Kapitel 17

 

17

 

An diesem Nachmittag hatte Diana ihrem Vorgesetzten ein Gesuch vorgelegt, das diesen ein wenig enttäuschte.

 

»Aber selbstverständlich«, sagte er. »Heute abend brauche ich Sie nicht. Sie gehen zu einem Tanzvergnügen, wie Sie sagen?« Sie nickte. »Das ist nett. Hoffentlich werden Sie sich gut amüsieren.«

 

»Ich gehe mehr im Dienst aus, Mr. Holt. Ich würde nie daran gedacht haben, zu einem Tanz zu gehen, wenn ich nicht von einem jungen Versicherungsbeamten, bei dem ich sechs Monate als Sekretärin gearbeitet habe, eingeladen worden wäre.«

 

»Sie gehen im Dienst dorthin«, fragte Larry. »Was wollen Sie damit sagen?«

 

Sie ging an ihren Schreibtisch, nahm ihre Handtasche auf und aus dieser einen Brief.

 

»Es wird Sie interessieren«, sagte sie mit einem feinen Lächeln, »daß Mrs. Gray mich bemuttern wird und mich gleichfalls eingeladen hat.«

 

Das interessierte Larry ganz außerordentlich. Er sagte dies aber nicht, weil er befürchtete, indiskret zu erscheinen.

 

»Hier ist der Absatz, der mich entschieden hat, die Einladung anzunehmen«, sagte das junge Mädchen, und er las:

 

»Wir haben in letzter Zeit viel Malheur gehabt. Der Verlust eines Schiffes im Baltischen Meer hat meinen Kompagnon hart getroffen, und ich selbst habe eine sehr große Versicherungssumme für den Tod eines Mannes Namens Stuart auszahlen müssen.«

 

»Stuart?« rief Larry. »Das kann doch nicht unser Stuart sein. Was ich übrigens sagen wollte: Das Gutachten der Geschworenen in diesem Falle lautete: ›Ertrunken aufgefunden‹. Uns lag natürlich nichts daran, Widerspruch zu erheben oder irgendeine Behauptung vorzubringen, die die Mörder aufmerksam gemacht hätte… So? Stuart?« sagte er zu sich selbst und nickte mehrere Male. »Ich muß Sie um Entschuldigung bitten. Diana«, zum ersten Male redete er sie mit ihrem Vornamen an. »Ich dachte schon, Sie wollten anfangen, leichtsinnig zu werden, und ich hatte gehofft, Sie hätten genügend Interesse an unserem Fall, um sich mit Leib und Seele damit zu befassen.«

 

»Meine Gedanken beschäftigen sich mit nichts anderem«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich arbeite zu gern mit Ihnen«, und erzählte ihm dann, um das Thema zu wechseln, ihr Abenteuer mit Fred.

 

»Armer Fred« kicherte Larry. »Jetzt haben Sie wenigstens eine gewisse Befriedigung in dem Bewußtsein, daß er Ihnen in Zukunft wie die Pest aus dem Wege laufen wird. Wann werden Sie ungefähr zurückkommen?« fragte er.

 

»Warum?« fragte sie erstaunt.

 

»Ich dachte eben daran, ob Sie vielleicht noch einmal hierherkommen könnten, oder ob ich vor der Tür in Charing Croß Road auf Sie warten müßte. Ich möchte gern wissen, was Sie erfahren haben.«

 

»Ich werde nach dem Präsidium kommen«, sagte sie, »und kurz nach elf hier sein.«

 

Aus halbgeschlossenen Augen sah sie nach den blutunterlaufenen Stellen an seinem Halse.

 

»Tut es nicht sehr weh?« fragte sie mitleidig.

 

»Es ist nicht so schlimm«, meinte Larry. »Aber verletzte Eitelkeit schmerzt mehr. Es wird noch einige Zeit vergehen, bis sie geheilt ist.«

 

»Er muß unheimlich stark sein«, sagte sie mit einem Schauder. »Die Nacht auf der Treppe werde ich niemals vergessen. Bis jetzt hat man noch nichts von ihm gehört?«

 

»Absolut nichts«, sagte Larry. »Er ist in seiner Höhle verschwunden.«

 

»Halten Sie das Heim unter Beobachtung?«

 

»Das Heim?« wiederholte er überrascht. »Nein, ich denke nicht, daß es notwendig ist. Der Vorsteher scheint ein sehr anständiger Mensch zu sein. Ich habe den Polizeiinspektor von dem Viertel gesprochen, und der erzählte mir, daß jeder der Insassen des Heims als ehrlich bekannt wäre, und daß er für alle, mit Ausnahme des Mannes Lew, garantieren könne. Lew ist der Mann, den ich im oberen Stock gesehen habe und der halb blöde zu sein schien.«

 

»Ich möchte eine Gefälligkeit von Ihnen erbitten«, sagte sie. »Wollen Sie mich morgen noch einmal nach dem Heim begleiten?«

 

»Ja-a«, entgegnete er zögernd, »aber –«

 

»Aber wollen Sie das tun?«

 

»Sicherlich, wenn Sie dahin gehen wollen, aber ich glaube nicht, daß Sie dort irgend etwas finden werden, das uns den Herrn näher bringt, der Stuart ermordet hat.«

 

»Wer weiß?« versetzte sie nachdenklich.

 

Der Nachmittag brachte ernsthafte Arbeit, und all sein Nachforschen nach urkundlichen Beweisen, daß Dianas Annahme richtig wäre und Mrs. Stuart Zwillingstöchter gehabt hätte, war erfolglos.

 

»Reinfall Nummer zwei«, sagte Larry.

 

»Den wir gutmachen werden«, sagte das Mädchen, »obwohl es mir sehr merkwürdig vorkommt, daß eine Dame wie Mrs. Stuart versäumt haben sollte, die Geburt ihrer Kinder anzuzeigen.«

 

Sie sagte dies lächelnd, und Larry fragte nach dem Grunde.

 

»Mrs. Ward hatte ihre ganz besonderen Ansichten über derartige Sachen. Meine Tante, deren Namen ich führe, haßte behördliche Anmeldungen und Impfen und hatte für Bildung nichts übrig.«

 

»Was ist denn aus Ihrer Tante geworden? – Ist sie gestorben?« fragte Larry.

 

Das junge Mädchen schwieg eine Zeitlang.

 

»Nein – sie ist nicht tot.«

 

Sie sagte das so eigenartig, daß Larry aufblickte und sie wurde blutrot.

 

»Man sollte nicht anfangen, über etwas zu sprechen, wenn man nicht zu Ende reden will«, sagte sie leise. »Ich – ich stamme aus keiner guten Familie, Mr. Holt. Meine Tante hat ihren Chef bestohlen, und sie muß das andauernd getan haben, denn eines Tages, ich war gerade zwölf Jahre alt, ging sie für lange Zeit fort, und ich habe sie nie wieder gesehen.«

 

Larry ging auf sie zu und legte die Hand auf ihre Schultern.

 

»Liebes Kind«, sagte er, »Sie haben es fertig bekommen, sich von all diesem frei zu machen und sich in geradezu bewundernswerter Weise eine Position im Leben zu schaffen. Ich bin sehr stolz auf Sie.«

 

Als sie zu ihm aufblickte, hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt.

 

»Ich glaube, sie trank; aber ich weiß es nicht ganz sicher. Wenn ich sie sehr nötig hatte, war sie wirklich gut zu mir. Ich würde so gern wissen, was aus ihr geworden ist, aber ich wage gar nicht, mich zu erkundigen.«

 

»Ist sie ins Gefängnis gekommen?«

 

Das junge Mädchen schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube in eine Trinker-Heilanstalt. – Und was liegt für heut nachmittag vor?« fragte sie lebhaft. Larry legte ihr sein Programm vor, diktierte einige Briefe und ging fort, während sie ihre Arbeit beendigte.

 

Mit jedem weiteren Schritt wurde das Rätsel, das den Fall Stuart umgab, mehr und mehr verwickelt. Überall stieß er gegen unübersteigbare Mauern, und nicht einmal die Tatsache, daß Stuart ermordet worden war, war in Wirklichkeit erwiesen. Es war ja nur eine Theorie, basiert auf dem ungewöhnlichen Verhalten der Strömung, die den Körper auf den Stufen der Ufertreppe zurückgelassen hatte, und auf einem Stück Papier in Brailleschrift, das ihm jetzt wieder gestohlen war.

 

Mitten in der Northumberland Avenue blieb er plötzlich stehen, zog sein Notizbuch heraus und las noch einmal kopfschüttelnd die rätselhaften Worte:

 

»Gemordet … dear … See …«

 

Warum »dear«? überlegte er. Der Mann, der sich die Mühe gab, die Namen seiner Mörder anzugeben, würde wohl kaum ›dear Sir‹ geschrieben haben. Außerdem stand dann auch das ›dear‹ an einem ganz falschen Platze, denn das junge Mädchen hatte ihm die betreffenden Zeichen am Ende der zweiten Linie gezeigt.

 

»Dear, dear, dear«, wiederholte er, langsam weiterschlendernd, und auf einmal kam ihm ohne irgendwelche Veranlassung ein Name ins Gedächtnis. Dearborn! Er lachte vor sich hin. Diese gute Seele von einem Geistlichen, der für jene Bedauernswerten wirkte und arbeitete, die in ständiger Dunkelheit ihr Leben verbrachten! Er schüttelte von neuem den Kopf.

 

Sein Weg führte ihn durch die Shaftesbury Avenue, und als er an einem Theater vorbeikam, fiel ihm ein Name ins Auge. Er blieb stehen und beugte sich vor, um die Theateranzeige zu lesen.

 

»John Dearborn«, las er.

 

Dearborn war augenscheinlich der Verfasser des Stückes, das hier aufgeführt wurde. Welches Theater war denn das? Er trat ein paar Schritte auf die Straße zurück und blickte nach dem farbigen Glasschild oberhalb des Einganges. Das »Macready-Theater«. Und aus dem Macready-Theater war Gordon Stuart verschwunden!

 

Ohne Zögern betrat er das Vestibül und ging nach der Kasse, wo seine Augen auf den Theaterplan fielen, der vor dem Kassierer ausgebreitet lag. Nur wenige blaue Striche zeigten an, daß Plätze für den Abend verkauft worden waren.

 

»Können Sie mir bitte sagen, wo ich Mr. Dearborn finden kann?« fragte er den Mann hinter dem Schalter.

 

Der Angestellte sah ihn mit einem Ausdruck schmerzlicher Resignation ins Gesicht.

 

»Sind Sie vielleicht ein Freund der Direktion?«

 

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Larry.

 

»Aber vielleicht zufällig ein Freund Mr. Dearborns?« fragte der Mann leichthin, und als Larry den Kopf schüttelte: »Sehen Sie, da kann ich Ihnen ja meine Meinung sagen. Ich habe keine Ahnung, wo Mr. Dearborn zu finden ist, und ich wünschte, die Direktion wüßte es ebensowenig! Ende der Woche höre ich auf, und da macht es nicht mehr viel aus, was ich sage. Dearborn ist so ungefähr der schlechteste Theaterschriftsteller, den die Welt jemals gesehen hat. Hoffentlich schrecke ich Sie damit nicht ab, falls Sie ein Billett kaufen wollen?« fügte er gutgelaunt hinzu.

 

»Durchaus nicht«, lächelte Larry. »Sie haben aber meine Frage noch nicht beantwortet. Wissen Sie, wo ich den Verfasser dieses unglückseligen Stückes finden kann?«

 

»Er ist Vorsteher einer Mission für, ich weiß nicht was, im West-End. Armer Teufel, er ist blind, und ich sollte eigentlich nicht so über ihn reden. Aber er schreibt furchtbare Stücke.«

 

»Schreibt er denn schon lange?« fragte Larry überrascht.

 

»Schon lange? … Er schreibt ununterbrochen«, sagte der andere mit hohler Stimme. »Ich glaube, er schreibt auch im Schlaf.«

 

»Und alle seine Stücke werden aufgeführt?«

 

Der Mann nickte.

 

»Und alle fallen durch?«

 

Der Mann nickte von neuem.

 

»Aber wie ist denn das möglich? Keine Theaterdirektion wird doch immer wieder von neuem Stücke desselben Verfassers bringen, wenn sie regelmäßig durchfallen.«

 

»Aber unsere macht’s«, sagte der Kassierer verzweifelt, »darum ist ja auch der Name ›Macready‹ gleichbedeutend mit …

 

»Wie lange schreibt denn John Dearborn schon?«

 

»So ungefähr zehn Jahre. Stellenweise ist es manchmal gar nicht so schlecht. Mehr verrückt als schlecht.«

 

»Kommt er manchmal hierher?«

 

»Niemals«, sagte der Mann kopfschüttelnd. »Warum, weiß ich nicht; aber er kommt nicht mal zu den Proben.«

 

»Noch eine Frage, bitte. Wem gehört das Theater?«

 

»Einer Gesellschaft«, erwiderte der Beamte, dem die Fragen anscheinend zu viel wurden. »Darf ich wissen, warum Sie all diese Auskünfte wünschen?«

 

»Aus keinem besonderen Grunde«, sagte Larry lächelnd. Er fühlte, daß er nichts weiter erfahren könnte und verließ das Theater.

 

Die ganze Sache war unbegreiflich. Aber noch abgeschmackter würde es sein, das eine Wort »dear« mit dem Verfasser der schlechten Theaterstücke in Verbindung oder gar Mr. Dearborn, einen bekannten Philanthropisten, in falschen Verdacht bringen zu wollen. Als er vor dem Theater stand, kam ihm plötzlich ein Gedanke, und er kehrte noch einmal um.

 

»Würden Sie mir eventuell einen großen, persönlichen Gefallen erweisen«, fragte er, »und mir das Theater zeigen?«

 

Der Kassierer ließ einen der Theaterdiener rufen.

 

»Sie werden es ziemlich dunkel finden«, sagte er, »die Beleuchtung ist noch nicht eingeschaltet.«

 

Larry folgte dem Diener in den ersten Rang und betrachtete von dort aus das kleine Theater.

 

»Wo ist Loge A?« fragte Larry, der nur aus diesem Grunde zurückgekehrt war.

 

Der Mann führte ihn durch einen schweren Vorhang hindurch und dann in einen Gang, der sich hinter den Logen befand. An seinem äußeren Ende blieb er stehen und öffnete eine Tür zu seiner Rechten. Larry trat in die Loge, die in völliger Dunkelheit lag und steckte ein Streichholz an. Ein schwerer, kostbarer Teppich bedeckte den Boden, die drei Sessel waren wundervoll geschnitzt, aber sonst hatte Loge A nichts Ungewöhnliches an sich.

 

»Sind denn die anderen Logen auch so kostbar ausgestattet?« fragte Larry.

 

»Nein, Sir. Nur Loge A.«

 

Larry ging wieder hinaus und sah sich den Gang an. Gegenüber der Loge A hing ein großer, roter Teppich an der Wand. Er schob ihn etwas zur Seite und fand eine eiserne Tür, auf der in roten Buchstaben geschrieben stand: »Ausgang bei Feuersgefahr.«

 

»Wo führt denn die Tür hin?« fragte er.

