Kapitel 2

 

2

 

Flimmer Fred, der eigentlich Grogan hieß, hatte einen berechtigten Grund, sich zu beschweren: Ein angesehener Justizbeamter hatte ihm feierlichst versichert, er hätte die Absicht, nach Monte Carlo zu reisen, und nun mußte er ihn auf dem Pariser Dampferzug wiederfinden.

 

Fred verließ den Viktoria-Bahnhof in außerordentlicher Eile und war sich noch gar nicht sicher, ob Larrys plötzliche Geschäfte in London nicht vielleicht doch mit seinen (Freds) eigenen Geschäften zusammenhingen. Larry sah gerade noch den Hochstapler in der Menge verschwinden und lächelte zum erstenmal seit seiner Abreise von Paris.

 

»Bringen Sie meine Sachen nach Haus«, sagte er zu Sunny. »Ich fahre direkt nach Scotland Yard. Vielleicht komme ich heut abend, vielleicht auch erst morgen zurück.«

 

»Soll ich den Gesellschaftsanzug bereitlegen?« fragte Sunny. Was ihm in erster Linie am Herzen lag, war das elegante Äußere seines Herrn. Für Sunny war der Tag in drei Teile geteilt – Straßenanzug, Gesellschaftsanzug und Pyjama.

 

»Nein – ja – machen Sie, was Sie wollen.«

 

»Ja, Sir«, sagte Sunny entgegenkommend.

 

Larry fuhr sofort nach dem Polizeipräsidium und trat in das große Büro Sir John Hason’s, der sich von seinem Schreibtisch erhob und ihm mit ausgestreckter Hand entgegenkam.

 

»Mein lieber Larry«, sagte er, »es ist zu nett von dir, auf deine Ferien zu verzichten. Du bist wirklich ein famoser Kerl! Ich habe übrigens gar nicht an deinem Kommen gezweifelt und dir Zimmer 47 einrichten lassen. Außerdem habe ich dir den feinsten Sekretär zur Verfügung gestellt, den ich jemals im Präsidium gehabt habe.«

 

John Hason und Larry Holt waren alte Freunde und Schulkollegen, und zwischen den beiden bestand aufrichtige Zuneigung und ein Vertrauen, wie man es eigentlich selten zwischen zwei Leuten des gleichen Berufes findet.

 

»Nummer 47 ist mir unbekannt«, sagte Larry lächelnd und legte seinen Mantel ab, »aber ich werde mich außerordentlich freuen, die Bekanntschaft des feinsten Sekretärs von Scotland Yard zu machen. Wie heißt er denn?«

 

»Es ist kein ›er‹, es ist ’ne ›sie‹«, lächelte Hason. »Miß Diana Ward. Sie hat sechs Monate hindurch bei mir gearbeitet und ist wirklich das geschickteste und vertrauenswürdigste Mädchen, das ich jemals in meinem Büro gehabt habe.«

 

»Allmächtiger! Ein weiblicher Sekretär!« sagte Larry gedrückt, fügte aber gleich lebhafter hinzu: »Selbstverständlich bleibt’s, wie du es angeordnet hast, John, und selbst dieses Muster aller Tugenden soll mir keine Angst einjagen. Höchstwahrscheinlich hat sie ’ne Stimme wie eine Raspel und kaut Gummi?«

 

»Ihr Äußeres ist nun gerade nicht besonders einnehmend, aber das ist doch schließlich nicht die Hauptsache«, antwortete Sir John trocken. »Setz‘ dich hin, alter Freund, ich habe viel mit dir zu besprechen. Es handelt sich um den Fall Stuart«, begann er und reichte Larry sein Zigarettenetui. »Erst gestern haben wir herausgefunden, daß Stuart ein sehr reicher Mann gewesen ist. Seit neun Monaten ist er in England und hat die ganze Zeit über in einer Pension auf dem Nottingham Place – Marlybone – gewohnt. Er war ein rätselhaftes Individuum, ging nirgendwohin, hatte fast gar keine Freunde und war außerordentlich zurückhaltend. Es war natürlich bekannt, daß er vermögend war, und nur seine Londoner Bankiers, die uns seinen Namen mitteilten, als sie herausgefunden hatten, daß er der unbekannte Tote war, waren von ihm ins Vertrauen gezogen. Mit ›ins Vertrauen ziehen‹ meine ich nur, daß ihnen sein Name und seine Vermögensverhältnisse bekannt waren.«

 

»Was meinst du damit, wenn du sagst, er ging nirgendwohin? War er denn die ganze Zeit über in seiner Wohnung in der Pension?«

 

»Darauf komme ich jetzt«, sagte Sir John. »Er ging aus, aber kein Mensch weiß, warum. Jeden Nachmittag ohne Ausnahme machte er eine Autofahrt und hatte unweigerlich dasselbe Ziel – ein kleines Dorf in Kent, ungefähr fünfundzwanzig Meilen von hier. Er ließ den Wagen an einem Ende des Dorfes warten, ging durch das Nest hindurch und war für einige Stunden verschwunden. Unsere Nachforschungen ergaben, daß er sich lange Zeit in der Kirche aufhielt. Genau nach zwei Stunden, pünktlich wie ein Uhrwerk, kam er zurück, stieg in den Wagen – er hatte ihn gemietet – und fuhr nach Nottingham Place zurück.«

 

»Wie heißt das Dorf?«

 

»Beverley Manor«, sagte der Oberkommissar. »Also weiter. Am Mittwoch abend brach er zum erstenmal mit seinen Gewohnheiten und nahm die Einladung eines gewissen Doktor Stephan Judd zur Uraufführung einer neuen Revue im Macready-Theater an. Doktor Stephan Judd ist der leitende Direktor der Greenwich-Versicherungsgesellschaft, eine kleine Gesellschaft – so eine Art Familienkonzern –, hat aber in der City einen sehr guten Ruf. Mr. Judd ist Kunstliebhaber und Besitzer eines sehr schönen Hauses in Chelsea. Judd hatte für die Erstaufführung eine Loge – nach den Zeitungen zu urteilen, war, nebenbei gesagt, das Stück einfach fürchterlich –, und zwar die Loge A. Stuart kam und war, wie Judd aussagte, auffallend unruhig. In der Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt verschwand er unbemerkt aus dem Theater, kam nicht zurück und wurde erst wiedergesehen, als man seinen Leichnam an dem Themse Embankment fand.«

 

»Wie war denn das Wetter in der Nacht?« fragte Larry.

 

»Im Anfang klar, dann aber dunstig mit Neigung zum Nebel«, antwortete Sir John.

 

Larry nickte. »Besteht vielleicht die Möglichkeit, daß er im Nebel seinen Weg verfehlt hat und in den Fluß gefallen ist?«

 

»Gänzlich ausgeschlossen«, sagte Sir John nachdrücklich. »Von der Zeit seines Verschwindens bis halb drei Uhr morgens war das Embankment frei von Nebel.«

 

»Und jetzt kommt noch ein merkwürdiger Umstand«, fuhr der Kommissar fort. »Als er gefunden wurde, lag er auf den Stufen, nur die Füße hingen im Wasser – und«, fügte er langsam hinzu, »die Flut war noch im Steigen.«

 

Larry sah ihn erstaunt an.

 

»Willst du damit vielleicht sagen, daß er nicht von der Ebbe dort angeschwemmt worden ist?« fragte er ungläubig. »Wie sollte er denn sonst dorthin gekommen sein, mit den Füßen im Wasser, noch dazu, wenn das Wasser stieg? Und doch muß es Ebbe gewesen sein, wie hätte er sonst auf die Stufen kommen können?«

 

»Das sage ich ja auch«, nickte Sir John. »Wenn er nicht unmittelbar nach Verlassen des Theaters ertrunken ist, als die Flut am höchsten stand und anfing zu fallen, scheint es mir beinahe unmöglich, daß er bei Tagesanbruch, als die Flut erst wieder begann, auf den Stufen angeschwemmt werden konnte.«

 

»Das sieht verdächtig aus«, sagte Larry. »Es besteht kein Zweifel, daß er ertrunken ist?«

 

»Nicht der geringste«, erwiderte der Kommissar, zog ein Schubfach auf und nahm eine kleine Schale heraus, in der verschiedene Gegenstände lagen. »Das haben wir in seinen Taschen gefunden. Uhr und Kette, ein Zigarettenetui und dies Stückchen zusammengerolltes, braunes Papier.«

 

Larry nahm den letzten Gegenstand auf. Er war vielleicht drei Zentimeter lang und noch feucht.

 

»Es ist nichts darauf geschrieben«, sagte Sir John. »Als man mir die Sachen gebracht hat, habe ich das Papier aufgewickelt, habe es aber für besser gehalten, es gleich wieder zusammenzurollen, um es für eine genauere Untersuchung trocknen zu lassen.«

 

Larry betrachtete die Uhr, eine einfache, goldene Uhr mit Sprungdeckel.

 

»Nichts«, sagte er und schnappte den Deckel zu, »ausgenommen, daß sie zwanzig Minuten nach zwölf stehengeblieben ist – höchstwahrscheinlich die Stunde des Todes.«

 

Sir John nickte.

 

»Die Kette ich Gold und Platin«, brummte Larry nachdenklich, »und am Ende ist – na, was ist das?«

 

Am Ende der Kette hing ein kleines, ungefähr vier Zentimeter langes goldenes Röhrchen.

 

»Aha, die Hülse von einem goldenen Bleistift«, sagte Larry. »Hat man den dazugehörigen Bleistift nicht gefunden?« Sir John schüttelte den Kopf.

 

»Nein, das ist alles, was gefunden wurde. Anscheinend hatte Stuart auch nicht die Gewohnheit, Ringe zu tragen. Ich lasse alles in dein Büro schicken. Du wirst doch den Fall übernehmen?«

 

»Was ist denn aber an diesem Fall so besonders?« fragte Larry langsam. »Hältst du die Sache für verdächtig?«

 

Einen Augenblick war der Kommissar schweigsam.

 

»Ja und nein«, sagte er. »Ich habe die Empfindung, daß hier Anzeichen für ein Verbrechen vorliegen. Nur allein die Tatsache, daß er bei steigender Flut aufgefunden wurde, während er doch zweifellos zur Zeit der Ebbe seinen Tod fand, veranlaßt mich, die Sache nicht als einen gewöhnlichen Todesfall durch Ertrinken zu betrachten.«

 

»Ich kann doch die Sachen gleich mit in mein Büro nehmen?« fragte Larry.

 

»Selbstverständlich«, erwiderte der Kommissar. »Willst du dir nicht erst den Toten ansehen?«

 

Larry zögerte.

 

»Nein, ich danke. Ich will erst mal Doktor Judd aufsuchen. Kannst du mir seine Adresse geben?«

 

Sir John blickte nach der Uhr auf dem Kaminsims.

 

»Er wird noch in seinem Büro sein. Er gehört zu den unermüdlichen Personen, die bis spät in die Nacht hinein arbeiten. Nummer 17, Bloomsbury Pavement; du kannst das Haus nicht verfehlen.«

 

Larry nahm die Schale und ging nach der Tür.

 

»Und jetzt wollen wir uns mal den so anziehenden Sekretär ansehen«, sagte er, und Sir John lächelte.

 

Kapitel 20

 

20

 

»Diana Ward«, sagte Larry, »ich bin ein schwergeprüfter Mann.«

 

Das junge Mädchen unterbrach ihre Arbeit und ließ ihre Finger auf den Tasten der Schreibmaschine ruhen. Dann drehte sie sich auf ihrem Stuhl herum.

 

»Unser Fall fängt an, ein wenig klarer für mich zu werden«, entgegnete sie ruhig.

 

»Ich wünschte bei Gott, er würde auch für mich allmählich etwas klarer«, brummte Larry. »Wir können am besten sehen, wie die Sache liegt, wenn wir uns die Ereignisse in ihrer Folge ins Gedächtnis zurückrufen.« Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, und begann an den Fingern abzuzählen. »Wir haben da zuerst einen reichen Kanadier, der augenscheinlich in der Absicht nach London kommt, die Gräber von Frau und Kind, die er vor Jahrzehnten verlassen hatte, aufzusuchen. Nach oder während eines Besuches im Macready-Theater wird er ermordet. Der Autor des Stückes ist John Dearborn, der, wie allgemein bekannt ist, den größten Blödsinn schreibt, der jemals auf einer Bühne gesehen worden ist. Aber aus dem Grunde ist er noch lange kein Mörder. Außerdem ist er ein angesehener Geistlicher, der sein Leben, seine Arbeit den Blinden geweiht hat. Der ermordete Stuart hinterläßt ein Testament, geschrieben auf der Innenseite seines Oberhemdes, in welchem er sein gesamtes Vermögen einer Tochter vermacht, die nach unseren bisherigen Informationen überhaupt nicht existiert. Verschiedene Anhaltspunkte werden gefunden: ein Stück Papier mit Worten in Brailleschrift und in der Hand des Toten die Hälfte eines Manschettenknopfes aus schwarzer Emaille mit Brillanten. Die Brailleschrift wird aus dem Präsidium gestohlen. Ein Paar gleiche Manschettenknöpfe kommen in den Besitz Flimmer Freds, der sie seiner eigenen Sicherheit halber versetzt. Diese Knöpfe scheinen aber für eine oder mehrere unbekannte Personen derartig wichtig zu sein, daß ein Einbruch in dem Leihhaus, wo die Knöpfe versetzt sind, ausgeführt wird, augenscheinlich nur zu dem Zweck, diese wieder in die Hände zu bekommen. Noch mehr. Ein Helfershelfer dieser Personen versucht zuerst Sie, Miß Ward, zu entführen und dann Fanny Weldon, die in unser Büro im Präsidium eingebrochen war, zu ermorden. Die Beweggründe hierfür sind mir verständlich, ebenso der Versuch, Flimmer Fred aus dem Wege zu räumen. Wofür ich aber wirklich gar keine Erklärung finden kann, ist der Versuch, der gegen Sie unternommen wurde.«

 

»Das ist mir auch rätselhaft«, nickte Diana.

 

»Zweitens«, zählte Larry weiter, »haben wir herausgefunden, daß Stuart in der Greenwich-Versicherungsgesellschaft außerordentlich hoch versichert war. Leiter der Gesellschaft ist Dr. Judd, der übrigens kein Hehl daraus macht, daß die Versicherung abgeschlossen wurde.«

 

»Haben Sie Dr. Judd gesehen?« fragte sie überrascht.

 

»Ich habe telephonisch mit ihm gesprochen und werde ihn nachher aufsuchen. Vielleicht begleiten Sie mich – wir können ja unseren Besuch in Todds Heim bis zum Nachmittag aufschieben.«

 

Er sah ihre Augen bei diesem Vorschlag aufleuchten und fragte neckend:

 

»Die Jagd scheint Ihnen Vergnügen zu machen?«

 

»Es ist faszinierend für mich, und ich möchte am liebsten bei allem dabei sein. Gestern hatte ich so das Gefühl, als ob Sie das nicht von mir annahmen.«

 

Larry errötete schuldbewußt.

