich nur sagen, daß ich Sie neulich abends sah …«, begann Steiny.

 

»Sie sehen verdammt viel«, brummte Mark mit einem bösen Lächeln.

 

Eine Woche später traf Steiny mit zwei Kollegen in der Nähe von Soho Square zusammen. Von dort begaben sie sich auf verschiedenen Wegen zu dem Geschäft eines Geldverleihers.

 

Es war Samstagabend und das Haus daher wohlverschlossen. Mark hatte die Sache ausfindig gemacht und den Plan für den Einbruch zusammengestellt. Steiny ging mit seinen Freunden in eine Seitenstraße, um von der Hinterseite aus in das Haus einzudringen. Kaum zwölf Schritte entfernt stand ein Lieferauto, das in großen Buchstaben den Namen einer Dampfwäscherei trug. Aber das einzige Leinenzeug, das der Wagen enthielt, gehörte elf Polizisten vom Überfallkommando.

 

Nachher gab es eine kleine Rauferei, wobei Steinys Partei den kürzeren zog.

 

»Na, da ist also nichts zu machen, Mr. Rater«, meinte er. »Das war eine abgekartete Sache, um uns hereinzulegen. Aber seit wann sind Sie denn beim Überfallkommando? Bei der Polizei kennt man sich doch nie aus. Jeden Tag stecken Sie woanders.«

 

Der Redner schwieg.

 

»Machen Sie es gnädig, Mr. Rater«, bat Steiny. »Wir haben ja noch nichts Böses getan – können Sie mich nicht nach der neuen Verordnung anzeigen?«

 

Der Chefinspektor war in guter Stimmung. Bei der Anklage gegen Steiny wurde zum Ausdruck gebracht, daß man ihn gefangengesetzt hatte, um ein Verbrechen zu verhüten. Dabei kam er glimpflicher davon, als wenn man ihn verhaftet hätte wegen Umhertreibens mit der Absicht, einen Einbruch zu begehen.

 

Während der Verhandlung sah sich Steiny von der Anklagebank aus im Saal um. Unter anderen Bekannten entdeckte er auch Mark, der wieder sehr elegant gekleidet war und eine neue Freundin hatte, eine hübsche, schlanke junge Dame. Mark verstand es immer, die Bekanntschaft hübscher Damen zu machen. Er schaute zu Steiny hinüber. Aber dieser tat so, als ob er ihn nicht bemerkte.

 

Er hatte schon von Mr. Lings neuer Freundin gehört, denn Mark sprach gern über seine Eroberungen. Das war also die junge Dame, deren Vater ein Juweliergeschäft besaß. Steiny interessierte sich für den Fall. Nachdem ihm seine Strafe zudiktiert worden war, sah er den Chefinspektor.

 

»Sagen Sie mir doch nur, wer mich verpfiffen hat.«

 

Aber der Redner schüttelte nur mißbilligend den Kopf.

 

»Ich wette mit Ihnen, es war ein hübscher, eleganter Kerl, der immer den Kavalier spielt und hinter den Mädels her ist.«

 

Steiny wollte verzweifeln, als der Redner nicht das geringste Wort sagte.

 

»Donnerwetter, Mr. Rater, ich glaube, Sie sprechen nicht einmal im Schlaf!«

 

»Bloß keine große Lippe riskieren«, ermahnte ihn der Chefinspektor sanft.

 

Es gab nur einen »hübschen, eleganten Kerl« in der Verbrecherwelt, und das war Mark Ling. Der Redner wußte sehr gut, daß Mark der Polizei den geplanten Einbruch bei dem Geldverleiher verraten hatte. Wenn er auch nur den geringsten Zweifel gehabt hätte, daß Mark an dem Diebstahl der Couperschen Gürtelschnalle beteiligt war, hätte er die Sache verfolgt; aber Marks Alibi war unanfechtbar.

 

»Wissen Sie etwas über die Couper-Brillanten, Steiny?«

 

»Nein, und wenn ich etwas wüßte, würde ich Ihnen nichts davon erzählen«, erwiderte der kleine Mann. »Ich gehöre nicht zu den Angebern.«

 

Dann lachte er plötzlich laut auf und lachte immer weiter, so daß der Redner schon glaubte, der Gefangene hätte einen hysterischen Anfall bekommen.

 

»Schon gut, Mr. Rater«, sagte Steiny und trocknete sich die Augen. »Es ist nur ein kleiner Scherz – ich danke Ihnen auch für alles, was Sie für mich getan haben.«

 

Vom Polizeigericht ging Mark mit seiner hübschen Begleiterin nach Westen zu. Pauline war die Tochter des angesehenen Juweliers Eddering. Mark hatte ihre Bekanntschaft in einem Kino gemacht.

 

»Es war doch traurig zu sehen, daß der arme Mann verurteilt wurde«, meinte sie.

 

Er lachte.

 

»Es ist Ihre eigene Schuld, ich hätte Sie ja niemals mitgenommen. Aber Sie sagten doch, daß Sie noch nicht auf dem Polizeigericht waren und gern einmal einer Verhandlung beiwohnen möchten.«

 

Sie seufzte schwer.

 

»Ich hätte nicht daran gedacht, hinzugehen, wenn Sie nicht gesagt hätten, daß Ihre Anwesenheit dort notwendig wäre. Ich weiß nicht, was für einen seltsamen Einfluß Sie auf mich ausüben.«

 

Sie sprach manchmal wie eine Romanfigur, aber auf Mark machten ihre Worte immer großen Eindruck.

 

»Wann fahren Sie ins Ausland?« fragte sie plötzlich.

 

»Nächsten Freitag.«

 

Er hatte jedoch die Absicht, London schon am Donnerstag zu verlassen, weil er Steinys wegen nicht ganz sicher war. Außerdem war er sehr unruhig, weil sein Haus schon zweimal von Beamten der Kriminalpolizei aufgesucht worden war. Es paßte ihm gar nicht, daß die Leute sich so eingehend beim Portier nach seinem jeweiligen Aufenthaltsort erkundigt hatten. Zu seinem Bedauern erkannte er, daß er die kleine Villa in der Nähe von Marlow würde aufgeben müssen.

 

Die junge Dame seufzte wieder.

 

»Ich wünschte, Sie würden nicht fortfahren. Freitag bin ich nämlich ganz allein zu Hause und muß über diesem entsetzlichen Laden schlafen. Mein Vater reist nach Manchester, und ich fürchte mich schrecklich vor dem Alleinsein. Wenn ich daran denke, daß ein Einbrecher ins Haus kommt … Vor dem Gericht haben wir doch eben gesehen, was alles möglich ist. Der Safe ist nicht sehr sicher, den kann jeder aufbrechen. Wenn mein Vater doch nur die Smaragde zur Bank bringen wollte! Dann würde ich mich viel wohler fühlen …«

 

Sie brach plötzlich ab, als ob ihr zum Bewußtsein gekommen wäre, daß sie zuviel gesagt hatte.

 

»Von den Smaragden hätte ich Ihnen nichts erzählen sollen«, sagte sie bedauernd. »Aber es ist doch wirklich zu lächerlich. Da liegen nun für siebzehntausend Pfund Steine in dem dünnen Blechschrank!«

 

Er fragte sie nicht danach aus, im Gegenteil, er schien nicht das geringste Interesse für die Sache zu haben.

 

»Das ist allerdings viel Geld – Ihr Vater muß ziemlich reich sein.« Mehr erwiderte er nicht darauf.

 

»Reich! Ich zweifle, ob mein Vater überhaupt tausend Pfund wirkliches Vermögen hat! Diese Smaragde wurden ihm ja nur von einer russischen Dame übergeben. Sie wollte sie neu fassen lassen. Das war vor zwei Jahren, und seitdem haben wir nie wieder etwas von ihr gehört. Mein Vater glaubt, daß sie nach Rußland zurückgegangen und daß sie dort eingesperrt worden ist.«

 

Mark begleitete sie nach Hause und traf dort ihren Vater. Es war das zweitemal, daß er mit dem Juwelier zusammenkam. Mr. Eddering war ein ältlicher, etwas gebeugter Mann, der sich kaum für seine Tochter, noch viel weniger für ihren Freund zu interessieren schien.

 

Der Laden war klein, aber das Geschäft in billigen Schmuckstücken ging ziemlich gut. Mark betrachtete nun zum erstenmal den Geldschrank mit kritischen Blicken. Das verhältnismäßig altmodische Stück stand unter dem Kassentisch. Erfahrene Geldschrankknacker konnten diesen Safe beinahe mit einem starken Taschenmesser öffnen.

 

»Das Geschäft geht sehr schlecht«, brummte Mr. Eddering und schüttelte den Kopf. Er hatte immer etwas auszusetzen. »Heute habe ich erst zwei Paar Trauringe verkauft.«

 

»Ich erzählte Mr. Lewis« – unter diesem Namen hatte sich Mr. Ling Pauline vorgestellt – »von der russischen Dame und den Smaragden, die sie dir gegeben hat«, erklärte seine Tochter, als sie sich an den Teetisch setzten. Ein Gehilfe betreute währenddessen den Laden.

 

Der Juwelier rieb ärgerlich das unrasierte Kinn.

 

»Ich möchte gern wissen, wie eigentlich die juristische Lage in diesem Fall ist«, sagte er und schaute mit gerunzelter Stirn zu Mark hinüber. »Einige meiner Geschäftsfreunde meinen, ich müßte in den Zeitungen inserieren, daß ich die Steine verkaufe, um meine Arbeit bezahlt zu machen. Aber das erscheint mir doch etwas zu rigoros. Die Rechnung beträgt kaum zwanzig Pfund.«

 

»Ich liebe Smaragde sehr – könnte ich die Steine vielleicht einmal sehen?« fragte Mark gleichgültig.

 

Mr. Eddering warf ihm einen mißmutigen Blick zu und schüttelte den Kopf.

 

»Das geht nicht. Sie sind alle schon für die Dame eingepackt, und ich kann das versiegelte Paket nicht wieder öffnen.«

 

»Sind sie denn versichert?«

 

Der Juwelier sah ihn geringschätzig an.

 

»Glauben Sie, ich wäre so dumm, derartig kostbare Juwelen nicht zu versichern?«

 

Später ging er in seinen Laden und ließ die beiden allein.

 

»Manchmal kommt es mir wirklich so vor, als ob mein Vater nicht mehr ganz bei Verstand wäre«, sagte Pauline ratlos. »Sehen Sie sich das einmal an.« Sie zeigte aus dem Fenster auf den kleinen Hof, der hinter dem Haus lag.

 

Dort befand sich eine Mauer, die kaum mehr als zwei Meter hoch war.

 

»Jeder kann doch über die Mauer klettern und im Handumdrehen durch das Fenster steigen. Nicht einmal Alarmglocken hat er anbringen lassen. Manchmal fürchte ich mich tatsächlich zu Tode. Mein Vater hat zwar einen Revolver, aber ich glaube, wenn es darauf ankommt, gebraucht er ihn nicht einmal.«

 

»Er sollte Sie nicht allein lassen«, erwiderte Mark kopfschüttelnd. »Wer schläft denn außer Ihnen noch im Haus?«

 

Er erfuhr, daß das junge Dienstmädchen im Erdgeschoß eine Stube hatte, aber sie war selbst so furchtsam, daß sie sich jede Nacht einschloß. Außerdem wohnte noch ein ziemlich alter Portier im Souterrain.

 

»Natürlich haben wir Telefon, aber das ist hier unten in diesem Zimmer. Was soll ich machen, wenn ich nachts aufwache und höre, daß Leute im Laden sind?«

 

»Furchtbar einfach – Sie reißen das Fenster auf und rufen um Hilfe.«

 

»Dazu hätte ich wohl kaum den Mut«, sagte sie zitternd. »Ich glaube, ich würde den Kopf unter die Decke stecken und warten, bis sie gegangen sind.«

 

Mark blieb noch eine Stunde. Als er das Haus verließ, bemerkte er zu seinem Schrecken, daß auf der anderen Seite der Straße ein Beamter von Scotland Yard stand, und zwar einer der besten Leute des Chefinspektors Rater.

 

Mark ging einige Schritte weiter und hoffte, daß er nicht beobachtet worden war. Aber nach kurzer Zeit traf er einen zweiten Detektiv. Er stieß beinahe mit ihm zusammen und wurde erkannt.

 

»Hallo Mark«, sagte der Mann freundlich. »Haben Sie Einkäufe gemacht?«

 

Die vertrauliche Anrede beleidigte Mr. Lings Feingefühl. Er war noch niemals in den Händen der Polizei gewesen, und wenn er auch unter noch so großem Verdacht stehen mochte, hatte doch ein seiner Meinung nach drittklassiger Detektiv noch nicht das Recht, ihn beim Vornamen anzureden. Es war wirklich Zeit, den Schauplatz seiner Tätigkeit in ein anderes Land zu verlegen, wo sich die Polizei höflicher benahm. Ohne ein Wort zu erwidern, ging er weiter.

 

Am Abend fuhr er nach Marlow, suchte dort das Wichtigste zusammen und kehrte wieder in seine Londoner Wohnung zurück. Hier packte er einen Koffer und schickte ihn durch einen Träger zur Aufbewahrung auf den Bahnhof.

 

Es war eigentlich nicht seine Absicht gewesen, England allein zu verlassen, aber Miss Eddering hatte merkwürdig altmodische Ansichten und glaubte nicht, daß ein junges Mädchen allein mit ihrem Freund nach Belgien und Frankreich reisen könnte. Es wäre ihm vielleicht gelungen, sie trotzdem zu überreden, aber jetzt hatte sich die Lage geändert. Wenn die Polizei ihn verfolgte, war Pauline höchstens ein Hindernis für ihn.

 

Am nächsten Nachmittag traf er sie und stellte mit Befriedigung fest, daß er seine Pläne nicht zu ändern brauchte. Mr. Eddering fuhr nicht am Freitag, sondern schon am Mittwoch nach Manchester. Das paßte Mark vorzüglich, denn er hatte für Donnerstag eine Kabine belegt.

 

»Ich habe mich entschlossen, am Donnerstag nicht im Hause zu bleiben«, sagte sie. »Nach Ladenschluß gehe ich zu einer Freundin. Ich könnte es nicht allein aushalten.«

 

»Hoffentlich hat Ihr Vater einen besonderen Wachtmann für die Nacht engagiert, wenn Sie fortgehen«, erwiderte er in scheinbar besorgtem Ton.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Er ist schrecklich geizig. Es ist mir sehr unangenehm, daß ich das von meinem eigenen Vater sagen muß. Er verläßt sich auf diesen alten, schwachen Safe.« –

 

Am Abend klingelte es an Mark Lings Wohnungstür, und er ging selbst, um nachzusehen. Als er öffnete, sah er den einzigen Mann in der Welt vor sich, dem er nicht begegnen wollte.

 

»Kann ich näher treten?« fragte der Redner.

 

Mark machte die Tür weiter auf und ließ Mr. Rater ein. Er mußte seine ganze Willenskraft zusammennehmen, um sich nicht von hinten auf den Mann zu stürzen, als er ihm ins Wohnzimmer folgte.

 

»Ganz allein?« erkundigte sich Mr. Rater.

 

Mark nickte.

 

»Ich wollte Sie einmal wegen der Couper-Brillanten fragen.«

 

»Sie wissen doch ganz genau, daß ich mit der Sache nichts zu tun habe«, erwiderte Mark grinsend. »Ich habe mich noch nie an solchen unsauberen Geschichten beteiligt. Warum die Polizei auf den Gedanken gekommen ist, daß ich ein Verbrecher bin, kann ich überhaupt nicht verstehen. Ich bin doch noch niemals verhaftet worden …«

 

»Die meisten Leute, die an den Galgen kommen, haben früher noch nicht im Gefängnis gesessen.«

 

Mark lachte.

 

»Nun, Sie werden mich doch nicht gleich aufhängen wollen!«

 

Mr. Rater setzte sich an den Tisch und blätterte in seinem Notizbuch.

 

»Ich weiß genau, daß Sie nicht in Mittelengland waren, als der Einbruch verübt wurde, aber ich habe trotzdem das Gefühl, daß Sie die Hand im Spiel hatten. Ich möchte Ihnen offen sagen, warum ich herkomme. Ich brauche die Steine, und ich bin in der Lage, eine große Summe zu bezahlen, wenn ich sie zurückbekommen kann.«

 

»Dann müssen Sie sich aber wirklich an eine andere Adresse wenden«, entgegnete Mark erleichtert.

 

Er konnte auch beruhigt sein, denn dieses eine Mal stand er unter dem Verdacht, ein Verbrechen begangen zu haben, an dem er tatsächlich unschuldig war.

 

»Ich glaube, Sie haben eine vollkommen verkehrte Meinung. Sie denken, weil Sie noch nicht verhaftet waren, werden Sie nicht schwer bestraft, wenn wir Sie einmal fassen?«

 

»Da siebt man wieder einmal, welche Vorurteile die Polizei hat«, sagte Mark ironisch. »Wenn ich wegen der Couper-Brillanten eine lange Strafe bekomme, werde ich das Opfer einer schamlosen Polizeimache.«

 

Er atmete auf, als Rater gegangen war. Die letzten Vorbereitungen zu seiner Abreise waren getroffen. Am Donnerstagabend ging er bei Einbruch der Dunkelheit zu dem Juweliergeschäft. Der Rolladen war heruntergelassen und die Tür fest verschlossen. In keinem der oberen Räume brannte Licht.

 

Mark schlenderte durch die hintere Straße, bis er an die niedrige Mauer kam. Er sah sich vorsichtig um, konnte aber niemand entdecken. Wenige Augenblicke später stand er in dem Hof, denn er war ein gewandter Kletterer.

 

Das hintere Fenster ließ sich leicht öffnen, und er stieg in das Speisezimmer ein, in dem es nach Mr. Edderings Pfeifenqualm roch.

 

Die Tür, die zum Laden führte, war verriegelt, aber nicht verschlossen. Mark horchte an dem Eingang zum bewohnten Teil des Hauses und drückte dann behutsam die Klinke herunter. Die Tür war verschlossen, und darüber war er nur froh. Er gebrauchte eine kleine Taschenlampe, die er an dem obersten Knopf seiner Weste befestigte, als er sich an den Safe machte. In aller Ruhe nahm er eine der Birnen aus dem Kronleuchter und schraubte den Kontakt seines elektrischen Bohrers ein. Nach dreiviertel Stunden hatte er das Schloß bewältigt, und mit einem Ruck öffnete er die Tür. Nachdem er viele Geschäftsbücher herausgenommen hatte, entdeckte er eine kleine Schublade, die nicht einmal verschlossen war. Dort fand er ein flaches, sorgfältig versiegeltes Päckchen. Auf dem Etikett stand »Prinzessin Suwarow – neugefaßte Smaragde«.

 

Er ließ es in seine Tasche gleiten und untersuchte auch noch den Rest des Schrankinhalts. Aber es war nichts mehr darunter, was das Mitnehmen gelohnt hätte.

 

Er schloß die Schranktür, schraubte den Bohrer ab und verließ das Haus auf demselben Weg, auf dem er gekommen war. Vorher verriegelte er die Ladentür wieder und schloß auch das Fenster, ehe er in den Hof hinuntersprang.

 

Als er die Hauptstraße wieder erreichte, sah er auf seine Uhr. Sie zeigte zwanzig Minuten vor zehn. Mit großer Sorgfalt hatte er den Zeitpunkt seiner Abreise gewählt. Er schloß sich einer größeren Gesellschaft an, die eine gemeinsame Fahrt nach Brüssel machte und sowohl einen Sonderzug als auch einen Schnelldampfer zur Verfügung hatte. Und als der Zug um zehn Uhr den Victoria-Bahnhof verließ, befand sich Mark unter den Passagieren und saß bereits im Speisewagen, wo das Abendessen serviert werden sollte.

 

Selbst in der großen Gesellschaft benahm er sich möglichst unauffällig. Als er in Dover ankam, sah er den Träger, den er gewöhnlich benützte, und überreichte ihm seinen Koffer. Gleichzeitig nahm er auch das Päckchen aus der Tasche.