 

»In eine Seitenstraße, Sir. Cowley Street. Es ist keine richtige Straße, sondern nur ein Privatgang, der zum Theater gehört und am anderen Ende abgeschlossen ist.«

 

Larry gab dem Mann ein Trinkgeld und verließ das Theater. In diesem Augenblick war er der Erklärung für Gordon Stuarts Verschwinden und Ermordung näher als er es jemals gewesen war.

 

Abends halb elf war er im Büro zurück und wartete ungeduldig auf das junge Mädchen.

 

Sie kam zehn Minuten vor elf, und Larry, der sie vorher nur in Alltagskleidung gesehen hatte, war beim Anblick dieser strahlenden Schönheit keines Wortes mächtig. Er konnte ja nicht wissen, daß sie für ihr einfaches schwarzes Tüllkleidchen noch nicht einmal fünf Pfund bezahlt hatte, daß das Stirnband aus schwarzen Blättern, das ihr goldenes Haar einrahmte, kaum zehn Schilling kostete. Ihm erschien sie prachtvoll gekleidet, ein Wesen, so göttlich und feenhaft, daß er kaum wagte, das Wort an sie zu richten.

 

»…Herein, herein«, sagte er. »Das ist beinahe zuviel Glanz in meiner armen Hütte.«

 

Sie lachte und ließ ihr Cape auf den Stuhl gleiten. »Ich hab’s herausgefunden!« rief sie triumphierend.

 

»Herausgefunden?« stammelte er. »Ach ja, Sie waren ja mit Ihrem Versicherungsfreund zusammen.«

 

Sie öffnete ihre kleine, seidene Handtasche und nahm ein Blatt Papier heraus.

 

»Ich habe mir ein paar Notizen gemacht«, sagte sie.

 

»Mein Bekannter ist durch Stuarts Tod sehr in Mitleidenschaft gezogen, und – es ist unser Stuart.«

 

»Wie ist das zugegangen?« fragte er.

 

»Mein Bekannter ist Inhaber einer Versicherungsagentur«, setzte sie ihm auseinander. »Wenn jemand sein Leben sehr hoch versichert, trägt die Gesellschaft, die die Police ausgestellt hat, wie Sie wissen, nicht das ganze Risiko allein, sondern offeriert anderen Versicherungsgesellschaften Anteile an ihrer Haftpflicht. Es hat sich nun herausgestellt, daß die Firma meines Bekannten Rückversicherung im Werte von dreitausend Pfund übernommen hat.«

 

»Dreitausend Pfund?« wiederholte Larry überrascht. »Aber in Himmels Namen, wie hoch war denn eigentlich Stuart versichert?«

 

»Ich habe mich sofort danach erkundigt«, sagte das junge Mädchen und hob das Blatt Papier hoch. »In der Police, die Mr. Gray mit unterzeichnete, war eine Summe von fünfzigtausend Pfund erwähnt, aber Mr. Gray erzählte mir, daß noch eine zweite Police über denselben Betrag ausgestellt war.«

 

Larry setzte sich hin. Seine Augen funkelten.

 

»Das also war die geschäftliche Seite von Stuarts Tod? So, so … Versichert für hunderttausend Pfund! … Hat Ihr Bekannter bezahlt?«

 

»Natürlich hat er in dem Augenblick bezahlen müssen, wo die ausstellende Firma ihre Rückversicherungsansprüche geltend machte. Es blieb ihm doch weiter nichts übrig, als das Geld aufzutreiben.«

 

»Wie heißt denn die Versicherungsgesellschaft?«

 

Sie zögerte einen Augenblick mit der Antwort und sah ihn bedeutungsvoll an.

 

»Die Greenwich-Versicherungsgesellschaft«, sagte sie langsam, und Larry sprang auf die Füße.

 

»Dr. Judd!« sagte er leise.

 

Kapitel 18

 

18

 

Er begleitete Diana nach unten, und sie plauderten noch einige Augenblicke in der Halle. Vor der Tür wartete ein Privatauto auf sie, und sie erklärte ihm diesen anscheinenden Luxus. Die Familie Gray hatte ihr den Wagen zur Verfügung gestellt, der den Versicherungsbeamten und Frau gegen zwei Uhr abholen sollte.

 

In diesem Augenblick kam ein Beamter aus einem der Erdgeschoßräume auf ihn zu.

 

»Ferngespräch für Sie, Sir.«

 

»Kommen Sie mit«, sagte Larry. »Vielleicht läßt sich die Sache gleich erledigen, und dann kann ich mich mal als Millionär fühlen und mit Ihnen fahren.«

 

Er ging dem Mädchen voran in sein Zimmer zurück. Es war der Inspektor vom Polizeibüro in Oxford Lane, der ihn anrief.

 

»Ist dort Inspektor Holt?« fragte er.

 

»Am Apparat«, war Larrys Antwort.

 

»Sie haben die Beschreibung eines Manschettenknopfes aus schwarzer Emaille mit Brillanten veröffentlicht!«

 

»Jawohl«, sagte Larry schnell.

 

»Ein Mr. Emden, in Firma Emden & Smith, Pfandleihe, erwähnte ein Paar Manschettenknöpfe, die genau mit der Beschreibung in der amtlichen Diebstahlsliste übereinstimmen.«

 

»Haben Sie sie bei sich?« fragte Larry eifrig.

 

»Nein, Sir«, antwortete der Inspektor. »Aber Mr. Emden ist hier im Büro, falls Sie ihn zu sprechen wünschen. Er kann Ihnen die Knöpfe morgen früh geben. Heute nach dem Abendessen las er die amtliche Liste und stieß auf die Beschreibung der Manschettenknöpfe. Er ist dann sofort hierhergekommen; er wohnt ganz in der Nähe.«

 

»Gut. Ich komme sofort hin«, sagte Larry.

 

»Was gibt es denn?« fragte Diana. »Sind die Manschettenknöpfe gefunden worden?«

 

Larry schüttelte den Kopf.

 

»Man hat ein Paar Manschettenknöpfe gefunden; die genau so sind wie der eine, den wir in Stuarts Hand gefunden haben«, sagte er etwas verblüfft. »Das ist mir unverständlich. Ja, wenn es ein halber Knopf oder anderthalb Knöpfe gewesen wären, würde das sicherlich ein Beweisstück für unseren Fall bedeuten.«

 

Er blickte zögernd auf den Mann, der die Telephonzentrale bediente.

 

»Wenn Sergeant Harvey anruft, sagen Sie ihm bitte, er möchte noch einmal anklingeln oder hierherkommen und auf mich warten. Und jetzt«, sagte er zu dem jungen Mädchen, als sie beide vor die Tür traten, »werde ich Sie in Ihrer fürstlichen Fahrgelegenheit nach Haus bringen.«

 

Vor ihrer Haustür lungerte ein Mensch herum, der Larry grüßte.

 

»Sie lassen mich doch nicht bewachen?« fragte das junge Mädchen überrascht. »Ich glaube, das ist wirklich nicht nötig, Mr. Holt.«

 

»Meine eigenen Erfahrungen haben mich gelehrt, daß es sehr nötig ist«, versetzte Larry grimmig. »Dem liebenswürdigen Herrn, der mich herumgeschlenkert hat, als ob ich eine Feder wäre, fehlt es weiß Gott nicht an Mut. Gibt es außer diesem hier noch einen anderen Eingang im Haus?« fragte er den Detektiv.

 

»Nein, Sir, ich habe mich ganz genau umgesehen und habe auch die Zimmer der jungen Dame untersucht.«

 

»Wie ist denn das möglich?« sagte sie verdutzt.

 

»Ich habe mir einen Nachschlüssel machen lassen«, sagte Larry. »Hoffentlich sind Sie mir deshalb nicht böse. Und, da wir gerade von Schlüsseln sprechen«, fügte er hinzu, »das Erscheinen des blinden Jake in dem Zimmer Fanny Weldons ist auch kein Rätsel mehr. Sie hatte ihm für den Fall, daß sie ihn mit ihrer Beute in der Sonnabendnacht verpassen sollte, ihren Hausschlüssel gegeben. Er sollte dann nach oben kommen. Sie hatte eine solche Angst vor ihm, daß sie nicht wagte, ihm den Schlüssel zu verweigern. Sie mußte das aber völlig vergessen haben, da sie sich sonst niemals zum Schlafen niedergelegt hätte.«

 

Er wünschte ihr »Gute Nacht« und ging zu Fuß nach Oxford Lane.

 

Mr. Emden war ein kleiner, freundlicher Mann und trug einen Klemmer.

 

»Ich war dabei, die amtliche Diebstahlsliste durchzulesen und fand dann Ihre Beschreibung der Knöpfe, Mr. Holt.«

 

Er zeigte ihm das Blatt Papier mit der Zeichnung des Knopfes, dessen Gegenstück gesucht wurde.

 

»Sie haben ein Paar solcher Knöpfe, wie Sie sagen?«

 

»Ja, Sir«, antwortete der Pfandleiher. »Heute morgen sind sie bei mir versetzt worden. Ich habe übrigens selbst das Versatzstück in Empfang genommen. Gewöhnlich stehe ich ja nicht hinter dem Ladentisch, aber einer meiner Angestellten mußte etwas besorgen, und als der Kunde hereinkam, nahm ich die Knöpfe an und gab ihm vier Pfund dafür.«

 

»Kein gewöhnliches Muster!« sagte Larry, und Mr. Emden schüttelte den Kopf.

 

»Im Gegenteil. Ganz und gar ungewöhnlich«, sagte er. »Ich erinnere mich nicht, jemals Manschettenknöpfe wie diese gesehen zu haben. Ich glaube, es ist französische Arbeit. Sie waren etwas beschädigt. Drei Diamanten fehlten, sonst hätte ich auch viel mehr als vier Pfund dafür gegeben.«

 

»Kennen Sie den Mann, der die Knöpfe versetzt hat?«

 

»Nein, Sir. Er war ein sehr eleganter Herr, der mir erzählte, er hätte sich die Dinger übergesehen. Meiner Meinung nach aber war er…« Er zögerte.

 

»Nun«, fragte Larry.

 

»Ja – trotz seines guten Äußeren machte er mir den Eindruck eines jener eleganten Hochstapler, wie sie im West-End zu Hunderten herumlaufen. Ich hatte das Gefühl, daß er die Knöpfe versetzte, nicht weil er das Geld brauchte, sondern weil er sie loswerden wollte. Die Diebe machen das oft genug und riskieren es eben, daß der Pfandleiher herausfindet, die Schmucksachen werden vermißt und von der Polizei gesucht.«

 

Larry nickte.

 

»Elegant angezogen?« sagte er nachdenklich und fragte dann plötzlich: »Trug er irgendwelchen Schmuck? Diamanten?«

 

»Ja«, sagte der Pfandleiher, »und aus dem Grunde habe ich ja angenommen, daß er die Sachen loswerden wollte. Vier Pfund war ja nicht viel für so wertvolle Gegenstände, aber er verlor kein Wort darüber.«

 

»Was für einen Namen hat er angegeben?«

 

»Mr. Frederick und, wie ich annehme, eine x-beliebige Adresse.«

 

»Flimmer Fred!« sagte Larry. »Liegt Jermyn Street in Ihrem Bezirk?« fragte er den Inspektor.

 

»Ja, Sir«, war die Antwort.

 

»Nehmen Sie ein paar Leute und heben Sie Flimmer Fred aus. Bringen Sie ihn erst hierher und dann nehme ich ihn nach Cannon Row mit, falls es nötig ist.

 

»Soll er verhaftet werden?«

 

»Nein, er soll erst mal vernommen werden. Vielleicht kann er eine genügende Erklärung geben, aber er muß es schon äußerst geschickt anfangen, wenn er sich hier herauslügen will. Nun, Mr. Emden«, wandte er sich zu dem Pfandleiher, »ich bin leider nicht in der Lage, bis morgen früh warten zu können und muß Sie schon bitten, mich nach Ihrem Geschäft zu begleiten und mir die betreffenden Knöpfe auszuhändigen.«

 

»Mit Vergnügen«, sagte der kleine Mann. »Ich habe mir schon so etwas gedacht und gleich die Schlüssel mitgebracht. Mein Laden ist nur fünf Minuten von hier entfernt.«

 

Als Mr. Emden den Schlüssel in das Schloß gesteckt hatte und ihn herumdrehen wollte, gab die Tür nach.

 

»Nanu, die Tür ist ja offen«, sagte er verwundert und ging schnell in den Gang hinein. Es war unnötig, einen anderen Schlüssel zu suchen, um die Seitentür zu öffnen, denn diese stand halb offen, und Larry sah beim Schein seiner Taschenlampe die Spuren eines Brecheisens. Der Pfandleiher stürzte voran in den Laden und schaltete das Licht ein.

 

Auf dem Ladentisch lag das Kassabuch und war an der Seite aufgeschlagen, auf der die am letzten Tage gemachten Geschäfte eingetragen waren.

 

»Wo haben Sie die Knöpfe aufbewahrt?« fragte Larryhastig.

 

»Im Geldschrank in meinem Privatbüro«, sagte der Mann. »Sehen Sie«, er zeigte auf das Buch, »hier ist die Nummer.«

 

»Und das Wort ›Geldschrank‹ dahinter«, fügte Larry hinzu, »aber ich habe so die Empfindung, als ob Sie Ihren Geldschrank nicht ganz unberührt finden werden.«

 

Und seine Worte erwiesen sich als wahr. Der große »diebessichere« Geldschrank war in kläglicher Verfassung, ein Loch war in den Stahlmantel hineingebrannt und das Schloß war verschwunden. Von Wertgegenständen irgendwelcher Art keine Spur, nicht ein einziges Päckchen war zurückgeblieben.

 

»Ich glaube, sie haben die Knöpfe richtig erwischt«, sagte Larry verbissen.

 

Kapitel 11

 

11

 

»Sunny«, sagte Larry zu seinem Diener, »London ist eine fürchterliche Stadt.«

 

»Das glaube ich auch, Sir«, stimmte Mr. Patrick Sunny bei.

 

»Aber London besitzt auch einen strahlenden Lichtpunkt, der die tiefe Trostlosigkeit und Verkommenheit dieser Riesenstadt durchbricht.«

 

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Sir. Das ist mir auch schon öfter aufgefallen. Ich gehe auch sehr gern in das Kino.«

 

»Wer spricht denn von Kinos!« fuhr ihn Larry an. »Nichts lag meinen Gedanken ferner als die Kinos. Ich dachte an etwas ganz anderes, an etwas Geistiges.«

 

»Wünschen Sie vielleicht einen Whisky und Soda, Sir?« fragte Sunny.

 

»Scheren Sie sich raus!« brüllte Larry und schüttelte sich vor Lachen. »Machen Sie, daß Sie in das Kino kommen.«

 

»Ja, Sir«, sagte Sunny ehrerbietig, »aber es ist schon ein bißchen spät.«

 

»Dann gehen Sie ins Bett. – Halt! Bringen Sie mir meine Schreibmappe.«

 

Er trug bequeme Hauskleidung – Schlafrock, ein Paar alte Criquethosen und weiches Hemd – und stopfte seine geliebte Pfeife mit einem Gefühl physischen Wohlbehagens.

 

Ein leichtes Ratt-Ratt-Ratt ließ sich an der Wohnungstür hören. »So spät noch Besuch!« wunderte sich Larry.