 

»Nur für einen kurzen Augenblick«, gab er zu, »und das war sehr unrecht von mir. Aber schließlich: Warum sollten Sie auch alle Stunden, die der Himmel Ihnen beschert, mit Arbeit ausfüllen?«

 

»Weil ich möchte, daß die Mörder Stuarts der gerechten Strafe nicht entgehen«, antwortete sie mit fester Stimme.

 

Dr. Judd erwartete nur einen Besucher und war offensichtlich überrascht, als Larry mit seiner Begleiterin in das große Direktionsgebäude in Bloomsbury Pavement hineinkam.

 

»Dr. Judd – meine Sekretärin, Miß Ward«, stellte der Inspektor vor. »Miß Ward hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und vielleicht habe ich einige stenographische Notizen unserer Unterredung nötig.

 

»Das ist mir sogar sehr angenehm«, sagte Dr. Judd, schien sich aber doch in der Gegenwart des jungen Mädchens nicht ganz behaglich zu fühlen.

 

»Es freut mich, daß Sie gekommen sind«, begann Dr. Judd langsam. »Ich wollte gern noch einmal mit Ihnen über den Mann sprechen, den Sie bei mir fanden, als wir uns zum erstenmal trafen. Ich muß befürchten, Sie haben einen absolut falschen Eindruck gewonnen, und ich kann Ihnen das nicht einmal verdenken, denn der Mann ist ein berüchtigter Gauner. Haben Sie ihn kürzlich wiedergesehen?«

 

»In den letzten Wochen habe ich ihn nicht zu sehen bekommen und auch nichts von ihm gehört«, sagte Larry wenig wahrheitsgemäß, und das junge Mädchen mußte ihre ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um ihre Überraschung nicht sehen zu lassen.

 

»Nun«, sagte der Doktor, »darüber können wir mal bei einer späteren Gelegenheit sprechen. Stört es Sie, wenn ich rauche, Miß Ward?« Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

 

Er steckte eine Zigarette an, nahm eine Mappe aus seinem Schreibtisch und öffnete diese.

 

»Hier sind die Policen. Sie werden bemerken, daß die Summen an eine Person zu zahlen sind, deren Namen später genannt wird. Ich erhielt die diesbezügliche Anweisung an dem Tage, wo Stuart starb, und ich werde sie Ihnen sofort zeigen. Sie wurde mir erst gestern morgen vorgelegt, als einer meiner Angestellten mich daran erinnerte, daß wir die Policen ausgestellt hatten. Zu gleicher Zeit erhielten wir die Aufforderung, die Versicherungssumme auszuzahlen, und mit dieser Aufforderung den Totenschein Stuarts, respektive die beglaubigte Kopie desselben.«

 

»Die man für fünf Schilling erhalten kann«, unterbrach Larry, und Dr. Judd nickte zustimmend.

 

»Es war aber vollständig genügend«, fuhr Dr. Judd fort. »Auf jeden Fall hatten wir aber keinen Grund, dem Erben, als dieser vorsprach, das Geld vorzuenthalten und – die Zahlung wurde geleistet.«

 

»Wie ist gezahlt worden? Bar oder Scheck?«

 

»Auf den eigenen Wunsch der betreffenden Dame durch offenen Scheck.«

 

»Der Dame?« fragten Larry und Diana in höchster Überraschung zusammen.

 

Dr. Judd sah Diana lächelnd an und rieb vergnügt seine Hände.

 

»Eine so interessierte Sekretärin gefällt mir ausnehmend.«

 

»Aber wer war denn die Dame?« fragte Larry.

 

Der Doktor nahm zwei schmale Bogen aus seiner Mappe und legte den einen vor den Detektiv.

 

»Hier ist die Empfangsbestätigung«, sagte er. »Wie Sie sehen, lautet sie über einhunderttausend Pfund.«

 

Larry nahm die Quittung und las sie durch. Die Unterschrift war: Clarissa Stuart.

 

Kapitel 21

 

21

 

Larry traute seinen Augen nicht. Er hielt die Quittung dem jungen Mädchen hin, aber sie hatte schon über seine Schulter hinweg die Unterschrift gelesen.

 

»Clarissa Stuart?« sagte er langsam. »Kennen Sie die Dame?«

 

»Habe niemals von ihr gehört«, antwortete der Doktor lebhaft, »aber das war die Person, die bevollmächtigt war, die Versicherungssumme in Empfang zu nehmen.«

 

»Wie sieht sie denn aus?« fragte Larry nach kurzer Pause.

 

Dr. Judd steckte sich an dem Ende seiner Zigarette eine frische an und warf den Rest in den Kamin, bevor er antwortete.

 

»Jung, hübsch, elegant angezogen«, sagte er kurz.

 

»Machte sie denn einen – niedergeschlagenen Eindruck?«

 

»Ganz und gar nicht«, entgegnete der Doktor. »Sie war im Gegenteil ganz vergnügt.«

 

Diana Ward und Larry Holt blickten einander mit ungeheucheltem Erstaunen an.

 

»Hat die junge Dame eine Adresse hinterlassen?«

 

»Nein, das war auch nicht nötig«, war Dr. Judds Antwort. »Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich ihr einen offenen Scheck gegeben hatte. Das schien ihr nicht ganz recht zu sein, und sie sagte, sie wollte keinen Scheck haben. Ich habe dann jemand nach der Bank geschickt und das Geld einkassieren lassen und es dann an sie ausgezahlt.«

 

»Es war also bares Geld?«

 

»Die ganze Summe ist in bar ausgezahlt worden«, wiederholte der Doktor.

 

»Und Sie haben sie niemals vorher gesehen?« fragte Larry noch einmal.

 

»Niemals«, sagte der Doktor kopfschüttelnd. »Sie war zweifellos die Tochter Mr. Stuarts, wenigstens erzählte sie mir so, und ich hatte keinerlei Veranlassung, ihren Worten zu mißtrauen.«

 

Larry und Diana waren schon in der Straße, bevor er ein Wort an sie richtete.

 

»Es ist unglaublich!« – und zu dem Kutscher, der auf ihn wartete: »Nottingham Place 304.«

 

»Wohin fahren wir jetzt?« fragte Diana überrascht.

 

»Nach Stuarts früherer Wohnung«, erwiderte Larry. »Ich habe die Recherchen dort Sergeant Harvey anvertraut, der ja ganz besonders sorgfältig vorgeht, aber vielleicht hat er doch etwas übersehen. Wenn Stuart erst am Tage seines Todes herausgefunden hat, daß er noch eine andere Tochter hatte, muß er doch irgendeinen Besucher gehabt haben.«

 

»Glauben Sie, daß das junge Mädchen, Clarissa meine ich, bei ihm war?« fragte Diana schnell.

 

»Das ist vielleicht möglich, und das müssen wir versuchen herauszufinden.«

 

Nottingham Place 304 war ein großes, gut aussehendes Gebäude. Larry und seine Begleiterin wurden in einen eleganten Salon genötigt, und wenige Augenblicke später erschien eine kleine, alte Dame mit weißem Haar.

 

»Mrs. Portland, nicht wahr?« sagte Larry. »Mein Name ist Holt. Inspektor Holt von Scotland Yard.«

 

Ihr Gesicht drückte peinliche Bestürzung aus.

 

»Du liebe Güte, schon wieder! Ich hatte gehofft, die Polizei wäre nun endlich mit mir fertig. Mein Haus bekommt durch solche Besuche einen so schlechten Ruf, und ich habe schon Unannehmlichkeiten gehabt. – Der arme Herr hat Selbstmord begangen, nicht wahr? Warum er das nur getan hat?« sagte sie kopfschüttelnd. »Ich kann das nicht begreifen. In der ganzen Zeit, wo er hier wohnte, habe ich ihn nie so vergnügt gesehen wie an dem Abend, wo er ins Theater ging. Gewöhnlich war er immer so finster und niedergeschlagen, daß es mich bedrückte, wenn ich ihn sah.«

 

»Er war vergnügt, bevor er ins Theater ging? Ungewöhnlich vergnügt?« fragte Larry schnell.

 

Sie nickte.

 

»Hat er denn am Nachmittag irgendeinen Besuch gehabt?«

 

»Nein, Sir«, sagte die alte Dame zu Larrys Enttäuschung. »Es ist niemand bei ihm gewesen. Ich habe ja dem Detektiv, den Sie hierhergeschickt haben, erzählt, daß Mr. Stuart niemals Besuch hatte. Er war am Nachmittag aus gewesen und kam etwas früher zurück, wie wir ihn eigentlich erwarteten. Ich hatte eine Reinemachefrau hier, und sie räumte gerade sein Zimmer auf. Ich merkte das aber überhaupt erst, als ich an seinem Zimmer vorbeikam und ihn mit jemand sprechen hörte. Das war so ungewöhnlich bei ihm, daß ich es meinem Zimmermädchen gegenüber erwähnte.«

 

»Wer war denn der ›jemand‹?« fragte Larry.

 

»Die Reinemachefrau«, sagte sie. »Eine Frau, die ich ab und zu für Extraarbeit annehme. Das fiel mir ganz besonders auf, weil er sonst mit niemand sprach.«

 

»Wie lange war denn die Frau in seinem Zimmer?«

 

»Beinah eine Stunde«, war die überraschende Antwort.

 

»Eine Stunde? – Was hatte er denn eine ganze Stunde lang mit einer Aufwartefrau zu verhandeln?«

 

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie kopfschüttelnd. »Die Sache ist mir noch sehr gut im Gedächtnis, weil die Frau weggegangen ist, ohne sich ihren Lohn auszahlen zu lassen. Sie muß direkt fortgegangen sein, als sie aus Mr. Stuarts Zimmer kam – und sie hat sich nie wieder sehen lassen.«

 

Larry zog die Brauen zusammen.

 

»Das scheint mir wichtig zu sein«, sagte er. »Haben Sie mit Sergeant Harvey darüber gesprochen?«

 

»Nein, Sir«, antwortete sie überrascht. »Ich dachte nicht, es wäre nötig, eine so kleine Haushaltssache zu berichten. Er hat mich nur gefragt, ob Mr. Stuart Besuch gehabt hat, und ich habe ihm wahrheitsgemäß geantwortet, daß niemand dagewesen ist.«

 

»Wie hieß denn die Aufwärterin?«

 

»Das weiß ich auch nicht«, antwortete die Wirtin. »Wir haben sie immer Emma genannt. Ich habe mich gewundert, daß sie nicht zurückgekommen ist, denn sie hat ihren Trauring hier liegen lassen. Sie zog ihn immer ab, bevor sie anfing aufzuwischen. Für eine Frau ihres Standes war das ein ganz eigenartiger Ring, halb Gold, halb Platin und – halten Sie die junge Dame fest, Sir!« rief sie plötzlich.

 

Larry fuhr herum und fing das ohnmächtige Mädchen in seinen Armen auf.

 

Er legte sie auf das Sofa, und nach kurzer Zeit schlug Diana die Augen auf.

 

»Ich bin ein schrecklicher Idiot«, sagte sie und versuchte, sich aufzurichten, aber Larry legte seine Hand auf ihre Schulter.

 

»Sie müssen noch einen Augenblick ruhen – was hatten Sie denn?«

 

»Ich glaube, die Luft im Zimmer ist etwas drückend«, antwortete sie.

 

Das Zimmer war wirklich überwarm und schlecht gelüftet. Das war Larry auch aufgefallen, und die Wirtin entschuldigte sich, als sie das Fenster öffnete.

 

»Immer sage ich den Mädchen, sie sollen das Zimmer lüften«, beklagte sie sich, »und niemals tun sie’s. Es ist hier wirklich wie in einem Ofen. – Es tut mir sehr leid.«

 

»So was Dummes ist mir noch nie passiert«, sagte Diana, als sie sich langsam aufrichtete.

 

»Es ist besser, Sie fahren jetzt direkt nach Haus«, sagte Larry besorgt.

 

Sie war noch immer sehr blaß, und die Tasse Tee, die ihr die Wirtin brachte, war ihr äußerst willkommen.

 

»Ich denke nicht daran, nach Haus zu gehen«, entgegnete sie bestimmt. »Ich fahre mit Ihnen nach Todds Heim. Sie haben es mir versprochen, und sobald ich in die frische Luft komme, bin ich wieder ganz auf dem Posten. Wenn Sie mit mir durch den Regent Park fahren würden – er ist ja ganz in der Nähe – bin ich wieder so frisch wie vorher.«

 

Langsam fuhren sie um den Park herum, und die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück.

 

»Ich bin aber nicht der Ansicht«, bemerkte Larry, »daß ein Besuch in Todds Heim die angenehmste Weise ist, den Nachmittag zu verbringen. Es riecht da nicht sehr gut, und was man zu sehen bekommt, ist wenig angenehm.«

 

»Das macht mir nichts aus«, sagte sie ruhig, »bitte, bitte, lassen Sie mich doch mitgehen.«

 

Er ergriff leise ihre Hand, und sie leistete keinen Widerstand.

 

»Sie können gehen, wohin Sie wollen, Diana, und tun, was Sie nur immer wollen«, sagte er leise.

 

Langsam hatte er sich nun auch von seinem Schrecken beruhigt, und es fiel ihm ein, daß er in der Aufregung vergessen hatte, sich den Trauring der Reinemachefrau zeigen zu lassen und noch weitere notwendige Fragen an die Wirtin zu richten.

 

Sie fuhren nach Piccadilly zurück, wo sie frühstückten, und dann nach dem Büro in Scotland Yard. Vom Restaurant aus hatte Larry an Harvey telephoniert, der daraufhin Mrs. Portland durch seinen Besuch in erneute Verzweiflung gestürzt hatte. Er wartete in Zimmer 47 auf sie.

 

»Ich habe Emmas Spur gefunden«, sagte er in so ernsthaftem Ton, daß Larry wußte, seine Ansicht über die Wichtigkeit der Unterhaltung, die Stuart mit der Frau gehabt hatte, war richtig gewesen. »Sie wohnt, oder vielmehr sie wohnte in Camden Town«, sagte Sergeant Harvey, »bei einem pensionierten Soldaten und seiner Frau.«

 

»Haben Sie sie gesehen?«

 

»Nein, Sir. Sie wohnt nicht mehr da. Seit der Nacht nach Stuarts Ermordung ist sie nicht mehr nach Hause gekommen.«

 

Larry verzog das Gesicht.