 

»Stecken Sie das ein und geben Sie es mir zurück, wenn ich an Bord komme.«

 

Diese Vorsichtsmaßregel war gerechtfertigt, denn Mark war einer der drei Passagiere, die aus der großen Gesellschaft ausgewählt und besonders durchsucht wurden.

 

»Es tut mir sehr leid, daß ich Sie belästigen muß«, sagte der Beamte, der die Visitation vornahm. »Aber es ist eine neue Verfügung herausgekommen, daß von hundert Passagieren einer besonders durchsucht werden muß.«

 

Mark wußte genau, daß eine solche Verfügung nicht herausgekommen war.

 

Auf dem unteren Deck fand er seinen Gepäckträger in heller Aufregung.

 

»Denken Sie, man hat Ihren Koffer geöffnet!« sagte der Mann. »Ich habe ihn eben in Ihre Kabine gesetzt.«

 

Er steckte ihm das Päckchen wieder zu. Mark stand dicht neben einem Rettungsboot und konnte, wenn er die Hand ausstreckte, den oberen Rand erreichen. Vorsichtig legte er das Päckchen auf eine der Ruderbänke und ging dann zu seiner Kabine, wo ein Herr auf ihn wartete. Er war in Zivil, aber sofort erkannte Mark einen Detektiv von Scotland Yard.

 

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie noch einmal störe. Mein Kollege sagte mir, daß er vergessen hat, Ihren Mantel zu durchsuchen.«

 

Der Kollege hatte ihm das natürlich nicht gesagt, aber Mark ließ sich lächelnd die nochmalige Durchsuchung gefallen.

 

Am nächsten Morgen kamen sie vor Tagesanbruch in Ostende an. Während der vierstündigen Überfahrt hatte sich Mark auf dem Dampfer gut umgesehen und einen älteren Herrn entdeckt, der seekrank geworden war und sich nicht um seine Umwelt kümmerte. Mark bemühte sich um ihn, und der Mahn war dankbar, daß der Mitreisende ihm bei der Ankunft half, das Gepäck zu sammeln.

 

Als Mr. Ling zur Zollstation ging, wurde er aufs neue angehalten. Diesmal führten ihn zwei belgische Detektive in ein kleines Büro und nahmen dort eine Leibesvisitation vor. Aber das Päckchen befand sich in der Manteltasche des seekranken Passagiers, und als er ihm später in ein Auto half, holte er es unbemerkt wieder heraus.

 

Er selbst nahm keinen Wagen, ließ seinen Koffer auf der Station und ging zu Fuß die windige Uferstraße entlang, bis er zu einem kleinen Hotel am Nordende des Kais kam. Er war gerade um die Ecke des einsamen Gebäudes gegangen, als er plötzlich angerufen wurde.

 

»Hände hoch!«

 

Aus dem Dunkel trat ein Mann auf ihn zu, der das Gesicht halb mit einem Taschentuch verdeckt hatte und eine Browningpistole in der Hand hielt.

 

Mark gehorchte.

 

»Nimm ihm das Päckchen ab, Annie«, sagte der Fremde, und gleich darauf trat eine Dame auf Mr. Ling zu.

 

Sie kam nahe an ihn heran, steckte die Hand in seine Tasche und nahm das Päckchen heraus …

 

Pauline Eddering hatte ein ganz besonderes Parfüm gebraucht. Mark erkannte den Duft und war starr vor Staunen.

 

»Ich kenne Sie seit langem, Mark Ling«, sagte der Mann mit der Pistole. »Als ich damals mein Geschäft in Newcastle betrieb, haben Sie mich mit dreitausend Pfund hereingelegt. Ich mußte diese Steine nach dem Kontinent schaffen, und Sie waren der geeignetste Mann, sie für mich herüberzubringen –«

 

Plötzlich standen sie im hellen Licht vieler Taschenlampen, und von allen Seiten traten bewaffnete Polizisten auf sie zu.

 

Mark hörte, wie die junge Dame plötzlich heftig atmete, und fühlte, daß sie das Päckchen, das sie schon halb aus seiner Tasche gezogen hatte, wieder zurückgleiten ließ. Bevor er es wegwerfen konnte, sprach ihn Chefinspektor Rater an.

 

»Ach so, Sie haben wohl zufällig die Couper-Brillanten bei sich, Mark?«

 

Im Pentonville-Gefängnis wurde Steiny als Maler beschäftigt und hatte dabei Zeit und Gelegenheit, nach Herzenslust mit seinen Kameraden zu schwatzen.

 

»Sehen Sie, das ist er, den sie gerade in die Zelle bringen. Morgen kommt er nach Wormwood Scrubbs. Haben Sie schon einmal von Mark Ling gehört? Ein gerissener Kerl ist das. Und ich hätte dem verdammten Hund das alles ersparen können. In dem Augenblick, als ich ihn mit dem Mädel zusammen sah, wußte ich, was los war. Ich habe nämlich mit ihrem Vater Geschäfte gemacht. Sie ist ebenso tüchtig wie der Alte … Sieben Jahre bekam Mark, siebzig hätten es sein sollen!«

 

Der Fall Freddie Vane

 

Der Fall Freddie Vane

 

Johnny Crewe, der mehr Geld als Verstand besaß, wollte Theaterdirektor werden. Er war nämlich in Miss Dian Donald verliebt, eine Schauspielerin, die bis jetzt nur kleine Rollen gespielt hatte. Die großen studierte sie nur, um einzuspringen, wenn die Hauptschauspielerin erkrankte. Aber bisher hatte sie in der Beziehung wenig oder gar kein Glück gehabt.

 

Dian sah der berühmten Schauspielerin Alana Vane so ähnlich, daß sie oft mit ihr verwechselt wurde. Sie hatte dasselbe Haar, dieselbe Gestalt, sogar dieselbe Stimme. Und sie hatte zweifellos sehr schöne Beine, da sie immer in den Besprechungen der Kritiker erwähnt wurden, wenn sie einmal auftrat. Johnny Crewe ärgerte sich natürlich darüber, daß dergleichen überhaupt in die Zeitungen gesetzt wurde.

 

Andererseits verhielt er sich sehr vernünftig, denn er war mit ihrer Theaterlaufbahn einverstanden und hatte einen unerschütterlichen Glauben an ihren endgültigen Erfolg, den er fast noch mehr herbeisehnte als sie selbst.

 

Er hätte sie ohne weiteres heiraten können, denn er war verhältnismäßig wohlhabend. Aber Dian Donald sollte vor allem Gelegenheit haben, ihr Talent zu zeigen, und unter diesen Umständen war eine Heirat natürlich ausgeschlossen. Das hätte ihre Stellung bei der Bühne sofort erschüttert, die sie sich mit soviel Mühe aufgebaut hatte. Und gerade jetzt schien sie soweit zu sein, daß der endgültige Erfolg nicht mehr lange ausbleiben konnte.

 

Alana pflegte abfällige Bemerkungen über eine eventuelle Heirat Dians zu machen. Miss Donald lernte sie erst persönlich kennen, als Alana schon über ihre erste Blütezeit hinaus war und sich scharfe Linien um ihre Mundwinkel zu ziehen begannen. Aber für Dian blieb sie immer noch die schönste Frau auf der Welt, und das Publikum dachte ebenso. Solange Alana im Elcho-Theater auftrat, war das Haus ausverkauft, und die Leute standen in langen Schlangen vor der Theaterkasse. Sie hatte mehr Operetten gerettet und mehr mittelmäßige Musik populär gemacht als irgendeine andere Sängerin, denn sie war eine bezaubernde Persönlichkeit und besaß eine fabelhafte Stimme. Sie gehörte zu den wenigen Sängerinnen, die tatsächlich auch ein hinreißend schauspielerisches Talent haben. Nur wenige Leute nannten sie mit ihrem Familiennamen. Für die große Menge blieb sie immer »Alana«, und so wurde sie auch auf den Ankündigungsplakaten und auf den Programmen genannt.

 

»Heiraten ist eine der größten Dummheiten, die eine Bühnenkünstlerin begehen kann«, sagte sie zu Dian und lachte bitter. »Es ist auf der einen Seite ja schön, aber auf der anderen kann es auch sehr traurig sein. Glaube mir, Dian, es ist besser, du bist unverheiratet, spielst Nebenrollen und trittst nur als Ersatz für die ersten Kräfte auf. Dabei fährst du viel besser, als wenn du ein verheirateter Star wärst. Und du hast großes Talent. Ich möchte sagen, daß es niemand gibt, der sich so als Reservekraft eignet wie du. Wenn du nur ein bißchen Verstand hättest, würdest du die kleinen Rollen annehmen, die dir Regisseur Dowall anbietet, und dich von mir trennen. Mit etwas Aufmachung und Reklame bekommst du bald einen großen Namen und kannst mit dreihundert Pfund Wochengage rechnen, statt mit den sechs, die du jetzt beziehst.«

 

»Miss Forsyant kommt heute nicht zur Aufführung«, sagte Dian.

 

Alana war bereits davon unterrichtet.

 

»Ich weiß, sie ist heute abend von Freddie zum Diner eingeladen. Er sagte zwar, er ginge zu seinem Klub, aber in Wirklichkeit hat er sich mit Elsa verabredet.«

 

Freddie, Alanas Mann, war groß, stattlich und stark und sah sehr gut aus. Seine Liebesabenteuer waren in ganz London bekannt. Er war ein Hilfsregisseur, als Alana ihn entdeckte, und spielte in einem drittklassigen Stück, das erst sie durch ihr Auftreten zu einem erstklassigen Erfolg machte. Damals bezog er kein größeres Gehalt als Dian jetzt. Alana verliebte sich in ihn, und kurz darauf heirateten sie.

 

Als Freddie das erreicht hatte, arbeitete er nicht mehr, und es schien seine einzige weitere Lebensbeschäftigung zu sein, junge Damen zum Diner einzuladen. Zuerst nur Choristinnen, später auch Schauspielerinnen und schließlich die schöne Elsa, die trotz ihrer strahlend blauen Augen sehr berechnend und egoistisch war.

 

All das ereignete sich vor dem großen Bruch zwischen Alana und ihrem Gatten, und es war bezeichnend für sie, daß sie bis zum letzten Abend spielte, solange das Stück noch blieb. Dann trat sie lächelnd an die Rampe und hielt eine kleine Abschiedsrede, bevor der Vorhang fiel.

 

Nur wenige Leute kannten den eigentlichen Grund. Alana war die Eigentümerin des Theaters gewesen, hatte aber bei ihrer Verheiratung ihre Anteile Freddie überschrieben. Noch viel weniger Leute wußten von dem Auftritt in ihrer Garderobe, der sich zwischen beiden abspielte und bei dem Freddie sehr offen und rücksichtslos sprach.

 

»Wenn du dich von mir scheiden lassen willst – gut. Aber es ist doch direkt kindisch, deine Anteile am Theater von mir zurückzuverlangen.«

 

»Du hast mich beschwindelt!«

 

Alana zitterte, aber nicht nur Wut hatte sie in solche Erregung gebracht. Er lachte.

 

»Aber mein Schatz, du hast mir doch die Anteilscheine überschrieben. Daran läßt sich jetzt nichts mehr ändern. Es hat keinen Zweck, daß du wütend wirst und auf mich schimpfst. Wenn du dich scheiden lassen willst, bin ich bereit, dir eine größere Rente zu zahlen. Wenn du nicht willst, kann ich auch nichts machen.«

 

Sie zeigte nur auf die Tür, denn sie war zu aufgeregt, um sprechen zu können.

 

So verließ Alana das Theater. An ihrer Stelle zog Elsa Forsyant ein und mit ihr ein neuer Spielplan. Zuerst gab es einen kolossalen Mißerfolg, dann noch einen und schließlich nur einen halben Erfolg. Der sonst so strahlende Freddie machte ein nachdenkliches Gesicht, und tiefe Falten gruben sich in seine hübschen Züge ein. Dowall, der Oberregisseur, grinste nur ironisch.

 

»Die Art Stücke, die wir jetzt aufführen, ist nicht die richtige«, sagte Freddie. »Wir müssen wieder solche Operetten nehmen wie zu Alanas Zeit.«

 

»Dazu gehört aber vor allem auch eine Alana«, entgegnete Dowall.

 

»Ach, was Alana konnte, kann Elsa im Schlaf.«

 

Freddie sprach auffallend laut, aber der Regisseur schüttelte nur den Kopf. Er ließ sich nichts vormachen.

 

»Wenn sie obendrein noch einschläft, wird das Publikum überhaupt nicht mehr klatschen. Zum mindesten kann man doch von einer Schauspielerin verlangen, daß sie die Augen offen hat, wenn sie auf der Bühne erscheint. Außerdem waren das große Ausstattungsstücke, die viel Geld gekostet haben.«

 

Die letzten Worte betonte er besonders, denn er wußte, daß Freddies Finanzlage seit den Mißerfolgen Elsas nicht mehr erstklassig war.

 

»Kümmern Sie sich nur um das Ensemble und um das Spiel, das Geld beschaffe ich schon.«

 

Aber wenn er auch zuversichtlich sprach und sich dabei in die Brust warf, konnte er doch seine inneren Zweifel nicht übertönen. Das Theater war jetzt eine schwere Last für ihn geworden, denn er hatte die beiden ersten Stücke, die durchgefallen waren, selbst finanziert. Für das dritte hatte er schon einen Geldmann gebraucht und dessen Mittel für den Zweck vollständig erschöpft. Aber es gab ja soviel Menschen mit negativem Verstande auf der Welt. Fast jede Minute wurde einer geboren.

 

Freddie suchte lange vergeblich, aber eines Abends fand er schließlich den Dummen in einem eleganten jungen Mann, der vor der Bühnentür auf eine Dame wartete …

 

*

 

Die Proben zu der Operette »Herz in Flammen« blieben eine qualvolle Erinnerung für alle, die daran teilnahmen. Der Text war unglaublich schlecht; die Musik hatte ein junger Aristokrat geschrieben. Dowall, der alte Zyniker, erklärte jedem, der es wissen wollte, daß Freddie eine große Summe von dem Komponisten erhalten hatte, nur damit er sein Stück aufführte. Die Tanzgirls mußten schwer arbeiten und waren schließlich auch so weit gedrillt, daß sie vor dem Publikum erscheinen konnten.

 

Elsa bestand darauf, daß die Texte ihrer Lieder geändert wurden, und das nicht einmal, sondern mehrmals. Ihre Aussprache war nicht ganz korrekt, aber sie beanspruchte selbstverständlich die besten Chansons für sich. Sie duldete außerdem nicht, daß noch andere hübsche Schauspielerinnen in dem Stück auftraten, sie wollte allein die Bühne beherrschen. Zweimal mußte ein neuer Partner für sie engagiert werden. Der erste war ihr zu groß, so daß sie sich zu klein neben ihm vorkam, und der zweite hatte eine so gute Stimme, daß sie sich im Gesang ihm gegenüber nicht behaupten konnte.

 

Manchmal kam sie tagelang nicht zur Probe …

 

»Ich bin jetzt mit dem Studium von Elsas Rolle vollkommen fertig«, sagte Dian, als sie in einer Pause zwischen den Proben mit Johnny im Carlton Tee trank. »Ach, es ist augenblicklich furchtbar bei uns. Das Stück ist einfach entsetzlich. Der arme Mr. Dowall sitzt bei den Proben in seiner Loge und schaut düster auf uns herunter. Freddie scheint sich um nichts zu kümmern. Vorige Woche noch schien er sehr bedrückt zu sein, aber jetzt hält er es nicht einmal mehr für nötig, zu den Proben zu kommen.«

 

Johnny rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er war ein energischer junger Mann von dreißig Jahren.

 

»So?« erwiderte er verlegen. »Das ist mir allerdings neu. Er schien doch noch auf einen sicheren Erfolg zu rechnen, als ich letzten Montag mit ihm zu Mittag speiste.«

 

Sie sah ihn ungläubig an.

 

»Du hast mit Freddie gegessen? Das hast du mir ja noch gar nicht erzählt!«

 

Johnny geriet noch mehr in Verwirrung, denn er wollte ihr im Augenblick auch nicht sagen, daß ihn dieses Essen viel Geld gekostet hatte. Er war nämlich der Dumme, den Freddie gesucht hatte.

 

»Was hast du eigentlich heute morgen in der Baker Street gemacht?« fragte er, um sie auf ein anderes Thema zu bringen

 

Sie schaute ihn erstaunt an.

 

»Ich war überhaupt nicht in der Baker Street. Wie kommst du denn darauf?«

 

»Aber ich habe dich bestimmt gesehen«, erwiderte er verblüfft. »Ich war mit Joe Carteris zusammen – du bist in einem Auto an uns vorbeigefahren. Ich winkte dir noch mit der Hand, und du winktest zurück.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich bin schon seit langer Zeit nicht weiter nördlich als bis zur Oxford Street gekommen. Aber es ist merkwürdig, eine der Choristinnen sagte auch, daß sie mich am vorigen Sonntag im Hyde Park gesehen hätte. Und du weißt doch, daß ich niemals am Sonntag dorthin gehen würde. Wenn Alana in England wäre, könnte man sich das alles ja sofort erklären. Früher wurden wir oft genug verwechselt.«

 

»Wo ist sie denn?«

 

»In Chikago. Ich bekam noch vor ein paar Tagen einen Brief von ihr. Es stand aber eigentlich nicht viel darin. Sie bat mich nur, ihr mitzuteilen, wie es im Theater ginge, und gab mir eine Adresse weiter westlich an, wohin ich meine Antwort schicken sollte. Du glaubst nicht, wie sehr Elsa sie haßt. Sie verlangt durchaus die Scheidung, um sich mit Freddie verheiraten zu können. Aber ich bin sicher, daß Alana niemals einwilligen wird. Die Zeitungen schreiben immer noch über sie und welch ein großer Erfolg sie für das Elcho-Theater war. Alle bedauern aufs tiefste, daß sie nicht mehr in London auftritt. Elsa war ganz wild, als sie den letzten Artikel las. Und ich fürchte, wenn erst die Kritiken über ›Herz in Flammen‹ herauskommen, kann man es überhaupt nicht mehr aushalten.«

 

Johnny Crewe sah verstimmt aus, aber sie verstand nicht, warum.

 

»Es kommt nicht darauf an, Liebling«, sagte sie. »Wenn das Stück in die Binsen geht, dann soll es eben in die Binsen gehen. Allmählich gebe ich meine Träume auf Bühnenerfolg auf, und wir heiraten.«

 

Johnny holte tief Atem.

 

»Ja«, erwiderte er dann, jedoch lange nicht so begeistert, wie sie erwartet hatte.

 

Schließlich kam die letzte Probe.

 

Der Regisseur saß zusammengesunken in seinem Lehnsessel und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Girls, die gerade einen Tanz auf der Bühne aufführten, sahen ängstlich und verstört zu ihm hinüber. Die wenigen Hauptdarsteller standen an einer Kulisse in der Nähe des Proszeniums und beobachteten melancholisch den Fortgang des Stücks. Sie waren müde und erschöpft. Die Kostümprobe dauerte am Sonntag von zehn Uhr vormittags bis gegen Mitternacht, und dann mußten die Choristinnen noch in ihre Trainingsanzüge schlüpfen und die Schauspieler sich umziehen. Es war jetzt vier Uhr morgens. Das große Theater war vollständig kalt und eisig, und es zog empfindlich. Nur Mr. Dowall schwitzte, aber aus Angst.

 

Er griff nach dem Zigarrenstummel, den er auf einen Aschbecher gelegt hatte, steckte ihn wieder an und rauchte mißvergnügt.

 

»Eine schreckliche Gesellschaft!« redete er seine Schar an. »Nicht einer von Ihnen versteht, aus seiner Rolle etwas herauszuholen. Die ganze Sache hat überhaupt keinen Zweck. Und die Girls – einfach Blech! Jetzt geht die Geschichte schlechter als zu Anfang. Niemand hört auf mich, was ich sage, jeder pflanzt sich auf der Bühne hin, wie es ihm paßt, und dann geht das Geschnatter los, als ob eine ganze Herde von Gänsen versammelt wäre! Und morgen ist die Uraufführung – ach nein, heute abend. Na schön, Sie können nach Hause gehen. Aber heute abend sind alle pünktlich um halb sechs im Theater: Hauptdarsteller, Girls, überhaupt das ganze Personal. Gespielt wird auf jeden Fall – Gott steh uns bei! Wenn wir die Sache hinausschieben, wird es nur noch schlimmer. Also, los!«

 

Er wünschte die ganze Bande zum Teufel. Chor und Schauspieler räumten geräuschvoll die Bühne, während er seinen Assistenten zu sich rief.