 

Er wartete und hörte einen kurzen Austausch von Fragen und Antworten. Die Tür öffnete sich und Diana Ward kam in das Zimmer. An ihrem Gesicht sah er, daß etwas vorgefallen sein mußte.

 

»Was ist passiert?« fragte er hastig. »Hat der Mann Sie nochmal belästigt?«

 

»Welcher Mann?« fragte sie erstaunt.

 

»Flimmer Fred.«

 

»Ich weiß nicht, ob es Flimmer Fred war«, sagte sie kopfschüttelnd. »Aber wenn er ein ganz besonders unangenehmer Mensch ist, wird er es wohl gewesen sein.«

 

»Setzen Sie sich doch, bitte. Ich wollte gerade Kaffee trinken – darf ich Ihnen eine Tasse anbieten. Sunny, bringen Sie zwei Tassen.«

 

»Ja, Sir«, sagte Sunny und fügte dann bedeutungsvoll hinzu: »Wünschen Sie, daß ich ins Kino gehe?«

 

Larry errötete ärgerlich.

 

»Bringen Sie den Kaffee, Sie – Sie«, stotterte er; und zu Diana: »Nun was gibt es denn?«

 

Ohne weitere Umschweife berichtete das junge Mädchen ihr Abenteuer und Larry hörte mit ernstem Gesicht zu.

 

»Sie sagen, er war groß und dick? – Dann scheidet Fred aus. Nehmen Sie an, daß es ein Einbrecher war, den Sie durch ihr unerwartetes Eintreffen gestört haben?«

 

»Das glaube ich nicht.« Diana schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe die Überzeugung, daß es ein sehr ernst gemeinter Angriff war. Als ich in meine Wohnung zurückkam, habe ich alle Räume genau durchsucht. Im Eßzimmer, wohin ich unter gewöhnlichen Umständen zuerst gegangen wäre, habe ich einen großen Wäschekorb gefunden.«

 

»Einen Wäschekorb?« fragte Larry verwundert. Sie nickte.

 

»Er war mit einer Art Polsterung dick ausgeschlagen, und auch der Deckel war gefüttert. Dies hier habe ich im Korb gefunden.«

 

Sie legte den Gegenstand auf den Tisch. Er sah aus wie eine Pilotenkappe, hatte aber keine Öffnung für den Mund.

 

Larry nahm sie auf und roch daran, obwohl dies unnötig war, denn ihm war sofort ein eigenartiger, süßlicher Geruch aufgefallen, als sie das Zimmer betreten hatte.

 

»Mit Chloroform getränkt«, sagte er. »Das würde Sie natürlich nicht vollkommen besinnungslos gemacht haben, hätte Sie aber sicherlich für kurze Zeit betäubt. Haben Sie noch etwas anderes bemerkt?«

 

»Als ich auf die Straße kam, fuhr gerade ein Lieferungswagen einer Wäscherei fort. Das ist mir deshalb so besonders aufgefallen, weil das Wort ›Wäscherei‹ – und das war die Aufschrift – sehr ungeschickt und fehlerhaft geschrieben war.«

 

»Das ist mir völlig unverständlich«, sagte Larry verwirrt. »Der Kerl hätte Sie doch nicht allein wegbringen können, oder er muß Helfershelfer im Hause gehabt haben.«

 

»Darin stimme ich Ihnen nicht bei«, sagte sie ruhig. »Dieser Mensch hatte unglaubliche Kraft. Ich war in seinen Armen wie ein kleines Kind, und für ihn wäre es sehr einfach gewesen, den Korb die Treppenstufen hinuntergleiten zu lassen, und der Chauffeur hätte ihm dann unten geholfen, den Korb in den Lieferwagen zu heben.

 

»Warum hat man es aber auf Sie abgesehen?« entgegnete er immer verwirrter. »«Was haben Sie denn mit der ganzen Geschichte zu tun?«

 

Das junge Mädchen antwortete nicht sofort.

 

»Ich überlege«, sagte sie schließlich, »ob ich vielleicht durch Zufall auf eine Spur gekommen bin die zu dem Mörder Stuarts führen könnte. Vielleicht habe ich irgend etwas erfahren, irgend etwas in meinem Besitz, ohne daß ich selbst weiß, welche gefährliche Bedeutung dies für die Verbrecher hat, und sie versuchen natürlich mit allen Mitteln, diese Spur zu beseitigen.«

 

Larry war sehr nachdenklich geworden.

 

»Warten Sie bitte einen Augenblick; ich möchte mich umziehen«, sagte er und verschwand in das Nebenzimmer.

 

Das junge Mädchen sah sich mit Gefallen in dem behaglichen Zimmer um. Dann kam Sunny mit einem Tablett, aber nicht, ohne vor seinem Eintreten vor der Tür auffallend laut gehustet zu haben, was seinen Herrn im anderen Zimmer ausnehmend ärgerte.

 

Als sie in Dianas Wohnung in der Charing Croß Road angekommen waren, begann Larry sofort eine sorgfältige Durchsuchung. Er hatte eine elektrische Taschenlampe mitgenommen und leuchtete jede Stufe der Treppe ab, ohne jedoch einen Hinweis auf den geheimnisvollen Angreifer finden zu können.

 

»Und jetzt wollen wir uns mal Ihre Wohnung ansehen.«

 

Er untersuchte den Wäschekorb, den das junge Mädchen schon so genau beschrieben hatte.

 

»Hier ist nichts zu finden«, sagte er. »Sehen Sie nach, ob Ihnen irgendwas fehlt.«

 

Sie suchte allein in den anderen Räumen nach und kam mit einem verdutzten Gesicht in das Wohnzimmer zurück.

 

»Mein grüner Mantel und ein Hut sind verschwunden.«

 

»Ist der Hut auffallend?« fragte er schnell.

 

»Was meinen Sie mit ›auffallend‹?«

 

»Ob er besonders ins Auge fällt?«

 

»Ich glaube ja«, lächelte sie. »Es ist ein goldgelber Hut, den ich zu meinem grünen Mantel trage.«

 

»Haben Sie ihn schon mal in Scotland Yard aufgehabt?« fragte er.

 

»Schon sehr oft«, erwiderte sie, ohne zu begreifen.

 

»Dann hab‘ ich’s«, sagte er. »Kommen Sie mit. Ich möchte Sie nicht gern allein hier lassen.«

 

Sie gingen zusammen nach der nächsten öffentlichen Telephonzelle, von der Larry das Präsidium anrief und sich mit dem diensttuenden Pförtner verbinden ließ.

 

»Hier Inspektor Holt. War Miß Ward heute abend im Büro?«

 

»Jawohl«, kam die Antwort. »Sie ist gerade wieder fortgegangen.«

 

Larry stöhnte.

 

»Aber ich bin doch gar nicht im Präsidium gewesen«, rief Diana erstaunt.

 

»Aber jemand anders, der Sie sehr gut nachgeahmt haben muß«, sagte er kurz.

 

Wenige Minuten später waren sie schon in dem düsteren Gebäude an dem Themse-Embankment und fanden nichts Auffälliges an der Tür von Zimmer 47. Er öffnete sie und schaltete das Licht ein.

 

»Da haben wir’s ja«, sagte er leise. Das Schloß des Wandschrankes, in dem er die Beweisstücke des Falles Stuart aufbewahrte, war aufgebrochen, und die Türen standen weit offen.

 

Er nahm die Schale heraus und überflog mit einem Blick den Inhalt.

 

Die Braille-Schrift war verschwunden.

 

Kapitel 1

 

1

 

Larry Holt saß vor dem Café de la Paix und beobachtete aufmerksam den Menschenstrom, der den ›Boulevard des Italiens‹ in beiden Richtungen entlangströmte. Der Hauch des Frühlings hing in der Luft, und ein goldener Sonnenschein ließ die Farben der Zeitungskioske in leuchtenden Schattierungen hervortreten und verlieh sogar den schreienden Reklamen einen gewissen künstlerischen Wert. Dies Treiben und Hasten, all diese Menschen entzückten Larry Holt, der nach vier Jahren harter Arbeit in Frankreich und Deutschland von Berlin hier eingetroffen war, und er fühlte ein richtiges Feriengefühl in sich, ein Feriengefühl, das sogar ein vielbeschäftigter Detektiv empfinden kann.

 

Die Stellung, die Larry Holt bekleidete, war den Beamten von Scotland Yard ein Rätsel. Er hatte den Rang eines Inspektors, seine Tätigkeit war die eines Kommissars, und allgemein wurde angenommen, daß er für den ersten freien Posten eines assistierenden Kommissars vorgemerkt war. Aber in diesem Augenblick lagen all diese Fragen von Rang und Beförderung für Larry in weiter Ferne. Behaglich saß er auf seinem Stuhl und trank mit jedem Atemzug den süßen Odem des Frühlings; die reine Freude am Leben sprach sich in seinen hübschen Gesichtszügen aus, und in seinem Herzen war ein Gefühl der Erleichterung, der Ruhe, das er für Monate und Jahre nicht gefühlt hatte.

 

Larry bezahlte seinen Kaffee, stand auf und ging gemächlich um die Ecke nach seinem Hotel. Behaglich ging der schlanke, große Mann seines Weges, die Hände in den Taschen, während seine weißen Zähne eine lange, schwarze Zigarettenspitze festhielten.

 

Er trat in die überfüllte Vorhalle seines Hotels und ging auf den Fahrstuhl zu, als er durch die große Glastür, die nach dem Wintergarten führte, dort einen eleganten Herrn bemerkte, der bequem in einem großen Klubsessel saß und bedächtig seine Zigarre rauchte.

 

Larry grinste und zögerte einen Augenblick. Dieser Mann mit den scharfen Gesichtszügen, der so wunderbar elegant angezogen war, an dessen Fingern und Krawatte Brillanten blitzten, war ihm bekannt. In einem Anfall mutwilliger Bosheit ging er durch die Glastür auf den behaglich Sitzenden zu.

 

»Ist es wirklich mein alter Freund Fred?« sagte er leise.

 

»Flimmer Fred«, internationaler Hochstapler und Falschspieler, sprang mit einem Satz auf die Füße und unverkennbare Bestürzung zeigte sich beim Anblick dieser unerwarteten Erscheinung auf seinen Zügen.

 

»Hallo, Mr. Holt!« stammelte er. »Sie sind wirklich die letzte Person in der ganzen Welt, die ich erwartet hätte, hier zu finden –«

 

»Oder gewünscht hätte, hier zu finden«, unterbrach ihn Larry mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln. »Was für ein Glanz! Donnerwetter, Fred, Sie sind ja ausgeputzt wie ein Weihnachtsbaum.«

 

Flimmer Fred griente unbehaglich, gab sich aber große Mühe, vollkommene Gleichgültigkeit zu zeigen.

 

»Das alte Leben ist jetzt für mich abgetan, Mr. Holt«, sagte er.

 

»Sie sind ein Schwindler und werden immer ein Schwindler bleiben«, erwiderte Larry ruhig.

 

»Auf die Bibel schwöre ich Ihnen –« begann Fred nachdrücklich.

 

»Fred, Fred«, fiel Larry ohne eine Spur von Ärger ein, »wenn Sie zwischen Ihrer toten Tante und Ihrem sterbenden Onkel stehen und einen Eid auf die Bibel schwören, ich würde Ihnen doch nicht glauben.«

 

Mit Bewunderung betrachtete er sich Freds Äußeres, die große Brillantnadel in seiner Krawatte, die dreifache, goldene Kette über seiner hocheleganten Weste, die blendend weißen Gamaschen über den glänzenden Lackschuhen, das tadellos gebürstete Haar.

 

»Sie sehen süß aus, wirklich süß! Was für eine neue Sache haben Sie jetzt vor? – Ich nehme natürlich nicht an«, unterbrach er sich selbst, »Sie werden’s mir erzählen, aber ziemlich aussichtsreich muß es doch sein, Fred.«

 

Der Mann fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

 

»Ich bin jetzt im Geschäft«, sagte er.

 

»In wessen Geschäft denn?« fragte Larry mit Interesse. »Und wie sind Sie denn da ‚reingekommen? Mit ’nem Brecheisen oder war’s eine Dynamitpatrone? Das wäre ja ein ganz neuer Beruf für Sie, Fred. Bis jetzt haben Sie sich doch ausschließlich darauf beschränkt, unerfahrene Jugend um ihr Geld zu bringen und«, fügte er bedeutungsvoll hinzu, »die Taschen von gerade Gestorbenen zu erleichtern.«

 

Freds Gesicht rötete sich.

 

»Sie glauben doch nicht, daß ich irgend was mit dem Morde in Montpellier zu tun hatte?« protestierte er hitzig.

 

»Ich glaube ja nicht, daß Sie den bedauernswerten, jungen Mann erschossen haben«, gab Larry zu, »aber Sie sind sicherlich beobachtet worden, wie Sie sich über den Körper beugten und seine Taschen durchsuchten.«

 

»Ich wollte doch bloß sehen, wer es war«, entgegnete Fred tugendhaft, »und ‚rausfinden, wer ihn getötet hatte.«

 

»Sie sind gleichfalls gesehen worden, wie Sie mit dem Täter sprachen. Eine alte Dame, eine gewisse Madame Prideaux, sah von ihrem Schlafzimmerfenster aus, wie Sie den Mann festhielten und dann gehen ließen. Ich nehme an, er hat ›geschmiert‹.«

 

»Das ist nun schon zwei Jahre her, Mr. Holt«, sagte Fred, »und ich begreife nicht, warum Sie diesen alten Kohl noch aufwärmen. Der Untersuchungsrichter hat mich in jeder Beziehung freigesprochen.«

 

Larry lachte und klopfte ihn auf die Schulter.

 

»Wie das auch sein mag, ich bin auf jeden Fall jetzt nicht im Dienst, Fred. Ich gehe auf eine Erholungs- und Vergnügungsreise.«

 

»Sie fahren also nicht nach London?« fragte der Mann schnell.

 

»Nein«, antwortete Larry und hatte die Empfindung, daß der andere erleichtert aufatmete.

 

»Ich fahre heute nach London und hoffte, wir würden vielleicht zusammen reisen können.«

 

»Es tut mir unendlich leid«, erwiderte Larry, »Ihre Hoffnungen enttäuschen zu müssen, aber ich reise in entgegengesetzter Richtung. Auf Wiedersehen.«

 

»Viel Vergnügen!« sagte Fred und blickte mit einem Gesicht hinter ihm her, dessen Ausdruck keineswegs mit seinen Worten übereinstimmte.

 

Larry ging auf sein Zimmer und fand seinen Diener mit dem Reinigen und Ordnen seiner Garderobe beschäftigt. Patrick Sunny, den er nun schon zwei Jahre hindurch als Diener ertragen hatte, war ein ernsthafter, junger Mann mit Glotzaugen und einem runden Gesicht.

 

»Sunny«, sagte er, »Sie brauchen meine Anzüge nicht weiter zu beschädigen. Packen Sie sie ein.«

 

»Ja, Sir«, entgegnete Sunny.

 

»Ich reise mit dem Nachtzug nach Monte Carlo.«

 

»Ja, Sir«, sagte Sunny, der genau dasselbe gesagt hätte, wenn Larry die Absicht ausgesprochen hätte, nach der Sahara oder dem Nordpol abzureisen.

