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»Sunny«, sagte Larry zu seinem Diener, »London ist eine fürchterliche Stadt.«

 

»Das glaube ich auch, Sir«, stimmte Mr. Patrick Sunny bei.

 

»Aber London besitzt auch einen strahlenden Lichtpunkt, der die tiefe Trostlosigkeit und Verkommenheit dieser Riesenstadt durchbricht.«

 

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Sir. Das ist mir auch schon öfter aufgefallen. Ich gehe auch sehr gern in das Kino.«

 

»Wer spricht denn von Kinos!« fuhr ihn Larry an. »Nichts lag meinen Gedanken ferner als die Kinos. Ich dachte an etwas ganz anderes, an etwas Geistiges.«

 

»Wünschen Sie vielleicht einen Whisky und Soda, Sir?« fragte Sunny.

 

»Scheren Sie sich raus!« brüllte Larry und schüttelte sich vor Lachen. »Machen Sie, daß Sie in das Kino kommen.«

 

»Ja, Sir«, sagte Sunny ehrerbietig, »aber es ist schon ein bißchen spät.«

 

»Dann gehen Sie ins Bett. – Halt! Bringen Sie mir meine Schreibmappe.«

 

Er trug bequeme Hauskleidung – Schlafrock, ein Paar alte Criquethosen und weiches Hemd – und stopfte seine geliebte Pfeife mit einem Gefühl physischen Wohlbehagens.

 

Ein leichtes Ratt-Ratt-Ratt ließ sich an der Wohnungstür hören. »So spät noch Besuch!« wunderte sich Larry.

 

Er wartete und hörte einen kurzen Austausch von Fragen und Antworten. Die Tür öffnete sich und Diana Ward kam in das Zimmer. An ihrem Gesicht sah er, daß etwas vorgefallen sein mußte.

 

»Was ist passiert?« fragte er hastig. »Hat der Mann Sie nochmal belästigt?«

 

»Welcher Mann?« fragte sie erstaunt.

 

»Flimmer Fred.«

 

»Ich weiß nicht, ob es Flimmer Fred war«, sagte sie kopfschüttelnd. »Aber wenn er ein ganz besonders unangenehmer Mensch ist, wird er es wohl gewesen sein.«

 

»Setzen Sie sich doch, bitte. Ich wollte gerade Kaffee trinken – darf ich Ihnen eine Tasse anbieten. Sunny, bringen Sie zwei Tassen.«

 

»Ja, Sir«, sagte Sunny und fügte dann bedeutungsvoll hinzu: »Wünschen Sie, daß ich ins Kino gehe?«

 

Larry errötete ärgerlich.

 

»Bringen Sie den Kaffee, Sie – Sie«, stotterte er; und zu Diana: »Nun was gibt es denn?«

 

Ohne weitere Umschweife berichtete das junge Mädchen ihr Abenteuer und Larry hörte mit ernstem Gesicht zu.

 

»Sie sagen, er war groß und dick? – Dann scheidet Fred aus. Nehmen Sie an, daß es ein Einbrecher war, den Sie durch ihr unerwartetes Eintreffen gestört haben?«

 

»Das glaube ich nicht.« Diana schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe die Überzeugung, daß es ein sehr ernst gemeinter Angriff war. Als ich in meine Wohnung zurückkam, habe ich alle Räume genau durchsucht. Im Eßzimmer, wohin ich unter gewöhnlichen Umständen zuerst gegangen wäre, habe ich einen großen Wäschekorb gefunden.«

 

»Einen Wäschekorb?« fragte Larry verwundert. Sie nickte.

 

»Er war mit einer Art Polsterung dick ausgeschlagen, und auch der Deckel war gefüttert. Dies hier habe ich im Korb gefunden.«

 

Sie legte den Gegenstand auf den Tisch. Er sah aus wie eine Pilotenkappe, hatte aber keine Öffnung für den Mund.

 

Larry nahm sie auf und roch daran, obwohl dies unnötig war, denn ihm war sofort ein eigenartiger, süßlicher Geruch aufgefallen, als sie das Zimmer betreten hatte.