 

»Kein Kostüm sitzt, die Schuhe sind zum großen Teil noch nicht geliefert, das Orchester spielt zum Steinerweichen, und die Bühnenarbeiter scheinen alle Tinte gesoffen zu haben! Keiner weiß, wo er anpacken soll. Es ist unerhört! Fünfundzwanzig Minuten brauchte die Gesellschaft, um sich von einem Akt zum andern umzuziehen. Wenn das heute abend so geht, dann gibt es noch einen Aufruhr im Publikum.«

 

Zwei Damen kamen auf Mr. Dowall zu. Elsa Forsyant trat mit einer Miene näher, als ob ihr das ganze Theater gehörte. Sie war nicht gerade sehr groß, aber reichlich parfümiert. An ihren Händen glänzten zahlreiche Brillantringe.

 

»Also hören Sie, Dowall«, begann sie hochnäsig, »ich kann heute abend nicht auftreten. Ich bin nicht bei Stimme und mit meinen Nerven vollständig am Ende.«

 

Dian, die als Ersatz die Hauptrolle einstudiert hatte, wäre gern von dieser Besprechung fortgeblieben, aber es war ihr befohlen worden, zu erscheinen.

 

Mr. Dowall sah die Primadonna kühl an. Sie war schön, selbst ihre schlimmsten Feinde konnten das nicht bestreiten. Ihre Gestalt wurde von ihren Anhängern als »göttlich« beschrieben – auch das wollte der Regisseur noch gelten lassen. Aber er allein kannte die kalte Berechnung und Tücke, die sich hinter ihren »tiefen« blauen Augen und ihren verlockend roten Lippen verbargen.

 

»Daß Sie nervös sind, glaube ich Ihnen. Daß Sie Angst haben, auch. Sicher haben Sie irgendwo ein ärztliches Attest im Strumpf. Und heute abend ist die Uraufführung!«

 

Er stellte diese Tatsache ruhig und gelassen fest.

 

»Was schlagen Sie denn nun vor? Sollen wir das Stück auf einen Monat verschieben und mit der ganzen Theatergesellschaft nach Monte Carlo reisen, damit Sie dort in dem schönen Klima Ihre Stimme wiederfinden?«

 

»Sie brauchen nicht so sarkastisch zu sein, Dowall«, erwiderte sie in schrillem Diskant.

 

»Soll ich Ihnen einmal etwas sagen?« Der Regisseur steckte die Daumen in die Achsellöcher seiner Weste und betrachtete sie von oben bis unten.

 

»Wenn Sie Alana wären, würde mir vor Wut der Schaum vorm Munde stehen, und ich würde mich in Krämpfen auf dem Boden winden. Ja, Alana zählte! Aber bei Ihnen lohnt sich das nicht. Sie haben eine Rolle in dem Stück und spielen sie schlecht und recht herunter. Sie tanzen ganz nett, und Sie singen auch halbwegs. Ihre Anbeter werden sagen ›entzückend und wundervoll‹ und die Leute, die sich nichts aus Ihnen machen, werden erklären, daß Sie besser etwas anderes täten, als das Publikum von der, Bühne aus zu langweilen. Das Stück ist an sich schon eine absolute Niete, die Sie nicht retten können. Alana hätte das fertiggebracht. Als ihr junger Freund seine Gunst Ihnen zuwandte, hat er die beste Schauspielerin verloren, die es überhaupt auf der Welt gab.«

 

Sie kochte vor Empörung.

 

Dowall ließ ihren Zornesausbruch über sich ergehen, ohne hinzuhören. Dian schlich sich unterdessen unbemerkt fort.

 

»Ich würde an Ihrer Stelle nicht so schrecklich schreien. Ich denke, Sie müssen Ihre Stimme schonen. Sagen Sie es lieber durch Blumen«, höhnte er schließlich.

 

Freddie erwartete sie draußen beim Bühneneingang und war verhältnismäßig gut gelaunt. Er lauschte geduldig ihrem langen, entrüsteten Vortrag, ohne etwas dazu zu sagen …

 

»Er hat mich tödlich beleidigt, und du sitzt in einer Loge dabei und schnarchst wie ein dickes Schwein. Beinahe hätte ich ihn ins Gesicht geschlagen. Du wirst diesen Menschen sofort hinauswerfen, Freddie!«

 

Zu ihrem größten Erstaunen lachte er.

 

»Das habe ich nicht mehr nötig. Wenn heute abend doch alles zusammenbricht, wird er auch dabei begraben.«

 

»Was soll das heißen?« fuhr sie ihn wütend an.

 

»Das heißt, daß ich weiterhin keine Verantwortung mehr für das Elcho-Theater habe. Ich habe es nämlich verpachtet und das Stück verkauft.«

 

Sie drehte das Licht im Wagen an, um sein Gesicht besser sehen zu können.

 

»Was – du hast das Stück verkauft?«

 

»Ja, mit allem, was drum und dran hängt«, entgegnete er vergnügt. »Die Sache hat achttausend gekostet, und morgen abend habe ich einen Scheck über zwölftausend Pfund in der Tasche. Ich habe keinen langen Vertrag mit dem Mann gemacht. Wir schreiben uns einfach kurze Briefe, und damit ist die Sache erledigt. Wir zwei gehen dann nach Monte Carlo, und vorher heiraten wir.«

 

Sie starrte ihn verblüfft an.

 

»Heiraten? Hat denn Alana –?«

 

Freddie war äußerst zufrieden mit sich selbst.

 

»Ich habe mich damals mit ihr in Amerika trauen lassen. Das wußtest du wohl noch nicht. Und nun habe ich mich eben auch in Amerika wieder von ihr scheiden lassen. Die Geschichte hat zweitausend Dollar gekostet – na, das war sie ja schließlich wert. Ich habe alles schlau eingefädelt. Als Alana nach Amerika ging, wurde ihr die Vorladung zum Prozeß mit unbekannter Adresse zugestellt. Du weißt doch, was für einen Höllenspektakel sie bei einer Verhandlung gemacht hätte. Die Scheidungsklage wurde in ihrer Abwesenheit verhandelt, und heute morgen kam ein Telegramm von meinem Anwalt, daß die Sache erledigt ist. Bin ich nicht ein kluger Junge?«

 

»Wann hat denn der Scheidungsprozeß begonnen?«

 

»Etwa vor einem Monat.«

 

Sie lehnte sich enger an ihn und streichelte seine Hand.

 

*

 

Chefinspektor Rater ging am Abend zu der Uraufführung, obwohl er selbst mit dieser frivolen Handlungsweise nicht einverstanden war. Er traf Johnny Crewe, der ihn kannte, unten im Vestibül. Der junge Mann sah düster drein, denn er hatte in einem unüberlegten Augenblick das Stück gekauft.

 

Er führte Mr. Rater zu dem kleinen Direktionsbüro und klärte ihn über die Lage auf. Mr. Rater, für den Geld eben Geld bedeutete, hörte ihm betroffen zu.

 

»Das sieht allerdings schlimm aus. Da sind Sie wohl hereingefallen«, meinte er schließlich. »Unglücklicherweise kann man ihn nicht einmal verhaften, weil er Ihnen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Geld abgenommen hat. Haben Sie den Vertrag schon unterschrieben?«

 

Johnny erklärte ihm, daß die Sache dadurch abgeschlossen werden sollte, daß er sein Einverständnis mit dem Brief Freddie Vanes erklärte. Auf alle Fälle war er so schlau gewesen, einen Rechtsanwalt um Rat zu fragen.

 

»Es tut mir leid um Sie«, sagte Mr. Rater, und diese Sympathiekundgebung deprimierte Johnny noch mehr.

 

»Es ist ja nicht gesagt, daß es ein absoluter Hereinfall ist«, versuchte er sich selbst zu trösten. »Das Stück kann immer noch durchgehen. Dian hat heute morgen ein Telegramm von Alana erhalten. Sie wünscht ihr Glück zu der Uraufführung. Aber es klingt recht komisch.«

 

Er suchte in seinen Taschen, fand das Formular und reichte es dem Redner.

 

Alles Gute zur Uraufführung. Vergiß meinen alten Trick nicht und lasse die Privattür nach dem Bühnenausgang auf. Das bringt Glück.

 

»Was ist denn das für eine Privattür?« fragte Mr. Rater.

 

Johnny erwiderte ihm, daß aus dem Garderobenraum der Primadonna ein Privatgang auf die Straße führte. Alana hatte die Eigentümlichkeit, bei jeder Uraufführung diese Tür unverschlossen zu lassen, so daß sie sofort unbemerkt aus dem Theater gehen konnte, wenn das Stück beim Publikum eine schlechte Aufnahme fand.

 

»Natürlich hat sie die Tür niemals benützen müssen, aber ich kann mich schon in ihre Gefühle versetzen«, schloß er.

 

Der Chefinspektor entgegnete darauf nichts. Nachher suchte er sich einen Endsitz in einer Reihe aus, denn auch er wollte die Möglichkeit haben, das Theater zu verlassen, wenn das Stück zu langweilig sein sollte.

 

Dian saß in hoffnungsloser Verzweiflung in ihrem Garderobenraum. Seit einer Stunde war sie für den ersten Akt angekleidet, geschminkt und gepudert. Hilflos sah sie dem unausbleiblichen Mißerfolg entgegen. Das Stück, die Musik, die Einstudierung – alles war schlecht. Ja, wenn sie in einem erfolgverheißenden Werk die Hauptrolle hätte spielen können – dann hätte sie eine Chance gehabt, sich die Gunst des Publikums zu erringen.

 

Sie sah sich in dem luxuriös eingerichteten Raum um, der bis jetzt von Elsa benützt worden war.

 

Das Stück mochte vielleicht eine Woche lang auf dem Spielplan stehen, im günstigsten Fall einen Monat. Und Johnny mußte dafür zahlen. Er war reich genug, daß er den Verlust verschmerzen konnte, aber trotzdem würde es ein schwerer Schlag für ihn sein. Sie fühlte, daß die ganze Verantwortung des Abends auf ihr ruhte.

 

Plötzlich dachte sie an Alanas merkwürdige Warnung und klingelte der Garderobenfrau. Aber es ging heute wirklich alles verkehrt. Die Frau, die sie sonst betreute, hatte für den Abend abgesagt, weil sie krank geworden war. Ihre Stellvertreterin hatte dunkle Hautfarbe, graue Haare und trug außerdem ein Klebepflaster im Gesicht.

 

»Mein Alter hat mich so verprügelt«, erklärte sie, aber Dian war nicht geneigt, auf die häuslichen Sorgen anderer einzugehen.

 

Die Frau verstand jedoch ihre Sache aufs beste.

 

»Haben Sie draußen die Tür aufgeschlossen? Der Schlüssel hängt nicht am Haken. Miss Alana hat die Tür bei Premieren immer aufgelassen.«

 

Dian öffnete ihre Handtasche und gab der Garderobenfrau den Schlüssel. Sie verschwand, kehrte aber sofort zurück und legte den Schlüssel wieder auf den Tisch.

 

»Ist doch merkwürdig, was die Schauspielerinnen oft für Schrullen haben«, sagte sie mit ihrer heiser krächzenden Stimme. »Übrigens hat jemand eine Flasche Sekt für Sie geschickt. Ich glaube bestimmt, daß es Mr. Crewe war. Er sagte, Sie müßten sich Mut antrinken, bevor Sie heute abend auf die Bühne gehen.«

 

»Nein, ich will nichts trinken«, entgegnete Dian müde und abgespannt.

 

»Aber das ist sicher gut. Dann werden Sie wieder lustig und frisch. Und vor allem wünscht es Mr. Crewe.«

 

Ohne Dians Zustimmung abzuwarten, öffnete sie die Flasche und schenkte ein Glas ein …

 

Eine halbe Stunde saß sie am Tisch und starrte vor sich hin. Schließlich klopfte der Inspizient an die Tür und rief ihren Namen. Sie erhob sich und trat hinaus, aber sie hatte nicht das Gefühl, daß sie selbst es war, die so leicht und fröhlich den Gang zur Bühne heruntereilte.

 

Johnny erschien erst um acht in seiner Loge, kurz bevor der Vorhang aufging. Er war höchst peinlich berührt, als er Elsa in der nächsten Loge entdeckte, denn seiner Meinung nach hätte sie wenigstens so taktvoll sein sollen, sich an diesem Abend nicht im Theater zu zeigen. Waren doch auf den Programmen besondere Zettel aufgeklebt worden, die jedermann mitteilten, daß Miss Elsa Forsyant infolge einer schweren Indisposition nicht auftreten könnte. Johnny Crewe erhob sich und ging zu Freddies Loge, um wenigstens noch etwas aus dem allgemeinen Schiffbruch zu retten.

 

Mr. Vane traf ihn an der Tür und hörte ihm mit zusammengekniffenen Augen zu.

 

»Es tut mir leid, aber als ich Ihnen das Stück verkaufte, habe ich mich nicht verpflichtet, daß Miss Forsyant die Rolle spielen sollte. Sie ist wirklich nicht disponiert und heute abend nur erschienen, um sich dem Publikum zu zeigen. Der Doktor sagte, daß ihre Nerven vollständig zusammengebrochen sind. Er hat ihr einen Aufenthalt an der Riviera verordnet. Aber das Stück ist allright, lassen Sie sich bloß nicht von dem alten Dowall den Kopf verdrehen. Außerdem ist es doch eine glänzende Chance für Ihre Freundin. Sie wird heute einen Bombenerfolg haben.«

 

Er schlug Johnny jovial auf die Schulter, und Mr. Crewe mußte sich zusammennehmen, um nicht dasselbe noch etwas herzhafter zu tun.

 

Als er wieder in seine Loge kam, hob sich gerade der Vorhang.

 

Die Ouvertüre war schwach. Selbst der beste Kapellmeister hätte mit der Musik des Aristokraten nichts anfangen können. Das Publikum wurde unruhig; auf der Galerie räusperten sich die Leute und husteten. Mr. Javons, der den Taktstock schwang, wurde nervös und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Unsicherheit teilte sich natürlich sofort dem Orchester mit.

 

Die erste Szene war ohne Witz und Geist geschrieben, und Johnny stöhnte in seinem Sessel.

 

Begrüßt von einem Tusch, in dem die besten Motive der Komposition vereinigt waren, erschien schließlich Dian auf der Bühne.

 

Sie sah Alana wirklich täuschend ähnlich. Einen Augenblick herrschte atemlose Stille im Haus, aber als das Publikum die große Ähnlichkeit mit der berühmten Schauspielerin erkannte, wurde Dian mit donnerndem Applaus empfangen. Sie geriet in leichte Verwirrung, lächelte nervös, verneigte sich und begann zu singen.

 

Sie glich Alana vollkommen in ihrem lebhaften Temperament, in aller Gewandtheit des Auftretens. Das war Alanas herrliche Stimme, das war Alanas beschwingter, tänzerischer Gang. Nach der ersten Szene wollten die Hervorrufe kein Ende nehmen.

 

Johnny Crewe sah zu Freddies Loge hinüber. Mr. Vane saß kreidebleich und mit offenem Mund in seinem Sessel. Wie durch einen geheimen Zauber hatten sich auch die Schauspieler wieder gefaßt und gesammelt. Die Begeisterung und der Elan der Hauptdarstellerin teilten sich dem ganzen Ensemble mit.

 

Die ersten Szenen gingen wie im Flug vorüber. Johnny bemerkte, daß jetzt viele Leute die aufgeklebten Zettel auf den Programmen studierten. Sicher beschäftigte alle die Frage, wer wohl diese Dian Donald sein mochte. War das ein neuer Name, unter dem Alana selbst wieder auftrat? Hatte sie sich wieder mit ihrem Mann ausgesöhnt?

 

Die dritte Szene spielte im Innern eines Blockhauses, und Dian erschien im Kostüm eines Cowboys. Es entspann sich ein hitziger Dialog zwischen ihr und ihrem Gegenspieler, und plötzlich zog sie eine lange Pistole aus dem Gürtel. Sie hatte auf ihren Partner zu schießen, dem dann durch einen Theatertrick der Hut vom Kopf gerissen werden sollte. Sie sah aber gar nicht auf den Schauspieler, sondern wandte sich zu einer Loge, zögerte eine Sekunde, hob die Pistole und drückte ab.

 

Freddie fiel getroffen vornüber auf die Brüstung der Loge.

 

Im nächsten Augenblick herrschte wüstes Durcheinander. Eine Frau schrie entsetzt auf. Bevor Johnny Freddies Loge erreichen konnte, ging der Vorhang nieder.

 

Er hob Mr. Vane auf und legte ihn auf die Erde. Freddie atmete schwer, aber ein Blick sagte Johnny, daß die Wunde nicht lebensgefährlich war.

 

»Ist er tot?« Der Chefinspektor beugte sich über den Mann und untersuchte ihn schnell.

 

»Wie komme ich auf die Bühne?« fragte er dann rasch.

 

»Es war ein Zufall«, erwiderte Johnny. »Dian war nervös …«

 

»Wie komme ich auf die Bühne?« drängte Mr. Rater.

 

Crewe brachte ihn die enge Treppe hinunter und führte ihn durch eine Stahltür. Die Schauspieler waren in heller Aufregung. Nur der Regisseur hatte den Kopf nicht verloren, und an ihn wandte sich der Chefinspektor.

 

»Miss Donald ist in ihre Garderobe gegangen und hat die Tür verschlossen«, sagte Mr. Dowall.

 

»Zeigen Sie mir den Weg dorthin«, entgegnete der Redner kurz.

 

Als sie an die Tür kamen, überzeugte sich Mr. Rater, daß sie von innen verriegelt und verschlossen war. Obwohl er lange klopfte, meldete sich niemand.

 

Der Theatertischler war bereits auf der Bildfläche erschienen und trug ein Stemmeisen in der Hand.

 

»Ich dachte, das könnten wir brauchen«, meinte er. »Vor ein paar Minuten habe ich schon versucht, die Tür aufzumachen.«

 

Unter Anweisung Mr. Raters schlug er eine Füllung ein, dann steckte der Redner schnell die Hand durch die Öffnung und schloß die Tür von innen auf.

 

Dians Ankleideraum war leer. Auf dem langen Tisch unter dem Spiegel lagen Schminkstifte und Puderquasten, und unter vielen Schönheitsmitteln standen auch eine Sektflasche und zwei Gläser. Das Kostüm, das die Schauspielerin noch eben auf der Bühne getragen hatte, lag auf dem Boden, als ob sie es gerade abgestreift hätte. Aber von Dian selbst war nichts zu sehen.

 

Ein Samtvorhang verdeckte eine kleine Nische, und Mr. Rater zog ihn schnell zurück. Auf dem Boden lag Dian und schlief. Sie war sorgfältig zugedeckt und hatte ein Kissen unter dem Kopf.

 

Als der Redner die Decke wegzog, sah er, daß sie das Kostüm der ersten Szene trug. Er ging zu dem Tisch zurück und roch an den Gläsern, in denen noch etwas Sekt war.

 

»Sie ist betäubt worden«, sagte er dann kurz. »Holen Sie einen Arzt. Wo ist denn die Garderobenfrau?«

 

Aber sie war verschwunden.

 

Der Bühnentischler zeigte dem Redner auf sein Verlangen den Privatgang, der zur Straße führte. Durch eine Tür, die anscheinend zu einem Kleiderschrank gehörte, kam man in einen engen Korridor mit weißgekalkten Wänden, der vor einer schweren Tür endete.

 

Als Rater dagegendrückte, öffnete sie sich, denn sie war nur angelehnt. Er trat ins Freie und befand sich in einer Nebenstraße. Während der Vorstellung hatte es geschneit, und er konnte deutlich die frischen Spuren eines Autos erkennen.

 

Als er seine Nachforschungen beendet hatte, war auch Dian durch die Bemühungen des Arztes wieder zum Bewußtsein gekommen.