 

»Nach Monte Carlo, Sunny!« rief Larry vergnügt. »Auf sechs freie, vergnügte und kostspielige Wochen. – Fangen Sie sofort mit dem Packen an.«

 

Er nahm den Telephonhörer vom Schreibtisch auf und rief das Reisebüro an.

 

»Reservieren Sie mir einen Schlafwagen und ein Erster für heute nacht nach Monte Carlo«, sagte er. »Monte Carlo«, wiederholte er lauter. »Nein, nicht nach Calais. Ich habe nicht die geringste Absicht, nach Calais zu fahren – danke bestens.« Er hing den Hörer auf, nahm eine frühe Abendausgabe und überflog die Spalten. Verschiedene Einzelheiten erinnerten ihn an seinen Beruf und dessen Anforderungen. Ein großer Bankeinbruch in Lyon, bewaffnete Räuber hatten in Belgien einen Postwagen aufgehalten, und dann ein Artikel:

 

»Der Mann, den man auf den Stufen des Themse Embankment auffand, ist als ein Mr. Gordon Stuart, ein reicher Kanadier, identifiziert worden. Man nimmt an, daß es sich um einen Selbstmord handelt. Mr. Stuart hatte den Abend mit einigen Freunden im Theater verbracht, verschwand im Zwischenakt und wurde nicht wieder gesehen, bis sein Leichnam gefunden wurde. Die amtliche Totenschau findet in den nächsten Tagen statt.«

 

Er las den Artikel zweimal durch und runzelte die Stirn.

 

»Gewöhnlich geht man eigentlich nicht während der Pause aus dem Theater und begeht Selbstmord – oder das Stück müßte ausnehmend schlecht gewesen sein«, sagte er, und der gehorsame Sunny antwortete:

 

»Nein, Sir.«

 

Er warf die Zeitung fort.

 

Der Nachmittag war mit den Vorbereitungen für die Abreise ausgefüllt, und um halb sieben stand er im Hotelbüro, um seine Rechnung zu bezahlen – Sunny mit seinem Mantel über dem Arm, der Gepäckträger mit den Koffern hinter ihm –, als ein Page auf ihn zukam.

 

»Monsieur Holt?« fragte er.

 

»Der bin ich«, sagte Larry und sah argwöhnisch auf den Briefumschlag in der Hand des Pagen. »Ein Telegramm? – Ich will’s nicht sehen.«

 

Trotzdem nahm er es und las mit recht gemischten Gefühlen:

 

»Sehr dringend. Spezial Polizeidienst. Alle Linien frei machen. Larry Holt, Grand Hotel, Paris. Fall Stuart sehr verwickelt stop wäre persönlich dankbar wenn Sie sofort zurückkommen und Fall übernehmen.«

 

Der Oberkommissar, der nicht nur Vorgesetzter, sondern auch ein persönlicher Freund Larrys war, hatte das Telegramm selbst unterzeichnet, und mit einem schweren Seufzer steckte Holt es in die Tasche.

 

»Wann kommen wir in Monte Carlo an, Sir?« fragte Sunny, als sein Herr auf ihn zukam.

 

»Ungefähr heute in zwölf Monaten«, antwortete er grimmig.

 

»Wirklich, Sir?« fragte Sunny mit höflichem Interesse. »Das muß ja recht weit weg sein.«

 

Kapitel 10

 

10

 

Flimmer Fred hatte London nicht verlassen und auch niemals die Absicht gehabt, fortzugehen. Flimmer Fred war mit allen Wassern gewaschen. Wäre er dies nicht, könnte er nicht in einem so eleganten Stil leben, hätte keine schicke Wohnung in der Jermyn Street und kein Motorcoupé, das ihn abends zum Theater brachte. Seine Unkosten waren nicht gering, aber seine Einkünfte desto höher. Er hatte immer verschiedene Eisen im Feuer, aber niemals verbrannte er sich die Finger an einem – und das ist die große Kunst des Erfolges im Leben.

 

Am Abend des gleichen Tages, an dem Larry das erste Rätsel des Falles Stuart gelöst hatte, saß Flimmer Fred in seinem prächtigen Wohnzimmer und dachte über eine Theorie nach, die er sich im Anschluß an eine am Morgen gemachte Beobachtung gebildet hatte.

 

Zwölfhundert Pfund jährlich ergeben innerhalb fünf Jahren die respektable Summe von sechstausend Pfund. Aber fünf Jahre bilden auch eine bedeutende Spanne Zeit in dem abenteuerlichen Leben eines Mannes wie Flimmer Fred. Zwölfhundert Pfund gestatten nur zweimal das Maximum am Spieltisch und können in weniger als drei Minuten verloren werden.

 

Dr. Judd war Sammler. Fred hatte erfahren, daß Dr. Judds Haus in Chelsea eine wahre Schatzkammer von Gemälden und antiken Schmuckgegenständen war, daß Dr. Judd der Besitzer historischer Juwelen war, deren Wert fünfzigtausend Pfund überschritt. Und wenn auch Fred absolut kein Interesse für Geschichte hatte, so war er doch für den Wert kostbarer Steine äußerst empfänglich, und die Theorie, die er sich am Morgen gebildet hatte, war in erster Linie auf arithmetischer Basis aufgebaut. Wenn er sich innerhalb vierundzwanzig Stunden mit Kostbarkeiten im Werte von zehntausend Pfund aus dem Staube machen könnte, hätte er nicht nur sein Einkommen für acht bis neun Jahre im voraus, sondern er würde sich dann auch die Mühe ersparen können, alle zwölf Monate nach London kommen zu müssen, um sich sein »Gehalt« auszahlen zu lassen. Was könnte nicht alles in zwölf Monaten passieren! Wie leicht könnte ihm die Reise überhaupt unmöglich sein. Gefängnisdirektoren sind bekannterweise gutem Zureden so schwer zugänglich. Vielleicht könnte er auch tot und begraben sein!

 

Es würde natürlich ziemlich schwierig sein, diese Kostbarkeiten in die Hände zu bekommen, da der Doktor kaum der Mann dazu war, sein Eigentum unbewacht zu lassen. Die gewöhnlichen Methoden, einen unerlaubten Zugang in das Haus des Doktors zu erzwingen, waren mit Freds professionellen Gefühlen unverträglich. Er gewann seinen Lebensunterhalt durch sein geschicktes Mundwerk und durch die blitzartige Geschwindigkeit, mit der sich verschiedene Zellen seines Gehirns den plötzlichen Forderungen jeder unerwarteten Lage anzupassen verstanden. Ein Brecheisen war für Fred ein Instrument des Abscheus – verkörperte es doch für ihn Arbeit. Aber es gab ja auch einen anderen Weg – und wenn er sich erst einmal mit seiner Beute aus dem Staube gemacht hätte, würde der Doktor überhaupt wagen, ihn anzuzeigen?

 

Am Nachmittag schlenderte Fred ziellos durch die Piccadilly Circus und sah sich plötzlich einem großen, etwas starken Mann gegenüber, der nach einem kurzen Blick in sein Gesicht versuchte, sich vorbeizudrücken. Aber Fred packte ihn am Arm und hielt ihn fest.

 

»Ist denn das nicht die liebe, alte Nummer 278? Wie geht’s denn, Strauß?«

 

Das Gesicht von Mr. Strauß zuckte nervös.

 

»Ich glaube, Sie irren sich, Sir«, sagte er.

 

»Laß doch den Blödsinn«, sagte Fred unelegant und zog ihn in die Lower Regent Street hinein.

 

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannt habe«, begann Mr. Strauß unruhig, »ich dachte erst, Sie wären ein Geheimer – Spitzel sagen wir hier.«

 

»Nee, noch nicht«, erwiderte Flimmer Fred. »Na, und wie geht’s dir denn hier bei uns in dem schönen Europa? Erinnerst du dich noch an die Galerie G in Portland, Block B?«

 

In dem Gesicht des dicken Mannes zuckte es wieder unruhig. Es war ihm nichts weniger als angenehm, an seine Erfahrungen im Gefängnis erinnert zu werden, wenn er auch in Wahrheit nichts gegen seinen ehemaligen Zellennachbar in Portland hatte.

 

»Na, wie geht’s Ihnen denn?« fragte er. Zufällig war Fred an diesem Morgen ohne allen Schmuck ausgegangen, kein einziger Brillant war zu sehen – er hatte alles sicher in seiner hinteren Beinkleidtasche verwahrt. Man konnte heutzutage ja doch niemand trauen.

 

»Schlecht«, schwindelte er. Kein richtiger Hochstapler wird je zugeben, daß es ihm gut geht. Dann aber fragte er plötzlich: »Immer noch im alten Geschäft?« und bemerkte den unruhigen Blick in den Augen des anderen.

 

»Nee, nee, damit ist’s aus. Ich arbeite jetzt.«

 

»Du bist ein Schwindler und wirst es immer bleiben«, zitierte Fred Larry Holt. »Ich wette, du bist auf dem Wege zum nächsten Hehler.«

 

Der Mann blickte wieder um sich, als ob er einen Weg zum Entwischen suchte, aber Fred, der niemals auch nur die kleinste Gelegenheit versäumte, ein Geschäft zu machen, streckte eine überredende Handfläche aus und sagte kurz: »Her damit.«

 

»Nur ein paar Kleinigkeiten, die ich bekommen habe und die nicht weiter vermißt werden. Kleiner Dreckkram. Ein paar Salzlöffel …« und er begann seine Beute aufzuzählen.

 

»Her damit!« sagte Fred von neuem. »Es geht mir verdammt mies, und ich brauche Geld. Ich will meinen Teil haben, und du kriegst das Geld zurück – gelegentlich.«

 

Mr. Strauß fluchte und – teilte.

 

»So, und jetzt müssen wir uns stärken«, sagte Fred vergnügt, als das Geschäft zu seiner Zufriedenheit erledigt war.

 

»Sie haben mir kaum für drei Pfund Wert gelassen«, brummte der Mann. »Nee, wirklich, Mr. Grogan, das war nicht anständig von Ihnen«, er betrachtete den anderen argwöhnisch, »und Sie sehen auch gar nicht so aus, als ob’s Ihnen schlecht ginge.«

 

»Die Anzeichen täuschen«, sagte Fred in guter Laune und ging voran in die nächste Bar. »Was bist du denn jetzt? Kammerdiener oder Haushofmeister?«

 

»Haushofmeister«, antwortete Strauß und warf ein Geldstück auf den Tisch. »Das ist gar nicht so schlecht, Mr. Grogan.«

 

»Sag‘ doch Fred, Mensch.«

 

»Wenn du nichts dagegen hast«, sagte Strauß demütig und meinte es wirklich so. »Ich habe eine Stellung bei einem sehr feinen Herrn.«

 

»Reich?«

 

»Mächtig. Aber nichts für mich. Er weiß, daß ich gesessen habe, behandelt mich aber sehr anständig.«

 

Fred sah ihn scharf an. »Immer noch das verfluchte Gift?« fragte er, und der Mann wurde rot.

 

»Ja«, sagte er rauh. »Ab und zu ein bißchen Koks.«

 

»Wer ist denn nun eigentlich dein Herr?«

 

»Du wirst ihn doch nicht kennen«, sagte Mr. Strauß kopfschüttelnd. »Geschäftsmann in der City, Direktor von ’ner Versicherungsgesellschaft.«

 

»Dr. – Judd?« fragte Fred schnell.

 

»Stimmt«; sagte der andere überrascht. »Aber woher weißt du denn das?«

 

Bald darauf trennten sie sich, und für den Rest des Tages war Fred ein sehr nachdenklicher Mann. Mit Einbruch der Dunkelheit hatten seine Pläne bestimmte Formen angenommen.

 

Er kleidete sich mit Sorgfalt um und machte sich in der Richtung nach dem Strand auf den Weg. Neben seinen sonstigen Talenten besaß er auch noch die Erfahrung eines vollendeten Schürzenjägers. Für jedes junge Mädchen, das nach Hause eilte, hatte er ein stets bereites Lächeln, und trotz vieler Abweisungen bereitete ihm jede neue Eroberung ein besonderes Vergnügen. Zwischen St. Martin und der Ecke zum Strand hatte er kein Glück. Entweder waren die jungen Mädchen, die ihm begegneten, wenig anziehend oder schon in männlicher Begleitung, aber gegenüber dem Morley-Hotel sah er, was er suchte.

 

Er sah sie nur einen Augenblick im Schein der Straßenlampe und war von der seltenen Schönheit ihres Antlitzes gefesselt. Sie war allein. Fred drehte um und hatte sie in wenigen Schritten eingeholt.

 

»Haben wir uns nicht schon mal getroffen?« fragte er und lüftete seinen Hut. Aber mehr konnte er nicht herausbringen. Eine kräftige Faust hatte ihn am Kragen gepackt und zurückgerissen.

 

»Fred, Fred, ich werde wirklich mal ernst mit Ihnen sprechen müssen«, sagte die verhaßte Stimme Larry Holts, und Fred hatte erneuten Grund zur Beschwerde.

 

»Haben Sie denn gar kein Zuhause, wo Sie hingehen können?« jammerte er und setzte in schlechtester Laune seinen Weg den Strand hinunter fort. Die Sehnsucht nach Romanze war ihm vergangen.

 

Das junge Mädchen ging ihres Weges, ohne sich bewußt zu sein, daß Larry Holt hinter ihr gewesen war. Für sie war es keine ungewöhnliche Erfahrung, auf der Straße angesprochen zu werden, und sie hatte sich allmählich daran gewöhnen müssen.

 

Sie wohnte in der Charing Croß Road oberhalb eines Zigarrengeschäftes. Larry sah, wie sie die Tür öffnete und in dem dunklen Eingang verschwand. Er wartete noch einige Minuten und setzte dann seinen Weg fort.

 

Das junge Mädchen hatte einen ganz außerordentlichen Eindruck auf ihn gemacht. Er erzählte sich selbst, daß es nicht ihre zarte Schönheit war, das Weib in ihrer Person, das ihn anzog, sondern ihre ganz außerordentlichen Fähigkeiten, korrekt zu denken und korrekte Schlußfolgerungen zu ziehen.

 

Das waren so seine Selbstgespräche. An und für sich war es schon ungewöhnlich genug, daß er die Notwendigkeit fühlte, sich selbst etwas zu erzählen. Aber die Tatsache war nun einmal nicht aus dem Wege zu räumen, daß er einen großen Teil seiner freien Zeit damit verbrachte, über Diana Ward nachzudenken. Und er kannte sie kaum länger als vierundzwanzig Stunden!

 

Diana Ward dachte auf ihrem Nachhauseweg nicht im mindesten an Larry. Ihre Gedanken waren vollkommen mit den Problemen beschäftigt, die der Fall Stuart darbot.

 

Sie schlug die Haustür zu und ging langsam die dunkle, enge Treppe hinauf. Sie bewohnte die oberste und billigste der drei kleinen Etagewohnungen, die über dem Zigarrenladen lagen, und wußte, daß die Mieter der beiden anderen Wohnungen für das Wochenende aufs Land gefahren waren.