 

»Hier ist die Erklärung, der eigentliche Grund für den Mord zu finden«, sagte er. »Die Aufwärterin Emma wird uns sehr viele und wichtige Enthüllungen machen müssen! Hat sie ihre Sachen aus dem Zimmer mitgenommen?«

 

»Nein, Sir. Und das ist das Merkwürdige. Die Frau hat ihren Freunden gegenüber kein Wort erwähnt, daß sie fortgehen wollte, und hat auch nicht ein einziges Stück ihrer Garderobe mitgenommen.«

 

»Setzen Sie ihren Namen auf die Liste und benachrichtigen Sie sämtliche Polizeibüros. Nichts Neues vom blinden Jake?«

 

»Nein, Sir.«

 

»Auch nicht von Fred?«

 

»Nein, Sir.«

 

»Die Wachsamkeit der städtischen Polizei ist ja an und für sich schon sehr in Anspruch genommen – arme Teufel –«, sagte Larry lächelnd, »aber wir müssen ihr doch noch den Namen Clarissa Stuart empfehlen. Jung, hübsch, elegant angezogen, wohnt wahrscheinlich in einem erstklassigen Hotel. Recherchieren Sie überall, wo eine reiche, junge Frau sich aller Wahrscheinlichkeit nach aufhalten könnte, und erstatten Sie dann Bericht.«

 

Harvey grüßte und ging hinaus. Larry stand an seinem Schreibtisch und blickte eine Zeitlang mißmutig vor sich hin.

 

»Nun, Miß Ward«, begann er, »jetzt können Sie zu all den anderen Rätseln ein neues hinzufügen. Emma ist genau so plötzlich und unerwartet verschwunden wie Flimmer Fred oder Stuart, und der Mann, der es fertigbekommen hat, Emma von der Bildfläche verschwinden zu lassen, ist derselbe, der beinahe Mrs. Weldon ermordet hätte.«

 

»Der blinde Jake?« fragte Diana.

 

»Das ist unser Mann«, erwiderte er. »Eine schreckenerregende Figur in diesem Drama. Wenn ich an ihn denke, läuft es mir kalt über den Rücken.«

 

»Was für ein Eingeständnis für einen Detektiv!« neckte sie ihn. »Er ist doch schließlich auch nur ein Mensch.«

 

»Und noch dazu ein verwundeter«, sagte Larry lächelnd. »Flimmer Fred konnte schon seinerzeit sehr gut mit einem Messer umgehen, als ich ihm wegen einer Messerstecherei mit seinem Rivalen Leroux auf den Fersen war.«

 

»Glauben Sie, sie haben ihn gefangen?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Fred hält sich still. Er ist verschwunden, weil er fürchtet, sie fassen ihn doch noch.«

 

»Dann gehört er also nicht zu der Bande?«

 

»Fred?« Er lachte. »Fred – ausgeschlossen. Fred ist ein Wolf, der nicht mit dem Rudel läuft. Er jagt allein. Er plündert Gerechte und Ungerechte in gleicher Weise aus. Neben anderen Dingen ist er vor allem stolz darauf, daß er niemals Mitglied irgendeiner Bande gewesen ist, und ich möchte beinah behaupten, dies ist der Grund, daß er verhältnismäßig selten die Konsequenzen seiner Gaunerstreiche zu tragen hatte. Er ist in London«, brummte er vor sich hin, »und ich habe so eine Idee, als ob wir ihn sehr bald zu sehen bekommen.«

 

Er arbeitete über eine Stunde und schien Dianas Anwesenheit völlig vergessen zu haben, schien auch nicht die Blicke zu bemerken, die sie ihm von Zeit zu Zeit zuwarf und die ihn an den geplanten Besuch in Todd’s Heim erinnern sollten.

 

Bogen nach Bogen schrieb er voll. Er hatte die Gewohnheit, seine verschiedenen Fälle in erzählender Form zu Papier zu bringen und die einzelnen Ergebnisse in abgeschlossenen Absätzen niederzulegen. Endlich war er mit seiner Arbeit zu Ende und legte die Bogen in ein Schubfach. Dann stand er auf, streckte sich, ging an das Fenster und sah hinaus. Es war spät am Nachmittag.

 

Dann kratzte er in höchst unromantischer Weise seine Nase und blickte das junge Mädchen zweifelnd an.

 

»Wenn Sie wirklich noch nach Todds Heim wollen, werde ich Sie hinbringen. Die Stunde ist da, für die ich mir selbst das Vergnügen dieses Besuches versprochen habe«, sagte er feierlich.

 

Ein Wagen brachte sie an das Ende von Lissom Grove, und dann bogen sie in die Sackgasse Lissom Lane hinein. Zwei Beamte in Zivil erwarteten sie, und gemeinsam gingen sie die Straße hinunter, bis sie zu dem Heim kamen, das auf der anderen Seite der Straße ihnen gegenüberlag.

 

»Was ist denn da nebenan für ein Haus?« fragte Larry und blickte nach einem unansehnlichen Hause mit geschlossenen Fenstern hinüber.

 

»Das war früher mal eine Wäscherei«, sagte der eine Polizist. »Hinter dem Hause ist ein Hof und eine Art Scheune.«

 

»Wäscherei?« sagte das junge Mädchen nachdenklich. »Erinnern Sie sich, daß an dem Abend, wo man mich entführen wollte, ein Wäschelieferauto vor meiner Tür stand?«

 

»Alle Wetter, rief Larry, »das stimmt!«

 

»Diese Wäscherei konnte es aber nicht gewesen sein, Miß«, sagte der Beamte. »Sie liegt schon seit zwölf Monaten still. Die Firma machte bankerott, und irgendeiner hat das Geschäft gekauft, scheint aber noch nicht zu arbeiten.«

 

»Das Tor da führt direkt auf den Hof, wie ich annehme.«

 

»Ja, Sir. Ich habe aber noch keinen Lieferwagen herauskommen sehen, und ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt einen haben«, sagte der Detektiv. »Heutzutage gibt es so viele Motorwagen, daß man sie unmöglich alle kennen kann.«

 

Larry ging die Stufen hinauf und klopfte. Derselbe kleine, alte Mann öffnete die Tür.

 

»Vier Menschen!!« kreischte er. »Und lauter Fremde! Was wollen Sie denn?«

 

»Ich möchte Mr. Dearborn sprechen«, antwortete Larry.

 

»Ach ja, Sir, Sie sind ja der Herr, der am Sonntag früh um sechs Uhr hier war«, sagte der kleine Mann und trippelte voraus durch den langen Gang. »Kommen Sie man alle mit!« brüllte er. »Vier Mann zu Besuch, Sir!«

 

Ehrw. John Dearborn kam ihnen aus seinem Büro entgegen und nötigte sie in das Zimmer.

 

»Mr. Holt? – Ich glaubte doch Ihre Stimme zu erkennen«, sagte er. Sein Diktaphon war in Gang, und ein dickes Manuskript in Maschinenschrift lag auf dem Tisch. Er strich liebkosend mit der Hand darüber hinweg, als er sich auf seinen Stuhl setzte.

 

»Jeden Abend kommt ein Herr, der mir dies vorliest«, sagte er wie in Antwort auf Larrys Gedanken. »Und was ist nun die Veranlassung zu Ihrem heutigen Abendbesuche? – Haben Sie Ihren blinden Jake gefunden?«

 

»Getroffen habe ich ihn, aber leider nicht gefunden«, sagte Larry grimmig. »Ich möchte nur noch einmal das Haus sehen. Ich habe eine Dame bei mir.«

 

»Sehr angenehm«, sagte Ehrw. John Dearborn und erhob sich.

 

Unwillkürlich streckte das junge Mädchen die Hand aus, die der Mann ergriff.

 

»Es wird mir ein großes Vergnügen sein, Sie herumzuführen. – Sie haben noch einige Bekannte bei sich?«

 

Larry stellte vor, und John Dearborn führte die kleine Gesellschaft die Treppe hinauf.

 

»Wir wollen diesmal von oben beginnen«, sagte er scherzend. »Unser Freund Lew liegt immer noch in seiner Zelle.«

 

»Ist es nicht etwas unsicher für Sie, einen Mann im Hause zu haben, der nicht ganz bei Verstand ist?«

 

»Er ist sehr schwach«, entgegnete John Dearborn, »und ich bringe es nicht über mein Herz, ihn in ein Hospital zu schicken. Früher oder später, befürchte ich, werde ich es ja doch tun müssen.«

 

Larry stand auf dem Treppenabsatz neben dem jungen Mädchen und fragte sie leise:

 

»Wollen Sie vielleicht den alten Mann sehen? Er ist gerade nicht sehr –« Er beendigte den Satz nicht.

 

»Ja, ich möchte ihn sehr gern einen Augenblick sehen. Vergessen Sie doch nicht, daß ich Pflegerin in einer Blindenanstalt gewesen bin.«

 

Dearborn führte sie nach dem kleinen Raum. Kein Licht brannte, obwohl auf jedem Treppenabsatz Lampen waren. Blinde brauchen ja kein Licht, dachte Larry.

 

Der alte Mann in der Zelle lag ruhig mit gefalteten Händen auf seinem Bett. Er schwatzte nicht mehr und war viel ruhiger wie an dem Tage, wo Larry ihn zuerst gesehen hatte.

 

»Wie geht es Ihnen denn heute?« fragte Larry.

 

Der Mann gab keine Antwort. Das junge Mädchen legte ihm ihre Hand auf die Schulter, und der Mann fuhr herum.

 

»Geht es Ihnen besser?« fragte sie.

 

»Wer ist da? Bist du’s, Jim? Bringst du mein Essen?«

 

»Geht es Ihnen besser?« fragte Diana noch einmal.

 

»Bring mir auch ’n Topf Tee, willste?« sagte Lew und legte sich wieder auf den Rücken. Derselbe Ausdruck ergebener Entsagung, den sie schon bei ihrem Eintreten bemerkt hatten, erschien in seinem Gesicht.

 

Das junge Mädchen beugte sich nieder und sah den alten Mann genau an. Er schien ihre Gegenwart zu fühlen, streckte eine Hand aus und berührte ihr Gesicht.

 

»Das ist doch eine Dame?« sagte er.

 

Und dann trat John Dearborn dazwischen und nahm die Hand des Alten zwischen seine beiden Hände.

 

»Geht es Ihnen besser, Lew?« fragte er. Der Mann zwinkerte.

 

»Is schon richtig, Sir. Es geht mir fein. Danke schön.« Diana verließ die Zelle, und blickte gedankenvoll vor sich hin, als Larry zu ihr trat.

 

»Was gibt’s denn?« fragte er leise.

 

»Der Mann ist tot« flüsterte sie.

 

»Tot?« wiederholte er verblüfft. »Unsinn. Der Mann ist nicht tot.«

 

Sie nickte nachdrücklich mit dem Kopf.

 

»Ich verstehe Sie nicht, Diana«, sagte Larry.

 

»Tot«, wiederholte sie so leidenschaftlich, daß er sie sprachlos anstarrte. »Genau so tot, als ob er kalt und leblos auf jenem Bette liegen würde. Oh, es ist grausam, bestialisch grausam.«

 

John Dearborn und die beiden Detektive waren noch in dem Raum und sprachen über den Kranken.

 

»Aber was meinen Sie denn, Diana?« fragte Larry.

 

»Haben Sie es denn nicht bemerkt? – Ich habe es früher schon einmal zu sehen bekommen«, sagte sie mit leiser, schwankender Stimme. »Haben Sie denn nicht die kleinen schwarzen Punkte an den Ohren des Mannes gesehen? Das sind die Pulvermale. Der Mann ist taub gemacht worden.«

 

»Taub?« wiederholte er, ohne noch die ganze Bedeutung dieser Entdeckung fassen zu können.

 

»Sie haben mir verschiedenes von dem erzählt, was der Mann am Sonntag gesagt hat, als Sie ihn sahen.« Sie sprach hastig und in Flüsterton. »Und jetzt verstehe ich, was vorgegangen ist. Ein Schuß ist ganz dicht bei seinen Ohren abgefeuert worden, und nun ist er tot.«

 

»Aber ich verstehe immer noch nicht.«

 

»Haben Sie es sich klar gemacht«, sagte sie jetzt sehr langsam, »was es bedeutet, blind und taub zu sein?«

 

»Allmächtiger Gott!« stöhnte er.

 

»Und das ist es, was dem Mann widerfahren ist, den sie Lew nennen. Jemand, der aus persönlichen Gründen sein Leben schonen will, hat es dem Bedauernswerten unmöglich gemacht, Zeugnis gegen ihn abzulegen.«

 

»Was meinen Sie damit?«

 

»Was ich meine? – Das ist der Mann, der die Brailleschrift geschrieben hat, die in Stuarts Tasche gefunden wurde.«

 

Kapitel 22

 

22

 

War es Vermutung? War es reine Schlußfolgerung? War es Wissen? – Diese drei Fragen schossen Larry durch den Kopf, aber bevor er noch weitere Fragen an sie richten konnte, kam Jahn Dearborn aus dem Zimmer des Kranken und fühlte seinen Weg die Treppe hinab.

 

Auf dem nächsten Treppenabsatz öffnete er die Tür des Schlafraumes, den Larry schon früher gesehen hatte. Er bestand aus drei Zimmern, die vor längerer Zeit zu einem einzigen vereinigt worden waren.

 

Auf Larrys Instruktion hin schlossen sich die beiden Detektive ihnen nicht an. Der eine schlenderte die Treppe hinunter und stellte sich auf dem unteren Treppenabsatz auf, der andere setzte sich auf die Stufen, die zu den oberen, kleineren Räumen führten, und wartete.

 

»Ist es noch hell?« fragte Dearborn, als er in den Schlafraum voranging.

 

»Noch ganz hell«, antwortete Larry.

 

»Man hat mir gesagt, daß man von dem Fenster dort eine sehr hübsche Aussicht hat«, sagte der Vorsteher und wies, ohne sich zu irren, in die Richtung des Fensters, von dem aus die Aussicht nichts weniger als malerisch war.

 

Larry antwortete nicht. Möglicherweise war es eine fromme Lüge, daß man von den Fenstern des Heims einen wunderschönen Ausblick hatte, und er wünschte auch nicht im geringsten die Gefühle eines Mannes zu verletzen, der so stolz von einem Blick auf sechs Dächer und einige hundert Schornsteine sprach.

 

»Ich glaube, das Fenster ist geschlossen?« fragte Ehrw. John Dearborn. »Würden Sie es bitte für mich öffnen?«

 

Larry schob das untere Fenster geräuschvoll in die Höhe, und ein Strom frischer, klarer Luft drang in den dumpfigen Schlafraum.

 

»Danke verbindlichst« sagte Mr. Dearborn. »Vielleicht sieht sich die junge Dame …«

 

Larry blickte sich um. Das junge Mädchen war nirgends zu sehen. Er ging schnell nach der Tür, und der Beamte, der vor dieser auf den Stufen gesessen hatte, erhob sich.