 

»Es war nur ein harmloses Betäubungsmittel«, erklärte der Doktor. »Aber ich möchte den Sektrest doch untersuchen.«

 

Freddie war inzwischen zum Hospital geschafft worden, und das Publikum hatte sich zerstreut.

 

Johnny saß ängstlich neben Dian, die ganz erstaunt um sich schaute. Der Redner rief nach einiger Zeit im Hospital an und erhielt günstige Nachricht.

 

»Sie werden Dian doch nicht verhaften?« fragte Johnny ängstlich. »Es war doch nur ein Zufall –«

 

»Es war kein Zufall. Sie wollte Vane erschießen.«

 

Johnny schaute ihn entsetzt an.

 

»Aber Mr. Rater, das ist eine ungeheuerliche Anklage! Dian hat den Mann doch kaum gekannt –«

 

»Alana kannte ihn aber sehr gut«, erwiderte Mr. Rater grimmig. »Vane hat sich ihr gegenüber auch wirklich gemein und unentschuldbar benommen, als er sich durch einen Trick von ihr scheiden ließ. Er hat sich übrigens schon wieder soweit erholt, daß er Elsa Forsyant sein Leid klagen kann.«

 

»Wo ist denn die Garderobenfrau geblieben? Haben Sie die, gefunden?«

 

»Nein. Nach der brauchen wir auch nicht mehr zu suchen. Alana ist wirklich eine vorzügliche Schauspielerin. Und sie hat schnell gearbeitet. Sie muß mit dem Flugzeug von New York nach London geflogen sein, und die Rückreise wird sie genauso bewerkstelligt haben.«

 

Später berichtete Dian, was sie über die Sache wußte. Sie konnte sich nur noch darauf besinnen, daß sie Sekt getrunken hatte. Von da ab hörte ihre Erinnerung auf.

 

Johnny erzählte ihr, was Mr. Rater gesagt hatte, und sie sah ihn ernst an. »Mr. Rater läßt mir also die Wahl, entweder die Polizei auf Alana zu hetzen oder die Sache für einen Unglücksfall auszugeben. Nun gut, es war ein Unglücksfall. Aber ich bin jetzt fertig mit dem Theater.«

 

Auch Johnny war fertig mit den Brettern, die die Welt bedeuten. Er hatte bereits den Scheck über zwölftausend Pfund in kleine Stücke zerrissen.

 

Der Redner

 

Der Redner

 

Allgemein nannte man Chefinspektor Oliver Rater durch Zusammenziehung seines Vor- und Familiennamens »Orator«. Das heißt auf deutsch »Redner«. Die Entstehung des Spitznamens ist ohne weiteres klar, aber weniger bekannt ist die Tatsache, daß der Chefinspektor eigentlich sehr wenig sprach und daß diese Bezeichnung daher eine ironische Bedeutung hatte. Aber sowohl seine Vorgesetzten als auch andere Leute wußten sehr gut, daß er dafür um so mehr dachte.

 

Er war hochgewachsen und breitschultrig und hatte regelmäßige, klare Züge, aber sein Gesicht blieb meist unbewegt. Wenn sich jemand mit ihm unterhielt, hatte er zweifellos zunächst den Eindruck, daß der Chefinspektor ihm nicht glaubte. Außerdem kam ihm am Ende des Gesprächs zum Bewußtsein, daß Mr. Rater kaum zehn Worte gesagt hatte. Mancher Verbrecher hatte ein so vollständiges Alibi, daß es lächerlich schien, ihn in Gewahrsam zu halten. Wenn er aber dem Redner vorgeführt wurde, brachte ihn oft genug das tödliche Schweigen dieses Mannes zur Verzweiflung, und er bekannte schließlich doch die Wahrheit.

 

Als Mr. Rater an einem Februarnachmittag in der Ecke eines großen Saales stand, in dem eine Hochzeitsfeier abgehalten wurde, hüllte er sich wieder wie gewöhnlich in tiefes Schweigen. Auf großen Tischen waren die Geschenke aufgebaut, die von den Gästen bewundert wurden.

 

Im allgemeinen lädt man einen Chefinspektor der Geheimpolizei nicht ein, um Hochzeitsgeschenke zu bewachen. Der Redner hatte sich aber freiwillig zu dieser Aufgabe angeboten, obwohl er selbst zu den Gästen gehörte. Der verstorbene Vater der Braut war eng mit ihm befreundet gewesen. Angela Marken erinnerte sich daran, als sie die Liste der einzuladenden Personen aufstellte.

 

»Aber Liebling«, sagte ihre Mutter ärgerlich, »du kannst doch unmöglich einen Polizeibeamten zu der Gesellschaft bitten. Das halte ich einfach für lächerlich.«

 

Angela seufzte und lehnte sich in ihren Stuhl zurück.

 

»Ach, das ist doch nicht so schlimm«, erwiderte sie ein wenig gelangweilt. »Er bekleidet immerhin ein hohes öffentliches Amt.« Nach einem kleinen Zögern fragte sie: »Wie wäre es, wenn ich Donald Grey zur Feier bitten würde?«

 

Mrs. Marken zog die Augenbrauen hoch und sah ihre Tochter verwundert an.

 

»Das geht unter keinen Umständen, Angela. Ich verstehe wirklich nicht, wie du auf solche Einfälle kommst. Donald ist ja ein ganz netter junger Mann, und ich schätze ihn persönlich außerordentlich, aber du kannst doch nicht seinetwegen an deinem Hochzeitstage sentimental werden. Ich bitte dich, er verdient im Jahr dreihundert Pfund!«

 

»Schön, dann werde ich es nicht tun«, entgegnete Angela ruhig und adressierte den Briefumschlag an den Chefinspektor. »Vielleicht beaufsichtigt Mr. Rater die Wertsachen für uns. Das wäre sehr nett von ihm – und wir könnten dann schließlich auch ein paar Pfund sparen«, fügte sie ein wenig bitter hinzu.

 

Warum sie in so trüber Stimmung war, wüßten nur wenige Gäste. Lord Eustace Lightley war reich und erbte wahrscheinlich in absehbarer Zeit einen Herzogstitel. Er hatte auch ein hübsches Gesicht und stand außerdem in dem Ruf, poetisch veranlagt zu sein. Vom Standpunkt der großen Menge aus war er jedenfalls eine glänzende Partie für die Tochter eines mittellosen Feldmarschalls.

 

Angela sah an ihrem Hochzeitstage sehr schön aus, obwohl ihr Gesicht kaum Farbe hatte. Sie trat vollkommen sicher und selbstbewußt auf, und als sie in ihrem Brautkleid im Saal erschien, gefiel sie dem Redner ausnehmend gut.

 

Später traf er auch den Bräutigam, aber dieser große, schlanke Herr mit den etwas hageren Zügen und dem langen Schädel war ihm aus irgendeinem Grunde sofort unsympathisch. Er hatte eine Gesichtsfarbe wie Milch und Blut, die einem jungen Mädchen besser gestanden hätte als einem Mann von fünfunddreißig Jahren. Hätte der liebe Gott Mr. Rater die Aufgabe gestellt, Menschen zu formen, so wäre dieser Lord Eustace Lightley sicher nicht geschaffen worden!

 

Der Lord schien nervös und gereizt zu sein und zeigte sich wenig liebenswürdig. Die erste und einzige Unterhaltung zwischen ihm und dem Redner verlief deshalb auch nicht besonders befriedigend.

 

»Ach so, Sie sind ein Detektiv?« fragte Sir Eustace von oben herab.

 

Der Redner nickte, was für ihn schon gleichbedeutend mit einer langen Antwort war.

 

»Aber warum stehen Sie denn in der Ecke? Von hier aus können Sie doch gar nichts sehen! Es wäre viel besser, wenn Sie auf das Podium gingen.« Er zeigte auf die große Musiknische, von der aus man den ganzen Saal überschauen konnte.

 

Mr. Rater legte die Stirn in Falten.

 

»Hier sind Sie tatsächlich vollkommen nutzlos«, fuhr der Lord fort. »Ebensogut könnten Sie auf dem Grosvenor Square stehen.«

 

»Ich werde auch sofort hinausgehen«, erwiderte der Chefinspektor und verließ das Fest, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

 

Das war die erste und einzige Begegnung, die er mit Lord Eustace Ligthley hatte.

 

Als er aus der Haustür trat, wandte sich ein gutgekleideter junger Mann an ihn, der ein kleines Paket trug, und erkundigte sich, wie er wohl am besten den Lord allein sprechen könnte. Offenbar kannte er Mr. Rater dem Aussehen nach; das Bild des Chefinspektors erschien ja auch häufig genug in den Zeitungen.

 

»Es ist merkwürdig, was für romantische Geschichten im Leben passieren, Mr. Rater. Dinge, die man kaum für möglich hält. Schon über hundert Jahre hat die Familie des Lords nur in unserer Apotheke gekauft. Wir liefern ihm alles, was er an Medizinen und Drogen braucht. Und als er in Syrien lungenkrank wurde – das ist allerdings schon einige Jahre her –, haben wir ihm alles dorthin nachgeschickt. Jetzt ist er wieder ausgeheilt. Er machte damals zu seiner Kräftigung eine Arsenkur, und wir schickten ihm jede Woche …«

 

Mr. Rater hörte interessiert zu, was der junge Mann zu berichten wußte.

 

*

 

Ein Vierteljahr später brachte Mr. Rater seinen Sommerurlaub in Ostende zu. Da er Junggeselle war, konnte er für eine Erholungsreise ziemlich viel Geld ausgeben. Für Ostende entschied er sich, weil er dort bestimmt viele Landsleute treffen würde, die ihn am wenigsten in dem belgischen Seebad vermuteten und über seine Anwesenheit nicht gerade sehr erfreut sein würden.

 

Wenn er auf Urlaub war, las er gewöhnlich keine Zeitung. Aber nachdem er im Hippodrom eine kurze Unterhaltung gehört hatte, ließ er sich sofort die neuesten Londoner Blätter geben und fand auch kurz darauf, was er suchte. Es war nur eine kleine Notiz.

 

Zu unserem größten Bedauern müssen wir den Tod von Lord Eustace Lightley melden. Seit einigen Wochen lag er krank darnieder und starb in der vorigen Nacht plötzlich in seiner Stadtwohnung in der Hart Street, Mayfair.

 

»So, so!« murmelte der Redner nachdenklich vor sich hin.

 

Wenn er seiner eigenen Neigung hätte folgen dürfen, hätte er der Witwe ein Glückwunschtelegramm geschickt. Die Todesanzeige erinnerte ihn wieder an die Unterredung, die er damals mit dem jungen Mann aus der Apotheke hatte, und er machte sich eine Notiz in sein Tagebuch, um später darauf zurückzukommen. Da ihn aber in den nächsten Tagen eingehende Konferenzen mit den Ostender Polizeibehörden vollauf in Anspruch nahmen, vergaß er die Angelegenheit. Es waren nämlich mehrere Juwelendiebstähle in den großen Hotels begangen worden, während die Gäste beim Diner saßen oder sich im Kasino aufhielten.

 

Mr. Rater unterbrach seine Untätigkeit und sah sich unter seinen verdächtigen Landsleuten um, die sich zur Zeit in dem belgischen Seebad aufhielten.

 

Soweit er feststellen konnte, kamen fünf Individuen zweifelhaften Charakters in Frage, aber der Mann, nach dem er vor allem ausschaute, befand sich nicht in Ostende. Nach allen Nebenumständen zu urteilen, waren die Einbrüche typisch für einen gewissen Bill Osawold. Der Redner telefonierte mit Scotland Yard und hörte zu seiner großen Enttäuschung, daß sich der Mann zur Zeit in London aufhielt, wo ihn die Polizei schon seit einem Monat beobachtet hatte.

 

»Beinahe hätten wir ihn hier an dem Tag verhaftet, an dem die großen Diebstähle in Ostende begangen wurden«, sagte der Beamte am Apparat. »Ein Schutzmann sah ihn mitten in der Nacht aus einem Haus im Westen herauskommen und erkannte ihn. Aber anscheinend hat ihn tatsächlich eine Dame zu Hilfe gerufen, weil ihr Mann plötzlich schwer erkrankte. Ihr Telefon funktionierte nicht, und deshalb rief sie ihn von der Straße herein und bat ihn, einen Arzt zu holen.«

 

»Pech!« erwiderte der Redner.

 

Am nächsten Tag wurde der richtige Dieb gefaßt, und damit war das Geheimnis gelöst.

 

Mr. Rater kehrte gestärkt und gekräftigt von seinem Urlaub nach London zurück und war in so freundlicher Stimmung, daß er sogar einem Mitreisenden antwortete, der mit ihm über das Wetter sprach.

 

In London stürzte er sich sofort wieder auf die Arbeit, und es warteten auch bereits zahlreiche Aufgaben auf ihn.

 

Eines Tages ging er durch den Hyde Park, als ihn plötzlich eine rauhe Stimme anrief.

 

»Hallo, Inspektor! Wollen Sie nicht eine kleine Spazierfahrt mit mir machen?«

 

Der Redner wandte sich langsam um und war erstaunt über den Anblick, der sich ihm bot. In einer prachtvollen, teuren Limousine saß ein elegant gekleideter Herr. Diamantringe mit großen Steinen glänzten an seinen Fingern.

 

»Steigen Sie doch bitte ein, Inspektor«, sagte Bill Osawold vergnügt.

 

Offenbar glaubte er nicht, daß seine Einladung angenommen würde, denn als der Redner die Tür des Wagens tatsächlich öffnete und einstieg, zeigte sich Bestürzung in Bills Gesicht, und er kniff die Augen zusammen. Der Tätigkeit des Chefinspektors hatte er es zu danken, daß er schon dreimal für empfindlich lange Zeit ins Gefängnis gewandert war.

 

»Nun, geschäftlich scheint es Ihnen nicht schlecht zu gehen«, meinte Mr. Rater und sah ihn scharf an.

 

Osawold räusperte sich verlegen und machte eine unruhige Bewegung.

 

»Habe selten jemanden gesehen, der einen so kompletten Eindruck machte wie Sie«, fuhr der Redner fort.

 

Bill Osawold sah auch wirklich tadellos aus. Er trug einen schwarzweiß karierten Anzug, der ihm vorzüglich stand, dazu ein seidenes Hemd mit passendem, weichem Kragen. Die Brillantnadel in seinem Schlips war allerdings etwas zu groß.

 

»Ich lasse mir jetzt nichts mehr zuschulden kommen, Inspektor«, erwiderte Bill mit etwas belegter Stimme. »Eine Tante von mir ist gestorben und hat mir eine Menge Geld hinterlassen. Sie müssen einmal zu mir kommen und sehen, wie schön ich es habe.«

 

Mr. Rater betrachtete ihn so eingehend vom Kopf bis zum Fuß, als ob seine Augen Staubsauger wären, die gründlich und sorgfältig auch das letzte Stäubchen erfassen wollten.

 

»So? Eine Tante? Na, die wird ja sehr zufrieden mit ihrem Neffen sein, wenn sie jetzt durch ein Himmelsfenster herunterguckt und den eleganten Wagen und den schönen Anzug bewundern kann. Sie wohnte wohl früher in Australien?«

 

»Nein, in Amerika.« Bill grinste. »Wenn Sie einmal durstig sind und gern etwas trinken wollen, dann kommen Sie doch zu mir – ich wohne Bloomsbury Mansions, Nr. 107.«

 

»Danke schön, wenn ich etwas trinken will, gehe ich lieber in ein Lokal«, entgegnete der Redner freundlich.

 

Die Verwunderung, die sich in seinen Zügen spiegelte, war nicht erheuchelt, sondern echt.

 

»Es ist doch kaum zu glauben«, sagte er nachdenklich. »Bei unserer letzten Begegnung habe ich Sie auf frischer Tat oben auf dem Dach von Albemarle Mansions erwischt. Fünf Jahre haben Sie brummen müssen, weil Sie eine Schußwaffe bei sich trugen!«

 

Bill ließ sich nicht gern an die Vergangenheit erinnern.

 

»Das hat nun alles aufgehört«, erwiderte er mit einer abwehrenden Handbewegung. »Seitdem mein Onkel gestorben ist –«

 

»Ach, ich dachte, es wäre eine Tante gewesen!«

 

»Natürlich war es eine Tante! Also, seit der Zeit habe ich nichts Unrechtes mehr getan. Ich komme auch nicht mehr mit der schlechten Gesellschaft zusammen, mit der ich früher verkehrte.

 

Der Redner betrachtete Bill wie ein Kassierer einen gefälschten Scheck, und er war in mancher Beziehung nicht zufrieden. Mr. William Osawold hatte auch noch andere Verbrechen begangen als Einbrüche. Er war ein wilder und leidenschaftlicher Bursche. Der Chefinspektor erinnerte sich daran, daß Bill einmal wegen Vergewaltigung und Notzucht auf mehr als vier Jahre von der Bildfläche verschwinden mußte, und sprach auch von dieser Angelegenheit.

 

»Ich muß damals direkt verrückt gewesen sein«, entgegnete Mr. Osawold und schüttelte den Kopf. »Aber das Mädel hat das Blaue vom Himmel heruntergelogen, und Sie haben es mir auch ordentlich eingetränkt.«

 

»Das tue ich immer.«

 

Der Wagen war inzwischen am Marble Arch angekommen, und Osawold klopfte dem Chauffeur.

 

»Hier muß ich Sie leider absetzen, Inspektor. Ich habe nämlich eine Verabredung mit einer Freundin«, sagte er und atmete erleichtert auf, als sein Feind außer Sicht war.

 

Er hatte tatsächlich eine Verabredung, und zwar mit einer hübschen Verkäuferin, die unvorsichtigerweise eine Einladung zum Lunch in seiner Wohnung angenommen hatte.

 

Um fünf Uhr nachmittags wurde Mr. Rater von einem Bezirk aus angerufen – es handelte sich um Bill Osawold. Die junge Verkäuferin war verstört und entsetzt zur Polizeiwache gekommen. Sie war kaum vernehmungsfähig, aber sie beschuldigte den Mann schwerer sittlicher Vergehen.

 

»Gut, ich komme«, erwiderte der Redner freundlich.

 

Als er von Scotland Yard nach Whitehall ging, war der erste, dem er begegnete, Bill Osawold. Der Verbrecher wollte gerade zum Bahnhof fahren und hatte allem Anschein nach die Absicht, das Land für immer zu verlassen, denn auf dem Dach des Autos lagen ein großer Kabinen- und zwei riesige Lederkoffer. Der Wagen fuhr an Mr. Rater vorbei, wurde aber gleich gegenüber dem Parlamentsgebäude an einer Straßenkreuzung aufgehalten. Bevor der etwas phlegmatische Verkehrspolizist dem wartenden Wagen das Zeichen zur Weiterfahrt gab, war der Redner herangekommen und öffnete die Tür.

 

»Steigen Sie aus«, sagte er. »Und etwas lebhaft, bitte!«

 

Bill gehorchte wütend. Die Farbe wich aus seinem Gesicht, als der Chefinspektor einen uniformierten Polizisten heranwinkte.

 

»Durchsuchen Sie die Taschen des Mannes«, befahl er kurz. »Ich habe ihn in Verdacht, daß er eine Schußwaffe trägt.«

 

Der starke, kräftige Schutzmann führte die Aufgabe gründlich durch.

 

Fünf Minuten später stand Bill vor dem Pult des Sergeanten in der Cannon Row-Polizeistation und antwortete auf die Fragen nach seinen Personalien.

 

»Das ist eine abgekartete Geschichte!« rief er ärgerlich. »Was das Mädchen gegen mich sagt, sind die gemeinsten Lügen! Sie kam aus freiem Willen – seit Wochen hat sie mich verfolgt –«

 

»Bis jetzt ist überhaupt noch von keinem jungen Mädchen die Rede gewesen«, bemerkte der Redner.

 

Bills häßliches Gesicht verzog sich zu einem höhnischen Grinsen.