 

Diana war schon in der zweiten Etage angelangt und im Begriff, die beiden letzten Treppen hinaufzugehen, als sie plötzlich stehenblieb. Sie glaubte, ein Geräusch gehört zu haben, ein leises Knacken, das sie mehr gefühlt als gehört hatte. Sie hatte dieses Knacken, diese leichten Geräusche schon öfter gehört, war sich aber klar geworden, daß dies nur auf reiner Einbildung beruhte und hatte ihre Furchtsamkeit bemeistert. Trotzdem ging sie aber noch langsamer nach oben und erreichte den obersten Treppenabsatz, von dem einige wenige Stufen zu ihrer Wohnung führten. Der Treppenabsatz war breit, und mit einer gewissen Herausforderung streckte sie die eine Hand in das Dunkel, als ob sie einen verborgenen Eindringling packen wollte.

 

Und dann erstarrte ihr Blut zu Eis. Ihre Hand hatte den Mantel eines Mannes gestreift! Gellend schrie sie auf, aber im gleichen Augenblick preßte sich eine riesige, rauhe Hand auf ihr Gesicht, ihren Mund und drückte sie langsam nach hinten. Sie sträubte und wehrte sich mit all ihren Kräften, aber der Mann, der sie packte, hatte übermenschliche Kräfte, seine Arme legten sich um sie wie stählerne Zangen. Ihr Widerstand erschlaffte, und für einen Augenblick lockerte sich der Druck der sie umklammernden Arme.

 

Mit einem plötzlichen Sprung riß sich das junge Mädchen los, flog die letzten Stufen empor, riß die Tür auf und warf sie im gleichen Augenblick wieder zu. Der Schlüssel steckte auf der Innenseite. Mit einem Gefühl der Dankbarkeit, daß sie niemals die Angewohnheit hatte, ihr Zimmer beim Fortgehen von außen zu verschließen, drehte sie den Schlüssel herum. Sie rannte durch das Zimmer, schaltete das Licht ein, riß ein Schubfach heraus und aus diesem einen kleinen Revolver. Diana Ward stammte aus einer Familie, in der man nicht so leicht den Mut verlor – wenn auch mit klopfendem Herzen – sie rannte zur Tür zurück und riß diese auf.

 

Wenige Augenblicke stand sie bewegungslos auf der Türschwelle. Dann hörte sie einen leichten Fußtritt auf der Treppe und gab Feuer. Ein Angstgeheul, und hastige Füße polterten die Treppe hinunter. Nur einen Augenblick zögerte sie, dann flog sie selbst hinterher. Sie hörte das Poltern auf den unteren Treppenabsätzen, dann das Öffnen der Tür. Als sie atemlos unten ankam, fand sie die Tür offen. Niemand war zu sehen.

 

Sie verbarg den Revolver in den Falten ihres Kleides und trat auf die Straße hinaus. Um diese Zeit waren wenige Fußgänger in Sicht, und vergebens spähte sie nach ihrem Angreifer umher. Ein leichtes Lieferauto einer Wäscherei fuhr gerade vorbei, und die einzige Person, die sie in ihrer Nähe sah, war ein alter, blinder Mann. »Tap – tap – tap –« klopfte die eiserne Zwinge seines Stockes auf das Pflaster, als er mühselig und langsam vorwärts stolperte.

 

Kapitel 8

 

8

 

Lois Reddle konnte sich später nicht mehr an die Vorgänge dieses Morgens erinnern. Wie im Traum tat sie mechanisch ihre Arbeit, und daß sie nicht Fehler über Fehler machte, war ihrer natürlichen Ordnungsliebe zuzuschreiben. Sie ging mit Lizzy zum Mittagessen in ein benachbartes Restaurant. Wie gewöhnlich war das die Hauptmahlzeit des Tages, aber sie konnte nichts essen, und ihre Freundin war sehr besorgt um sie.

 

»Was fehlt dir denn?« fragte Lizzy ängstlich.

 

Lois gab sich die größte Mühe, nicht mehr daran zu denken.

 

»Worüber hast du dich denn so aufgeregt? Ist es die Auseinandersetzung, die du mit ihm hattest?«

 

Zuerst verstand Lois nicht, wovon Lizzy sprach.

 

»Ach, du meinst Mr. Dorn – nein, das hat mich nicht im mindesten aufgeregt, es war wirklich eine sehr ruhige Aussprache.«

 

»Hast du ihm auch gesagt, was das für eine Frechheit von ihm war.«

 

»Das schien er alles selbst zu wissen«, sagte Lois lächelnd.

 

»Ich wette, daß er ganz verstört war und um Entschuldigung gebeten hat. Ist er vor dir auf die Knie gefallen?« Sie wollte alles ganz genau wissen, aber Lois schüttelte den Kopf.

 

»Es ist nichts Aufsehenerregendes passiert. Er hat es ein wenig bereut, aber nur ein wenig. Ich bin erschrocken.«

 

»Erschrocken?« fragte Lizzy entrüstet. »Weshalb denn? Jetzt werde ich aber einmal hingehen und ihm den Kopf waschen.«

 

»Nein, das wirst du nicht tun – er wird uns nicht wieder beunruhigen«, sagte Lois schnell.

 

»Aber was ist denn passiert? Hast du ihn nicht um Aufklärung gebeten?«

 

»Ja, so etwas Ähnliches habe ich wohl getan.« Lois hätte das Thema gern gewechselt, aber Lizzy blieb hartnäckig dabei.

 

»Wenn ihr richtig verlobt wärt und du krank wärst und wenn ihr euch außerdem gezankt hättet, dann würde ich ja nichts dabei finden, daß er gekommen ist«, begann Lizzy.

 

»Wir sind aber nicht verlobt, weder öffentlich noch heimlich, ich bin gesund und habe mich auch nicht mit ihm gezankt – also war es nicht richtig. Aber er wird uns nicht mehr belästigen, Lizzy.«

 

»Ich versuchte schon den ganzen Morgen, ein Wort mit dir zu sprechen, aber du bist ja ganz verstört und geistesabwesend herumgegangen. Da mußte ich doch annehmen, daß du ihm die Hölle heiß gemacht hast – entschuldige den Ausdruck – und daß es eine fürchterliche Szene gegeben hat. Aber ich dachte, du würdest mir wenigstens alles berichten, wenn wir zum Essen gingen.«

 

Aber Lois war hart wie Stein, und die Mittagspause ging vorüber, ohne daß Lizzy etwas Genaueres über die Pläne ihrer Freundin erfahren hätte.

 

+++

 

Das einzige angenehme Resultat ihrer morgendlichen Unterredung mit Dorn war, daß sie weder an diesem noch am nächsten Tag etwas von ihm oder seinem langen, schwarzen Auto sah. Aber als die Tage vorübergingen, war ihr diese Erleichterung nicht so angenehm, wie sie gedacht hatte, und am Sonnabendnachmittag wünschte sie sogar, daß sie eine Entschuldigung hätte, um ihn wieder zu treffen. Was wußte er über ihre Mutter? Kannte er die Zusammenhänge schon lange und interessierte er sich deshalb so sehr für sie? Es schien unmöglich, daß er selbst auch nur entfernt an dem Fall beteiligt war. Ihrer Schätzung nach war er ungefähr dreißig Jahre alt, vielleicht auch jünger; er mußte ein Kind gewesen sein, als Mary Pinder vor Gericht stand.

 

Lois kam plötzlich der Gedanke, daß sie eigentlich auch Pinder heißen müßte, aber das berührte sie kaum.

 

Am Montagmorgen packte sie ihre beiden Koffer und brachte sie mit Lizzys Hilfe auf die Straße zu dem wartenden Auto. Ihre Freundin war dem Weinen nahe. Der alte Mackenzie hielt sich ängstlich im Hintergrund. Er verließ das Haus nur selten, seit Jahren lebte er hier in freiwilliger Gefangenschaft.

 

»Warum steckt er seine Nase schon wieder heraus?« fragte Lizzy boshaft. »Wenn du fortgehst, spielt er sicher ›Martha, Martha, du entschwandest‹.«

 

Aber ihre Prophezeiung erfüllte sich nicht, und Lois kam in das Palais am ehester Square, ohne irgendeinen der Unfälle erlebt zu haben, die Lizzy ihr düster vorausgesagt hatte.

 

Ein livrierter Portier öffnete ihr die Tür. Man erwartete sie anscheinend, denn er führte sie die breite, mit dicken Läufern belegte Treppe hinauf in einen großen, luftigen Raum. Von hier aus hatte man eine schöne Aussicht auf den Platz.

 

Lady Moron saß an ihrem kleinen Schreibtisch, als Lois gemeldet wurde. Sie erhob sich in ihrer imponierenden Größe, um sie zu begrüßen. Keine andere Frau hätte das leuchtendgrüne Samtkleid tragen dürfen, das ihre Gestalt so vorteilhaft erscheinen ließ. Auf ihrer vollen Brust glänzte und sprühte ein großer Diamant, der an einer Perlenkette um ihren Hals hing. Ihr Gesicht war weiß gepudert, und ihre schwarzen, hochgeschwungenen Brauen hoben sich scharf davon ab. Lois hatte jetzt Zeit und Gelegenheit, ihre neue Herrin zu betrachten, und sah, daß ihr schwarzes Haar echt war; dagegen waren Augenbrauen und Lider stark nachgezogen.

 

»Das Mädchen wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen, Miss Reddle«, sagte die Gräfin in ihrer ruhigen Art. »Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohl fühlen. Wir leben anspruchslos, und Sie haben keine Pflichten, die eine Dame nicht erfüllen könnte.«

 

Lois verneigte sich leicht bei diesem Versprechen, und ein paar Minuten später betrachtete sie überrascht ihr neues Schlafzimmer. Es war ein großer Raum im Obergeschoß, der ebenfalls nach dem Platz zu lag. Alle Bequemlichkeiten waren vorhanden, und ohne daß es ihr zum Bewußtsein kam, verglich sie die Möbel Mike Dorns mit diesen. Sie waren ebenso luxuriös.

 

Sie kleidete sich um und ging dann zum Salon zurück, der gleichzeitig auch Lady Morons ›Arbeitszimmer‹ war. Sie öffnete die Tür und zögerte, denn es waren jetzt noch zwei Herren in dem Raum. Den einen erkannte sie als den jungen, schmächtigen Grafen, der zweite hatte eine gedrungene, untersetzte Gestalt. Sein rotes, volles Gesicht zeugte von seiner Vorliebe für gutes Leben. Wenn er lächelte; was er häufig tat, blitzten seine weißen Zähne auf, die Lois irgendwie an das Gebiß eines Tigers erinnerten, obwohl sicherlich nichts Raubtierartiges an diesem Mann mit dem plumpen Körper und den gelockerten, rötlichen Haaren war. Das einzige Interessante war seine hohe Stirn.

 

»Mr. Chesney Praye«, stellte ihn die Gräfin vor.

 

Lois‘ Finger wurden von einer dicken, großen Hand umschlossen.

 

»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Miss Reddle.« Seine Stimme klang angenehm, obwohl er etwas heiser sprach. Mit unverhohlener Bewunderung lag sein zudringlicher Blick auf ihr.

 

»Lord Moron ist Ihnen ja schon bekannt.«

 

Der junge Graf nickte und murmelte etwas Unverständliches.

 

»Miss Reddle ist meine neue Sekretärin«, erklärte die Gräfin. Sie sprach die vier Silben des letzten Wortes aus, als ob sie getrennt wären. »Sie werden sie häufig bei mir sehen, Chesney – Mr. Praye ist nämlich mein Berater in finanziellen Angelegenheiten.«

 

Chesney Praye machte durchaus nicht den Eindruck, als ob er zu dieser Stellung irgendwie befähigt wäre. Er hätte eher einen Rat über den korrekten Schnitt eines Anzugs oder den richtigen Sitz einer Krawatte geben können. Er war tadellos gekleidet. Lois hatte die Redensart ›geschniegelt und gestriegelt‹ oft gelesen, aber jetzt erlebte sie zum erstenmal, was das bedeutete.

 

»Sie haben hier eine hübsche Stellung, Miss Reddle«, sagte Praye. »Sicher werden Sie mit der Gräfin gut auskommen. Waren Sie schon einmal bei der Bühne?«

 

»Nein«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln, als sie sich an die Warnung des alten Mackenzie erinnerte.

 

»Schade. Sie müßten sich prächtig auf der Bühne ausnehmen«, plauderte er weiter. »Sie haben die Haltung, die Gestalt, die Stimme und alles, was man sonst noch braucht. Ich bin ein paar Jahre an einem Lustspieltheater gewesen – es ist ein Hundeleben für einen Mann und nicht viel besser für eine Frau.«

 

Er lachte laut, als ob irgendein Witz in seinen Worten stecke. Lois war erstaunt, daß die Gräfin sein freies und vorlautes Wesen nicht rügte, da es kaum mit seiner Stellung vereinbar schien.

 

»Ich würde gern zur Bühne gehen.«

 

Der schweigsame Lord Moron hatte das gesagt, und seine Stimme hatte einen mürrischen Unterton. Es war, als ob ein kleiner Junge nach etwas fragte, das ihm schon versagt worden war.

 

Die Gräfin wandte ihre dunklen, unfreundlichen Augen ihrem Sohn zu. »Du wirst niemals zur Bühne gehen, Selwyn«, sagte sie bestimmt. »Bitte, schlage dir diesen Unsinn aus dem Kopf.«

 

Lord Moron spielte mit seiner Uhrkette und bewegte die Füße unbehaglich hin und her. Lois schätzte ihn auf fünfundzwanzig bis dreißig Jahre und vermutete, daß er nicht verheiratet war. Sie hatte den Verdacht, daß er vielleicht an Geistesschwäche litt. Später erfuhr sie, daß er nur ein Mensch mit wenig Energie war, der ganz unter der Herrschaft seiner Mutter stand. Er hatte einen ruhigen, harmlosen und einfachen Charakter.

 

»Das ist nichts für dich, Junge«, sagte Mr. Chesney Praye und klopfte ihm so stark auf die Schulter, daß Lord Moron stöhnte. »Es gibt eine ganze Menge anderer Beschäftigungen für dich, nicht wahr, Gräfin?«

 

Sie antwortete ihm nicht. Sie stand an dem großen Schiebefenster und schaute auf den Platz hinunter. Jetzt wandte sie sich um, nahm ihre Lorgnette und hob sie an die Augen. »Wer ist dieser Herr?« fragte sie.

 

Chesney Praye blickte hinunter, und Lois bemerkte, daß sein Mund zuckte und sein Gesicht blaß wurde.

 

»Verdammt!« sagte er leise. Die Gräfin wandte sich langsam um und sah ihn forschend an.

 

»Wer ist es?« fragte sie noch einmal.

 

»Das ist der geschickteste Mann in London – ich meine Detektiv. Ich würde tausend Pfund geben, wenn ich an seiner Beerdigung teilnehmen könnte. Er hat eine Abneigung gegen mich –«

 

Er hielt ein, als ob er zuviel gesagt hätte. Lois sah über seine Schulter hinab zu dem Mann, der langsam die Straße entlangging.

 

Es war Michael Dorn!