 

»Wo ist Miß Ward hingegangen?«

 

»Sie ist gar nicht herausgekommen, Sir«, sagte der Mann verblüfft. »Sie ist doch mit Ihnen in den Schlafraum gegangen.«

 

Lary starrte ihn an.

 

»Nicht herausgekommen?« wiederholte er stotternd. »Sind Sie sicher?«

 

»Absolut sicher.«

 

Er rief zu dem Mann auf dem unteren Treppenabsatz: »Haben Sie Miß Ward gesehen?«

 

»Nein, Sir. Sie ist nicht aus der Tür herausgekommen. Ich habe die Tür die ganze Zeit hindurch unter Augen gehabt.«

 

Larry ging in den Schlafsaal zurück. Er war leer – mit Ausnahme von einem halben Dutzend einfacher, eiserner Bettstellen und einem Schrank, der an der Wand, dem Kamin gegenüber, stand. Nirgendswo ein Platz, wo man sich verbergen könnte. Ein panischer Schrecken hatte sich seiner bemächtigt, und sein Herz schlug wild; keine Gefahr, die ihn selbst bedrohte, hätte ihn mehr erschüttern können.

 

Er riß die Schranktür auf. Einige alte Kleidungsgegenstände hingen an den Haken, sonst war er leer. Er warf diese heraus und schlug gegen die hintere Schrankwand. Sie war fest und unbeweglich.

 

»Haben Sie die junge Dame gefunden?« fragte jetzt John Dearborn.

 

»Nein, noch nicht«, sagte Larry schnell. »Gibt es außer der Tür noch eine andere Möglichkeit, aus dem Zimmer herauszukommen?«

 

Der Geistliche schüttelte verwundert den Kopf.

 

»Nein. Warum fragen Sie? – Ach so, Sie nehmen wohl an, wir hätten hier einen Notausgang, falls es brennen sollte. Wir haben schon mal daran gedacht …«

 

Larry war schneeweiß und zitterte vor Aufregung. Er rief einen der beiden Beamten zu sich.

 

»Sie bleiben hier im Zimmer, bis Sie abgelöst werden«, sagte er und wandte sich dann zu dem anderen: »Sie rufen in meinem Namen Scotland Yard an und lassen sofort zwanzig Mann hierherschicken. An der Ecke von Lissom Grove steht ein Schutzmann auf Posten. Holen Sie ihn und sagen Sie ihm, er soll vor der Haustür stehenbleiben.«

 

»Was ist denn vorgefallen?« fragte Ehrw. John Dearborn ängstlich. »Das ist einer der wenigen Fälle, wo mein Gebrechen mich zur Verzweiflung bringt, weil ich fühle, daß ich nicht helfen kann.«

 

»Vielleicht wäre es besser, Sie gingen in Ihr Büro«, sagte Larry sanft. »Ich befürchte, hier ist unter unseren Augen ein Verbrechen begangen worden.«

 

Aber wie sollte das möglich gewesen sein? Nicht einen Laut hatte er vernommen. Er hatte gedacht, das junge Mädchen stand hinter ihm. Er wußte, sie war mit in das Zimmer gekommen, denn er hatte sie vor sich hergehen lassen. Er erinnerte sich ganz genau daran. Er erinnerte sich ebenso deutlich, daß sie sich nach der linken Seite des Zimmers gewandt hatte, während er nach dem Fenster ging, um es zu öffnen – in diesem Augenblick mußte es passiert sein.

 

Das Aufschieben des Fensters war sehr geräuschvoll gewesen und würde jeden Laut am anderen Ende des Saales erstickt haben. Aber das alles hatte sich doch so schnell abgespielt – und sie hatte das Zimmer nicht verlassen.

 

Systematisch klopfte er die Wände ab, suchte nach versteckten Türen. Die Kokosmatte auf dem Fußboden wurde aufgerollt – nichts zu finden. Diana Ward war spurlos verschwunden, als ob ein Erdbeben sie verschlungen hätte, als ob sie sich in winzige Atome aufgelöst hätte und zum Fenster hinausgeschwebt wäre.

 

Kapitel 23

 

23

 

Larry lief in dem Schlafraum hin und her, krank vor Aufregung und Sorge, beängstigt, wie er es nie zuvor in seinem Leben gewesen war. Vom Keller bis zum Giebel war das ganze Haus durchsucht worden, in finstere staubige Ecken, die nicht einmal den Bewohnern des Hauses bekannt waren, hatte er hineingeblickt – aber alles Suchen, alles Fragen war umsonst.

 

Innerhalb einer halben Stunde war um das ganze Haus ein Kordon von Beamten in Zivil gelegt und Larry von seinem selbstgewählten Posten im Schlafsaal abgelöst worden, um anderwärts weitere Nachsuchungen vornehmen zu können.

 

»Es gibt keine Verbindung zwischen diesem und dem Nachbarhause?« fragte er den Geistlichen.

 

»Keine«, antwortete ohne Zögern John Dearborn. »Einige Jahre zurück wurde der Lärm von der Wäscherei so störend, daß ich die Besitzer des Hauses veranlassen mußte, eine neue Mauer, eine Art Abdichtung, aufführen zu lassen, um den Schall zu dämpfen. Jetzt wird dort nicht mehr gearbeitet. Die Gesellschaft machte Konkurs, und das Grundstück wurde von einer Firma in Lebensmitteln übernommen. Soweit ich weiß, beabsichtigen die jetzigen Besitzer, die Räume der Wäscherei als Speicher für ihre Waren zu benutzen.«

 

»Das ist das schmale Haus am anderen Ende des Hofes, das über den Torweg hinweg sichtbar ist?« erkundigte sich Larry.

 

Der Vorsteher gab eine zustimmende Antwort.

 

Larry ging mit einem der Sergeanten von Scotland Yard an die Tür des leeren Hauses und prüfte diese sorgfältig.

 

»Ich kann Ihnen die Versicherung geben, Sir, daß die Tür seit langer Zeit nicht geöffnet worden ist«, sagte dieser. Über das Gitter hinweg, das einen kleinen Vorplatz abschloß, konnten sie in einen unglaublich schmutzigen Raum blicken, in dem nicht ein einziges Möbelstück zu sehen war. Mit jeder Minute, die verging, wuchs Larrys Sorge mehr und mehr. Wenn er Diana verlieren müßte, wenn er sie verlieren sollte!

 

Er hatte jetzt keine Zeit mehr, über den Fall Stuart oder den Zusammenhang, der zwischen diesem und dem Verschwinden Dianas bestand, zu grübeln. All seine Angst, all seine Energie waren nur auf das eine gerichtet – die Entdeckung, die Befreiung von Diana Ward.

 

Larry kletterte über den Holzzaun und durchforschte den Hof der Wäscherei, und hier fand er die erste Spur, die ihn wieder auf die Fährte brachte. Radspuren, und noch ziemlich frisch. Die Spuren eines Motorwagens, möglicherweise von zweien. Er blickte in dem unordentlichen Hof herum und suchte nach einer Möglichkeit, wo die Wagen untergestellt sein könnten. Ein großes schwarzes Tor schien der Eingang zu einer Garage zu sein.

 

Sergeant Harvey war ihm gefolgt und versuchte, mit einem Dietrich das Schloß zu öffnen. Nach kurzer Mühe gelang ihm das, und die beiden Tore, die auf Rollen liefen, ließen sich leicht und geräuschlos, beinahe mit einem leichten Stoß, aufschieben.

 

»Die Tore sind erst kürzlich geölt und geschmiert worden«, stellte Larry fest.

 

In der Garage standen zwei Wagen. Eine Limousine mit langer Haube und ein kleines Lieferauto. Larry ging hinein und betrachtete im ungewissen Licht des fallenden Tages die beiden Automobile.

 

»Sehen Sie mal her!« rief er plötzlich und zeigte auf die Plane des Lieferwagens.

 

Sie war frisch lackiert worden, aber deutlich sah man unter der weißen Farbe den Schatten eines Wortes – schlecht und ungeschickt von Laienhand gemalt – »Wäscherei«.

 

»Erinnern Sie sich, Harvey, daß Miß Ward uns erzählte, sie hätte an dem Abend, wo man sie entführen wollte, einen Wäschelieferwagen vor ihrem Hause gesehen? Wenn sie den Wagen wiedererkennen würde –« Mit einem stechenden Schmerz im Herzen hielt er inne. Wenn sie doch nur wieder da wäre!

 

Die Limousine war erst kürzlich gereinigt worden, und Larry schrieb sich beide Nummern auf. Es konnte ja natürlich auch möglich sein, daß die beiden Wagen rechtmäßiges Eigentum der neuen Hausbesitzer waren und vollkommen harmlos für geschäftliche Zwecke benutzt wurden. Es konnte Zufall gewesen sein, daß ein solcher Lieferwagen in der Nacht, in der Jake den Versuch gemacht hatte, das junge Mädchen zu entführen, in der Charing Croß Road gesehen worden war.

 

Er schob die Garagentüren zu, die Harvey kunstgerecht mit seinem Dietrich verschloß.

 

»Telephonieren Sie die Nummern nach dem Präsidium«, sagte Larry, »und lassen Sie in der Verkehrskontrolle nachfragen, für wen sie ausgestellt sind.«

 

Harvey ging seiner Wege, und Larry blieb allein im Hof zurück. Von neuem untersuchte er die Räderspuren. Es hatte in der Nacht stark geregnet, und man konnte an der Deutlichkeit der Spuren erkennen, daß sie erst an diesem Morgen entstanden waren.

 

Er ging an dem eigentlichen Wäschereigebäude entlang – ein Neubau aus Ziegelsteinen mit Mattglasfernstern. Auch hier befand sich eine Schiebetür und auf den Stufen, die zu dieser führten, war eine Fußspur sichtbar. Er bückte sich plötzlich, um diese genauer zu betrachten.

 

»Ploff!«

 

Ein Ton wie das Knallen eines Champagnerpfropfens, nur ein wenig lauter und härter, erschreckte ihn. Ein Schlag oberhalb seines Kopfes – Holzsplitter fielen auf Larrys Hals, und mit einem Satz sprang er zur Seite. Die Türfüllung war durch eine Kugel zersplittert. Hätte er nicht so unvermutet seinen Kopf gesenkt, um den Fußabdruck zu prüfen – Sunny würde die Morgenzeitungen abbestellt haben. Das war merkwürdigerweise der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf schoß.

 

Larry überflog blitzschnell seine Umgebung. Den Ton hatte er erkannt, kaum daß er ihn gehört hatte. Es war keine Detonation zu hören gewesen, aber man hatte auf ihn mit einem Gewehr oder einer Pistole geschossen, die mit einem Maxim-Schalldämpfer versehen war. Das »Ploff« hatte er schon öfter gehört. Seine scharfen Augen suchten an einem der Fenster des hinter ihm liegenden Gebäudes vergeblich nach einem Anzeichen von Pulverrauch. Jetzt bemerkte er zum erstenmal, daß man von dem Fenster des Schlafsaales, aus dem Diana verschwunden war, auf den Hof blicken konnte. Er sah das offene Fenster und erkannte mit seinem ausgeprägten Ortssinn den betreffenden Raum. Kein weiterer Schuß fiel, und er zog sich langsam über den Hof zurück, ohne die Rückseiten der beiden Gebäude aus den Augen zu verlieren und bereit, sich beim ersten Aufblitzen eines Schusses zu Boden zu werfen.

 

Harvey hatte bei seinem Weggehen eine kleine Durchgangstür in dem großen Tor geöffnet, und durch diese trat ein sehr nachdenklicher Larry auf die Straße. Er ging direkt in das Heim zurück, wo die blinden Straßenhändler, die dort Unterkunft hatten, langsam einzutreffen begannen. Sie kamen allein oder zu zweien, tappten sich ihren Weg mit den eisenbeschlagenen Stöcken entlang und suchten den gemeinsamen Wohnraum auf. Ein Beamter des zuständigen Polizeireviers stellte die Persönlichkeit eines jeden fest.

 

»Alles unbescholtene Leute, was?« fragte Larry. Keiner von ihnen auf der Verbrecherliste?«

 

»Nein, Sir«, sagte der Beamte. »Alle haben ein gutes Führungszeugnis, und wir haben niemals Beschwerde gegen irgendeinen von ihnen gehabt.«

 

Larry ging nach dem Schlafsaal hinauf, von dem seiner Ansicht nach der Schuß auf ihn abgefeuert war. Zu seiner Überraschung war die Tür verschlossen, und der Schutzmann stand jetzt außerhalb der Tür auf Posten.

 

»Was soll das bedeuten?« fragte er streng.

 

»Der Vorsteher hat mir sagen lassen, Sie wünschten mich zu sehen«, entschuldigte sich der Detektiv, »aber als ich nach unten kam, stellte sich heraus, daß er keine Botschaft geschickt hatte. Als ich wieder zurückkam, war die Tür verschlossen.«

 

»Von innen?«

 

»Scheint so, Sir. Es steckt kein Schlüssel im Schlüsselloch.«

 

»Wer hat Ihnen die Mitteilung gebracht?«

 

»Der kleine Kerl, der immer die Tür des Heims öffnet.«

 

»Ich weiß, wen Sie meinen«, nickte Larry, »und was hat er für eine Erklärung gegeben?«

 

»Er hat gesagt, jemand mit einer Stimme wie der Vorsteher hätte ihm aufgetragen, mit der Bestellung an mich nach oben zu gehen.«

 

»Machen Sie Platz«, sagte Larry und stieß mit einem kräftigen Fußtritt die Tür auf.

 

Das Zimmer war leer, aber Larry schnüffelte.

 

»Hier ist ein Schuß abgefeuert worden; jedenfalls, als Sie nach unten gingen«, sagte er. »Merken Sie sich, Sie verlassen das Zimmer nicht, wenn nicht Sergeant Harvey oder ich persönlich kommen, um Sie abzulösen und einen anderen Mann an Ihre Stelle zu bringen.«

 

»Zu Befehl, Sir«, sagte der Mann niedergeschlagen.

 

»Unter den vorliegenden Umständen mache ich Ihnen übrigens keinen Vorwurf«, fuhr Larry mit halbem Lächeln fort. »Wir haben es mit einer ganz außergewöhnlichen Bande zu tun, und sie wendet ganz außergewöhnliche Methoden an – man kann von Ihnen nicht erwarten, daß Sie jeden Zug des Gegners parieren und noch viel weniger voraussehen können, wie der nächste sein wird.«

 

Es bestand nicht der geringste Zweifel, daß in diesem Raum eine Schußwaffe abgefeuert worden war; er konnte ganz deutlich den Geruch des verbrannten Schießpulvers erkennen, und eine abgefeuerte Patronenhülse, die er unter einem Bett in der Nähe des Fensters fand, lieferte ihm den endgültigen Beweis. Larry ging nach unten in das Büro des Vorstehers, der unruhig auf ihn wartete.