 

»Sie glauben wohl, Sie haben mich? Aber diesmal ist die Sache anders als sonst. Diesmal habe ich Geld hinter mir! Wenn ich will, kann ich dafür sorgen, daß Sie hinausfliegen!«

 

»Bringen Sie ihn in die Zelle mit der harten Pritsche«, sagte der Redner freundlich. »Wenn er sich zur Wehr setzt, geben Sie ihm einen kräftigen Kinnhaken, damit er zunächst einmal das Aufstehen wieder vergißt.«

 

Bills Eigentum lag auf dem Pult des Sergeanten. Es befanden sich darunter eintausendsiebenhundertfünfzig Pfund in Banknoten, eine kleine, geladene Browningpistole und verschiedene Brillantringe. Mr. Rater sah sich diese Dinge eingehend und nachdenklich an, ließ die Nummern der Banknoten aufschreiben und schickte dann drei Beamte aus, um Nachforschungen anzustellen.

 

In der Zeit, die von der Verhandlung vor dem Polizeigericht bis zu dem eigentlichen Prozeß verging, erfuhr er viele Einzelheiten. Einen Einbruch oder Raub konnte er Osawold allerdings nicht nachweisen.

 

Der Angeklagte wurde von den besten Verteidigern vertreten, und zwar nicht nur vor dem Polizeigericht, sondern auch während des Strafverfahrens selbst. Drei der bekanntesten und angesehensten Rechtsanwälte setzten sich für ihn ein. Infolgedessen dauerte der Prozeß, der unter gewöhnlichen Umständen nur ein paar Stunden in Anspruch genommen hätte, drei Tage. Es wurde eine Reihe von Leuten verhört, die die Glaubwürdigkeit der Hauptzeugin erschüttern und widerlegen sollten. Das gelang auch bis zu einem gewissen Grade.

 

Aber der Gerechtigkeit wurde doch Genüge getan, denn der Staatsanwalt war ein kluger Mann und überführte Bill Osawold langsam, aber sicher.

 

Am zweiten Verhandlungstag sah der Redner eine Dame auf der Galerie, deren Gesicht ihm sehr bekannt vorkam. Eine Weile später fiel ihm plötzlich ein, daß es Lady Angela Lightley war. Sie folgte den Vorgängen mit außerordentlichem Interesse, und es schien sie nicht nur reine Neugierde hergeführt zu haben. Bei manchen Aussagen, die für den Angeklagten katastrophal waren, zuckte sie zusammen.

 

Das Ende der Verhandlung kam. Die Geschworenen sprachen nach kurzer Beratung Bill Osawold schuldig.

 

Der Richter mit den hageren Zügen setzte seinen Klemmer auf, sah einen Augenblick nach dem Gefangenen hinüber und dann zu den Geschworenen.

 

»Ist sonst noch irgend etwas gegen diesen Mann vorzubringen?« fragte er mit harter, sachlicher Stimme.

 

Der Redner erhob sich, trat in den Zeugenstand, leistete mit erhobener Hand den Eid und gab dann eine kurze, aber schwerwiegende Auskunft.

 

» … der Angeklagte ist ein Dieb und Einbrecher. Außerdem hat er ein ähnliches Verbrechen wie dieses schon einmal begangen und ist deshalb zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Er hat einen sehr schlechten Ruf und ist einer der gefährlichsten Verbrecher, die Scotland Yard kennt.«

 

Wütend sprang Osawold von der Anklagebank auf.

 

»Das sollen Sie noch bereuen, Rater!« schrie er.

 

Der Richter tauchte die Feder ein und schrieb.

 

»Sie werden zu einer Zuchthausstrafe von zwölf Jahren verurteilt«, sagte er.

 

Vier Gefängniswärter waren nötig, um den Tobenden aus dem Gerichtssaal in seine Zelle zu schaffen. Rater wartete draußen in der großen Eingangshalle und beobachtete die Leute, die das Gebäude verließen. Lady Angela konnte ihm nicht aus dem Weg gehen. Er sah, wie sie erblaßte, dann errötete und wieder bleich wurde.

 

»Ach, Mr. Rater, was werden Sie nur von mir denken … Ich schreibe ein Buch über Verbrechen …, es war ein ganz schrecklicher Fall, nicht wahr?«

 

Sie tat ihm beinahe leid, daß sie ihre Bestürzung über diese plötzliche Begegnung mit ihm so wenig verbergen konnte. Sie zitterte an allen Gliedern.

 

»Sahen Sie mich schon während der Verhandlung? Ich dachte nicht, daß Sie mich wiedererkennen würden.«

 

»Sie wollen ein Buch schreiben, Mylady«, fragte er ruhig. Dann erinnerte er sich plötzlich daran, daß er ihr sein Beileid aussprechen mußte.

 

»Ach ja«, erwiderte sie hastig. »Meine Ehe war nicht sehr glücklich. Ich konnte kaum mit meinem Mann auskommen. Er war sehr – schwierig. In drei Monaten verheirate ich mich wieder – mit Mr. Donald Grey. Er hat jetzt eine gute Stellung im Auswärtigen Amt.«

 

Sie sah sich um, als ob sie einen Ausweg suchte, um ihm zu entkommen. Aber er begleitete sie noch hinunter.

 

»Haben Sie diesen Mann eigentlich früher schon gesehen?« fragte er.

 

Sie blieb entsetzt stehen.

 

»Osawold? Nein! Wie sollte ich denn dazu kommen?«

 

»Ein wirklich gemeiner Charakter«, sagte der Redner halb zu sich selbst. »Er hatte eine ziemlich große Summe bei sich, als wir ihn verhafteten. Ich möchte nur wissen, wie er zu dem Geld kam.«

 

»Es tut mir leid, aber darüber kann ich Ihnen auch keine Auskunft geben«, entgegnete sie atemlos. Das Sprechen fiel ihr schwer, und er hätte darauf schwören mögen, daß sie dicht vor einem Nervenzusammenbruch stand.

 

»Irgend jemand hat seine Verteidigung bezahlt. Es ist nichts von dem Geld verlangt worden, das wir für ihn in Verwahrung haben, und ich nehme deshalb an, daß er einflußreiche Freunde hat. Darf ich Sie einmal besuchen, Lady Angela?«

 

Sie zögerte.

 

»Ja«, erwiderte sie schließlich und gab ihm ihre Adresse. Sie wohnte in einem vornehmen Hotel im Westen.

 

Als sie auf die Straße traten, wurde sie ruhiger, und es gelang ihr, sich wieder einigermaßen zu fassen.

 

»Sie sind wahrscheinlich an solche Fälle so gewöhnt, daß es Ihnen nichts mehr ausmacht, zuzuhören. Aber mich hat es furchtbar mitgenommen. Ich habe niemals geglaubt, daß es so abscheuliche Menschen geben könnte. Wird er Berufung einlegen?«

 

Er fühlte, daß es sie große Überwindung kostete, diese Frage an ihn zu richten.

 

»Das nehme ich ohne weiteres als selbstverständlich an. Er scheint ja über sehr viel Geld zu verfügen.«

 

»Glauben Sie auch, daß er Erfolg damit haben wird? Auf der Galerie sagte jemand, daß der Richter verschiedene Bemerkungen gemacht hätte, die seine Voreingenommenheit gegen den Angeklagten bewiesen …«

 

Rater beobachtete sie scharf und schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Osawold hat nicht die geringste Aussicht auf Erfolg, wenn er Berufung einlegt.«

 

»Ach!« Sie sagte dieses eine Wort so verzweifelt, daß er sie bestürzt anschaute.

 

»Ich wünschte, Sie würden sich mir anvertrauen, Lady Angela«, sagte er ernst.

 

»Warum denn?« fragte sie schnell.

 

»Sie haben schwere Sorgen, und ich könnte Sie vielleicht davon befreien. Ihr Vater war einer meiner besten Freunde. Ich würde alles tun, um seiner Tochter zu raten und zu helfen.«

 

Sie zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Ich fürchte nur, das können Sie nicht, es sei denn, daß Sie das Buch für mich schrieben!«

 

Sie winkte ihrem Chauffeur, und Mr. Rater sah dem vornehmen Wagen nachdenklich nach.

 

Die Pflicht rief ihn in das Gefängnis von Pentonville, um den Verurteilten noch einem Verhör zu unterwerfen. Es handelte sich um einen der Brillantringe, der sich als gestohlenes Gut erwiesen hatte. Daß Osawold der Dieb war, hatte der Redner keinen Augenblick geglaubt, und die Aussage des Mannes, wie er in den Besitz des Stücks gekommen war, klang auch vollkommen überzeugend.

 

»Ich habe ihn von Louis Rapover. Dreiundvierzig Pfund habe ich dafür bezahlt. Wenn er gestohlen ist, kann ich nichts dazu. Ich weiß nichts davon. Deshalb können Sie mich doch wohl nicht vor Gericht stellen lassen, Mr. Rater.«

 

»Na, da sind Sie ja diesmal ein Unschuldslämmchen«, meinte der Chefinspektor etwas ironisch. »Wollen Sie übrigens gegen das letzte Urteil Berufung einlegen?«

 

Bill nickte.

 

»Machen Sie sich darüber nur keine Sorgen, ich komme schon damit durch. Meine Freunde müssen dafür sorgen, sonst geht es ihnen schlecht. Mir zwölf Jahre aufzuknallen …, das alte Schwein! Legen Sie doch ein gutes Wort für mich ein, wenn ich wieder vor die Geschworenen komme. Ich gebe Ihnen auch ein schönes Stück Geld ab.«

 

»Kommt für mich nicht in Frage, Bill«, erwiderte der Redner.

 

*

 

Die Berufung wurde vor dem Königlichen Gerichtshof im Strand verhandelt. Zwei Stunden vor Beginn der Sitzung brachte man Bill Osawold in das Gerichtsgebäude. Er kam in einem Auto, begleitet von drei Gefangenenwärtern, und wurde in einen kleinen, zellenartigen Raum geführt, der unter den Verhandlungssälen lag. Um zehn Uhr erschien ein junges Mädchen aus dem Restaurationsraum, um ihm das Frühstück zu bringen.

 

Ein Polizist begleitete sie und ging vor ihr die enge Treppe hinunter. Er war bereits außer Sicht, bevor sie das erste Podest erreicht hatte.

 

»Ach, entschuldigen Sie einen Augenblick.«

 

Die Kellnerin wandte sich um und sah eine Dame hinter sich, die ein kostbares Trauerkleid französischer Machart trug. Ein dichter, schwarzer Schleier fiel über den Rand ihres Hutes und verdeckte ihr Gesicht.

 

»Bringen Sie das Frühstück für Mr. Osawold?« fragte sie in gebrochenem Englisch.

 

»Ja.«

 

»Gehört der Polizist zu Ihnen?« fragte die Dame weiter und zeigte die Treppe hinunter.

 

Die Kellnerin schaute in die Richtung, konnte aber niemand bemerken.

 

»Wen meinen Sie denn?«

 

»Ach, ich dachte, ich hätte eben noch einen Polizisten gesehen.«

 

Mehr wurde nicht gesprochen. Die Dame drehte sich um und wäre beinahe mit Chefinspektor Rater zusammengestoßen, der von einem höheren Treppenabsatz aus die Szene interessiert beobachtet hatte. Mit einer Entschuldigung eilte sie an ihm vorbei, ohne aufzublicken. Sie stieg die Treppe so schnell hinauf, als ob sie fürchtete, verfolgt zu werden.

 

Mr. Rater sah ihr eine Sekunde nach, ging dann aber rasch hinter der Kellnerin her. Dicht vor der Zellentür erreichte er sie, nahm die Kaffeetasse vom Tablett, betrachtete sie einen Moment zerstreut und ließ sie dann plötzlich zu Boden fallen, wo sie in tausend Stücke zerschellte.

 

»Es tut mir leid, ich bin heute morgen etwas nervös«, sagte er. »Ich werde dafür sorgen, daß die Scherben aufgekehrt werden. Gehen Sie gleich zurück und holen Sie eine andere Tasse Kaffee. Und sagen Sie in der Wirtschaft, daß Chefinspektor Rater für den Schaden aufkommt.«

 

Er wartete bei dem Gefangenenwärter, bis das Mädchen zurückkam, dann stieg er die Treppe zur Halle hinauf.

 

Später war er bei der Verhandlung zugegen, als die drei Richter die Berufung verwarfen und die außerordentlich lange Zuchthausstrafe bestätigten, die fast einem Todesurteil gleichkam.

 

*

 

Um vier Uhr nachmittags wurde Lady Angela der Besuch gemeldet, den sie im stillen schon erwartet hatte. Mit düsterem Gesicht saß sie in ihrem Wohnzimmer. Rings um sie her lagen viele Zeitungen auf dem Boden verstreut.

 

»Lassen Sie Mr. Rater eintreten«, sagte sie so leise, daß sie den Auftrag wiederholen mußte.

 

Bei dieser Gelegenheit war der Redner wirklich einmal gesprächig. Er unterhielt sich mit Lady Angela über das Wetter, über den Lärm des Straßenverkehrs und über die hohen Kosten des Hotellebens. Dann kam er schließlich auf die Sache zu sprechen, die ihn zu ihr geführt hatte.

 

»Die Berufung Ihres Freundes ist nicht durchgegangen.«

 

»Warum nennen Sie denn diesen. entsetzlichen Menschen meinen Freund?« fragte sie, ohne ihn anzusehen.

 

»Ach ja, man kann ihn eigentlich kaum so bezeichnen.« Er lächelte liebenswürdig. »Auf jeden Fall ist er nicht mein Freund. Ich hatte ihn wegen einer Reihe von Juwelendiebstählen in Ostende in Verdacht, telefonierte von dort nach Scotland Yard und erfuhr dabei etwas sehr Merkwürdiges. Der Beamte erzählte mir nämlich, daß man Osawold an demselben Morgen aus Ihrem Haus kommen sah, an dem Ihr Mann starb.«

 

Sie erwiderte nichts darauf.

 

»Nun ist es insofern schlimm mit mir«, fuhr der Redner fort, »als ich mir immer gleich Theorien bilden muß. Ich denke darüber nach, was sich wohl hinter verschlossenen Türen abgespielt haben mag, bis ich schließlich einen Zusammenhang entdeckte. Deshalb habe ich auch versucht, eine Erklärung für Ihr großes Interesse an Bill Osawold zu finden, und ich glaube, das ist mir gelungen.

 

Manches bringt man allerdings nicht bloß durch Nachdenken heraus.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Was schüttete zum Beispiel heute morgen die französische Dame in den Kaffee, der Bill Osawold gebracht wurde? Ich sah, wie sie den Inhalt eines Fläschchens hineingoß, als die Kellnerin einen Augenblick wegschaute. Vielleicht war die Dame überhaupt keine Französin? Auf jeden Fall war sie aber wahnsinnig vor Furcht. Das ist nicht der richtige Weg, einen Mann vom Sprechen abzuhalten. Wenn Sie mit der Psyche der Verbrecher so vertraut wären wie ich, Lady Angela, wüßten Sie auch, daß die Drohungen solcher Menschen nicht zu fürchten sind. Bill Osawold erreicht auch nichts, wenn er eine Dame verrät, die ihm geholfen hat. Außerdem wird er nicht mehr lange leben, wenn der Gefängnisarzt seinen Zustand richtig beurteilt. Sollte er Ihnen jemals schreiben, schicken Sie mir seine Briefe nur zu. Aber ich glaube nicht, daß Sie noch etwas von ihm hören werden.«

 

Der Chefinspektor nahm seinen Hut und schaute ein paar Sekunden nachdenklich aus dem Fenster.

 

»Ich gehe jetzt, Lady Angela«, sagte er dann. »Vielleicht schreiben Sie mir an einem der nächsten Tage einmal, wie Ihr verstorbener Mann, der soviel Arsen zu sich nahm, Sie in eine schwierige Lage gebracht hat.«

 

Sie sprang auf und stand bleich und zitternd vor ihm.

 

»Sprachen Sie nicht eben von Arsen … Woher wußten Sie denn das?«

 

»Er hat ein paar Jahre in Syrien zugebracht, und ich weiß, daß auch andere Europäer dort dieser Schwäche verfallen sind. An Ihrem Hochzeitstage traf ich einen jungen Mann aus der Apotheke, der ein Paket Arsen für ihn abgeben sollte. Die Leute fangen erst mit kleinen Dosen an und nehmen schließlich so viel von dem Gift zu sich, daß man ein ganzes Regiment Soldaten damit unter die Erde bringen könnte, und bei diesem Stadium war Ihr Mann angelangt.«

 

 

Erst drei Monate später erhielt Mr. Rater einen Brief von Lady Angela.

 

… ich war entsetzt, als ich diese schreckliche Angewohnheit entdeckte. Ich hatte das nicht für möglich gehalten … Unser Zusammenleben war sehr unglücklich. Er war schrecklich nervös, gereizt, niederträchtig und grausam. Zweimal hat er mich in seiner kindischen Wut geschlagen. Ich wollte es damals dem Doktor sagen, aber er drohte mir, dann abzustreiten, daß er jemals Arsen genommen hätte, und dem Arzt zu erklären, daß ich ihn vergiften wollte.

 

Später litt er an sehr schwerer Bronchitis, so daß er nicht mehr ausgehen konnte und ich das Arsen für ihn beschaffen mußte. Schließlich weigerte sich sein Apotheker, ihm weitere Mengen zu liefern. Eines Nachts gab ich ihm das Gift nicht. Ein schrecklicher Auftritt war die Folge. Ich gab ihm dann etwas, aber er wollte mehr und schrie vom Bett aus: ›Ich werde den Leuten schon sagen, daß du mich vergiften willst! Du willst ja nur mein Geld haben – deshalb bringst du mich um!‹ Im selben Augenblick hörte ich ein Geräusch, sah mich um und entdeckte einen brutal aussehenden Menschen, der mir vollkommen fremd war. Er stand in der offenen Tür, die zu meinem Zimmer führte. Eustace stöhnte auf und fiel in die Kissen zurück. Sie können vermuten, daß der Fremde Bill Osawold war. Er war ins Haus eingebrochen, Zeuge der Szene gewesen und glaubte nun wirklich, daß ich meinen Mann umgebracht hatte. Wäre ich nicht so verwirrt gewesen, und hätte ich ruhig nachgedacht, so hätte ich einen Arzt zugezogen und ihm die Wahrheit erzählt. Man hätte ja leicht nachweisen können, daß Eustace seit Jahren Arsen nahm. Aber in jenem Augenblick war ich außer mir vor Furcht und Entsetzen. Ich gab dem Mann Geld und schickte ihm später mehr. Sie können, sich nicht vorstellen, was ich in den Tagen der Gerichtsverhandlung durchmachte. Es gelang ihm, mir aus dem Gefängnis eine Nachricht zuzusenden, daß er mich anzeigen würde, wenn ich nicht für Freisprechung sorgte. Als seine Berufung verhandelt werden sollte, trieb mich meine wahnsinnige Angst dann schließlich zu jenem schrecklichen Versuch.

 

Der Redner las den Brief zweimal, durch und warf ihn dann ins Feuer.

 

Der Verbrecher aus Memphis, USA

 

Der Verbrecher aus Memphis, USA

 

Es gab in London eine Gesellschaft von Herren und Damen, die ihre Zeit und ihr überflüssiges Geld der Bekehrung von Gewohnheitsverbrechern widmeten. Jeden Donnerstagabend versammelten sich alle Leute der Unterwelt, die gerade nicht von der Polizei gesucht wurden oder durch ihre Tätigkeit in Anspruch genommen waren, in der Duvern Hall. Dort wurden von bedeutenden Persönlichkeiten Reden gehalten. Auch Schriftsteller von Ruf befanden sich unter ihnen.

 

Bei den Vorstandssitzungen beglückwünschten sich die Mitglieder zu dem außerordentlichen Fortschritt ihrer Bestrebungen und nahmen Kenntnis von Eintragungen in den Büchern, die etwa so lauteten:

 

»H. X., ein Mann von siebzehn Vorstrafen, hat jetzt eine Beschäftigung bei der Firma B. & C. gefunden und ist mit einem Wochenlohn von fünfunddreißig Schilling zufrieden.«

 

Wenn sich dann später zufällig herausstellte, daß dieser X. zu seinen fünfunddreißig Schilling wöchentlich noch einen kleinen Nebenverdienst durch Diebstähle bei seiner Firma verschaffte, wurde sein Name. aus dem Buch der Gnade gestrichen, und man vergaß die Angelegenheit so schnell wie möglich.