 

»Mit Chloroform getränkt«, sagte er. »Das würde Sie natürlich nicht vollkommen besinnungslos gemacht haben, hätte Sie aber sicherlich für kurze Zeit betäubt. Haben Sie noch etwas anderes bemerkt?«

 

»Als ich auf die Straße kam, fuhr gerade ein Lieferungswagen einer Wäscherei fort. Das ist mir deshalb so besonders aufgefallen, weil das Wort ›Wäscherei‹ – und das war die Aufschrift – sehr ungeschickt und fehlerhaft geschrieben war.«

 

»Das ist mir völlig unverständlich«, sagte Larry verwirrt. »Der Kerl hätte Sie doch nicht allein wegbringen können, oder er muß Helfershelfer im Hause gehabt haben.«

 

»Darin stimme ich Ihnen nicht bei«, sagte sie ruhig. »Dieser Mensch hatte unglaubliche Kraft. Ich war in seinen Armen wie ein kleines Kind, und für ihn wäre es sehr einfach gewesen, den Korb die Treppenstufen hinuntergleiten zu lassen, und der Chauffeur hätte ihm dann unten geholfen, den Korb in den Lieferwagen zu heben.

 

»Warum hat man es aber auf Sie abgesehen?« entgegnete er immer verwirrter. »«Was haben Sie denn mit der ganzen Geschichte zu tun?«

 

Das junge Mädchen antwortete nicht sofort.

 

»Ich überlege«, sagte sie schließlich, »ob ich vielleicht durch Zufall auf eine Spur gekommen bin die zu dem Mörder Stuarts führen könnte. Vielleicht habe ich irgend etwas erfahren, irgend etwas in meinem Besitz, ohne daß ich selbst weiß, welche gefährliche Bedeutung dies für die Verbrecher hat, und sie versuchen natürlich mit allen Mitteln, diese Spur zu beseitigen.«

 

Larry war sehr nachdenklich geworden.

 

»Warten Sie bitte einen Augenblick; ich möchte mich umziehen«, sagte er und verschwand in das Nebenzimmer.

 

Das junge Mädchen sah sich mit Gefallen in dem behaglichen Zimmer um. Dann kam Sunny mit einem Tablett, aber nicht, ohne vor seinem Eintreten vor der Tür auffallend laut gehustet zu haben, was seinen Herrn im anderen Zimmer ausnehmend ärgerte.

 

Als sie in Dianas Wohnung in der Charing Croß Road angekommen waren, begann Larry sofort eine sorgfältige Durchsuchung. Er hatte eine elektrische Taschenlampe mitgenommen und leuchtete jede Stufe der Treppe ab, ohne jedoch einen Hinweis auf den geheimnisvollen Angreifer finden zu können.

 

»Und jetzt wollen wir uns mal Ihre Wohnung ansehen.«

 

Er untersuchte den Wäschekorb, den das junge Mädchen schon so genau beschrieben hatte.

 

»Hier ist nichts zu finden«, sagte er. »Sehen Sie nach, ob Ihnen irgendwas fehlt.«

 

Sie suchte allein in den anderen Räumen nach und kam mit einem verdutzten Gesicht in das Wohnzimmer zurück.

 

»Mein grüner Mantel und ein Hut sind verschwunden.«

 

»Ist der Hut auffallend?« fragte er schnell.

 

»Was meinen Sie mit ›auffallend‹?«

 

»Ob er besonders ins Auge fällt?«

 

»Ich glaube ja«, lächelte sie. »Es ist ein goldgelber Hut, den ich zu meinem grünen Mantel trage.«

 

»Haben Sie ihn schon mal in Scotland Yard aufgehabt?« fragte er.

 

»Schon sehr oft«, erwiderte sie, ohne zu begreifen.

 

»Dann hab‘ ich’s«, sagte er. »Kommen Sie mit. Ich möchte Sie nicht gern allein hier lassen.«

 

Sie gingen zusammen nach der nächsten öffentlichen Telephonzelle, von der Larry das Präsidium anrief und sich mit dem diensttuenden Pförtner verbinden ließ.

 

»Hier Inspektor Holt. War Miß Ward heute abend im Büro?«

 

»Jawohl«, kam die Antwort. »Sie ist gerade wieder fortgegangen.«

 

Larry stöhnte.

 

»Aber ich bin doch gar nicht im Präsidium gewesen«, rief Diana erstaunt.

 

»Aber jemand anders, der Sie sehr gut nachgeahmt haben muß«, sagte er kurz.

 

Wenige Minuten später waren sie schon in dem düsteren Gebäude an dem Themse-Embankment und fanden nichts Auffälliges an der Tür von Zimmer 47. Er öffnete sie und schaltete das Licht ein.

 

»Da haben wir’s ja«, sagte er leise. Das Schloß des Wandschrankes, in dem er die Beweisstücke des Falles Stuart aufbewahrte, war aufgebrochen, und die Türen standen weit offen.

 

Er nahm die Schale heraus und überflog mit einem Blick den Inhalt.

 

Die Braille-Schrift war verschwunden.