 

»Beabsichtigen Sie Ihre Leute noch lange hier zu lassen, Mr. Holt?« fragte Ehrw. John Dearborn. »Verschiedene meiner Schutzbefohlenen möchten nach dem Schlafraum gehen; sie sind müde.«

 

»Meine Leute bleiben so lange hier, bis ich mich davon überzeugt habe, daß Miß Ward nicht mehr in dem Grundstück ist«, sagte Larry kurz, »und bis ich den Herrn gefunden habe, der in liebenswürdiger Weise von dem Schlafsaal, aus dem sie verschwunden ist, auf mich gefeuert hat.«

 

»Auf Sie gefeuert hat?« wiederholte der andere entsetzt. »Sie wollen doch nicht sagen …«

 

»Ich meine genau das, was ich gesagt habe«, fiel Larry ein. »Verzeihen Sie, wenn ich etwas schroff bin. Während Sie mit dem Detektiv sprachen, der durch eine List nach unten gelockt wurde, ist von dem Zimmer aus auf mich geschossen worden – und die Tür war von innen verschlossen.«

 

»Das ist ja kaum glaublich!« rief Ehrw. John kopfschüttelnd. »Ich kann mir kaum eine Situation vorstellen, die für mich und Sie noch angreifender und aufregender sein könnte.«

 

»Aufregend!« lachte Larry bitter. »Aufregung werden wir noch genug haben, nur etwas später, wenn ich erst hinter die ganze Geschichte gekommen bin.«

 

Und dann gewann sein bissiger Humor die Oberhand.

 

»Sie sollten das in einem Ihrer Stücke verwenden, Mr. Dearborn«, sagte er und glaubte, eine schwache Röte in dem fahlen Gesicht des Mannes erscheinen zu sehen.

 

»Das ist ein guter Gedanke«, sagte der Vorsteher nachdenklich, »und ich bin Ihnen wirklich dankbar dafür. Haben Sie schon einige meiner Stücke gesehen?«

 

»Nein, bis jetzt noch nicht, aber bei der ersten passenden Gelegenheit werde ich mal nach dem Macready-Theater gehen.«

 

Der Vorsteher fuhr kopfschüttelnd fort:

 

»Manchmal befürchte ich, daß meine Stücke doch nicht so gut sind, wie einige meiner Bekannten es annehmen, und es tut mir leid, daß Sie noch keines gesehen haben. Aber sie werden doch immer wieder angenommen und aufgeführt, und das bringt Geld für unser Heim.«

 

»Wer bestreitet eigentlich die Aufführungskosten?« fragte Larry neugierig.

 

»Ein Herr, der sich für meine Arbeit unter den Blinden interessiert«, war die Antwort. »Ich bin niemals mit ihm zusammengetroffen, aber niemals hat er sich gesträubt, ein Stück von mir auf die Bühne zu bringen. Manchmal habe ich das Gefühl, er tut dies nur, um dem Heim zu helfen.«

 

»Irgendeinen guten Grund muß er ja haben«, sagte Larry.

 

Die Unterhaltung schlief langsam ein. Ein Telephon schnarrte, und der Vorsteher nahm den Hörer auf.

 

»Ja, ich glaube es ist besser, Sie machen das so«, sagte er und hängte den Hörer ein. »Eine Haushaltsfrage von der Küche«, lächelte er. »Soweit unsere Mittel es gestatten, habe ich Telephonverbindungen im ganzen Hause anlegen lassen. Es erspart so viele Laufereien.«

 

In dem Augenblick erschien eine Abordnung aus dem gemeinsamen Wohnraum. Man beklagte sich. Die Insassen von Schlafsaal Nr. 1 wollten zu Bett gehen. Verschiedene waren gewöhnt, ihre zwölf Stunden zu schlafen, und alle, ob sie sich nun niederlegen wollten oder nicht, bestanden auf ihrem Recht, den Schlafraum aufsuchen zu können.

 

»Da sehen Sie es ja selbst«, sagte der Vorsteher. »Ich komme da in eine sehr unangenehme Lage.«

 

Larry nickte.

 

»Sie alle können Betten in dem nächstliegenden Hotel bekommen. Ich komme für die Kosten auf. Meinetwegen können sie auch in einem anderen Raum schlafen. Ich habe nichts dagegen, daß die Betten herausgeholt werden. Aber niemand hat sich in dem Zimmer aufzuhalten, bis Miß Ward wieder aufgefunden ist.«

 

Er schlenderte zum Zimmer hinaus und durch den Gang nach dem gemeinsamen Wohnraum. Diese armen Menschen hatten Anrecht auf eine Erklärung, und er gab ihnen diese, indem er den Fall genau und einfach auseinandersetzte. Alle, auch diejenigen, die sich am lautesten beschwert hatten, stimmten ihm bei.

 

Larry hatte seine kurze Ansprache beendigt und lehnte in tiefen Gedanken versunken an der Wand des Korridors, als er eine Treppe höher Lärmen und einen Schrei hörte. In wenigen Sätzen flog er die Treppe hinauf. Als erster erreichte er den Treppenabsatz, und was er sah, ließ sein Herz ungestüm schlagen.

 

Langsam, Stufe für Stufe, schritt Diana Ward auf ihn zu. Ihre Bluse hing in Fetzen und ließ eine schneeweiße Schulter sehen. In einer Hand hielt sie einen schweren Smith-Wesson-Revolver, und auf ihrem blassen Gesicht lag ein triumphierendes Lächeln.

 

Einen kurzen Augenblick starrte Larry sie an, dann sprang er ihr entgegen und riß sie in seine Arme.

 

»Mein Liebling!« sagte er mit gebrochener Stimme. »Mein Liebling! Gott sei Dank, daß Sie wieder da sind!«

 

Kapitel 12

 

12

 

Er nahm den Telephonhörer ab und sagte kurz: »Schicken Sie sofort die ersten beiden Beamten, die Sie im Hause finden, hierher und einen Boten. Aber schnell.« Das junge Mädchen beobachtete ihn mit Interesse. Jetzt lernte sie zum erstenmal den wirklichen Larry Holt kennen, den Mann, von dem der Kommissar gesagt hatte, daß er »nicht einmal im Schlaf die Spur verlor«. Der Eindringling hatte sich nicht die Mühe gemacht, das leichte Stemmeisen wieder mitzunehmen, das er gebraucht hatte. Larry nahm es vorsichtig mit einem Stück Papier auf und brachte es unter das Licht.

 

Ein kurzer wollener Faden hing an seinem rauhen Ende, und das bewies, daß man Handschuhe getragen hatte, um Fingerabdrucke zu vermeiden. Seine einzige Hoffnung war die Schale, deren Boden aus einer dicken Glasplatte bestand. Seitenwände und Handgriffe waren Korbgeflecht. Larry wußte, daß, falls die Handschuhe überhaupt ausgezogen worden waren, es bei dem Hantieren mit der Schale geschehen sein mußte. Und seine Annahme war richtig. Als er auf die polierte Rückfläche der goldenen Uhr hauchte, wurde ein Fingerabdruck deutlich sichtbar.

 

Inzwischen waren die beiden Polizisten eingetroffen.

 

»Ist in der daktylographischen Abteilung jemand in Dienst?« fragte Larry.

 

»Jawohl.«

 

»Bringen Sie die Uhr hin. Halten Sie sie an der Krone; kann man den Abdruck nicht mit Puder sichtbar machen, so muß er sofort photographiert und innerhalb der nächsten Stunde verglichen werden.«

 

Der Einbrecher hatte noch einen anderen Fehler gemacht. Larry hatte den Papierkorb unter dem Tische hervorgezogen und drei zusammengeknüllte Stückchen Papier, die obenauf lagen, herausgenommen. Die beiden ersten waren nichts Wichtigeres als Briefentwürfe in Dianas Handschrift. Das dritte dagegen zeigte einen Plan des Zimmers, von fachmännischer Hand in Tinte gezeichnet. Der Platz des Wandschrankes und die Position der Schreibtische waren genau angegeben.

 

»Der Zeichner hat angenommen, daß es hier drei Wandschränke gibt«, sagte Larry und wies auf die Skizze. »Einer soll links vom Kamin sein«, er blickte auf und zog seine Brauen überrascht in die Höhe. »Weiß der Himmel, das stimmt auch. – Und ein anderer hinter der Tür«, er blickte hin und nickte. »Die kennen das Zimmer viel besser als ich selbst, Miß Ward«, sagte er und studierte von neuem die Zeichnung. »Das hat ein Mann gezeichnet, der Fachkenntnisse hat. – Ich glaube, es wäre besser, wir hätten einen Geldschrank hier und eine Leibwache«, fügte er bitter hinzu.

 

Auf der Türschwelle tauchte plötzlich Sir John Hason auf, der gelegentlich abends in sein Büro kam, um ruhig und ungestört arbeiten zu können.

 

»Was ist denn vorgefallen, Larry?« fragte er.

 

»Ach, gar nichts«, sagte Larry leichthin. »Nur ein Einbrecher hat Scotland Yard einen Besuch abgestattet! Meinst du nicht, wir müßten nach der Polizei schicken?« Als Antwort auf diese impertinente Frage grinste Sir John, war aber sofort wieder ernst.

 

»Man hat doch nicht die Stuart-Beweisstücke gestohlen?«

 

»Das einzige Beweisstück, das wirklich von Wert war, ist verschwunden«, entgegnete Larry.

 

»Laß den Pförtner nach oben kommen«, entgegnete der Kommissar.

 

Aber auch dieser konnte keine zufriedenstellende Auskunft geben. Er hatte gedacht, es wäre Miß Ward gewesen, die an seiner Loge vorbeiging. Es war Gewohnheit im Yard, daß die Beamten beim Passieren der Portierloge ihre Zimmernummer angaben, wenn sie ihren Dienst begannen und dieselbe Gewohnheit galt auch für die Zeit außerhalb der Bürostunden. Der Besucher hatte »47« angegeben und war ohne weiteres hineingelassen worden.

 

»Sind denn Fremde heute hier gewesen?« fragte Larry.

 

»Nein«, entgegnete das junge Mädchen, fügte dann aber hinzu: »Heute nachmittag war ein Blinder hier. Sie entsinnen sich doch, daß Sie eines dieser Instrumente sehen wollten, die diese bedauernswerten Menschen benutzen, und ich bat den kleinen, alten Mann, der Streichhölzer auf dem Embankment verkauft, nach oben zu kommen.«

 

»Auf jeden Fall«, sagte Larry, der sich daran erinnerte, »konnte er doch keinen Plan des Zimmers angefertigt haben.«

 

»Das System, was sich hier bei uns herausgebildet hat, scheint ein bißchen unsicher zu sein«, sagte Sir John, als der Pförtner das Zimmer verlassen hatte. »Wir können dem Mann wirklich keinen Vorwurf machen. Es ist unser eigener Fehler.«

 

»Hier haben wir ja den Herrn von der daktylographischen Abteilung«, rief Larry.

 

Der Beamte, der hereinkam, strahlte über das ganze Gesicht.

 

»Gleich beim ersten Griff gefunden, Sir«, sagte er. »Fanny Weldon, Coram Street 280. Hier ist ihr Personalrekord.« Er übergab Larry eine Karte.

 

»Zweimal Gefängnisstrafe für Beilegung falscher Persönlichkeit«, las er. »Das ist das Frauenzimmer. Aber was hat sie mit der ganzen Geschichte zu tun?«

 

»Fanny ist eine merkwürdige Frau, Sir«, sagte der Beamte, »sie hat nicht einen Funken von eigenen Ideen und ist immer in Unannehmlichkeiten gekommen, weil sie anderen Leuten bei ihren Plänen geholfen hat. Der dicke Joe Jacket hat sie gebraucht, um die bekannte Schauspielerin Miß Lottie Holm darzustellen. Das war vor ungefähr zwei Jahren. Dann hatte sie im Auftrage von irgend jemand eine Bardame personifiziert, während der Besitzer nicht im Hause war. Die Mannic-Bande hat bei der Gelegenheit im Hotel ›Victor Hugo‹ dreitausend Pfund erwischt.«

 

Larry saß an seinem Schreibtisch und hatte nachdenklich das Kinn in die Hand gestützt.

 

»Die Sache ist ganz klar«, sagte er dann. »Die Bande, hinter der wir her sind, kennt alle Hochstapler in London und hat höchstwahrscheinlich Fanny für ihre Pläne gewonnen. Wie war doch die Adresse – Coram Street 280? … Wir wollen mal sehen, was Fanny Weldon dazu zu sagen hat.«

 

Er bekam aber Fanny nicht vor Tagesanbruch zu sehen. Coram Street 280 war ein Eckhaus, das augenscheinlich nur möblierte Zimmer enthielt. In den ersten Morgenstunden fuhr ein Wagen vor das Haus, eine Frau stieg heraus und bezahlte den Kutscher. Als sie auf die Haustür zuging, kam Larry hinter ihr her und ergriff ihren Arm. Mit einem Ausruf des Schreckens fuhr sie herum. Sie war eine hübsche Frau mit einem etwas ordinären Mund.

 

»Was soll das heißen?« rief sie erschreckt.

 

»Sie werden mich auf einem kleinen Spaziergang begleiten«, sagte Larry.

 

»Geheimer?« fragte sie und erblaßte.

 

»Richtiggehender Geheimer«, entgegnete Larry und führte sie nach dem nächsten Polizeibüro, wo Diana und seine Beamten ihn erwarteten.

 

Auf dem Wege dorthin bejammerte sie ihr Schicksal.

 

»Das kommt davon, wenn man anderen Leuten Gefälligkeiten erweist«, sagte sie bitter. »Was soll ich denn getan haben?«

 

»Einbruch in Scotland Yard«, sagte Larry ruhig.

 

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Dann liege ich im Essen!« sagte sie.

 

»Das scheint mir auch so«, gab Larry zu.

 

Weibliche Beamte nahmen eine Körpervisitation vor, deren Ergebnis der Fund von einhundertfünfzig Pfund in Banknoten war. Fanny hatte sich mittlerweile von ihrem ersten Schrecken erholt und bestand darauf, daß das Geld genau gezählt wurde.

 

»Mir ist schon öfter auf Polizeibüros verschiedenes abhanden gekommen«, sagte sie anzüglich.

 

Statt in eine Zelle wurde sie in ein kleines Wartezimmer gebracht, wo Larry sie in Gegenwart Dianas verhörte. Die Anwesenheit der letzteren interessierte Fanny ungemein.