 

Kapitel 9

 

9

 

»Ein Detektiv?« fragte Lady Moron. »Ich wüßte wirklich nicht, warum Sie sich über Detektive zu ärgern brauchten, Chesney. Sie sind hoffentlich kein Verbrecher?«

 

»Natürlich bin ich das nicht«, erwiderte er schroff, fast grob, »aber ich hasse diesen Burschen. Er heißt Dorn – Michael Dorn. Er ist der einzige Privatdetektiv in England, der etwas taugt. Sie ziehen ihn sogar in Scotland Yard zu Beratungen hinzu, sie halten dort sehr viel von ihm. Er war der Mann, der die Razzia im Limbo-Klub organisierte, und er versuchte mich, als einen der Besitzer, für schuldig zu erklären. Aber da hatte er sich getäuscht.«

 

Michael Dorn war jetzt außer Sehweite gekommen, und das Mädchen war dankbar, daß sich das Interesse dieser Menschen so auf ihn konzentrierte, daß man sie nicht beachtete, sonst hätte sie ihre Bekanntschaft mit ihm verraten.

 

Ein Detektiv!

 

»Dieser Kerl ist frech wie der Teufel«, fuhr Chesney Praye fort und wiederholte dabei unbewußt Lizzys Worte. »Er ist skrupellos und würde seine eigene Tante einbuchten, um sie zu überführen. Er war Polizeikommissar in Indien, gab aber diesen Posten auf und nahm sich eines afrikanischen Millionärs an, der einige Dokumente verloren hatte und ihm für die Wiederbeschaffung ein Vermögen bezahlte – das ist wenigstens das, was ich über ihn weiß.«

 

Was für ein Mann war Chesney Praye, daß er eine solche Sprache in Gegenwart der vornehmen Gräfin führen durfte? Lois hatte von Männern und Frauen gehört, die eine so gefestigte Stellung im Haushalt des hohen Adels einnahmen, daß sie familiär mit den Leuten sprechen durften, die sie bezahlten. Sie nahm an, daß dies ein solcher Fall war.

 

Aber Lord Moron protestierte.

 

»Ich liebe das Wort ›einbuchten‹ nicht«, sagte er aufgeregt. »So gemeine Ausdrücke gebraucht man in Gegenwart einer Dame nicht! Haben Sie verstanden?«

 

Wieder schüchterten ihn die drohenden Augen seiner Mutter ein.

 

»Es verletzt mich nicht, Selwyn, und du hast auch keinen Grund, anzunehmen, daß sich meine Sekretärin beleidigt fühlen könnte.«

 

Er senkte den Blick, murmelte etwas Zusammenhangloses und schlich sich schuldbewußt aus dem Raum. Lois wäre ihm gern gefolgt, aber sie fand keine Entschuldigung. Gleich darauf verabschiedete die Gräfin Chesney Praye.

 

»Sie müssen jetzt gehen, Chesney. Ich möchte mit Miss Reddle ein wenig sprechen.«

 

Chesney verneigte sich mit seinem stets bereiten Lächeln formvollendet vor ihr. Er beugte sich nieder, um ihre große, weiße Hand zu küssen, die mit so vielen Juwelen geschmückt war, daß Lois neugierig war, ob er sich nicht die Lippen daran schneiden würde.

 

»Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen, gnädiges Fräulein«, sagte er lebhaft, als er Lois‘ Hand mit unnötigem Druck schüttelte und seinen strahlenden Blick nicht von ihr wandte. Ich darf ihr London ein wenig zeigen, nicht wahr, Gräfin? Ist sie vom Lande?«

 

»Miss Reddle lebt schon einige Jahre in der Stadt«, sagte Lady Moron, und ihr tadelnder Ton würde die meisten Menschen entmutigt haben weiterzusprechen. Aber Mr. Chesney gehörte nicht zu ihnen.

 

»Wahrscheinlich hat sie aber noch nicht die interessanten Dinge gesehen, die ich ihr zeigen werde. Vielleicht erlaubt Mylady, daß Sie einmal abends ausgehen und im Klub speisen. Tanzen Sie?«

 

»Wenn es mir gestattet ist, mir meine Partner selbst zu wählen, tanze ich sehr gern«, sagte Lois.

 

»Sie werden mich wählen«, erwiderte er, »ich bin ein ausgezeichneter Tänzer!« Und damit empfahl er sich.

 

Erst einige Zeit nachdem sie allein waren, sprach Lady Moron. Sie stand noch am Fenster und hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt.

 

Sie blickte auf den Platz hinunter, und Lois dachte, sie hätte ihre Angelegenheiten vergessen.

 

»Es ist heute nichts für Sie zu tun«, sagte die Gräfin, ohne den Kopf zu wenden. »Ich habe alle meine Briefe schon beantwortet. Wir speisen um halb zwei, und Sie nehmen die Mahlzeiten natürlich mit uns zusammen ein. Um acht Uhr wird zu Abend gegessen. Es ist Ihnen gestattet, jeweils am Nachmittag zwischen fünf und zehn Uhr auszugehen, und die Weekends, die ich auf dem Lande verbringe, gehören Ihnen. Das ist zunächst alles. Ich danke Ihnen, Miss Reddle.«

 

Nach dieser Verabschiedung ging Lois in ihr Zimmer. Sie wußte aber nicht, was sie während der kurzen Zeit bis zum Essen noch beginnen sollte.

 

+++

 

Als Chesney Praye das Haus am Chester Square verließ, sah er sich nach rechts und links um und entdeckte sofort den Gesuchten. Nachlässig stand er an der Ecke der Straße und wandte ihm den Rücken zu. Chesney zögerte einen Augenblick, dann ging er entschlossen auf den scheinbar nichtsahnenden Michael Dorn zu.

 

»Sehen Sie mal an, Dorn!«

 

Der Detektiv wandte sich langsam um

 

»Guten Morgen«, sagte er und hob die Augenbrauen, als ob Praye der letzte gewesen wäre, den er zu dieser Zeit hier erwartet hätte.

 

»Warum sind Sie hinter mir her?«

 

»Hinter Ihnen her? Ach, Sie meinen, daß ich Ihnen folge?«

 

»Was wollen Sie von mir?« fragte der andere grob.

 

Dorn schaute ihn nachdenklich an.

 

»Haben Sie den Eindruck, daß ich hinter Ihnen her bin?«

 

»Ich habe nicht den Eindruck – ich weiß es!« Chesneys Gesicht färbte sich dunkler. »Ich sah Sie heute morgen ganz genau, als ich aus meiner Wohnung in der St. James‘ Street kam, und dachte, Sie seien zufällig dort. Einer Ihrer Spürhunde war im Limbo-Klub und hat die Kellner ausgehorcht. Was wollen Sie von mir?«

 

»Ich bin neugierig«, murmelte Michael, »ich bin nur neugierig. Ich bin dabei, ein Buch über ungewöhnliche Verbrechen zu schreiben, und darin sind natürlich ein paar Seiten für Sie reserviert.«

 

Chesney Prayes Augen waren nur noch Sehlitze, als er Michael an der Weste faßte.

 

»Ich will Ihnen einen guten Rat geben, Dorn«, sagte er. »Lassen Sie die Finger davon – oder Sie werden sich verbrennen!«

 

»Ein guter Rat ist des andern wert«, entgegnete der Detektiv. »Nehmen Sie Ihre Hand von meiner Weste, oder Sie bekommen einen Fußtritt!«

 

Er sagte das in der höflichsten Art, aber der aufgeregte Mann wußte, daß jedes Wort so gemeint war, wie es gesagt wurde, und zog seine Hand zurück. Bevor er sich wieder in der Gewalt hatte, sprach Dorn weiter.

 

»Sie haben einen guten Posten, Praye – verlieren Sie ihn nicht. Ich weiß, daß Sie eine sehr vornehme Dame in finanziellen Angelegenheiten beraten. Wenn ich zufällig höre, daß Sie ihr raten, Geld in Ihren wilden Unternehmungen anzulegen oder einen der kleinen Spielklubs zu finanzieren, mit denen Sie in der letzten Zeit so einträgliche Geschäfte machen, werde ich Sie von der Polizei verhaften lassen.«

 

»Sie verdammter Schnüffler!» fuhr der andere heftig auf.

 

»Ich habe Sie gewarnt«, sagte Dorn.

 

»Sie sind hier nicht in Indien –« begann Chesney wieder. Zu spät erkannte er seinen Fehler.

 

»Das stimmt – ich bin nicht in Indien, Sie aber auch nicht.« Michaels Stimme war sanft, fast weich. »Vor sieben Jahren war ich dort – in Delhi –, da gab es auch einen smarten jungen Regierungsbeamten, Finanzberater einiger indischer Fürsten, dessen Abrechnungen recht sonderbar waren. Bei der Nachprüfung fehlten zwanzigtausend Pfund. Man wußte nicht, wo das Geld geblieben war. Allgemein nahm man an, daß der Beamte schwachsinnig sei und keine Straftat vorliege. Er wurde aus dem Staatsdienst entlassen, aber man erhob keine Anklage gegen ihn.«

 

Chesney Praye wurde unruhig.

 

»Ich gab damals den Rat, die Anklage und den Prozeß gegen ihn streng durchzuführen«, fuhr Dorn fort. »Denn ich wußte, daß das fehlende Geld in Wirklichkeit bei der Bank in Bombay auf den Namen einer Freundin deponiert war. Die hohen Beamten in Simla fürchteten aber einen Skandal, und so kam es, daß der Dieb« – er machte eine Pause und sah, daß Chesney zusammenzuckte – »sein auf unredliche Weise erworbenes Geld nach Europa verschieben konnte. Jetzt begegne ich demselben Mann hier, und zwar wieder in der Rolle eines Finanzberaters!«

 

Chesney räusperte sich, er fand seine Stimme wieder.

 

»Es gibt in England ein Gesetz gegen Beleidigungen –«

 

»Es gibt auch verschiedene andere Gesetze, vor allem die vorzüglichen Strafgesetze. Und die Bestimmung der Bewährungsfrist erstreckt sich nicht auf schwere Verbrechen. Ein einziger scharfer Artikel in einer unabhängigen Zeitung, und man muß Sie packen, ob die Regierung will oder nicht.«

 

Chesney Praye sah erst nach der einen, dann nach der anderen Seite, raffte sich dann zusammen und schaute dem Detektiv gerade in die Augen,. Sein Gesicht war bleich.

 

»Ich habe Sie nicht mit diesem Geschäft belästigt«, sagte er. »Ich wußte, daß ich irgendwo im Hintergrund einen Feind hatte. Das waren Sie, nicht wahr?«

 

Dorn nickte.

 

»Das war ich. Übrigens – wo ist Ihr liederlicher Freund geblieben, dieser Dr. Tappatt? Ich dachte, er hätte sich zu Tode getrunken, aber wie ich hörte, ist er in London. Vor einem Jahr machten Sie ihn mit der Gräfin bekannt. Haben Sie ihr von seinem merkwürdigen Ruf erzählt? Er ist wahrscheinlich ihr medizinischer Berater geworden? Oder unterhält er vielleicht jetzt eins der berüchtigten nichtangemeldeten Irrenhäuser? Früher oder später kommt dieser Mann an den Galgen.«

 

Praye gab keine Antwort. Sein Gesicht zuckte nervös. Einen Augenblick lang hatte er den wahnwitzigen Wunsch, auf seinen Quäler loszuschlagen, aber er beherrschte sich.

 

»Ich sehe nicht ein, warum wir uns über die Vergangenheit streiten«, sagte er ruhig. »Sie irren, wenn Sie glauben, daß ich aus diesem Delhigeschäft Geld gezogen hätte. Tappatt habe ich schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Aber ich weiß, daß ich Sie nicht überzeugen kann. Wir wollen das Kriegsbeil begraben.«

 

Michael Dorn übersah die Hand, die ihm Praye hinhielt.

 

»Wenn ich das Kriegsbeil mit Ihnen begrabe, Praye, mache ich mir nur die Unkosten, ein neues kaufen zu müssen. Gehen Sie Ihren Weg und machen Sie keine Seitensprünge. Wenn Sie aber mit mir zusammenstoßen, werde ich Sie treffen, und zwar schwer.«

 

Er sah den flammenden Haß in den Augen des anderen, aber sein Blick blieb fest. Plötzlich drehte sich Praye um und ging fort.

 

Der Detektiv wartete, bis er außer Sehweite war, dann schlenderte er durch eine Seitenstraße, ging an der Rückseite der Hintergebäude von ehester Square 307 entlang und untersuchte sie sorgfältig. Die Ställe und Garagen auf der anderen Seite der engen Gasse interessierten ihn sehr, und es dauerte einige Zeit, bis er sich dort umgesehen hatte. Er traf dort den schweigsamen Mann, den er auf Erkundigungen geschickt hatte.

 

»Wills, hier in dieser Gasse ist eine Garage zu vermieten. Ich glaube, daß sie der Gräfin gehört, ihre eigenen Wagen stehen in der Belgrave-Garage. Gehen Sie zu den Agenten und sagen Sie ihnen, daß Sie sie mieten möchten. Bringen Sie den Schlüssel, wenn möglich noch heute abend, aber bestimmt morgen früh.«

 

Er händigte Wills eine Notiz mit der Adresse der Agenten aus, und der schweigsame Mann entfernte sich ohne ein Wort. Er fragte niemals etwas, und das war in Michael Dorns Augen sein größter Vorzug.

 

Michael kam von der entgegengesetzten Seite zum ehester Square zurück. Lady Morons großer Rolls Royce stand vor der Einfahrt, und gleich darauf sah er die Gräfin mit ihrem Sohn einsteigen und fortfahren. Sie würde wohl Einkäufe machen und zum Essen zurückkommen, dachte er und schlenderte den Gehsteig entlang. Er verlangsamte seinen Schritt, als er dem Haus gegenüber war. Von Lois war nichts zu sehen, aber Michael Dorn blieb trotzdem in der Nähe. Denn es war nicht Lois, die er zu sehen wünschte. Der Mann, auf den er wartete, kam zehn Minuten nach der Abfahrt der Gräfin aus dem Haus. Er war groß und breitschultrig und hatte ein etwas unangenehmes Gesicht. Michael erkannte den Butler der Lady Moron und folgte ihm in einiger Entfernung, und dies brachte ihm mancherlei Vorteil und Aufklärung.

 

Kapitel 4

 

4

 

Lois Margeritta! Ihr eigener Name! Und die sternförmige Narbe auf ihrem Arm!

 

Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und der Raum schien sich um sie zu drehen. Es bedurfte einer ungeheuren Anstrengung, daß sie nicht laut aufschrie.

 

Aber es stimmte. Diese würdevolle, aufrechte Frau, die so ruhig in dem schrecklichen Kreis einherging, war – ihre Mutter!

 

Sie folgte einer blinden Eingebung, eilte zur Tür, riß sie auf und war schon halbwegs den Gang entlanggelaufen, als der entsetzte Direktor sie einholte.

 

»Was ist denn mit Ihnen los?« fragte er sie halb erstaunt und halb ärgerlich. »Haben Sie den Verstand verloren?«

 

»Lassen Sie mich gehen! Lassen Sie mich gehen!« stieß sie zusammenhanglos hervor. »Ich muß zu ihr!«

 

Dann besann sie sich plötzlich, wo sie war, und ließ sich ohne Widerspruch von dem Direktor zurückführen.