 

Die Mitglieder dieser Gesellschaft hatten immer noch nicht eingesehen, daß jedes Pfund, das man zur Besserung eines Gewohnheitsverbrechers ausgab, hinausgeworfenes Geld war.

 

Manchmal hielten auch pensionierte Polizeibeamte Ansprachen in dem Verein. Ihre Reden troffen von honigsüßen Worten und von brüderlicher Nächstenliebe. Die Zuhörer kritisierten später die Redner auf ihre eigene Art und Weise.

 

»Hast du auch die Diamantnadel in seiner Krawatte gesehen? Ich möchte nur wissen, wo er die geklaut hat. Früher im Dienst hat er nicht gewagt, sie zu tragen!«

 

Nur wenige aktive Beamte hatte man aufgefordert, sich an den Bestrebungen des Vereins zu beteiligen, und Chefinspektor Oliver Rater hatte auch nur mit größtem Widerwillen eingewilligt, »ein paar Worte« in der Versammlung zu sprechen.

 

An dem Abend, an dem er erschien, war der große Saal überfüllt. Das war auch natürlich, denn er hatte viele persönliche Bekannte in der Verbrecherwelt, denen er das Handwerk gelegt hatte.

 

Seine Ansprache selbst war kurz, rauh und grob.

 

»Es macht mich direkt krank, euch alle hier sitzen zu sehen«, begann er. »Wenn ihr behauptet, ein anständiges Leben führen zu wollen, so muß man das erst einmal in eure Sprache übersetzen. Ihr meint, daß es schon eine Besserung und eine anständige Beschäftigung bedeutet, wenn ihr zwischen zwei Einbrüchen zur Abwechslung einmal die dummen Spießer brandschatzt, indem ihr bei ihnen eine Stellung annehmt.

 

Zwei von euch haben vorige Woche versucht, mich zu überfallen. Sie hatten herausgebracht, daß ich hier sprechen wollte – ich danke euch jedenfalls für dieses Kompliment! Die Mehrzahl von euch fühlt sich immer noch am wohlsten, wenn sie im Kittchen sitzt. Dort seid ihr zu Hause. Einer von euch ich will keinen Namen nennen – kam letzten Donnerstag aus dem Gefängnis, sozusagen auf Urlaub. Und er hatte natürlich nichts Besseres zu tun, als sofort ein paar Wechsel zu fälschen. Ihr faßt die ganze Sache hier als einen großen Jux auf. Aber ich warne euch. Ich halte hier keine schönen Reden und predige euch nicht wer weiß was vor. Es wäre schade, wenn man auch nur eine Träne um euch vergösse! Ich habe nur ein einziges Mal einem von euch zu einer Anstellung verholfen. Und was war der Dank? Er hat seinem Arbeitgeber einen neuen Anzug gestohlen und nachher einen Einbruch ins Finsbury verübt. Der Mann paßte eben auch nur nach Dartmoor. Es ist nicht einer unter euch, der nicht behauptet, daß die Verfolgungen der Polizei ihn ins Elend gebracht hätten.

 

So, nun ist es für heute genug. Das ist die längste Rede, die ich je in meinem Leben gehalten habe. Die meisten von euch werde ich ja bei den Gerichtssitzungen wiedersehen, und wenn das nicht der Fall ist, dann nur aus dem Grund, weil ich nicht jedem Strafprozeß persönlich beiwohnen kann.«

 

Das war nun allerdings gerade keine Ansprache im Sinne des Vorstandes. Die Mitglieder des Vereins waren über alle Maßen entsetzt über die Deutlichkeit, mit der Mr. Rater den Leuten die Meinung gesagt hatte.

 

Ihre Empörung zeigte sich später darin, daß sie wegen dieses Vorfalls eine Beschwerde an den Polizeipräsidenten schickten. Der antwortete ihnen, daß er ihren Brief vom 21. d. M. erhalten hätte und die Sache untersuchen würde.

 

»Ich wäre doch gar zu gern dabeigewesen, als der Redner sprach«, sagte er und warf den Beschwerdebrief in den Papierkorb. »Jetzt hat er wahrscheinlich seinen ganzen Vorrat an Beredsamkeit für die nächsten zwei Jahre verbraucht, und wir bringen kein Wort mehr aus ihm heraus.«

 

Aber unter all den vielen Leuten hatte der Chefinspektor doch einen aufmerksamen Zuhörer. Die Gesellschaft hatte die blonde Stenotypistin Lydia Grayne angestellt, die sehr schön und auch sehr fleißig war. Sie hatte bereits sieben verschiedene Einladungen zum Abendessen abgeschlagen, die sie von sieben Mitgliedern des Vorstands erhalten hatte. Und dieser Vorstand setzte sich aus sieben älteren, wohlwollenden Herren zusammen.

 

Lydia Grayne trat schüchtern an den Redner heran, als er gerade das Gebäude verlassen wollte.

 

»Ach, verzeihen Sie, dürfte ich Sie vielleicht um Ihr Autogramm bitten, Mr. Rater?«

 

Er lächelte sie freundlich an, nahm das Buch, das sie ihm hinhielt, und schrieb seinen Namen hinein, ohne ein Wort zu sagen.

 

Sie erzählte ihm dann, daß sie aus Kanada stammte und erst seit drei Monaten in England war. Später erfuhr er, daß sie ihre Stellung aufgegeben hatte, aber erst einige Zeit nachher hörte er. welche neue Beschäftigung sie gefunden hatte.

 

Scotland Yard hatte damals gerade einen Gast: Captain Martin J. Snell aus Philadelphia in den Vereinigten Staaten. Im allgemeinen konnte der Chefinspektor gesprächige Leute nicht leiden, aber aus einem ganz bestimmten Grund ertrug er nicht nur die Gesellschaft dieses Amerikaners, sondern ermunterte ihn auch noch direkt zum Reden. Zur Erklärung muß gesagt werden, daß der Redner zu jener Zeit an Schlaflosigkeit litt.

 

Captain Snell war nach Europa gekommen, um hier kriminalistische Studien zu treiben, und einen Monat hatte er für, Scotland Yard angesetzt. Man hatte ihm bereits alles gezeigt, was es zu sehen gab, vom Kriminalmuseum bis zum Fundbüro. Den Abend verbrachte er gewöhnlich in Mr. Raters Wohnung und erzählte ihm merkwürdige Abenteuer.

 

»In Memphis hatten wir einen ganz verflixten Spitzbuben. Der Kerl hieß Lew Oberack und war der gerissenste Betrüger, dem ich jemals begegnet bin …«

 

Kaum hatte der Amerikaner zu sprechen begonnen, so nickte der Redner auch schon sanft ein, denn Captain Snells Stimme klang monoton, beruhigend und einschläfernd. Hätte aber Mr. Rater dem klugen Mann zugehört, so hätte er manche wertvolle Mitteilung erfahren und hätte vor allem auch die Vorgänge im Hause eines gewissen Dimitri Horopolos von Anfang an richtig verstanden.

 

Mr. Horopolos war ein sehr reicher Grieche, der nicht nur eine große Handelsfirma besaß, sondern auch Bank- und Finanzgeschäfte betrieb. Fast an allen internationalen Transaktionen war er beteiligt.

 

Er sah sehr gut aus, hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, dunkle Augen und einen schwarzen Schnurrbart. Außerdem bildete er sich sehr viel auf seine Körperkräfte ein, denn er war ein trainierter Sportsmann und Athlet, auf seine Reitkunst und auf sein schönes Haus am Elman Square. Besonders eitel war er auf die Wirkung, die seine Persönlichkeit auf Frauen ausübte.

 

Einmal erhielt Chefinspektor Rater eine direkte Beschwerde über ihn und suchte ihn infolgedessen auf. Der Grieche empfing ihn mit einem verbindlichen Lächeln.

 

»Aber mein lieber Freund, das ist doch ganz absurd! Das Mädchen hat sich mir an den Hals geworfen. Ich habe alles getan, um sie zur Vernunft zu bringen, und als sie durchaus nicht hören wollte, habe ich ihr eben gekündigt. Ein Mann in meiner Stellung ist solchen Anklagen immer ausgesetzt.«

 

»Um eine Anklage handelt es sich ja gar nicht.«

 

Später ging der Redner zu der jungen Dame, aber er hatte keinen Erfolg, da sie die Öffentlichkeit fürchtete. Nach einer Weile erfuhr er, daß die Nachfolgerin ihre Stelle ebenfalls schleunigst verlassen hatte. Auch dieses Mädchen konnte er nicht veranlassen, ihm den wahren Grund zu erzählen.

 

Kurz darauf traf Mr. Horopolos den Redner zufällig in der Bond Street.

 

»Ich habe meine Sekretärin schon wieder verloren. Ich weiß wirklich nicht, was ich anstellen soll, damit die Damen mit mir zufrieden sind.«

 

Mr. Rater kaute an seiner Zigarre und sah den Griechen böse an.

 

»Haben Sie einmal versucht, alles zu unterlassen, was ihnen mißfallen könnte, und sich anständig zu benehmen?«

 

Dimitri faßte das als einen Witz auf und lachte. Er war an diesem Morgen sehr zufrieden mit sich und der Welt, denn endlich hatte er eine Perle von einer Sekretärin gefunden. Es war eine blonde junge Dame mit großen, blauen Augen, die sein Angebot angenommen hatte. Soweit er feststellen konnte, war sie fremd in London und hatte weder Verwandte noch Freunde in der Stadt. Sie hatte allerdings seinen Vorschlag abgelehnt, in seinem Haus zu wohnen. Aber das war seiner Meinung nach eine Schwierigkeit, die man später noch aus dem Weg schaffen konnte. Schließlich konnte man ja nicht alles auf einmal erwarten.

 

Der Redner erfuhr auch sehr bald, daß eine neue Sekretärin bei Mr. Horopolos eingetreten war, denn der Grieche sandte mit einer Kühnheit, die seiner klassischen Vorfahren würdig gewesen wäre, die junge Dame mit einem Schreiben nach Scotland Yard.

 

»Mein lieber Mir. Rater, ich habe mit meinen Sekretärinnen bisher soviel Unannehmlichkeiten gehabt, daß ich Ihnen die Dame, die ich jetzt engagiert habe, hiermit vorstellen möchte. Bitte teilen Sie mir mit, ob Sie mit ihr zufrieden sind. Ich habe Ihnen Ihre Aufgabe erleichtert, denn Sie können sie nun gleich warnen, was Sie ja bei allen hübschen Mädchen zu tun pflegen, die ich anstelle.«

 

Der Redner sah zu der bescheidenen jungen Dame hinüber, die ihm am Schreibtisch gegenübersaß.

 

»Nun, Miss Grayne, Sie scheinen ja auch keinen großen Gefallen daran gefunden zu haben, Gewohnheitsverbrecher zu bekehren?«

 

Sie freute sich, daß er sich noch auf ihren Namen besann.

 

»Aber jetzt habe ich eine sehr nette Stellung, Mr. Rater. Mr. Horopolos ist äußerst liebenswürdig, und er sieht auch sehr gut aus. Ich habe noch nie einen so hübschen Chef gehabt.«

 

Der Redner zögerte, denn er wußte nicht, ob unter diesen Umständen noch eine Warnung am Platze war. Wahrscheinlich hatte Dimitri Miss Grayne schon erklärt, daß man in Scotland Yard nicht gut auf ihn zu sprechen sei und daß verschiedene seiner früheren Sekretärinnen den Posten sehr schnell verlassen hätten. Vielleicht war er aber auch schon zu einer Verständigung mit ihr gekommen. Diesen Gedanken lehnte er jedoch sofort wieder ab, als er ihr ins Gesicht sah.

 

»Sie werden finden, daß der Grieche sehr gut zahlt, aber er ist vielleicht etwas zu freundlich. Daran können weder Sie noch ich etwas ändern. An Ihrer Stelle würde ich genaue Bürostunden mit ihm vereinbaren und mich daran halten.«

 

Sie war ihm sehr dankbar für diesen Rat.

 

»Ich weiß nicht, wie die Arbeitszeit für Stenotypistinnen in England liegt. Wann kann man abends nach Hause gehen?«

 

»Sobald es dunkel wird.«

 

Am selben Abend saß der Redner wieder in seinem Wohnzimmer am Kamin und hörte Mr. Snell zu.

 

»… um wieder auf diesen Oberack zurückzukommen. Ich erzählte Ihnen doch schon von ihm – er stammt aus Memphis, USA –«

 

»Memphis« war das letzte Wort, das zu Mr. Raters Bewußtsein durchdrang, dann schlief er ein.

 

*

 

Die neue Sekretärin rechtfertigte den guten Eindruck, den Mr. Horopolos zuerst von ihr gehabt hatte, täglich mehr. Sie war nicht kleinlich, nahm nichts übel und lachte über Scherze, bei denen ihre Vorgängerinnen keine Miene verzogen oder höchstens ein empörtes Gesicht gemacht hätten. Außerdem war sie sehr tüchtig und erledigte seine Korrespondenz in ungewöhnlich kurzer Zeit.

 

»Mein liebes Kind, Sie sind wirklich sehr brauchbar und charmant«, sagte er und klopfte ihr auf die Schulter.

 

So begannen gewöhnlich seine Annäherungsversuche.

 

Sie schaute mit ihren blauen Augen zu ihm auf und lächelte.

 

»Ich glaube, daß es mir hier sehr gut gefallen wird. In meiner letzten Stellung –«

 

Sie erzählte ihm von den unangenehmen Erfahrungen, die sie bei dem Inhaber einer Teefirma gemacht hatte, und sprach auch über andere unerfreuliche Erlebnisse in früheren Stellungen.

 

»So, Verbrecher haben Sie also auch schon einmal bekehren wollen?« meinte er belustigt. Er war noch nie im Gefängnis gewesen, und man konnte ihn infolgedessen auch nicht offiziell bekehren. »Dabei müssen Sie sich aber doch entsetzlich gelangweilt haben.«

 

Gewöhnlich bekam er viele Briefe mit der Morgenpost und erledigte sie, bevor er zur Stadt ging. Gegen vier Uhr nachmittag kehrte er dann zurück und beschäftigte sich mit den Eingängen, die im Lauf des Tages noch angekommen waren. Er hatte sich ein schönes, großes Haus gebaut, in dem er eine zahlreiche Dienerschaft unterhielt.

 

»In den nächsten Tagen zeige ich Ihnen einmal meine Diamantensammlung«, sagte er mit Nachdruck, denn er war sehr stolz auf diese Schätze.

 

Die Mitteilung machte auch den größten Eindruck auf Miss Grayne.

 

»Haben Sie denn die kostbare Sammlung hier in Ihrem Haus?«

 

Er lächelte.

 

»Nicht im, sondern unter dem Haus«, erklärte er und freute sich über ihren Eifer. »Es wird Sie sicher auch interessieren, daß schon sechsmal versucht worden ist, bei mir einzubrechen. Zweimal sind die Leute, die zu den gerissensten Banden von Paris gehörten, auch tatsächlich ins Haus gekommen. Aber wenn das selbst zweihundert verschiedenen Banden gelungen wäre, so könnten sie doch niemals in meine Stahlkammer eindringen.«

 

Und seine Behauptung war nicht übertrieben. Das kleine Gewölbe aus Stahl und Beton war im Keller eingebaut und besaß eine sechzig Zentimeter starke Tür und einen Entlüftungsschacht.

 

»Sie müssen sich die Anlage einmal ansehen«, sagte er.

 

In Wirklichkeit hatte er allerdings nicht die Absicht, sie ihr zu zeigen, denn er hütete diese Stahlkammer eifersüchtig und ließ Tag und Nacht den Zugang bewachen.

 

Er war der aufmerksamste Chef, den man sich denken konnte. Lydia Grayne war noch keine Woche bei ihm tätig, als er darauf bestand, sie persönlich zum Ausgang zu begleiten, wenn sie das Haus verließ.

 

Eines Abends stand er wieder unter der Haustür und sah ihr nach, als sie die Straße nach links hinunterging. Plötzlich bemerkte er, daß ein Mann aus dem Schatten trat und mit ihr sprach. Einen Augenblick blieb sie stehen, während der Fremde ernst auf sie einredete, dann drehte sie sich rasch um und kam zu Mr. Horopolos zurück.

 

»Was ist denn passiert?« fragte er.

 

»Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Vermutlich ist es ein Polizeibeamter«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. »Er sagte mir, daß ich mich vor Ihnen sehr in acht nehmen und abends nicht zu lange in Ihrem Haus bleiben sollte.«

 

Dimitri schob sie leicht beiseite und eilte wütend auf den Mann zu. Im Licht einer Laterne konnte er sein Gesicht deutlich sehen. Es war länglich und schmal. Außerdem hatte der Unbekannte einen dunklen Schnurrbart und buschige, schwarze Augenbrauen.

 

»Zum Teufel, wie kommen Sie denn dazu, die Dame anzusprechen?« fragte er. »Sind Sie etwa ein Polizist? Dann gehen Sie gefälligst zu Ihrem Mr. Rater zurück und bestellen Sie ihm von mir, daß ich mich bei Scotland Yard beschwere, wenn man mich weiter derartig niederträchtig behandelt!«

 

Der Fremde lächelte.

 

»Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich ein, Polizeibeamter bin?« fragte er ruhig. »Und wenn ich es bin – was haben Sie dagegen einzuwenden, daß ich ein Mädchen vor den Gefahren der Straße warne?«

 

Mr. Dimitri wollte gerade grob antworten, aber er besann sich eines Besseren und kämpfte seine Erregung nieder.

 

»Kommen Sie mit und trinken Sie ein Glas bei mir«, erwiderte er so liebenswürdig, als es ihm im Augenblick möglich war.

 

Der Mann zögerte einen Moment, als ob ihm die Aufforderung ungelegen käme, dann änderte sich sein Benehmen aber plötzlich.

 

»Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie in Unannehmlichkeiten gebracht habe, aber Sie wissen ja, ich habe meine Pflicht zu erfüllen …«

 

»Kommen Sie mit«, wiederholte Dimitri.

 

Gehorsam folgte ihm der andere. Miss Grayne stand noch an der Haustür, und der Grieche entließ sie mit einem kurzen Gruß. Dann führte er den Mann in sein kostbar ausgestattetes Arbeitszimmer und bot ihm einen Stuhl an. Der Fremde setzte sich etwas befangen auf eine Kante und hielt den Hut auf den Knien.

 

»Ich verlange nicht von Ihnen, daß Sie mir Ihre Dienstgeheimnisse preisgeben sollen«, begann Mr. Horopolos mit einem verbindlichen Lächeln, während er seinem Besucher einen Whisky-Soda einschenkte. »Aber wenn Sie tatsächlich den Auftrag haben, mich zu beobachten, kann ich Ihnen viel Mühe ersparen. Ich habe absolut nicht den Wunsch, mich mit der Polizei schlecht zu stellen, im Gegenteil, ich möchte recht gut mit ihr stehen.«

 

Der Mann räusperte sich, nahm das Glas und leerte es.

 

»Es ist aber meine Pflicht –« begann er.

 

»Ach, darauf kommt es gar nicht an«, unterbrach ihn Dimitri freundlich. »Sie müssen doch vor allem auch für sich selbst sorgen, das ist Ihre erste Pflicht. Werden Sie alle Tage hierherkommen?«

 

Der Fremde, der sich schließlich als Mr. Olcott vorstellte, nickte.

 

»Nur am Sonntag nicht.«

 

Dimitri lachte.

 

»Gut, ich verspreche Ihnen, mich über Sonntag anständig zu benehmen.«

 

Bei diesen Worten zog er seine Brieftasche und nahm eine Zehnpfundnote heraus.

 

»Das kann ich aber wirklich nicht annehmen. Ich könnte in die größten Schwierigkeiten kommen.«

 

»Ach, Unsinn! Wenn man Sie hört, gibt es überhaupt nur Schwierigkeiten auf der Welt. Das ist geradezu ein Komplex der Polizeibeamten.«

 

Er redete Mr. Olcott zu, und nach einiger Zeit steckte der Mann den Geldschein widerstrebend ein.

 

Am nächsten Abend kam Mr. Dimitri an ihm vorbei, und Olcott grüßte respektvoll. Am dritten Abend lud ihn der Grieche wieder zu sich ins Haus.