 

»Wie ich sehe, haben Sie Ihre Freundin mitgebracht«, sagte sie schnippisch. »Ist das die Dame, die ich ›nachgemacht‹ habe?«

 

»Das ist die betreffende Dame«, sagte Larry. »Also, Fanny, jetzt wollen wir mal wie Vater und Tochter miteinander reden.«

 

»Immer los, und genieren Sie sich gar nicht«, sagte Fanny unbekümmert. »Aber eins kann ich Ihnen sagen. Die ganzen letzten Monate kann man mir nichts nachsagen.«

 

»Fanny«, sagte Larry ernst, »ich werde Ihnen eine Chance geben – ich spreche absolut offen mit Ihnen. Es liegt Scotland Yard nichts daran, daß die ganze Welt erfährt, ein weiblicher Gauner ist in das Präsidium eingebrochen und hat unter den Augen der Polizei verschiedene Wertgegenstände gestohlen.«

 

Die Frau lachte leise und zwinkerte Diana zu.

 

»Für so was kann man nur ’ne Frau gebrauchen, nicht wahr?« fragte sie. »Erzählen Sie man weiter, mein Herr Schnüffler. Wenn Sie aber denken, daß ich irgend jemand verklappe, dann irren Sie sich gewaltig.«

 

»Sie werden mir ganz genau mitteilen, was ich von Ihnen wissen will«, versetzte er scharf, »und Sie werden mir sofort sagen, wer Sie für diese Geschichte angeworben hat.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Sie werden mir außerdem noch sagen, wer der Mann war, dem Sie die gestohlenen Sachen ausgehändigt haben, und wo das geschehen ist.«

 

Fanny schüttelte den Kopf von neuem und war in ausgezeichneter Laune.

 

»Das viele Fragen hat gar keinen Zweck«, sagte sie, »ich antworte ja doch nicht. Sparen Sie sich doch die Mühe und sperren Sie mich lieber in meine Zelle.«

 

»Ich werde Sie in die Zelle bringen lassen, sobald ich Ihnen die gegen Sie vorliegende Anklage mitgeteilt habe«, sagte er ruhig. Die Frau fuhr hoch und blickte ihn unruhig an.

 

»Sie haben mich wegen Einbruches angeklagt.«

 

»Das ist nicht das Verbrechen, dessen ich Sie beschuldigen werde«, sagte Larry. »Wenn ich nicht befriedigende Antwort auf meine Fragen erhalte, werde ich Sie noch einmal zur Protokollaufnahme zurückführen und Anklage gegen Sie erheben wegen Beihilfe zum Morde an Gordon Stuart in der Nacht des dreiundzwanzigsten April.«

 

Sie blickte ihn entsetzt und keines Wortes mächtig an.

 

»Mord?« wiederholte sie, »Mord? – Guter Gott, Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich …«

 

»Sie sind in einer ernsten Lage«, sagte er. »Sie helfen Mördern, sich dem Arm der Gerechtigkeit zu entziehen. Sie haben sich verleiten lassen, ein wichtiges Beweisstück zu stehlen, das in den Händen der Polizei war und vielleicht zur Überführung der Mörder geführt hätte – alles das genügt vollständig, um Sie außerordentlich schwer zu verdächtigen.«

 

»Ist das Ihr wirklicher Ernst?« fragte sie.

 

»Vollständiger Ernst«, sagte Larry eindrucksvoll. »Nehmen Sie nur nicht an, daß ich Sie zum besten haben will, Fanny. Sie haben ein Beweisstück gestohlen, das vielleicht die Verhaftung der Mörder ermöglicht hätte.«

 

»Wer sind Sie eigentlich?« fragte sie.

 

»Ich bin Inspektor Holt«, war die Antwort.

 

»Allmächtiger Vater! Dann bin ich verratzt!« stammelte sie. »Ich dachte, Sie wären im Ausland. Nee, Mr. Holt, ich will Ihnen erzählen, was ich weiß. Ich habe genug von Ihnen gehört und weiß, daß Sie auch Gaunern gegenüber ’n ehrliches Spiel spielen. Von der ganzen Geschichte habe ich bis gestern nachmittag keine Ahnung gehabt, und dann wurde ich angerufen, ich sollte mich mit dem großen Jake oder dem blinden Jake, wie er auch noch genannt wird, treffen.«

 

»Blinde Jake?« wiederholte Larry, dem der Name unbekannt war, und dann fiel ihm der blinde Streichholzhändler auf dem Embankment ein, der im Büro gewesen war – aber der konnte es doch unmöglich gewesen sein. Diana hatte gesagt, er wäre klein gewesen.

 

»Die Polizei weiß genau Bescheid über ihn, Mr. Holt«, sagte Fanny zaudernd. »Er ist ein schlechter Mensch. Von mir klingt das komisch, ich weiß es, aber vielleicht verstehen Sie, was ich damit sagen will: er ist schlecht, grundschlecht. ich bin in Todesangst vor Jake dem Blinden, und es gibt nicht einen Strolch, keinen Hochstapler in ganz London, dem es nicht ebenso geht. Er hat zweimal gesessen. Gewöhnlich arbeitet er mit zwei Komplizen, alles Gauner, und alle drei blind. Wir hatten sie ›Die toten Augen von London‹ getauft, weil sie sich schneller bewegen können als Sie, und weil die dicksten Nebel für sie gar nichts bedeuten. Jake der Blinde war der Anführer der drei, dann ist einer von ihnen verschwunden, und ich habe gehört, er wäre tot. In den letzten zwölf Monaten haben wir nicht viel von ihnen gehört, bis auf einmal der blinde Jake wieder auftauchte. Und Geld hatte er wie Heu. Ich glaube, er arbeitet jetzt für eine Kanone in der Zunft.«

 

»Schön, Sie haben den blinden Jake getroffen?«

 

»Ja«, nickte sie. »Er gab mir den Plan…«

 

»Aber der war doch nicht von ihm – er konnte doch nicht zeichnen«, unterbrach Larry.

 

»Der sicher nicht«, sagte sie verächtlich. »Nein, er hatte den Plan bei sich. Ich muß ihn irgendwo haben. Vielleicht in meiner Handtasche, die Sie mir abgenommen haben.«

 

»Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf«, sagte Larry. »Ich habe ihn im Büro gefunden.«

 

»Also der blinde Jake sagte mir, was ich zu tun hätte, daß er mir den Mantel und Hut geben würde, den die junge Dame hier immer trug, wenn sie ins Präsidium kam, daß ich beim Pförtner ›Nummer 47‹ sagen und dann so schnell wie möglich nach oben gehen müßte.«

 

»Was sollten Sie holen?«

 

»Eine kleine Rolle aus braunem Papier«, war die Antwort. »Er hat mir ganz genau beschrieben, wo sie war und daß sie in einer Schale lag.« Sie zuckte die Schultern hoch. »Ich kann mir nicht denken, wie sie das herausgefunden haben.«

 

»Aber ich«, sagte Larry und wandte sich zu dem jungen Mädchen. »Der Streichholzhändler hat auf einmal sein Augenlicht wiedergefunden! Wo kann ich den blinden Jake finden?« fragte er Fanny.

 

»Sie werden ihn überhaupt nicht finden«, entgegnete sie kopfschüttelnd. »Er läßt sich niemals am Tage sehen – wenigstens sehr selten.«

 

»Und wie sieht er aus?«

 

»Er ist riesengroß und stark wie ein Ochse.«

 

Diana stieß einen Schrei aus und fragte: »Hat er einen Bart?«

 

»Ja, Miß. So ’ne Art kleinen grauen Bart.«

 

»Das war der Mann auf der Treppe«, sagte Diana, »dessen bin ich ganz sicher.«

 

Larry nickte und wandte sich zu der Frau.

 

»Wann haben Sie die Rolle weitergegeben?«

 

»Heute morgen gegen zwei Uhr. Um diese Zeit sollte ich ihn am unteren Ende der Arundel Street und Strand, in der Nähe des Embankments, treffen. Und was er für eine Laune hatte!«

 

»Wissen Sie, wo er wohnt?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Vor Jahren wohnten sie in Todds Heim. Das war eine Blindenanstalt in Lissom Lane, Paddington, wo die blinden Straßenhändler Unterkunft fanden. Aber ich glaube nicht, daß er noch da ist.«

 

Larry führte sie in die Wachtstube zurück.

 

»Sie können sie auf meine Verantwortung hin freilassen«, sagte er zu dem diensttuenden Beamten. »Fanny, Sie melden sich morgen früh zehn Uhr bei mir in Scotland Yard.«

 

»Ja, Sir«, sagte Fanny, »und was wird mit meinem Geld?«

 

Larry überlegte einen Augenblick.

 

»Das können Sie wiederbekommen.«

 

»Wenn mir irgend jemand erzählen will«, sagte Fanny, als sie die Banknoten mit beleidigender Sorgfalt nachzählte, »daß die Polizei nicht ehrlich ist, soll er man zu mir kommen, und er wird allerlei zu hören kriegen.«

 

Kapitel 13

 

13

 

»Miß Diana«, sagte Larry freundlich, »Sie müssen jetzt aber wirklich nach Hause gehen und machen, daß Sie ins Bett kommen.«

 

Diana schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht ein bißchen müde, Mr. Holt. Darf ich nicht mitkommen? Wissen Sie nicht, daß Sie mir versprochen haben, den Fall Stuart mit Ihnen zusammen bearbeiten zu dürfen?«

 

»Aber ich habe nicht versprochen, Sie die ganze Nacht hindurch aufzuhalten«, meinte er, »und Sie sehen sehr abgespannt aus. Und nun sofort nach Hause. Die Vorsehung schickt uns gerade ein Taxi«, sagte er und winkte.

 

Sie fühlte sich müde zum Umfallen, versuchte aber trotzdem zu protestieren. Aber Larry war unerbittlich und hielt die Wagentür für sie offen.

 

»Sergeant Harvey bringt Sie nach Haus«, sagte er und zog den Beamten beiseite. »Sie gehen nach oben in Miß Wards Zimmer, durchsuchen diese sorgfältig und bleiben auf dem unteren Treppenabsatz, bis Sie abgelöst werden.«

 

»Und nun, Sergeant, wollen wir uns mal Todds Heim ansehen«, wandte er sich dem anderen Beamten zu.

 

Sechs Uhr schlug es von den Kirchtürmen, als Larrys Taxi vor Todds Heim anhielt. Es war ein trauriges, wenig einladend aussehendes Haus, dessen Fenster mit blauer Farbe bedeckt waren. Auf einer langen, schwarzen Tafel, die über die Breite des Hauses hinweglief, stand in verblichenen goldenen Buchstaben: Todds Heim für bedürftige Blinde.

 

Kaum hatte er geklopft, als die Tür von einem kleinen Mann geöffnet wurde.

 

»Das ist nicht Toby oder Harry, auch nicht der alte Joe«, sagte er laut. »Wer ist es denn?«

 

Larry sah, der Mann war blind.

 

»Ich möchte den Vorsteher sprechen«, sagte er.

 

»Ja, Sir«, sagte der Mann respektvoll. »Wollen Sie bitte hier warten?«

 

Er verschwand in einem langen verzweigten Gang; dann hörten sie ihn in seinen Pantoffeln zurückschlürfen, gefolgt von einem großen, schlanken Mann, der einen weißen Priesterkragen trug. Seine Augen waren hinter dunklen, blauen Gläsern versteckt, und auch er fühlte sich seinen Weg den Gang entlang.

 

»Wollen Sie nicht bitte näher treten.« Es war die Stimme eines gebildeten Mannes. Er war groß und kräftig gebaut, und sein glattrasiertes Gesicht zeigte eine außergewöhnliche Strenge des Charakters. »Ich bin John Dearborn – Reverend John Dearborn«, stellte er sich beim Voranschreiten vor. »Wir haben leider wenig Besucher hier. Ich fürchte, Todds Heim ist nicht besonders beliebt.«

 

Er machte keine Anspielung auf die frühe Stunde, die sie für ihren Besuch gewählt hatten.

 

»Wir müssen den Gang noch etwas weiter entlanggehen, meine Herren«, sagte er. »Ich höre an den Fußtritten, daß Sie zwei Personen sind – Vorsicht – hier ist eine Stufe.«

 

Er stieß eine Tür auf, und sie traten hinein. Das Zimmer war behaglich möbliert. Das erste, was Larry auffiel, waren die kahlen Wände, bis er sich daran erinnerte, daß Bilder für Blinde keinen Wert haben.

 

Ein merkwürdiger, kleiner Apparat stand auf der Seite des Tisches, der das Hauptstück der Ausstattung bildete, und ein kleines Rädchen drehte sich, als sie hereinkamen. Der Vorsteher ging geradewegs auf die kleine Maschine zu. Ein leichtes Schnappen eines Knopfes, und das Rad stand still.

 

»Das ist mein Diktaphon«, erklärte er, als er sich ihnen mit einem Lächeln zuwandte. »Ich bin literarisch tätig und diktiere in den Apparat, von dem dann meine Worte abgehört und mit der Schreibmaschine geschrieben werden.

 

»Nun, meine Herren«, sagte Ehrw. John Dearborn, als er selbst Platz genommen hatte, »was verschafft mir das Vergnügen Ihres Besuches?«

 

»Ich bin Beamter von Scotland Yard«, stellte sich Larry vor, »mein Name ist Holt.«

 

Der andere verbeugte sich leicht.

 

»Ich hoffe, keiner meiner unglücklichen Schutzbefohlenen ist in Unannehmlichkeiten geraten?«

 

»Das weiß ich selbst noch nicht genau«, sagte Larry. »Im Augenblick suche ich einen Mann mit Namen Jake der Blinde.«

 

»Der blinke Jake?« erwiderte der andere langsam. »Ich glaube nicht, daß wir einen solchen Namen in unserem Heim gehabt haben, wenigstens nicht, solange ich die Leitung habe. Und ich bin jetzt vier Jahre hier. Vor meiner Zeit wurde das Heim von einem Mann geleitet, und noch dazu sehr schlecht, der die schlimmste Sorte von Blinden, die es in ganz London gab, hier zusammenbrachte. Sie wissen, Blinde sind in ihrer Art wundervoll, tapfer und geduldig. Leider gibt es aber auch andere, verkommen, vertiert, der Abschaum der Erde. Wahrscheinlich haben Sie von den ›Toten Augen‹ gehört?«

 

»Heute morgen zum ersten Mal«, antwortete Larry, und der andere nickte.

 

»Wir sind diese Menschen losgeworden und haben jetzt nur anständige, alte Hausierer hier, wo alles nur mögliche für sie getan wird. Möchten Sie sich vielleicht das Heim ansehen?«

 

»Sie kennen also den blinden Jake nicht?«

 

»Ich habe niemals von ihm gehört«, sagte Ehrw. John Dearborn, »aber wenn Sie bitte mitkommen wollen, können wir uns ja erkundigen.«

 

Das Heim bestand aus vier Schlafräumen und einem gemeinsamen Wohnraum, der Tabaksrauch ausdunstete, und in dem die Insassen sich aufhielten.