 

»Setzen Sie sich – ich werde Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel geben«, sagte er. Er schloß die Tür so energisch, daß der Schall in den leeren Gängen widerhallte. Dann öffnete er eine Hausapotheke und mischte schnell einen Trank. »Nehmen Sie das.«

 

Lois hob das Glas mit zitternden Fingern an ihre Lippen. Er sah, wie es gegen ihre Zähne schlug.

 

»Ich glaube, ich war eben von Sinnen«, sagte sie.

 

»Sie sind ein wenig hysterisch«, meinte der Direktor. »Es war mein Fehler, Ihnen diese Leute zu zeigen. Ich ließ alle Regeln und Vorschriften außer acht, als ich mit Ihnen davon sprach.«

 

»Es tut mir furchtbar leid«, sagte sie, als sie das Glas auf den Tisch stellte. »Ich – ich – es war so schrecklich!«

 

»Ja – das war es, und ich war auch ein Dummkopf, daß ich überhaupt davon gesprochen habe.«

 

»Würden Sie mir bitte noch eins sagen? Was – was wurde aus dem Kind?«

 

Es war ihm offensichtlich sehr unangenehm, noch ein Wort über die Sache zu verlieren.

 

»Ich glaube, das Mädchen starb. Es war eine ausgezeichnete Frau, die sie zu sich nahm, aber sie hat sie nicht aufziehen können. Das ist alles, was ich von der Geschichte weiß. Tatsächlich wurde in den Zeitungen berichtet – der Fall erregte nämlich großes Interesse –, daß das Kind im Gefängnis gestorben sei. Aber es war in Wirklichkeit ein sehr gesundes, kräftiges Mädchen, als es von hier fortkam. Und nun, mein liebes Fräulein, muß ich Sie entlassen.«

 

Er klingelte nach der Wärterin, die Lois wieder in den Raum des Pförtners brachte. Gleich darauf stand das Mädchen draußen vor dem Tor.

 

Es war unverzeihlich von ihr, sich so verrückt zu benehmen. So viele Fragen waren zu beantworten, so viele Möglichkeiten hätten sich ihr geboten, diese herrliche Frau zu sehen, die ihre – Mutter war. Ihr Herz schlug heftig bei diesem Gedanken. Es war nicht möglich! Die untersetzte, einfache, gutmütige Frau, die Mutterstelle an ihr vertreten hatte, lebte nicht mehr, sie konnte sie nicht mehr fragen, um Gewißheit zu erlangen. Aber nein! Es mußte ein Zufall sein. Sicherlich gab es auf der Welt noch ein anderes Kind, das auf den Namen Lois Margeritta getauft worden war – ebenso war es möglich, daß es in frühester Kindheit eine ähnliche Brandwunde davongetragen hatte.

 

Doch dann schüttelte sie den Kopf. Es war jenseits der Grenzen des Möglichen und Wahrscheinlichen, daß es zwei Lois Margerittas mit sternförmigen Narben am linken Arm gab.

 

Sie stieg bedrückt in ihren Wagen. Ihre Knie zitterten, und ihre unsicheren Hände versuchten die verschiedenen Hebel richtig zu bedienen. Der Wagen schwankte, und als sie langsam auf der kleinen Straße hinausfuhr, die von dem Gefängnis auf die Hauptstraße führte, fühlte sie, daß sie eine ungewöhnliche Schwäche befiel. Sie erschrak. Es gelang ihr noch, den Wagen einige Fuß vor dem Straßengraben zum Stehen zu bringen. In diesem Augenblick hörte sie einen schnellen Schritt hinter sich, und als sie sich umwandte, sah sie Mr. Dorn. Schwere Sorge überschattete sein ernstes Gesicht. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er rasch.

 

»Nein – es ist nichts –«

 

»Sie wären beinahe in die Laterne hineingefahren – fühlen Sie sich nicht wohl?«

 

»Nein – nicht besonders«, antwortete sie schwach.

 

Im nächsten Augenblick saß er an ihrer Seite im Wagen. Sie machte ihm den Platz am Steuer frei.

 

»Ich fahre nur erst zum Lion-Hotel, um jemand herzuschicken, der meinen Wagen holt.«

 

Es kam ihr dunkel zum Bewußtsein, daß das große, schwarze Auto mit den beschädigten Schutzblechen bei der Gefängnismauer hielt.

 

»Es geht mir gleich wieder besser –«, versuchte sie zu widersprechen.

 

»Trotzdem werde ich Sie zur Stadt zurückbringen«, sagte er, und sie erhob keinen Einwand mehr.

 

Er machte vor dem Lion-Hotel halt und sprach mit einem kleinen Mann, der ihn erwartet zu haben schien. Dann fuhr er auf der Straße nach London zurück. Sie war ihm dankbar, daß er keinen Versuch machte, die günstige Gelegenheit auszunützen und mit ihr zu sprechen. Beide schwiegen, nur von Zeit zu Zeit sah er zu ihr hinüber und entdeckte auch die zerknitterten Papiere, die sie fest in ihrer Hand hielt. Es waren die Urkunden, die Mr. Shaddles‘ Klient brauchte, die aber jetzt in einem Zustand waren, wie sonst gerichtliche Dokumente nicht zu sein pflegen.

 

»Bedford Row – stimmt das?« fragte er, als sie durch die belebten Straßen von Holborn fuhren. Sie hatte sich schon wieder so weit erholt, daß sie antworten konnte.

 

»Das müßten Sie doch eigentlich wissen!«

 

Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

 

»Ich kenne diese Gegend jetzt allerdings sehr gut!« erwiderte er.

 

»Sie waren sehr liebenswürdig, Mr. Dorn – ich danke Ihnen herzlich«, sagte Lois, als der Wagen bald darauf hinter einem großen Rolls Royce vor Nr. 179 hielt.

 

»Was brachte Sie in solche Aufregung?« fragte er teilnehmend. »Ich meine – im Gefängnis?«

 

»Nichts – es ist nur so furchtbar, wenn man all diese Frauen sieht.«

 

Er zog die Augenbrauen zusammen.

 

»Sie haben die Gefangenen gesehen? Ein seltsamer Anblick, nicht wahr?«

 

Sie zitterte.

 

»Kennen Sie das Gefängnis?«

 

»Ja, ich war ein- oder zweimal dort.«

 

Als Lois zu dem Fenster ihres Büros hinaufschaute, sah sie das Gesicht Lizzys, die mit aufgerissenen Augen neugierig zu ihr heruntersah. Sie mußte lächeln.

 

»Leben Sie wohl, Mr. Dorn.«

 

Er nahm ihre Hand, die sie ihm zum Abschied gab.

 

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen so zur Last gefallen bin. Ist es möglich, daß Sie Ihren Wagen holen lassen, oder müssen Sie selbst nach Telsbury?«

 

»Machen Sie sich wegen meines Autos keine Sorgen – es ist schon da.« Er zeigte mit dem Kopf auf die gegenüberliegende Seite. Zu ihrem größten Erstaunen sah sie den großen, schwarzen Wagen die Straße entlangkommen und dann halten.

 

Sie wollte noch etwas sagen, besann sich aber, eilte die Treppe empor und verschwand durch das dunkle Portal. Mr. Dorn blickte ihr nach, bis er nichts mehr von ihr sehen konnte.

 

Kapitel 5

 

5

 

Die Angestellten waren schon fort, nur Lizzy Smith war noch im Büro. Sie flog Lois zur Begrüßung entgegen.

 

»Du ganz Durchtriebene! Du hast ihn draußen irgendwo aufgelesen! Wie kannst du es wagen, einfach so öffentlich mit ihm zurückzukommen? Denke doch, der alte Shaddles hätte euch beide zusammen gesehen? Was hast du denn mit dem armen Auto gemacht? Die Schutzbleche sind ja furchtbar verbeult! Lois, die Gräfin ist hier! Sie ist eben bei dem alten Shaddles drin. Ich sage dir, die sticht die Königin von Saba aus! Ich wette, daß ihr Chinchillamantel tausend Pfund kostet – was sage ich, zehntausend! Und wir müssen gefärbte Füchse tragen und noch froh sein, wenn wir sie haben! Nicht, daß ich von Chinchilla so begeistert wäre, es paßt nicht zu meinem Teint – sag mal, ist Mike nicht ein entzückender junger Mann?« – »Mike?« fragte Lois verwundert.

 

»Hat er dir nicht gesagt, daß sein Vorname Mike ist?« fragte Lizzy ärgerlich. »Er heißt tatsächlich so – Michael Dorn. Du brauchst es mir gegenüber gar nicht erst zu leugnen, daß ihr stundenlang miteinander spazierengefahren seid und du ihn dauernd Mike genannt hast.«

 

Lois hängte Mantel und Hut auf und setzte sich müde und erschöpft nieder. Lizzy betrachtete sie befremdet.

 

»Du siehst allerdings nicht sehr glücklich aus, mein Liebling. Was fehlt dir denn?«

 

»Das Gefängnis hat mich so aufgeregt. Wie lange ist die Gräfin schon hier?«

 

»Du hast dich doch nicht etwa mit ihm gezankt?«

 

»Mit ihm? Mit wem? Ach so –«

 

»Natürlich meine ich Mike Dorn. Mit wem könntest du dich denn sonst herumzanken? Mit dem alten Fordwagen kannst du doch nicht streiten.«

 

Glücklicherweise brauchte Lois nicht zu antworten, denn in diesem Augenblick ertönte der elektrische Summer. Lizzy verschwand in Shaddles‘ Büro. Gleich darauf erschien sie wieder in der Tür und winkte Lois.

 

»Die Gräfin möchte dich sprechen«, flüsterte sie ihr schnell ins Ohr. »Der Mensch, der da bei ihr ist, das ist ihr Sohn – der Graf!«

 

Lois ging in den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Mr. Shaddles schaute verwundert vom Tisch auf, als sie ihm die zerknitterten Urkunden überreichte.

 

»Was ist denn damit passiert?« fragte er.

 

»Wir hatten einen Unfall mit dem Wagen«, erklärte Lois ein wenig zusammenhanglos. Sie war nicht sehr geschickt im Lügen.

 

»Wir – was soll das heißen – wir?«

 

»Ich meine – ich bin mit einem anderen Wagen zusammengestoßen«, sagte sie verwirrt.

 

Mr. Shaddles glättete die Papiere, schaute auf die Unterschrift und sagte dann: »Dies ist die junge Dame, Mylady.«

 

Jetzt erst wurde Lois klar, daß noch eine Dame in dem Raum war. Das Wort »majestätisch« paßte am besten zu der Erscheinung und dem Auftreten der Gräfin von Moron. Ihre große, stattliche Gestalt war von Kopf bis Fuß von einem Chinchillamantel eingehüllt, der vorne ihr reiches Samt- und Brokatkleid sehen ließ. Aber Lois hatte im Augenblick keine Augen für die Perlenketten und Juwelen, die an Ohren und Fingern glitzerten. Es fesselte sie nur das Gesicht, das ihr groß, herrisch, aber doch irgendwie drohend erschien. Die schwarzen Augenbrauen berührten sich über der wundervoll geformten Nase, und ihre mandelförmigen Augen waren von so tiefem Braun, daß sie schwarz erschienen. Die Gräfin betrachtete das Mädchen ruhig mit einem harten, glänzenden Blick. Ihr Mund war groß, die Lippen auffallend dünn, das Kinn voll und kräftig gebildet. Lois versuchte, sich über ihr Alter klar zu werden. Ihr Haar war von tiefschwarzer Farbe und zeigte nicht das leiseste Grau.

 

»Sie sind Miss Reddle?« fragte die Gräfin. Ihre Stimme war so tief wie die eines Mannes, und sie sprach langsam und wohlartikuliert.

 

Der Klang dieser Stimme wirkte verwirrend auf Lois.

 

»Ja, Mylady, ich bin Lois Reddle.«

 

Einen Augenblick schwieg Lady Moron, dann wandte sie sich zu ihrem Begleiter. »Dies ist Miss Lois Reddle, Selwyn.«

 

Der schlanke, ein wenig vornübergebeugte junge Mann hatte im Gegensatz zu seiner Mutter weiche Züge und ein kleines Kinn.

 

»Darf ich Ihnen meinen Sohn, den Grafen von Moron, vorstellen?« sagte die große Dame. Lois verneigte sich leicht.

 

»Freue mich, Sie kennenzulernen«, murmelte der Graf mechanisch. »Wir haben schönes Wetter, nicht wahr?«

 

Damit schien sein Vorrat an Unterhaltungsstoff verbraucht zu sein, denn er schwieg während der übrigen Unterhaltung.

 

Lady Moron wandte jetzt ihre durchdringenden Blicke langsam von Lois ab und schaute den Anwalt an.

 

»Ich bin vollkommen zufrieden, Shaddles.«

 

»Miss Reddle ist ein sehr brauchbares, nettes junges Mädchen«, sagte er. »Und absolut vertrauenswürdig.« Dabei sah er verzweifelt auf die zerknüllten Urkunden, die auf seinem Schreibtisch lagen. »Wirklich, man kann ihr in allen Dingen trauen. Ich zweifle nicht, daß Miss Reddle in der Besorgnis, möglichst bald zurückzukommen und Mylady zu sprechen, meinen Wagen leicht beschädigte das ist eine Kleinigkeit, die zwischen Mylady und mir zu regeln wäre.«

 

Er hatte nämlich schon aus dem Fenster gesehen und mit der Routine eines Taxators die Höhe des Schadens festgestellt.

 

»Sie wußte doch gar nicht, daß ich hier war, Shaddles. Außerdem bin ich nicht für den Schaden verantwortlich, der Ihrem Wagen zugestoßen ist.«

 

Er rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her.

 

»Ich bezweifle überhaupt«, fuhr die Gräfin fort, »daß dieser Karren noch irgendeinen Wert hat – in meinen Augen jedenfalls nicht. Komm, Selwyn.«

 

Lois hatte einen Augenblick lang den Eindruck, als ob sich der junge Mann an dem Kleid seiner Mutter festhielte. Sie fühlte den unbändigen Wunsch zu lachen, als die Gräfin aus dem Zimmer rauschte.

 

Shaddles eilte durch das äußere Büro, öffnete die Tür vor ihnen, ging die Treppe mit ihnen hinab und verabschiedete sich unten am Wagen von der Gräfin. Dann kam er zurück.

 

»Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, meinen Wagen so zu ruinieren?« fragte er ärgerlich. »Und dann sehen Sie einmal hierher auf diese Urkunden – kann ich die denn überhaupt noch am Gericht einreichen?«

 

Bevor sie antworten konnte, sprach er weiter.

 

»Wie hoch sich auch die Reparaturkosten des Autos belaufen sollten – ich werde Ihnen die Rechnung schicken, denn ich bin sicher, daß Sie auch nach dem Gesetz für den Schaden haften. Sie werden ein anständiges Gehalt bei der Gräfin beziehen, und Sie verdanken Ihre neue Stellung doch nur der Tatsache, daß ich ihr Anwalt bin.«

 

»Die Reparatur will ich gerne bezahlen«, sagte Lois und war froh, als sie das Büro verlassen konnte.