 

»Ich möchte wirklich gern wissen, welchen speziellen Auftrag Sie haben«, sagte er, als Olcott vor einem großen Glas Whisky-Soda saß.

 

Olcott hustete verlegen.

 

»Wenn ich ganz offen sein soll, komme ich in große Schwie –«

 

»Schwierigkeiten wollten Sie wohl sagen«, ergänzte Mr. Horopolos ärgerlich, »Also, welche Instruktionen haben Sie?«

 

Nach einer Weile brachte er den Mann zum Reden.

 

Olcott hatte den Befehl, das Haus zu überwachen, bis Miss Grayne herauskam, und dann noch eine Stunde länger zu bleiben, um zu sehen, ob sie nicht etwa wieder zurückkehrte.

 

»Wenn Sie nun aber Überstunden machen muß – was passiert dann?«

 

»Ich muß Mr. – ich will keinen Namen nennen – berichten, ob sie bis halb zehn das Haus verlassen hat.«

 

Der Grieche lächelte verächtlich.

 

»Eine so alberne Geschichte ist mir bisher doch noch nicht vorgekommen. Nun gut, Olcott, ich werde Ihnen sagen, wenn Sie früher nach Hause gehen können!«

 

Seine Freundschaft mit der Sekretärin entwickelte sich nach Wunsch. Sie hatte sogar seine Einladung zu einem Abendessen in einem vornehmen Restaurant angenommen. Aber Dimitri dachte gar nicht daran, mit ihr dorthin zu gehen. Im gegebenen Augenblick wollte er den Schauplatz einfach verlegen.

 

Als er sie aber am Morgen des festgesetzten Tages bat, abends um zehn zu ihm ins Haus zu kommen, machte sie doch ein ängstliches Gesicht.

 

»So ein kleines Essen zu zweien würde aber doch sehr nett sein«, meinte er. »Und es ist doch nichts dabei, wenn wir hier in meinem Speisezimmer dinieren.«

 

Sie schüttelte den Kopf. Plötzlich erinnerte sich die blonde junge Dame an Gesetze des guten Tons und sagte, daß sie dann wenigstens einen Freund mitbringen möchte.

 

»Aber das ist doch eine ganz ausgefallene Idee«, erwiderte er lächelnd. »Überlegen Sie es sich noch einmal.«

 

Sie überlegte es den ganzen Tag und änderte ihre Pläne. Zuerst sollte das Essen um sieben stattfinden, dann um neun, und schließlich einigte sie sich mit ihm auf halb. neun. Und er mußte ihr auch versprechen, sie nach Hause zu begleiten. Er stimmte jedem ihrer Vorschläge bei, denn sie war das schönste Mädchen, das er kennengelernt hatte.

 

*

 

Chefinspektor Rater saß in seinem Büro in Scotland Yard. Sein Freund aus Amerika hatte ihm gegenüber Platz genommen, den Raum mit dem Rauch seiner Zigarre erfüllt und den Redner in gewohnter Weise zum Einschlafen gebracht.

 

»… wir sprachen doch über diesen Kerl aus Memphis, den gerissensten Betrüger, der jemals …«

 

Als der Redner aufwachte, war sein Besucher verschwunden. Ein Bote hatte Mr. Rater aufgeweckt. Ärgerlich schaute der Redner auf den halbvollendeten Bericht, der vor ihm lag, und den er bei Snells Ankunft unterbrochen hatte. Das Dokument sollte am nächsten Morgen vor elf dem Polizeipräsidenten vorgelegt werden.

 

Er war noch halb im Schlaf und hörte dem Boten kaum zu.

 

»Was ist denn los?« fragte er und gähnte.

 

»Vor fünf Minuten kam ein Herr und sagte, daß ich Ihnen das persönlich übergeben sollte.«

 

Mr. Rater nahm das zerknitterte Papier, und glättete es. Der kleine Zettel war offensichtlich aus einem Notizbuch ausgerissen. Die Bleistiftschrift war zittrig und undeutlich:

 

»Um Himmels willen, helfen Sie mir! Der Grieche hat mich in seine Stahlkammer eingeschlossen. Ich ging zu ihm zum Abendessen.« Dann waren verschiedene Worte unleserlich. »Bitte, helfen Sie mir.

 

Lydia Grayne.«

 

Der Redner war plötzlich vollkommen wach. Er sah auf die Uhr – sie zeigte zehn. Lydia war zu dem Griechen gegangen! Eine weitere Erklärung war überflüssig. Er dachte im Augenblick nicht darüber nach, auf welche Weise diese Botschaft zu ihm gelangt sein mochte. Das war belanglos. Er klingelte, sah aber dann, daß der Bote noch neben ihm stand, und gab ihm den Auftrag, sofort das Überfallkommando zu alarmieren.

 

Fünf Minuten später raste das Polizeiauto mit höchster Geschwindigkeit nach Westen. Mit einem unsanften Ruck hielt der Wagen vor dem Haus des Griechen, und der Redner war der erste, der auf die Straße sprang.

 

Zweimal läutete er, bevor er Antwort erhielt, und zu seinem Erstaunen öffnete ihm dann Dimitri selbst. Er trug einen Schlafrock und sah den Beamten düster an.

 

»Was wollen Sie denn hier?« fragte er böse.

 

»Ich will wissen, wo Lydia Grayne ist!«

 

»Hier ist sie jedenfalls nicht«, erwiderte Mr. Horopolos wütend. »Ihr verdammter Polizeispitzel hätte Ihnen das wahrhaftig mitteilen können!«

 

»Wollen Sie mich freiwillig ins Haus lassen, oder soll ich erst einen amtlichen Befehl dazu ausstellen lassen?«

 

Dimitri machte die Tür weiter auf und ging vor dem Redner die Treppe hinauf. Oben drehte er sich ärgerlich um.

 

»Einer von Ihren Leuten könnte tatsächlich die Tür wieder zumachen!«

 

Von der Dienerschaft war niemand zu sehen, was Mr. Rater als ein sehr verdächtiger Umstand erschien. Erst später erfuhr er, daß sich die Hausangestellten in einem Teil des Gebäudes aufhielten, der vollkommen abgeschlossen werden konnte.

 

Dimitri führte die Beamten nicht in sein Arbeitszimmer, sondern zu einem kleinen Salon. Der Redner sah einen für zwei Personen gedeckten Tisch.

 

»Vielleicht erklären Sie mir jetzt, was Ihr Besuch zu bedeuten hat?« fragte der Grieche ungehalten.

 

Der Chefinspektor reichte ihm den Zettel, den er bekommen hatte.

 

Dimitri las die Botschaft und runzelte die Stirn.

 

»Das ist eine verdammte Lüge«, sagte er dann wild. »Sie wollte kommen, aber bis jetzt ist sie noch nicht erschienen.«

 

»Sie haben doch eine Stahlkammer im Keller?«

 

Mr. Horopolos zögerte.

 

»Allerdings. Ich verwahre dort meine Wertsachen. Sie glauben doch nicht etwa, daß ich die junge Dame dort eingeschlossen hätte? Das wäre doch wirklich zu lächerlich. Ich sagte bereits, daß sie heute abend kommen wollte, aber –«

 

»Ich möchte mir einmal diese Stahlkammer ansehen«, entgegnete der Redner bestimmt.

 

»Aber Miss Grayne ist doch gar nicht da – ich erwarte sie ja erst. Sie sehen dach an dem gedeckten Tisch und an den unberührten Platten, daß noch niemand gekommen ist.«

 

»Das ist für mich noch lange kein Beweis. Ich möchte mir einmal diesen unterirdischen Raum ansehen.«

 

Dimitri Horopolos wurde erst dunkelrot, dann bleich und sah aus, als ob er vor Wut explodieren würde. Aber schließlich ging er ins Nebenzimmer und kam nach kurzer Zeit mit zwei kleinen Schlüsseln zurück.

 

»Da Sie so verdammt neugierig sind, will ich Ihnen den Platz zeigen.«

 

Sie stiegen zusammen eine enge Treppe hinunter, und am Ende eines langen Ganges schloß der Grieche eine Stahltür auf. Er schaltete das Licht ein, und Mr. Rater schaute sich in dem kleinen, engen Raum um. Auf Glaskonsolen lagen viele hundert Lederbeutel.

 

Aber dafür interessierte er sich nicht. Er bemerkte einen Stuhl, einen Tisch und ein Feldbett, aber Lydia konnte er nicht entdecken.

 

»Haben Sie noch ein anderes ähnliches Gewölbe hier?«

 

»Nein. Und ich habe Ihnen jetzt schon x-mal erklärt, daß Miss Grayne noch nicht gekommen ist.«

 

Der Redner sah sich noch einmal betreten um. Er konnte die Sache nicht verstehen. Hatte ihm jemand einen Streich gespielt? In diesem Raum konnte sich keine Maus verstecken!

 

Als sie wieder zum Erdgeschoß hinaufstiegen, fluchte und schimpfte Dimitri in den verschiedensten Sprachen, weil man ihn in seiner Ruhe gestört hatte. Seine Stimme wurde immer schriller und überschlug sich schließlich. Wild fuchtelte er mit den Händen in der Luft herum, so daß die Brillantringe an seinen Fingern glänzten und glitzerten.

 

»Es ist ja sehr interessant, daß Sie sich so aufregen, aber ich bin tatsächlich berechtigt, Ihr Haus zu durchsuchen. Und ich bin auch jetzt noch nicht sicher, daß sich die junge Dame nicht hier aufhält.«

 

»Dann durchsuchen Sie doch gefälligst das Gebäude!« brüllte Dimitri.

 

Das war eine Aufforderung, die sich der Redner nicht entgehen ließ.

 

Aber so gründlich seine Beamten auch vorgingen, sie fanden nichts, und der Chefinspektor mußte schließlich unverrichteter Dinge und höchst verblüfft zu seinem Wagen zurückkehren.

 

Dimitri schlug donnernd hinter ihm die Tür zu und ging wütend in sein Wohnzimmer, wo er nervös auf und ab wanderte. Gerade wollte er einem Diener den Auftrag geben, den Tisch im Salon wieder abzuräumen, als es unten klopfte. Vielleicht war das Lydia! Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken. Er eilte den Gang entlang und riß die Tür auf …

 

Mr. Olcott stand vor ihm.

 

»Zum Teufel, was wollen Sie denn noch?«

 

»Lassen Sie mich schnell herein«, bat der Mann leise. »Ich komme gerade von Mr. Rater. Er hat mich furchtbar abgekanzelt. Hat er Ihre Stahlkammer durchsucht?«

 

»Natürlich hat er das getan«, entgegnete Dimitri wild.

 

Er schloß die Tür, und sie gingen zu dem kleinen Salon, in dem der gedeckte Tisch stand.

 

»Nun, was wollen Sie? Sie sind mir ja ein netter Helfer! Haben Sie etwa Miss Grayne gesehen und zurückgeschickt?«

 

Olcott schüttelte ungeduldig den Kopf.

 

»Ich möchte nur noch wissen, Mr. Horopolos, ob der Chefinspektor die Schlüssel zu der Stahlkammer mitgenommen hat?«

 

»Selbstverständlich hat er das nicht getan!«

 

»Sind Sie Ihrer Sache auch ganz gewiß?« fragte der Mann ernst.

 

Der Grieche steckte die Hand in die Tasche seines Schlafrocks und holte einen Ring heraus, an dem sich die beiden Schlüssel befanden.

 

»Sehen Sie, hier sind sie.«

 

»Dann geben Sie sie mir sofort, und rühren Sie sich nicht, sonst jage ich Ihnen eine Kugel durch den Schädel«, erwiderte Mr. Olcott, in dessen Hand sich plötzlich eine Browningpistole zeigte.

 

Dimitri wäre vor Schrecken beinahe in Ohnmacht gefallen. Widerstandslos ließ er sich binden und knebeln. Dann ging Mr. Olcott mit den Schlüsseln in den Keller, um die Schätze der Stahlkammer zu untersuchen.

 

*

 

Als der Redner nach Scotland Yard zurückkehrte, saß Mr. Snell wieder an seinem gewohnten Platz. Aber Mr. Rater war jetzt nicht in der Stimmung, seine Geschichten anzuhören. Da der Captain aber die Methoden der Verbrecher sehr gut kannte, erzählte er ihm, was er eben erlebt hatte.

 

»Donnerwetter!« rief der Amerikaner. »Das sieht ganz nach diesem gerissenen Kerl aus Memphis aus. Das ist der größte Spitzbube und Betrüger, der jemals gelebt hat. Er arbeitet nämlich immer mit seiner Frau zusammen. Sie hat strohblonde Haare und dunkelblaue Augen. Und immer richtet sie es so ein, daß sich jemand in sie verliebt. Aber sie wählt stets einen schlechten Charakter als Opfer. Dann taucht ihr Mann, der Kerl aus Memphis, auf, gibt sich als Detektiv aus und stiehlt dem Mann alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Ich möchte wetten, daß …«

 

Bevor Mr. Snell den letzten Satz beenden konnte,« eilte der Redner schon zu dem Polizeiauto zurück, das der Chauffeur gerade zur Garage bringen wollte. Er sprang auf das Trittbrett und winkte zwei Detektiven, die ihm schleunigst folgten. Als er in das Haus des Griechen kam, brach er die Tür zu dem kleinen Salon auf und befreite Dimitri. Währenddessen war der »gerissene Kerl aus Memphis, USA« mit seiner blonden Frau längst in einem schnellen Wagen nach Osten davongefahren.

 

Die Lektion

 

Die Lektion

 

Ich möchte gleich zu Anfang bemerken, daß ich niemals viel sprach. Zu Beginn meiner Polizeikarriere bekam ich eine Lektion, die ich allen jungen Beamten einprägen möchte. Man soll niemals zur unrechten Zeit sprechen oder auf die unrechten Leute hören.

 

Ich war sehr stolz auf meine kurze, knappe Ausdrucksweise, und wenn mir jemand gesagt hätte, daß ich zuviel spräche, wäre ich sicher sehr erstaunt gewesen. Und doch habe ich es getan, als ich den Blidfield-Mord bearbeitete, den interessantesten Fall, der mir überhaupt vorgekommen ist.

 

Ich kannte den alten Angus Blidfield oberflächlich. Er besaß ein großes Haus am Bloomsbury Square und hatte die Wohnungen in den einzelnen Geschossen vermietet. Für sich selbst hatte er den ersten Stock reserviert und wohnte dort mit seiner Nichte Agnes Olford.

 

Der alte Mann war ein sehr reicher, etwas exzentrischer Junggeselle. Trotz seines Geldes war er ein ausgesprochener Geizhals. Ich wußte damals noch nicht, daß er große Summen baren Geldes in seinem Hause aufbewahrte, und ich glaube auch; daß nur wenig andere Leute eine Ahnung davon hatten. Seine Nichte war allerdings darüber orientiert, aber sie kannte die Höhe des Betrages nicht, den ihr Onkel in dem lackierten Blechkasten unter seinem Bett verwahrte.

 

Die Nichte war sehr schön, besaß aber wenig Geist und Witz, sonst hätte sie nicht die Stellung in dem Haus einnehmen können, die ein einfaches Dienstmädchen mit etwas Selbstachtung abgelehnt hätte. Sie mußte von früh bis spät auf den Beinen sein und führte eigentlich ein Sklavenleben. Die ganze Hausarbeit war ihr aufgebürdet, denn Blidfield hielt sich keine Dienstboten. Außerdem erledigte sie seine Korrespondenz und spielte auch noch die Pflegerin, wenn er krank war.

 

Ich kannte seinen Arzt, den jungen Dr. Lexivell, der in der Gower Street wohnte. Ich lernte ihn kennen, als unser Polizeiarzt einmal krank wurde, und wir zu irgendeinem Zweck einen Doktor brauchten. Der Sergeant erinnerte sich damals an den jungen Lexivell, und wir zogen ihn zu.

 

»Nun haben Sie ja ihr Glück gemacht«, sagte ich zu ihm, als ich hörte, daß der alte Blidfield ihn zu seinem Hausarzt bestimmt hatte. Er lachte.

 

»Denken Sie, er wollte mir zumuten, das Amt ehrenhalber zu verwalten! Es dauerte eine Weile, bis ich ihm auseinandergesetzt hatte, daß ich doch von meinem Beruf leben müßte.«

 

Ich war nicht erstaunt, dies zu erfahren, denn Mr. Blidfield gab niemals unnötig einen Schilling aus. Jeden Morgen machte er sich mit einer Markttasche auf den Weg, um die nötigen Einkäufe für den Haushalt zu besorgen. Er ging sogar bis zur Edgware Road, weil dort die Kartoffeln eine Kleinigkeit billiger waren.

 

Ich glaube kaum, daß er sehr krank war, aber er war sehr ängstlich wegen seiner Gesundheit und rief selbst bei den geringfügigsten Anlässen den Arzt. Hätte er anständig gezahlt, so hätte Lexivell sehr zufrieden sein können. Er hatte noch keine große Praxis und verbrauchte, was er verdiente, wenn nicht mehr.

 

Eines Tages hörte ich, daß der alte Herr ernstlich erkrankt sein sollte, und als ich Dr. Lexivell zufällig an der Ecke der Tottenham Court Road traf, erzählte er mir, daß sich ein Herzleiden bei Blidfield eingestellt hätte.

 

»Es kann gefährlich werden, und er muß sich in Zukunft in acht nehmen. Ich schlug ihm vor, eine Krankenschwester zu engagieren, aber davon wollte er nichts hören. Es ist mir gar nicht recht, daß dieses junge Mädchen und der alte Mann, der jeden Augenblick sterben kann, allein in der Wohnung sind. Mich geht die Sache ja nichts an, aber sooft ich in der letzten Zeit abends zu ihm kam, bemerkte ich ein paar Leute, die das Haus beobachteten. An einem kam ich dicht vorüber und betrachtete ihn genauer. Er hatte dunkle Hautfarbe und machte den Eindruck eines Ausländers. Ich glaube auch, daß es immer dieselben sind, die sich dort herumtreiben. Ich sprach mit Mr. Blidfield über die Sache, und zu meinem Erstaunen wußte er, daß das Haus beobachtet wurde. Aber er brach die Unterhaltung sofort ab, als ob es ihm unangenehm wäre, darüber zu sprechen.«

 

Dunkle, unheimlich aussehende Männer, die Häuser beobachten, interessieren mich immer, und so machte ich mich eines Nachmittags auf den Weg, um mich persönlich davon zu überzeugen. Ich rechnete allerdings nicht damit, daß ich die Leute um diese Zeit auf ihrem Posten treffen würde, und tatsächlich konnte ich sie auch nicht entdecken. Ich klingelte an der Wohnungstür, und Miss Olford öffnete mir. Ihr Onkel machte gerade eine Spazierfahrt, eine der wenigen Annehmlichkeiten, die er sich gönnte. Zweimal in der Woche mietete er von einer benachbarten Garage ein Auto und fuhr aufs Land hinaus.

 

Die kleine Miss Olford sah sehr müde und angegriffen aus, denn sie war bis drei Uhr morgens aufgeblieben.

 

»Der Doktor sagte, daß die gefährliche Zeit für meinen Onkel zwischen elf und drei Uhr nachts liegt, und er hat mir geraten, während dieser Zeit zu wachen. Er hat meinen Onkel schon dauernd gebeten, eine Pflegerin zu nehmen, aber der denkt gar nicht daran.«

 

»Was fehlt ihm denn eigentlich?« fragte ich.

 

Sie wußte es nicht genau; wahrscheinlich hatte Lexivell sie nicht über den Zustand Mr. Blidfields aufgeklärt. Ich sagte ihr nichts von den verdächtigen Leuten, die sich vor dem Haus herumtrieben, um sie nicht zu beunruhigen. Aber ich schlug ihr vor, sich doch am Tage einige Stunden hinzulegen.

 

»Mein Onkel kann jeden Augenblick zurückkommen, und dann will er seinen Tee haben.«

 

Mr. Blidfield traf ich bei der Gelegenheit nicht, aber ich wollte vor allem feststellen, welche Bewandtnis es mit den beiden Leuten hatte, die das Haus beobachteten. Einer meiner Detektive hatte zwei Männer gesehen, die sich auf dem Platz verdächtig machten, und sie angehalten. Aber sie konnten genügende Auskunft geben.