 

»Einen Augenblick bitte«, sagte Dearborn, als er mit den beiden Herren in den Gang getreten war, und ging noch einmal in das Zimmer, kam aber bald wieder kopfschüttelnd zurück.

 

»Niemand kennt den blinden Jake persönlich, und nur einer hat überhaupt etwas von ihm gehört.«

 

Sie gingen nach dem ersten Schlafsaal hinauf.

 

»Ich bezweifle, daß Sie noch mehr zu sehen wünschen«, sagte Dearborn.

 

Larry hob lauschend den Kopf.

 

»Es kam mir vor, als ich jemand stöhnen hörte.

 

»Ganz recht«, entgegnete der Vorsteher. »Das ist ein trauriger Fall. »Oben sind kleine Räume für die Leute, die in der Lage sind, ein wenig mehr als ihre anderen Leidensgenossen zu zahlen. In einem wohnt ein Mann, der, wie ich befürchte, geistig nicht ganz normal ist. Ich habe schon darüber an die zuständigen Behörden berichten müssen.«

 

»Können wir nach oben gehen?« fragte Larry.

 

»Aber mit dem größten Vergnügen«, gestand nach kurzem Zaudern Ehrw. Dearborn zu. »Das einzige, was ich befürchte«, fuhr er im Vorausgehen fort, »ist die Ausdrucksweise des Mannes, die Sie sicherlich abstoßen wird.«

 

In einem kleinen, viereckigen Raum lag ein vertrockneter, alter Mann in den Sechzig, der sich ruhelos in seinem Bett hin- und herwarf, unaufhörlich plapperte – und mit einer unsichtbaren Person zu sprechen schien. Larry hörte seine Worte und wunderte sich.

 

»Du Biest! Du Feigling!« stammelte der Mann im Bett. »Gehenkt wirst du. Denke an meine Worte! Gehenkt wirst du dafür!«

 

»Es ist wirklich schrecklich«, sagte Ehrw. John Dearborn und wandte sich mit bedauerndem Kopfschütteln ab. »Bitte hier entlang, meine Herren.«

 

Aber Larry rührte sich nicht vom Fleck.

 

»Gut, Jake, aber du wirst dafür bezahlen, denke an meine Worte. Das wird dir teuer zu stehen kommen! Die sollen ihre dreckige Arbeit allein machen! Ich habe das Papier nicht in seine Tasche gesteckt, das kann ich dir sagen.«

 

Larry trat in das Zimmer hinein, beugte sich über den Mann und ergriff seinen Arm.

 

»Lassen Sie meinen Arm los, Sie tun mir weh«, beklagte sich dieser, und Larry ließ ihn los.

 

»Wachen Sie auf«, sagte er, »ich möchte Sie sprechen.« Aber der Mann schwatzte weiter, und Larry schüttelte ihn von neuem.

 

»Lassen Sie mich in Ruhe«, brummte der Alte. »Ich will nicht noch mehr Unannehmlichkeiten haben.«

 

»Er phantasiert«, sagte John Dearborn. »Er bildet sich ein, daß man ihn beschuldigt, einem seiner Freunde unten eine Streich gespielt zu haben.«

 

»Aber er sprach von ›Jake‹«, warf Larry ein.

 

»Das ist richtig, wir haben einen Jake unten – Jake Horley. Möchten Sie ihn sprechen? Er ist ein kleiner Kerl und in seiner Art ganz amüsant.«

 

Larry ging enttäuscht die Treppe hinunter und verabschiedete sich von seinem Führer.

 

»Ich freue mich sehr, einen Besuch von der Polizei gehabt zu haben«, sagte John Dearborn. »Ich wünschte nur, wir könnten auch andere Leute überreden, sich für uns zu interessieren. Sie haben nun einen kleinen Einblick in unsere Arbeit tun und selbst sehen können, mit welchen Schwierigkeiten wir zu kämpfen haben. Würden Sie aber vielleicht«, fügte er hinzu, »bevor Sie gehen, mir mitteilen, warum Sie Jake den Blinden suchen? – Meine Leute kommen mir ja sonst vor Neugierde über den Grund dieses polizeilichen Besuches um.«

 

»Wenn es weiter nichts ist«, lächelte Larry. »Es liegt die Anklage einer Frau gegen ihn vor, sie zu einem Verbrechen angestiftet zu haben.«

 

Der ihn begleitende Polizeibeamte starrte ihn verblüfft an. Es war wider allen Gebrauch bei der Polizei, den Angeber zu verraten.

 

»Verzeihen Sie bitte eine Frage, Mr. Dearborn, die Ihnen vielleicht peinlich ist«, fragte Larry sanft. »Sind Sie selbst auch …?«

 

»O ja«, sagte der andere heiter. »Ich bin vollständig blind. Die Gläser trage ich nur aus Eitelkeit. Ich bilde mir ein, daß ich mit der Brille besser aussehe.« Er lachte leise.

 

»Auf Wiedersehen«, sagte Larry und schüttelte ihm die Hand. Dann stieß er die Tür auf und stand Angesicht zu Angesicht mit Flimmer Fred.

 

Wie vom Donner gerührt starrte Flimmer Fred ihn an und ging dann – mit einigem Risiko für sich selbst – die wenigen Stufen rückwärts hinunter. Larry, den Kopf auf einer Seite, betrachtete ihn mit dem interessierten Ausdruck eines wißbegierigen Huhnes, das eine ganz neue Art Wurm vor sich sieht.

 

»Wer von uns beiden läuft eigentlich dem anderen nach? Sie mir oder ich Ihnen?« fragte er freundlich. »Und warum so frühzeitig aus dem Bett, Fred? Haben Ihre – hm – Geschäfte Sie die ganze Nacht hindurch in Anspruch genommen?«

 

Fred fand keine Worte. Er war den ganzen langen Weg von der Jermyn Street bis Paddington zu Fuß gegangen, hatte alle erdenkbare Vorsicht angewendet, um nicht verfolgt zu werden, und nun … Endlich fand er seine Stimme wieder.

 

»Also ’ne Falle war es?« sagte er bitter. »Das hätte ich mir eigentlich denken können. Aber gegen mich liegt doch nichts vor, Mr. Holt.«

 

»Doch! Eine ganze Masse«, sagte Larry scherzend, der unbewußt die Tür des Heims hinter sich geschlossen hatte. »Doch, Fred! Ich kann Ihr Gesicht nicht leiden, ich kann Ihre Schmucksachen nicht sehen und Ihr Personalbericht ist mir direkt ekelhaft. – Was steckt dahinter, Fred? Kommen Sie so früh, um persönlich den armen Blinden einen freiwilligen Beitrag zu überbringen? Haben Sie endlich mal Gewissensbisse bekommen?«

 

»Lassen Sie doch den Unsinn, Mr. Holt«, knurrte Fred und ging zu Larrys Überraschung mit ihm mit.

 

»Wollten Sie denn nicht nach dem Heim gehen?« fragte er.

 

»Nee«, sagte Fred bissig.

 

Schweigend gingen sie ihres Weges. Ein sehr nachdenklicher Fred zwischen den beiden Polizeibeamten. Sie hatten schon die breite Edgware Road erreicht, bevor er seine Gedanken gesammelt hatte.

 

»Ich habe keine Idee, warum Sie mich mitgenommen haben. Sie können mich doch für ’ne alte Geschichte nicht nochmal fassen?«

 

»Stimmt. Ich habe tatsächlich keine Ahnung, warum Sie eigentlich mit uns mitlaufen. Aber Sie haben uns ja selbst Ihre liebwerte Begleitung aufgedrängt.«

 

»Wollen Sie wirklich sagen, daß ich nicht geschnappt bin?« stieß Fred ungläubig hervor und blieb stehen.

 

»Was mich anbetrifft«, antwortete Larry, »sind Sie nicht geschnappt, falls nicht Sergeant Reed eine private Verabredung mit Ihnen hat.«

 

»Ich auch nicht, Sir«, lächelte der Sergeant. »Wie kommen Sie denn überhaupt auf den Gedanken, daß Sie verhaftet sind, Fred?«

 

»Na, da schlag‘ doch einer lang hin«, stotterte Fred verdutzt. »Was soll denn das nun bedeuten?«

 

»Kennen Sie denn jemand in dem Heim?«

 

»Ich kenne das Heim ebensowenig wie ’n Kuhstall«, antwortete Fred. »Ich habe einen Milchmann nach dem Wege fragen müssen.«

 

»Sie hätten sich an einen Schutzmann wenden sollen«, murmelte Larry. »Es gibt ’ne ganze Masse hier.«

 

»Für meinen Geschmack zu viel«, war Freds bissige Antwort. »Hören Sie mal, Mr. Holt«, sagte er plötzlich ernsthaft, »Sie sind ein anständiger Mensch, und ich bin sicher, Sie werden mich nicht reinlegen…«

 

»Nun?« fragte Larry. Fred tauchte in eine seiner inneren Taschen und brachte einen Brief hervor.

 

»Was halten Sie davon, Sir?« fragte er.

 

Larry öffnete den Brief, der an Fred Grogan adressiert war, und las:

 

»Man wird Sie morgen verhaften. Larry Holt hat den Haftbefehl. Kommen Sie morgen früh halb sieben nach Todds Heim, Lissom Lane, und fragen Sie nach Lew. Der wird Ihnen Mitteilungen machen, die es Ihnen ermöglichen, zu entwischen. Seien Sie vorsichtig, daß man Ihnen nicht nachfolgt, und erzählen Sie niemand, wohin Sie gehen.«

 

Der Brief war nicht unterzeichnet. Larry wollte ihn schon an Fred zurückgeben, als er sich eines Besseren besann.

 

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich den Brief behalte?« fragte er.

 

»Nein, Sir, behalten Sie ihn ruhig. Aber, Mr. Holt«, fragte er unruhig, »wollen Sie mir nicht sagen, ob da irgend was Wahres dran ist, daß ich gefaßt werden soll?«

 

Larry schüttelte den Kopf.

 

»Soweit mir bekannt ist, sind Sie nicht auf der Liste, und ich habe ganz sicher keinen Haftbefehl gegen Sie. Tatsächlich«, fügte er hinzu, »lauten die Auskünfte über Sie jetzt so gut, daß Sie, falls Sie ehrlich bleiben würden, ohne jede Furcht vor der Polizei leben könnten.«

 

»Klingt verdammt uninteressant für mich«, war Freds Antwort, als er mit gesenktem Kopf in eine Seitenstraße einbog.

 

Kapitel 14

 

14

 

Coram Street 280 war ein Mietshaus, in dem Mrs. Fanny Weldon zwei Räume bewohnte. Sie lebte gut, bezahlte gut, verursachte wenig oder gar keine Umstände und hielt ihren Namen frei von jeder üblen Nachrede. Ihre Wirtin würde alles mögliche tun, um ihr gefällig zu sein, vorausgesetzt natürlich, daß der gute Ruf von Nr. 280 nicht zu leiden hätte.

 

Dieser weibliche Hochstapler hatte eine vielbeschäftigte Nacht hinter sich, aber trotzdem war es ihr nicht möglich, den ganzen Tag hindurch zu schlafen.

 

»Sie sind heute nacht spät nach Haus gekommen, Mrs. Weldo«, sagte die Wirtin, als sie ihr eigenhändig den Tee brachte.

 

Fanny nickte. »Um genau zu sein, bin ich heut nacht überhaupt nicht ins Bett gekommen«, sagte sie. »Ich war tanzen. Wie spät ist es denn?«

 

»Sechs Uhr. Ich dachte, Sie schliefen noch, und da Sie nicht klingelten, wollte ich Sie nicht stören.«

 

»Heute abend gehe ich aber früh zu Bett«, gähnte Fanny. »Was gibt’s Neues?«

 

»Nicht viel, liebes Kind«, sagte die Vermieterin mit berufsmäßiger Mütterlichkeit. »Im Zimmer gegenüber«, sie wies mit dem Daumen nach der Tür, »wohnt jetzt ein junger Mann. Ein Herr aus Manchester, sehr ruhig. Mrs. Hooper hat sich mal wieder über das Essen beklagt.« Und sie begann den täglichen Pensionsklatsch zu erzählen.

 

»Schicken Sie mir irgendwas Kaltes nach oben«, sagte Fanny. »Ich will zeitig zu Bett gehen. Morgen habe ich eine sehr wichtige Verabredung.«

 

Sie dachte an die Verabredung mit Larry Holt, der sie mit sehr gemischten Gefühlen entgegensah.

 

Um halb acht zog sich Fanny aus und legte sich hin. Sie war todmüde und schlief beinahe im gleichen Augenblick, als ihr Kopf das Kissen berührte. Aber sie war übermüdet und träumte. Schreckliche Träume von drohenden Ungeheuern, von Männern, die sie mit langen, blitzenden Messern verfolgten – und sie warf sich ruhelos im Bett hin und her. Dann träumte sie, sie hätte einen Mord begangen, und der Tag der Hinrichtung war gekommen. Man schleppte sie aus ihrer Zelle, und langsam schritt sie an der Seite eines Priesters in einen kahlen Raum hinein. Und dann erschien der Henker, und er hatte das höhnische Gesicht Jakes des Blinden. Sie fühlte den Strick um ihren Hals und versuchte zu schreien, aber er zog sich enger und enger, würgte sie, erstickte sie. Sie wachte jäh auf.

 

Zwei Hände lagen um ihren Hals, und in dem ungewissen Lichtschein einer Straßenlaterne blickte sie entsetzt in die ausdruckslosen Augen des blinden Jake. Es war kein Traum – es war Wirklichkeit! Eins seiner Knie preßte sich auf ihren Leib, und er sprach leise in zischendem Flüstern, das nur für ihr Ohr bestimmt war:

 

»Fanny, du hast mich verraten! Du hast mich hinter eiserne Gardinen bringen wollen. Den armen blinden Jake! Ich weiß alles. Ein guter Freund bei Todd hat mir alles erzählt. Und jetzt bist du geliefert, Kleine!«

 

Sie kämpfte vergebens nach Atem, sie konnte keinen Schrei, kein Wort hervorbringen, sie fühlte, wie ihr Blut in den Schläfen hämmerte, wie die grausamen Hände sich immer mehr und mehr zusammenzogen. Plötzlich flammte das Licht auf. ›Der junge Mann aus Manchester‹, der das Zimmer gegenüber gemietet hatte, der geduldig die ganze Nacht hindurch auf die leisen Schritte Jakes des Blinden gewartet, weil er wußte, daß er kommen würde, um sich an der Verräterin zu rächen, ›der junge Mann aus Manchester‹ – Lary Holt, stand in der Tür, und sein langer Browning war auf den Würger gerichtet.