 

Zu Lizzys Verdruß war sie nicht sehr mitteilsam, und die ganze Last der Unterhaltung auf dem Heimweg fiel ihr zu. Lois war glücklich, als Lizzy sie verließ, um mit einer Freundin ins Theater zu gehen. Sie wollte allein sein, um über dieses furchtbare Problem, das sie selbst betraf, nachzudenken. Immer neue Fragen drängten sich ihr auf, und plötzlich erinnerte sie sich an den erschrockenen und bestürzten Blick Mike Doms, als sie ihm mitteilte, daß sie ins Gefängnis gehen wollte. Kannte er das Geheimnis? Warum beobachtete er sie? Bis jetzt hatte sie geglaubt, daß er nur den Wunsch habe, ihre Bekanntschaft zu machen, weil sie sein Interesse erregte. Sie war froh, daß sie jetzt eine neue Stellung antreten konnte. Im Dienste der Lady Moron würde sie mehr freie Zeit haben und auch mit Leuten zusammenkommen, die ihr bei ihren Nachforschungen behilflich sein konnten.

 

Als sie ohne Appetit vor ihrem Abendessen saß, kam ihr plötzlich ein Gedanke. Sie sprang auf, nahm Hut und Mantel und machte sich auf den Weg zum Zeitungsviertel. Schon früher war sie manchmal für Mr. Shaddles zur Redaktion des ›Daily Megaphone‹ gegangen. Aber die Büros, die dem Publikum gewöhnlich zugänglich sind, waren schon geschlossen. Sie schickte ein kurzes Schreiben von der Loge des Portiers in das Redaktionsbüro, und zu ihrer größten Freude wurde ihr Wunsch erfüllt. Ein Bote brachte sie in das Archiv.

 

Sie nahm einen der großen, dicken Bände aus dem Regal, öffnete ihn und schlug die Zeitungen nach, die über den Prozeß Pinder berichteten. Der Bote, der sie hergeführt hatte, verließ das Zimmer wieder. Zwei Stunden lang las sie eifrig alle Einzelheiten des Falles nach, den sie sonst als ein trauriges Verbrechen unbeachtet gelassen hätte. Als sie die Berichte ungefähr zur Hälfte durchgelesen hatte, tauchte ein Name auf, der ihr fast den Atem nahm. Es war der Name einer Entlastungszeugin, die von der Verteidigung vorgeladen worden war – Mrs. Amelia Reddle!

 

Dann stimmte es also. Das war die freundliche Nachbarin, von welcher der Gefängnisdirektor gesprochen hatte. Diese große, schöne Frau, die mit solcher Ruhe über die Steinfliesen des Gefängnishofes schritt, war ihre Mutter! Und Mrs. Reddle hatte sie großgezogen, ohne ihr etwas von ihrer Herkunft zu erzählen.

 

Die Buchstaben tanzten ihr vor den Augen, ihre Hände zitterten, als ihre Entdeckung so plötzlich bestätigt wurde.

 

Ihre Mutter war unschuldig. Sie fühlte nicht nur eine natürliche Auflehnung gegen den Gedanken, daß in ihren Adern das Blut einer Mörderin rann – sie hatte die Überzeugung und innere Gewißheit, daß ihre Mutter unschuldig war.

 

Ruhig und gelassen ging sie nach Hause zurück. Sie hatte den festen Entschluß gefaßt, die Unschuld ihrer Mutter zu beweisen und wollte ihr Leben dieser Aufgabe widmen.

 

Kapitel 6

 

6

 

Die Charlotte Street lag verlassen da, als sie auf dem Heimweg um die Ecke bog. Sie kam an einem kleinen, geschlossenen Wagen vorüber, der an der Bordschwelle hielt. Als sie die Straße halbwegs gegangen war und sie eben überqueren wollte, stellte sie überrascht fest, daß derselbe Wagen mit höchster Geschwindigkeit auf sie zukam. Sie hielt an, um ihn an sich vorüberzulassen. Sie bemerkte kaum, daß seine Lampen nur düster brannten, denn ihre Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt. Das Auto kam näher, sein Tempo erhöhte sich von Sekunde zu Sekunde, und als es nur noch einige Meter von ihr entfernt war, fuhr es plötzlich auf sie zu.

 

Im ersten Augenblick wollte sie rückwärts ausweichen, aber ihr Instinkt trieb sie vorwärts. Wenn es dem Fahrer noch gelungen wäre, in die Kurve zu gehen, wäre sie dem Tode nicht entgangen. Der plötzliche Sprung nach vorn hatte ihr das Leben gerettet. Die äußere Ecke des Schutzblechs streifte ihr Kleid und riß ein großes Stück Stoff so glatt heraus, als ob es mit der Schere abgeschnitten worden wäre. Im nächsten Augenblick raste der Wagen in Richtung Fitzroy Square an ihr vorbei. Die Nummer war nicht zu erkennen.

 

Eine Sekunde stand Lois atemlos da und zitterte an allen Gliedern. Dann sah sie, wie sich jemand aus dem tiefen Schatten ihrer Haustüre löste und auf sie zukam. Bevor sie das Gesicht sah, wußte sie schon, wer es war.

 

»Sie haben Glück gehabt – beinahe hätte es Sie gefaßt«, sagte Michael Dorn.

 

»Was war denn das? Die müssen die Kontrolle über ihren Wagen verloren haben!«

 

»Ja, das stimmt«, erwiderte er ruhig. »Haben Sie die Nummer erkennen können?«

 

Sie schüttelte den Kopf. Seine Frage beunruhigte sie.

 

»Nein, ich habe sie nicht gelesen. Wünschen Sie etwas von mir, Mr. Dorn?«

 

»Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen nach dem aufregenden Erlebnis geht.«

 

Sie schaute ihn groß an.

 

»Welches aufregende Erlebnis meinen Sie denn?«

 

»Ich denke an den kleinen Unfall, für den ich teilweise selbst verantwortlich bin«, sagte er ruhig. »Wenigstens halte ich einen Zusammenstoß auf der Straße für aufregend. Aber möglicherweise haben Sie stärkere Nerven als ich.«

 

»Das meinen Sie nicht – Ihre Worte beziehen sich auf mein Erlebnis im Gefängnis.«

 

Er beugte sich zu ihr nieder.

 

»Was haben Sie denn im Gefängnis erlebt?« fragte er leise.

 

»Wenn Sie es nicht wissen, kann ich es Ihnen nicht erzählen.« Sie wandte sich schnell von ihm ab, ging ins Haus und schloß die Tür fast vor seiner Nase.

 

Noch bevor sie ihr Zimmer erreicht hatte, bereute sie ihre Heftigkeit. Aber es war jetzt zu spät, unter keinen Umständen wäre sie zurückgegangen und hätte sich entschuldigt.

 

Lizzy erwartete sie in heller Aufregung. »Weißt du auch, daß es beinahe zwölf ist? Ich dachte, du wärest früh zu Bett gegangen.«

 

»Ich war im Zeitungsbüro und habe für Mr. Shaddles noch einen Gerichtsfall nachgelesen. Aber sieh mal mein Kleid – ein Auto hat mich gestreift.«

 

Lizzy machte ein ungläubiges Gesicht.

 

»Wenn es wahr ist, daß du für diesen alten Geizhals Überstunden gemacht hast, dann ist es in deinem Kopf nicht mehr ganz richtig, und du mußt dich vom Arzt untersuchen lassen. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß das gar nicht stimmt, was du sagst – ich bin eigentlich sehr böse auf dich.«

 

»Warum denn?« fragte Lois. Sie nahm ihren Hut ab, warf ihn auf das Bett und betrachtete ihr zerrissenes Kleid genauer.

 

»Nun ja, ich weiß doch, daß du aus warst, um einen gewissen Jemand zu treffen – aber auf der anderen Seite begreife ich nicht, daß er dieses Paket schickte, wenn du mit ihm zusammen warst.«

 

Auf dem Tisch stand eine wunderschöne Schachtel, die Lizzy schon ausgepackt hatte. Der Seidenüberzug war mit Blumen bemalt.

 

»Es war ein bißchen dreist von mir, daß ich es aus dem Papier nahm – aber ich habe noch kein einziges Schokoladenplätzchen aufgeknabbert.«

 

»Schokolade?« fragte Lois und nahm den Deckel ab. Es war eine prachtvolle Bonbonniere mit dem erlesensten Konfekt, das jemals in ihren Besitz gekommen war. Obenauf lag eine Karte mit den Worten: »Von einem Verehrer.«

 

Sie runzelte die Stirn.

 

»Von einem Verehrer«, nickte Lizzy bedeutungsvoll. »Kein Name – ich möchte bloß wissen, wer das sein kann?«

 

Ihr Lächeln war zu sonderbar, um Lois noch einen Zweifel zu lassen.

 

»Hat er es gebracht?«

 

»Er? Du meinst Mike? Natürlich hat er das Ding gebracht – wenigstens vermute ich es. Es lag hier, als ich zurückkam. Wieviel andere Verehrer hast du denn noch, Mädchen?«

 

Lois klappte den Deckel böse zu.

 

»Ich hasse diesen Mann«, rief sie heftig, »und wenn er mich nicht in Ruhe läßt, werde ich mich bei der Polizei über ihn beschweren. Nicht genug, daß man ihn auf der Türschwelle sitzen findet, wenn man nach Hause kommt –«

 

»Saß er dort?« fragte Lizzy atemlos.

 

»Natürlich! Du wußtest doch, daß er hier war«, sagte Lois ungerecht. »Lizzy, du hast ihm immer geholfen und ihm Vorschub geleistet. Ich wünschte, du hättest das gelassen.«

 

»Ich?« fragte Lizzy gekränkt. »Ich habe ihm Vorschub geleistet? Das fehlte auch noch! Du nimmst ihn mit in deinem Wagen und fährst ihn den ganzen Nachmittag spazieren – und nun soll ich Vorschub geleistet haben! Ich habe ihn einen ganzen Monat lang nicht gesehen und während dieser Zeit kein Wort mit ihm gesprochen!«

 

»Wo wohnt er?« fragte Lois.

 

»Wie zum Donnerwetter soll ich das wissen?« brauste Lizzy auf, wurde aber gleich wieder ruhig. »Ja, ich weiß schon: er wohnt in den Hiles Mansions.«

 

»Dann wird dieses Paket morgen früh nach den Hiles Mansions zurückgehen«, sagte Lois bestimmt. »Und ich schreibe ihm auch noch einen höflichen Brief dazu und bitte ihn, seihe Aufmerksamkeiten zu lassen –«

 

Lizzy zuckte die Achseln.

 

»Auf wen wartest du denn eigentlich noch?« rief sie verzweifelt. »Er ist ein hübscher junger Mann mit einem prächtigen Auto, ein vollkommener Gentleman!«

 

»Das mag alles sein, aber ich kann ihn nicht leiden«, erwiderte Lois kurz. Zu ihrem Erstaunen legte die ungeschickte Lizzy ihren Arm um sie, drückte sie liebevoll an sich und lachte.

 

»Ich will mich mit dir nicht zanken in den paar letzten Nächten, die wir noch zusammen sind. Dann noch eins, Lois. Ich werde niemand anders mehr zu mir nehmen. Dein Raum wartet auf dich, wenn du einmal deiner hochadeligen Umgebung müde wirst.«

 

Ein großer Raum der Wohnung war durch eine hölzerne Scheidewand geteilt. In der Mitte befand sich eine türlose Öffnung, die die Verbindung zwischen den beiden Zimmern herstellte und mit einem Vorhang bedeckt war. Lois packte die Bonbonniere sorgfältig wieder ein, adressierte sie an ihren ›Verehrer‹, trug das Paket ins Schlafzimmer und legte es auf den Toilettentisch. Sie wollte nicht vergessen, diese Gabe zurückzusenden, obwohl ihr die Auslage des Portos recht unangenehm war.

 

Sie plauderten noch einige Zeit durch die Trennungswand, aber Lois schlüpfte bald in ihr Bett, sie fühlte sich todmüde.

 

»Gute Nacht!« rief sie.

 

»Horch mal auf den alten Mackenzie!«

 

Von unten tönten die weichen Töne einer Geige herauf. Leise stieg und fiel die Melodie, und Lois erschienen diese Klänge süß und beruhigend.

 

»Er war früher Dirigent«, sagte Lizzy. Ich wünschte, er würde seine Mondscheinsonaten für sich behalten, bis ich aus dem Hause bin.«

 

»Mir gefällt es sehr gut.« Die traurige Melodie ging Lois zu Herzen und stimmte so ganz zu ihrem eigenen Kummer.

 

»Ich werde verrückt«, brummte Lizzy, als sie ihre Strümpfe wegschleuderte und ihre Zehen betrachtete. »Wenn du schon ausgezogen bist, gehe ich hinunter und frage, ob er nicht endlich seinen mitternächtlichen Unsinn aufgibt.«

 

»Er hat so wenig Freude im Leben, laß ihn doch«, protestierte Lois.

 

»Warum geht er denn nicht aus und verschafft sich welche? Aber der alte Trottel verläßt ja seine Bude überhaupt nicht. Er hat viel Geld – außerdem gehört ihm doch dieses Haus.«

 

Lois lauschte. Der alte Mackenzie spielte das Intermezzo aus ›Cavalleria Rusticana‹. Sooft sie diese Melodie auch gehört hatte, war es ihr doch, als drückte sie jetzt allen Schmerz, alle Furcht und alle Empörung ihrer eigenen Seele aus.

 

»Musik ist ja sehr schön, wenn sie am Platze ist«, sagte Lizzy wieder. »Wenn er wenigstens noch den neuesten Schlager spielen würde – ich habe vor ein paar Tagen die Noten dazu billig gekauft und ihm geschenkt, aber er hat sie noch nicht einmal gespielt.«

 

Die Musik verstummte, und auch Lizzy war gleich darauf ruhig. Lois drehte sich zur Seite und fiel in einen unruhigen Schlaf. Im Traum war sie wieder im Gefängnis von Telsbury und ging selbst unter all diesen graugekleideten Frauen in dem trostlosen Kreis herum. An der Seite des Direktors stand jemand und beobachtete sie. Es war eine stattliche Frau mit breitem Gesicht und großer Nase. Ihre harten, schwarzen Augen lächelten verächtlich, als sie vorüberschritt. Und mitten im Kreis stand der alte Mackenzie und fiedelte mit seiner Geige unter dem Kinn den letzten Schlager, den Lizzy immer pfiff.

 

Plötzlich fuhr sie erschrocken in die Höhe.

 

Ein Lichtschein war über ihr Gesicht gegangen – es mußte jemand im Zimmer sein. Sie hörte leise Bewegungen und dann ein Papierrascheln. Es war Lizzy – natürlich. Sie kam ja häufig mitten in der Nacht in ihr Zimmer, wenn sie der Husten quälte, um sich die Pastillen zu holen, die Lois in der Schublade ihres Toilettentisches verwahrte. Ohne ein Wort zu verlieren, streckte sie ihre Hand aus und knipste die kleine Taschenlampe an, die vor ihrem Bett lag.

 

Als sie den Knopf herunterdrückte, erinnerte sie sich dunkel daran, daß die Batterie nahezu ausgebrannt war. Nur ein dünner Strahl weißes Licht erhellte den Raum, verblaßte sofort wieder, wurde dunkelgelb und verschwand dann ganz. Aber in diesem Augenblick hatte sie die Gestalt eines Mannes gesehen, der an ihrem Toilettentisch stand. Sie erkannte Michael Dorn, der ihr ein betroffenes Gesicht zuwandte.