 

Am Samstagnachmittag machte ich Mr. Blidfield wieder einen Besuch, und diesmal fand ich ihn zu Hause.

 

Wir kannten einander nur oberflächlich, aber doch so gut, daß ich mich nach seinem Befinden erkundigen konnte.

 

»Mir fehlt nicht viel, ich habe nur nervöses Herzklopfen. Dieser junge Doktor will nur Honorar schlucken, aber da hat er sich in mir geirrt. Obendrein sollte ich noch eine Krankenschwester anstellen! Die stecken alle unter einer Decke, und ich zweifle nicht im geringsten daran, daß er sich von der Pflegerin eine Provision zahlen ließe, wenn ich sie engagierte. Ein Pfund soll ich täglich für eine Pflegerin ausgeben – es ist nicht zu glauben!«

 

Obwohl er nicht viel über seine Krankheit sprach, sah ich doch deutlich, daß es ihm nicht gut ging. Aber sein Geiz hinderte ihn daran, etwas für seine Gesundheit zu tun.

 

Jenen Samstagabend werde ich nicht vergessen, denn damals passierte es mir, daß ich zuviel redete.

 

Es war eine rauhe Nacht, obwohl wir schon Mai hatten, und es herrschte ein Schneetreiben, als ob es Januar wäre. Der Sturm heulte und jagte mir die Flocken entgegen, die sich auf der Erde sofort zu Wasser verwandelten. Kaum ein Mensch war auf der Straße zu sehen.

 

Um ein Uhr nachts ging ich über den Bloomsbury Square. Ich hatte meinen Schirm aufgespannt, obwohl er mir kaum Schutz gewährte, und kämpfte mich damit gegen den Wind vorwärts. Leicht genug hätte ich mit einem Straßenpassanten zusammenstoßen können, der mir entgegenkam, und sich auf dieselbe Weise zu schützen suchte, denn der Wind blies von allen Seiten. Aber als mich schließlich tatsächlich jemand anrannte, kam er von der Seite. Ich hatte ihn nicht kommen hören, und mein erster Eindruck war, daß ihn der Wind vom nächsten Dach heruntergeweht hatte. Nachher erschien es mir glaubhafter, daß er die Treppenstufen herabgeeilt war, die von einem der Häuser auf den Platz führten. Es war aber so dunkel und ungemütlich, daß ich nicht darauf achtete, welches Haus es war.

 

Der Zusammenstoß kam so überraschend und unerwartet, daß ich böse wurde und schimpfte. Nun habe ich eine ziemlich kräftige Stimme, die man trotz des Sturmes sehr weit hören konnte. Der andere fluchte auch, aber viel leiser als ich. Dann bückte er sich rasch und suchte auf dem Boden. Offenbar hatte er etwas fallen lassen. Schließlich fand er es, nahm es auf, aber es entglitt ihm wieder. Ich hörte den metallischen Klang auf dem Pflaster und wußte, daß es ein Schlüssel war.

 

Mein Ärger war inzwischen verflogen, und es kam mir zum Bewußtsein, daß meine heftigen Bemerkungen eigentlich nicht am Platze waren. Ich bückte mich deshalb auch und half ihm beim Suchen. Dabei berührte ich eine durchnäßte Schnur, die mir der Fremde jedoch sofort aus der Hand zog. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, versuchte der Mann, an mir vorüberzueilen, aber ein unglücklicher Zufall wollte es, daß wir noch einmal zusammenstießen, und zwar sehr heftig. Ich hörte ein lautes Poltern und sah im Licht der Straßenlaterne, daß der Fremde einen silbernen Kasten hatte fallen lassen. Der Kasten sprang auf, und mehrere Gegenstände fielen heraus. Mit einem abermaligen Fluch bückte sich der Mann, sammelte die Gegenstände hastig auf und eilte davon. Erst jetzt hatte ich sein Gesicht gesehen und war im Augenblick zu erstaunt, daß ich vergaß, ihm behilflich zu sein, obwohl er Unterstützung gebraucht hätte. Eine seiner Hände hielt krampfhaft den Schirm fest, der gerade umschlug, als er sich aufrichtete.

 

Wenige Sekunden später war der Mann in der Dunkelheit verschwunden, und ich machte mich auf den Heimweg.

 

Ich war aber kaum ein paar Schritte gegangen, als ich, fühlte, daß sich etwas in die Gummisohle meines Schuhs eingedrückt hatte. Da es mich beim Gehen hinderte, machte ich bei der nächsten Laterne halt, lehnte mich gegen den Lampenpfahl und entfernte den Gegenstand.

 

Ich nahm ihn mit, denn es ist nicht meine Gewohnheit, wertvolle Dinge wegzuwerfen. Als ich nach Hause kam, legte ich den Gegenstand auf den Kamin, aß noch eine Kleinigkeit und ging dann zu Bett. Kurz vor dem Einschlafen wurde mir plötzlich klar, daß der Mann, mit dem ich zusammengestoßen war, aus Blidfields Haus gekommen sein mußte.

 

Am Sonntagmorgen klingelte mein Telefon kurz vor sechs, und ich erfuhr, daß Angus Blidfield ermordet worden war. Seine Nichte war gegen halb sechs in sein Schlafzimmer gegangen, um ihm eine Tasse Tee zu bringen. Das tat sie regelmäßig, weil der alte Herr gewöhnlich um diese Zeit aufwachte. Er lag mit schrecklichen Kopfwunden auf dem Boden und lebte nicht mehr. Die Verletzungen rührten von einem Totschläger her, der immer auf dem Nachttisch lag, damit sich Mr. Blidfield gegen etwaige Einbrecher wehren konnte. Der große, starke Blechkasten unter dem Bett war erbrochen und ausgeraubt.

 

Als ich ankam, war das Haus bereits von Polizei besetzt. Die Beamten von Scotland Yard suchten nach Fingerabdrücken, und die Fotografen waren an der Arbeit. In dem Schlafzimmer lag noch der Dunst des Magnesium lichtes, das sie bei den Aufnahmen benützt hatten.

 

Ich fand Miss Olford im Speisezimmer. Sie war sehr bleich und zitterte; aber trotzdem erzählte sie mir alles, was sie wußte, mit ziemlicher Klarheit.

 

Der Doktor hatte am Samstagabend um halb neun Uhr einen Besuch gemacht und ihren Onkel untersucht. Mr. Blidfields Zustand mußte sich wohl gebessert haben, denn er sagte ihr, daß sie sich nicht weiter um ihn kümmern sollte. Bis elf Uhr war sie beschäftigt, dann hatte sie sich todmüde niedergelegt und war auch sofort eingeschlafen. Um halb sechs klingelte ihr Wecker. Sie stand auf und, machte schnell Tee für ihren Onkel. Als sie nachher in sein Zimmer kam, entdeckte sie das Verbrechen.

 

»Haben Sie denn in der Nacht nichts gehört?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Gar kein Geräusch?«

 

»Nein, nichts. Ich war so müde, daß ich zuerst nicht einmal den Wecker hörte.«

 

Ich ging zu dem Zimmer, in dem der Mord verübt worden war, und stellte eine sorgfältige Untersuchung an. Das Fenster stand etwa fünf Zentimeter auf, aber diesen Weg schien der Einbrecher nicht benützt zu haben, da es ziemlich hoch an einer glatten Wand lag. Die Wohnungstür zeigte keine Spuren von Stemmeisen oder anderen Werkzeugen, und das besonders komplizierte Schloß war vollständig intakt.

 

Miss Olford konnte mir nichts über den Inhalt des Kastens sagen. Sie wußte nur, daß Geld darin war, aber weder wieviel noch in welcher Form. Ich fragte sie noch aus, als Dr. Lexivell kam. Auf ihre Bitte hin hatte einer der Polizeibeamten vor meiner Ankunft an ihn telefoniert. Der Apparat stand in dem Schlafzimmer Mr. Blidfields.

 

Der junge Doktor kam zu gleicher Zeit mit dem Polizeiarzt in der Wohnung an, und die beiden untersuchten den Toten. Dann trat Lexivell zu mir.

 

»Ein recht trauriger Fall«, meinte er. »Haben Sie eine Ahnung, wer es getan haben könnte?«

 

»Nein, nicht die geringste.« Unglücklicherweise machte ich jetzt zum zweitenmal den Fehler, zuviel zu reden. »Es war eine stürmische Nacht, und ich glaube, daß selbst Polizeipatrouillen nicht nach Einbrechern ausgeschaut haben. Ich selbst lag schon um Mitternacht im Bett.«

 

Es war eine harmlose, aber dumme Lüge, und ich weiß nicht, wie mir die Worte entschlüpften. Miss Olford sah mich ernst an, und ihr Blick brachte mir plötzlich zum Bewußtsein, wie unklug es von mir gewesen war, so etwas zu sagen. Frauen haben manchmal einen untrüglich feinen Instinkt.

 

»Haben Sie die Leute beobachtet, von denen ich Ihnen neulich erzählte?« fragte der Doktor.

 

Ich hatte diese Beobachter vollständig vergessen, denn im Augenblick beschäftigten mich viel wichtigere Dinge. Ich veranlaßte Miss Olford, das Haus zu verlassen und sich in der Nähe ein Zimmer zu nehmen.

 

Als der Tote später fortgebracht war, nahm ich eine eingehende Untersuchung des Raumes vor, in dem er ermordet worden war. Ich fand aber weder Schriftstücke noch Aufzeichnungen, die mir einen Anhaltspunkt gegeben hätten. Im Spiegelrahmen war eine Karte eingeklemmt, auf der die Telefonnummern Dr. Lexivells und der Garage notiert waren, bei der Mr. Blidfield seine Autos gemietet hatte. In der Nachttischschublade lag ein kleines, ungeöffnetes Päckchen, das ein Schlafmittel enthielt. Ich zeigte es Dr. Lexivell, und er nickte.

 

»Ja, das habe ich ihm verordnet«, sagte er, »aber er hatte eine große Abneigung gegen Medikamente jeder Art. Er hatte mir zwar versprochen, es zu nehmen, aber er hat es dann anscheinend doch nicht getan.«

 

»Haben Sie ihm früher auch schon Schlafmittel verschrieben?«

 

»Nein. Aber diesmal sollte der alte Mann schlafen, denn das arme Mädchen mußte unbedingt einmal zur Ruhe kommen. Wenn sein Herz auch angegriffen war, so war es doch lange nicht so schlimm, wie er sich einbildete.«

 

Nach seinem Besuch am Abend hatte er nichts mehr von dem alten Herrn gehört.

 

Ich besuchte Miss Olford in ihrem Hotel, und sie erzählte mir unter anderem, daß ihr Onkel nichts von ihren Nachtwachen gewußt hätte. Sie hatte mit dem Doktor ein Übereinkommen getroffen, ihm nichts zu sagen, was seinen Gesundheitszustand beeinträchtigen könnte.

 

»Haben Sie im allgemeinen einen tiefen oder einen leichten Schlaf?«

 

Sie lächelte schwach.

 

»Für gewöhnlich schlafe ich sehr leicht und wache bei dem leisesten Geräusch auf. Wenn mein Onkel in der Nacht aufstand, war ich auch sofort munter. Ihm war das unangenehm, denn seiner Meinung nach sollten junge Leute viel schlafen. Er sprach auch mit Dr. Lexivell darüber, und der wollte mir ein Schlafmittel geben.«

 

An diesem Tage hatte ich auch eine Unterredung mit dem Rechtsanwalt Mr. Blidfields und erfuhr, daß Miss Olford die Universalerbin war. Sie hatte einen Bruder, einen Tunichtgut, der in London lebte und offenbar mit der Polizei in Konflikt geraten war. Das hatte mir Dr. Lexivell erzählt.

 

»Ich habe mich oft gefragt, ob er nicht zu den Leuten gehörte, die sich immer vor dem Haus herumtrieben«, meinte er.

 

Es war nicht schwer, den jungen Olford aufzufinden, aber er erklärte dem Sergeanten, daß er zu der Zeit, als der Mord begangen wurde, in seinem Bett gelegen habe, und unsere Nachforschungen bestätigten seine Aussagen.

 

Ich schickte zwei meiner besten Leute aus, um weitere Erkundungen einzuziehen. Ich wußte, daß es einige Zeit dauern würde, bis ich ihren Bericht erhalten konnte, und ich wußte auch, daß sich während der Wartezeit allerhand unangenehme Dinge ereignen konnten.

 

Um neun Uhr abends schrieb ich meinen ersten Bericht über den Fall. Schriftliche Arbeiten, bei denen ich nachdenken muß, erledige ich am liebsten zu Hause. Ich wohnte damals in der Nähe der Guildford Street. Meine Räume lagen im Erdgeschoß, und von meinem Speisezimmer aus konnte ich den Hof übersehen, der sich hinter dem Haus befand. Es war ein kleiner, viereckiger Platz mit einem Eingang für Händler und Lieferanten. Eine Mauer von zweieinhalb Meter Höhe umgab ihn, aber man konnte leicht darüberklettern. Aber der Mann, der meinetwegen in den Hof kam, hatte sich diese Mühe nicht gemacht. Bei einer späteren Untersuchung fand man, daß das kleine Tor offenstand, das vom Hof auf die Nebenstraße führte und gewöhnlich um sechs Uhr abends geschlossen wurde.

 

Es war dunkel und regnerisch, aber bedeutend wärmer als in der vergangenen Nacht. Ich hatte ungefähr vier Seiten geschrieben, als plötzlich mit einem Krachen meine Fensterscheibe splitterte und ein Gegenstand zu meinen Füßen niederfiel. Wäre er unter den Tisch gerollt, so daß ich ihn nicht gleich hätte sehen können, so wäre ich heute wohl nicht mehr am Leben. Aber glücklicherweise erkannte ich die Gefahr sofort.

 

Ich bückte mich nicht, um die Handgranate aufzuheben und wieder zum Fenster hinauszuwerfen, denn ich wußte, wie kostbar Zeit in solchen Augenblicken ist. So rasch wie möglich eilte ich in mein Schlafzimmer und war gerade in Deckung, als die Explosion erfolgte. Aber auch dann traf mich noch ein Splitter, der mich leicht verletzte.

 

Die Detonation war fürchterlich. Ich wankte in mein Arbeitszimmer zurück, war aber so benommen, daß ich kaum wußte, was ich tat. Erst als ich draußen die Alarmsignale der Feuerwehr hörte, kam ich wieder zu mir.

 

Zum Glück war niemand getötet worden, aber die Wohnung über mir hatte stark gelitten, und alle Möbel in meinem Arbeitszimmer waren mehr oder weniger beschädigt. Die Zeitungen hatten zwei Tage lang Stoff für sensationelle Artikel.

 

Aber durch diese Bombe erhielt ich die Lektion, die ich verdient hatte.

 

Ich ging nach Scotland Yard, und auf dem Wege dorthin wurde mir der Sachverhalt klar. Als ich ankam, telefonierte ich an verschiedene Stellen, und gegen Mitternacht wimmelte mein Büro von Buchmachern, Geldverleihern, Spielklubbesitzern und ähnlichen Leuten. Ich mußte das Fenster öffnen, um frische Luft hereinzulassen.

 

Um halb zwei in der Nacht ereignete sich dann in der Little Creefield Street ein Verkehrsunfall. Zwei Taxis waren zusammengestoßen. Scheiben klirrten, und der eine Fahrgast machte großen Spektakel. Er mußte aus dem Wagen gehoben werden. Ein Polizist blies die Alarmpfeife. Das Unglück hatte sich gerade vor Dr. Lexivells Haus zugetragen, und der Arzt schaute aus dem Fenster, um zu sehen, was passiert war. Der Polizist sagte ihm, daß der eine Herr den Fuß gebrochen und sich das Gesicht an der Scheibe zerschnitten hätte.

 

»In einer Minute bin ich unten«, rief der Doktor.

 

Als er gleich darauf auf der Straße erschien, stand ein halbes Dutzend Leute um den Mann herum, der auf dem Boden lag. Zwei Leute traten zurück, um ihm Platz zu machen, darin packten sie ihn von allen Seiten.

 

Der Polizeipräsident sagte, es wäre eine etwas theatralische Aufmachung für eine Verhaftung gewesen, aber ich wurde gerechtfertigt, als wir den Arzt durchsuchten. Er hatte eine Browningpistole in der Hüfttasche und nicht einmal die Vorsichtsmaßregel ergriffen, die Waffe zu sichern. In seiner Wohnung fand ich später noch mehrere Handgranaten. Diese Episode spielte sich kurz nach dem Krieg ab. Dr. Lexivell war an der Front gewesen und hatte ein ganzes Arsenal tödlicher Waffen gesammelt.

 

Alle diese Maßnahmen wären nicht nötig gewesen, wenn ich ihm nicht gesagt hätte, daß ich in der Mordnacht in meinem Bett gelegen hatte. Er wußte sehr gut, daß er mit mir auf dem Bloomsbury Square zusammengestoßen war, denn er hatte mich an der Stimme erkannt. Dagegen glaubte er bestimmt, daß ich ihn nicht erkannt hätte. Aber ich hatte einen Anhaltspunkt – die Nadel einer Injektionsspritze, die er bei dem Zusammenstoß verloren hatte, drückte sich in meine Sohle ein.

 

Nach seiner Verurteilung besuchte ich Dr. Lexivell. Er war ruhig und sprach vollkommen offen mit min

 

»Ich war finanziell erledigt und außerdem Geldverleihern und Wucherern in die Hände gefallen, die mich entsetzlich quälten. Patienten erzählen ihren Ärzten häufig Dinge, die sie nicht einmal ihren Rechtsanwälten anvertrauen würden, und auch der alte Blidfield sagte mir schon bei meinem ersten Besuch, daß er achttausend Pfund in dem Kasten unter seinem Bett verwahrte.

 

Es war schwierig, ihm das Geld abzunehmen, ohne selbst in Verdacht zu kommen. Er war ein Hypochonder, und zuerst hatte ich die Absicht, ihm eine Krankheit zu suggerieren und ihm Schlafmittel zu geben. Während seiner Bewußtlosigkeit wollte ich mir dann das Geld aneignen. Aber seine Nichte hinderte mich daran. Sie schlief auch in der Wohnung, und sie sträubte sich fanatisch dagegen, Medikamente zu nehmen.

 

Ich sagte dem alten Blidfield, daß sie krank aussähe und nicht genug Schlaf hätte. Daraufhin gab er mir den Schlüssel zu seiner Wohnung, so daß ich auf einen telefonischen Anruf hin zu jeder Nachtzeit ins Haus kommen konnte, ohne daß Miss Olford gestört wurde. Aber auch jetzt hatte ich noch nicht alle Schwierigkeiten überwunden, denn die junge Dame hatte einen sehr leichten Schlaf. Schließlich kam mir eine glänzende Idee. Ich bestimmte sie dazu, bis drei Uhr morgens aufzubleiben, um im Bedarfsfalle ihrem Onkel zu helfen.

 

Nach einer Woche wußte ich, daß sie müde genug war, um fest zu schlafen.

 

Es gelang mir dann, den alten Blidfield zum Einnehmen eines Schlafmittels zu überreden. Um halb eins kam ich in die Wohnung. Von Miss Olford hatte ich keine Störung zu befürchten. Ich hatte geglaubt, ich könnte den Kasten unter dem Bett vorziehen, in aller Ruhe das Geld herausnehmen und wieder verschwinden. Als ich kam, schlief Blidfield tatsächlich, und ich nahm natürlich an, daß er das Schlafmittel genommen hätte. Aber als ich den Kasten öffnete, rief er mich plötzlich an. Dann entstand ein kleines Handgemenge –«

 

Er zuckte die Schultern.

 

»Als ich bei dem Zusammenstoß Ihre Stimme hörte, wußte ich natürlich sofort, daß Sie es waren. Aber ich hoffte, daß Sie mich nicht erkannt hätten. Und ich hätte auch nichts gegen Sie unternommen, wenn Sie mir nicht durch Ihre Bemerkung verraten hätten, daß Sie mich nicht nur verdächtigten, sondern für den Mörder hielten. In Ihrem Beruf ist es ein großer Fehler, zuviel zu sprechen.«