 

»Hände hoch, Jake«, sagte er, und Jake der Blinde drehte sich mit einem tiefen Knurren herum. Es klang wie das Fauchen eines gestellten Tigers.

 

Kapitel 15

 

15

 

Einen Augenblick standen beide Männer regungslos, dann streckte Jake langsam seine Hände in die Höhe.

 

»Sie haben wohl ein kleines Schießeisen?« grollte er. »Mr. Holt, Sie werden sich doch nicht an einem armen, alten Mann vergreifen?«

 

»Kommen Sie langsam vorwärts«, sagte Larry, »und machen Sie keine Dummheiten, oder es wird Ihnen leid tun.«

 

»Es tut mir jetzt schon leid genug«, brummte der Mann.

 

Es war wunderbar, ihn zu beobachten. Er bewegte sich so leicht wie ein junges Mädchen, und sein außerordentlich entwickelter sechster Sinn ermöglichte es ihm, jedes Hindernis in seinem Wege zu vermeiden.

 

Larry war in einer schwierigen Lage. Der Mann kam langsam auf ihn zu und brachte so die halb ohnmächtige Frau auf dem Bett in seine Schußrichtung. Er war fest entschlossen, zu schießen, falls der Mann Widerstand leisten sollte, aber jetzt war ihm dies unmöglich, auch nicht um sein eigenes Leben zu retten, ohne Fanny Weldon zu gefährden.

 

Der große, starke Mann kam langsam mit hochgehaltenen Händen vorwärts. Die eine kam in Berührung mit der elektrischen Hängelampe. Und plötzlich, bevor Larry sich Rechenschaft geben konnte, was vorging, schloß sich die eine Hand um die elektrische Birne, die unter dem Druck mit betäubendem Krachen zersprang, und das Zimmer lag in Dunkelheit. Jetzt zu schießen wäre Wahnsinn gewesen, und Larry spannte all seine Muskeln zusammen, um den Anprall des Körpers, der sich jetzt auf ihn stürzen würde, aufzufangen. Und dann war er in den Griffen des blinden Jake. Diana hatte nicht übertrieben, als sie von seiner riesigen Kraft sprach. Sie war erschreckend, unmenschlich, und Larry, doch selbst ein kräftiger Mann, fühlte seine Kräfte schwinden. Was das Resultat dieses Kampfes gewesen wäre, wagte Larry sich auch später kaum auszudenken. Hier aber kam eine Unterbrechung: der Klang einer sich öffnenden Tür auf dem oberen Treppenabsatz und die Stimme eines Mannes. Der blinde Jake hob den Detektiv in die Höhe wie ein Bündel Lumpen und schleuderte ihn in die Ecke des Zimmers, wo er keuchend und halb betäubt liegenblieb.

 

Einen Augenblick später wurde die Tür aufgerissen und Jake flog die Treppe in Windeseile hinunter, schneller als ein Mann im vollen Besitz seines Augenlichtes es je gewagt hätte.

 

Larry kam mühsam auf die Füße, nahm seine Taschenlampe auf und fand den Revolver, der ihm bei dem ungleichen Kampf entfallen war. Er stürzte zum Fenster und blickte hinaus. Aber Jake der Blinde war bereits um die Straßenecke verschwunden.

 

Jetzt brachte jemand eine andere Glühlampe, und Larry bemühte sich um die junge Frau. Sie war immer noch bewußtlos, und blutrote Flecken an ihrem Halse sprachen von der unerhörten Kraft des Blinden.

 

»Es ist besser, Sie holen einen Arzt«, sagte Larry zu der Wirtin, die ihn mit Mißtrauen betrachtete.

 

»Was hatten Sie hier in dem Zimmer zu suchen?« fragte sie. »Ich werde einen Schutzmann holen lassen.«

 

»Lassen Sie meinetwegen zwei holen«, war Larrys Antwort, »und vor allen Dingen einen Arzt.«

 

Glücklicherweise befand sich das Polizeibüro ganz in der Nähe. Der Polizeiarzt war wenige Minuten später zur Stelle.

 

»Wäre es nicht besser, Doktor, wenn wir sie in ein Hospital bringen ließen?« schlug Larry vor, und der Arzt pflichtete bei.

 

Mit dem Ausdruck höchster Verwunderung untersuchte er von neuem die Strangulationsmarken.

 

»Ein Mensch hat das nicht mit den Händen machen können«, sagte er, »er muß irgendeine Art Instrument gebraucht haben.«

 

Larry lachte – es war ein sehr wehleidiges Lachen.

 

»Wenn Sie das annehmen, Doktor, sehen Sie sich bitte auch mal meinen Hals an«, und er zeigte ihm die roten Striemen, die Jakes Daumen und Finger hinterlassen hatten.

 

»Wollen Sie mir vielleicht sagen, daß er Ihnen das zugefügt hat?« fragte der Doktor ungläubig.

 

»Ich möchte am liebsten so wenig wie möglich sagen«, entgegnete Larry. »Die ganze Geschichte ist kein Abenteuer, auf das ich hervorragend stolz bin. Er hat mich aufgehoben wie einen Tennisball und in die Porzellanausstellung am Fenster geworfen.«

 

Der Arzt stieß einen überraschten Pfiff aus. Mittlerweile hatte sich die Wirtin über Larrys bona fides beruhigt und floß gleichzeitig mit Entschuldigungen und Tränen über.

 

Larry ging auf die Straße hinunter, um frische Luft zu schöpfen. Er fühlte sich schwindlig und wie zerschlagen.

 

Eine halbe Stunde später war jedes Polizeibüro Londons in Besitz der Personalbeschreibung, und die allgemeine Jagd nach dem blinden Jake begann.

 

Um drei Uhr morgens betrat Larry seine Wohnung und fand Sunny friedlich schlafend in einem Stuhl. Er weckte seinen Diener mit einem leisen Klopfen auf die Schulter.

 

»Sunny«, sagte er, »was ich heute durchgemacht habe, genügt mir für mein ganzes Leben.«

 

»Das scheint mir auch so, Sir«, blinzelte Sunny. »Wünschen Sie etwas Kaffee?«

 

Larry war tief in Gedanken versunken.

 

»Er packte mich beim Genick, Sunny«, sagte er leise, »und warf mich quer durchs Zimmer.«

 

»Wirklich, Sir?« fragte Sunny. »Wann wünschen Sie morgen früh Ihren Tee?«

 

Müde und zerschlagen, wie Larry war – er konnte sich des Lachens nicht erwehren.

 

»Wenn man mich nun eines Tages mit gebrochenem Halse nach Hause bringen würde«, sagte er gereizt, »was würden Sie da eigentlich machen?«

 

»Ich würde sofort die Morgenzeitungen abbestellen«, sagte Sunny ohne jedes Zaudern. »Das wäre doch wohl das Nächstliegendste, Sir.«

 

Larry zuckte in ohnmächtiger Verzweiflung die Schultern, fuhr aus den Schuhen, zog Jacke und Weste aus, legte Krawatte und Kragen ab, warf sich auf das Bett und zog mit einem Ruck die Bettdecke über sich.

 

Kapitel 16

 

16

 

In St. George, Hannover Square, fand eine sehr elegante Hochzeit statt.

 

Unter den »gegenwärtig waren«, wie die Zeitungen zu schreiben pflegen, befand sich auch unser Freund Mr. Fred Grogan. Eingeladen war er zwar nicht, aber eine solche Kleinigkeit beunruhigte Fred nicht im geringsten. Er wußte ganz genau, daß bei einem ersten Zusammentreffen der Familien von Braut und Bräutigam, die sich gegenseitig mit ausgesprochener Zurückhaltung und Mißbilligung betrachteten, eine elegante Figur wie die seine jede Musterung bestehen und einen der besten Plätze in der Kirche erhalten würde. So erschien er denn in St. George mit glänzendem Zylinder, weißen Glaces und wunderbar gebügelten Beinkleidern. Als er den Chorgang entlang ging, hielt man ihn versehentlich für den Bräutigam.

 

Er war weniger aus dem Grunde gekommen, um sich Eingang in die gute Gesellschaft zu schaffen, sondern weil die letzte Mode den Damen das Tragen von kostbaren Juwelen auch in den Vormittagsstunden gelegentlich einer solchen feierlichen Handlung vorschrieb – und das interessierte Fred ganz besonders.

 

Die Feierlichkeit dauerte sehr lange und langweilte ihn bis zur Bewußtlosigkeit. Endlich war die Zeremonie beendigt, die Orgel ließ triumphierende Klänge hören, und Braut und Bräutigam, die sich außerordentlich über sich selbst zu schämen schienen, schritten feierlich den Mittelgang entlang. Fred schloß sich der Prozession an und erschien inmitten der Gerechten und Ungerechten auf den Stufen der Kirche.

 

Er war noch unschlüssig, ob es klug und ratsam wäre, sich an dem Empfange zu beteiligen – die Adresse, wo dieser stattfand, hatte er schon längst ausfindig gemacht – als jemand seinen Arm berührte. Fred fuhr herum.

 

»Hallo, Doktor Judd«, sagte er erleichtert. »Ich dachte, es wäre wieder der verfluchte Holt. Er ist mir ständig auf den Fersen und fällt mir direkt auf die Nerven.«

 

Doktor Judd, eine stattliche Figur in seiner zeremoniellen Kleidung, sah ihn streng an.

 

»Sie haben mir doch erzählt, Sie fahren nach Nizza?« sagte er.

 

»Ich habe den Zug verpaßt«, antwortete Fred geläufig, »und mein Freund mußte ohne mich abfahren. Ich gedenke noch ein paar Tage hierzubleiben, bevor ich abreise.«

 

Doktor Judd sagte nachdenklich:

 

»Kommen Sie ein paar Schritte mit. Ich möchte einiges mit Ihnen besprechen.«

 

Ohne ein weiteres Wort gingen beide über Hannover Square und bogen in die Bond Street ein.

 

»Sie fallen mir auch auf die Nerven, Mr. Grogan«, begann Doktor Judd. »Bis jetzt fand ich doch wenigstens eine gewisse Befriedigung in dem Gedanken, daß Sie auf dem Kontingent Hals und Kragen riskierten. Statt dessen sind Sie hier in London und leben herrlich und in Freuden.«

 

»Sie wußten also, daß ich noch hier war?« sagte Fred.

 

»Das habe ich gehört«, war Doktor Judds Entgegnung. »Hören Sie mal zu, Mr. Grogan. Halten Sie es nicht auch für besser, wenn wir beide zu irgendeiner Einigung kommen?«

 

Fred war ganz Ohr. »In welcher Weise denken Sie sich das?« fragte er vorsichtig.

 

»Nehmen wir mal an«, sagte Doktor Judd, »ich zahle Ihnen eine Pauschalsumme unter der Bedingung, daß Sie mich nicht weiter belästigen.«

 

Nichts konnte besser zu Freds Plänen passen.

 

»Einverstanden«, sagte er nach längerer, diplomatischer Pause. Doktor Judd sah ihn ernst an.

 

»Aber Sie müssen Ihr Wort halten. Ich habe nicht die Absicht, zwölftausend Pfund loszuwerden …«

 

»Zwölftausend Pfund«, sagte Fred schnell. »Warum nicht? Das ist eine hübsche, runde Summe.«

 

»Ich wiederhole aber nochmal«, sagte der Doktor, »ich habe nicht die geringste Absicht, eine derartige Summe zu zahlen, wenn ich nicht die absolute Sicherheit habe, von Ihnen nicht wieder belästigt zu werden. Wollen Sie morgen abend acht Uhr bei mir in Chelsea essen?«

 

Fred nickte zustimmend.

 

»Ich habe noch verschiedene andere Gäste«, sagte der Doktor, »und niemand kennt Sie, aber ich muß als eine persönliche Gunst von Ihnen erbitten, Ihr möglichstes zu tun, keine der Bekanntschaften, die Sie morgen machen werden, für zukünftige Pläne vorzumerken.«

 

»Glauben Sie denn nicht, daß ich viel zuviel Kavalier bin, um so was machen zu können?« fragte Fred in tugendhafter Entrüstung.

 

»Nein, das glaube ich, weiß Gott, nicht«, sagte der Doktor kurz und ließ ihn an der Ecke Bond Street stehen.

 

Zwölftausend Pfund! Das war ja ein wunderbares Übereinkommen. Fred, dessen Gelder bedenklich zur Neige gingen, wandelte wie auf Wolken, als er Old Bond Street in der Richtung Piccadilly hinunterschlenderte.

 

In dem Überschwang seiner Begeisterung, als seine Großzügigkeit nach Betätigung suchte, sah er auf der anderen Seite der Straße ein junges Mädchen. Ihr Gesicht war nicht zu vergessen. Schon einmal war er ihr begegnet. Er beschleunigte seine Schritte, kreuzte die Straße und ging hinter ihr her, aber nicht, ohne sich vorher ängstlich umgeblickt zu haben. Larry Holt war wirklich einmal nicht in Sicht.

 

An der Ecke von Piccadilly überholte er sie und lüftete lächelnd den Hut. Einen Augenblick war Diana unter dem Eindruck, diesen eleganten Herrn irgendwo kennengelernt zu haben und hatte schon halb ihre Hand erhoben, als er den Fehler beging, die abgedroschene Phrase zu äußern:

 

»Sind wir uns nicht irgendwo schon mal begegnet?« Sie zog ihre Hand zurück.

 

»Kleines Fräulein«, sagte Fred, »Sie sind das wunderbarste Wesen in der weiten Welt, und ich muß Sie unbedingt näher kennenlernen.«

 

»Dann müssen Sie mich besuchen«, sagte sie, und Fred wagte kaum, an sein gutes Glück zu glauben.

 

Sie öffnete die kleine Handtasche, nahm eine Karte heraus und kritzelte eine Nummer auf diese.

 

»Verbindlichsten Dank«, sagte Fred im Kavalierston, als er die Karte entgegennahm. »Ich werde Ihnen sofort meine Karte geben. Ja – und nun, wie denken Sie über ein kleines Diner –« Er hob die Karte und las: »Diana Ward – ein wundervoller Name. – Diana! – Zimmer 47«; und dann änderte sich sein Gesichtsausdruck. »Scotland Yard!« sagte er mit hohler Stimme.

 

»Ja«, sagte sie zuckersüß, »ich arbeite bei Mr. Larry Holt.«

 

Fred schien irgend etwas zu verschlucken.

 

»Wenn er nicht da ist, sind Sie hier, und wenn Sie nicht hier sind, ist er’s sicherlich«, sagte er wild. »Warum kann man denn einen Kavalier nicht mal in Ruhe lassen?«