Kapitel 7

 

7

 

Sekundenlang war sie vor Schrecken wie gelähmt, und erst als sie hörte, daß er quer durchs Zimmer ging, schrie sie auf.

 

Lizzys Bett krachte, gleich darauf stand sie neben Lois.

 

Lois war auch aus dem Bett gesprungen und drehte mit zitternden Fingern ihre Lampe an. Aber das Zimmer war leer.

 

»Es war jemand hier – ein Mann«, sagte sie entsetzt.

 

»Du hast geträumt«

 

»Ich habe nicht geträumt – höre doch!«

 

Die Tür wurde unten geschlossen. Lois eilte zum Fenster, zog die Jalousie hoch, lehnte sich hinaus und sah einen Mann schnell die Charlotte Street hinuntergehen.

 

»Dort ist er! Erkennst du ihn nicht? Es ist Dorn!«

 

Lizzy beugte sich aus dem Fenster, und als sie sich umwandte, sah Lois ihr erschrockenes Gesicht.

 

»Ich möchte nicht bestreiten, daß er es war.« Lizzy war vorsichtig. »Glaubst du, daß Dorn hier im Zimmer –«

 

Lois nickte. Dieser Schrecken, der zu all dem anderen kam, hatte sie völlig aus der Fassung gebracht.

 

»War er hier? In diesem Raum?« Lizzy war noch nicht überzeugt, aber ein Blick auf das Gesicht der Freundin sagte ihr, daß Lois sich nicht geirrt haben konnte.

 

Eilig lief sie in die Küche und holte ein Glas Wasser. Lois trank gierig.

 

»Der ist aber frech wie der Teufel.« Lizzy setzte sich in einen Stuhl und schaute Lois bestürzt an. »Was wollte er denn?«

 

»Ich weiß nicht – er stand vor dem Toilettentisch. Ich sah ihn nur einen kurzen Augenblick, dann ging diese dumme Lampe wieder aus.«

 

»Der ist aber frech!« sagte Lizzy noch einmal. »Alles hat doch seine Grenzen! Mitten in der Nacht in das Schlafzimmer einer jungen Dame einzubrechen, erscheint mir eines Gentlemans nicht würdig.«

 

Lois lächelte schwach.

 

»Hat er nichts gesagt?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Er ist davongelaufen wie ein Hase.«

 

»Erst schickt er dir mitten in der Nacht Schokolade –«

 

Lois‘ Blicke streiften den Toilettentisch. Sie sprang mit einem Schrei auf.

 

»Sie ist nicht mehr da!«

 

Lizzy machte ein langes Gesicht.

 

»Fort? Hattest du sie dorthin gelegt?«

 

»Ich stellte sie auf den Toilettentisch, um mich morgen früh daran zu erinnern – ich denke doch, daß es so war.«

 

Sie durchsuchten schnell die Küche und den Raum, aber sie konnten die Bonbonniere nicht finden.

 

»Vielleicht wußte er, daß du nicht gern süßes Zeug ißt, und wollte sie zurückholen.«

 

Aber Lois achtete nicht auf Lizzy.

 

»Ich weiß nicht – ich verstehe es nicht –«

 

In diesem Augenblick rief eine Stimme von unten herauf. Lizzy öffnete die Tür.

 

»Ist etwas passiert?« Es war der alte Mackenzie.

 

»Der Mann schlaft auch nie, er hätte eigentlich Nachtwächter werden sollen«, flüsterte Lizzy leise. »Nein, es ist alles in Ordnung, Mr. Mackenzie«, rief sie dann laut.

 

»Ich hörte, daß vor einigen Minuten jemand die Treppe hinunterging und das Haus verließ«, sagte der alte Mann. »Ich dachte, eine von Ihnen wäre krank.«

 

»Nein, Mr. Mackenzie, das war ich – ich sah nach, ob Miss Reddle die Haustür geschlossen hatte. Gute Nacht.«

 

Sie kam zurück und schaute nachdenklich auf die Uhr.

 

»›Um drei Uhr morgens‹ ist ein hübscher neuer Schlager – aber es ist nicht gerade die richtige Zeit für junge Leute, um in den Zimmern junger Damen herumzuschnüffeln. Was wirst du nun machen, Lois? Immerhin hast du nun das Porto für die Bonbonniere gespart. Ich glaube, eine Tasse Tee wäre ganz angebracht.«

 

Soweit Lizzy in Betracht kam, war jeder Augenblick und jede Gelegenheit recht, um Tee zu trinken. Sie eilte in die Küche und kam zehn Minuten später mit einer Kanne zurück, deren heißer Inhalt ihr und Lois sehr guttat. Ausnahmsweise hatte Lizzy auch genügend Teeblätter genommen.

 

»Es gibt zwei Wege«, begann Lois. »Erstens könnte ich die Polizei benachrichtigen, zweitens könnte ich persönlich Mr. Dorn aufsuchen und Aufklärung von ihm verlangen. Ich glaube, das zweite tue ich auch. Bitte, gib mir noch einmal seine Adresse.«

 

»Aber du wirst doch nicht jetzt gleich gehen!« sagte Lizzy erschrocken.

 

»Nein, ich gehe vor den Bürostunden zu ihm.«

 

»Da liegt er sicher noch im Bett – es ist ja möglich, daß du ihm die Schokolade wieder wegnehmen kannst, während er schläft«, meinte Lizzy scherzend.

 

+++

 

Die Hiles Mansions waren ein stattlicher Häuserblock mit vielen Wohnungen in der Nähe der Albert Hall, aber Mr. Dorns Wohnung war die unscheinbarste von allen. Sie lag im obersten Stockwerk und bestand nur aus zwei Räumen, einem Bad und einer kleinen Eingangshalle. Der Fahrstuhlführer war in Hemdsärmeln und putzte die Messingbeschläge, als Lois zu so früher Morgenstunde ankam. Er war nicht überrascht über ihr Verlangen.

 

»Er wohnt im obersten Stock, mein Fräulein. Wenn Sie in den Lift treten wollen – entschuldigen Sie bitte meine Hemdsärmel ich werde Sie nach oben fahren.«

 

Der Fahrstuhl hielt im sechsten Stock, und der Mann zeigte auf eine der drei einfachen Rosenholztüren, die auf demselben Flur lagen. Sie zögerte einen Augenblick, den Knopf zu drücken, aber dann nahm sie allen Mut zusammen und klingelte. Sie nahm an, daß sie lange warten müßte, denn wenn Mr. Dorn tatsächlich in der Nacht in ihrer Wohnung gewesen war, würde er jetzt sicher noch schlafen. Aber kaum hatte sie die Hand von dem Knopf zurückgezogen, da öffnete sich zu ihrem großen Erstaunen die Tür, und Michael Dorn stand vor ihr. Er schien schon einige Zeit auf zu sein, denn er war vollständig angekleidet und rasiert. Auch konnte man ihm nicht ansehen, daß er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte. »Das ist ein unerwartetes Vergnügen, Miss Reddle«, sagte er. »Kommen Sie bitte herein.«

 

Das Arbeitszimmer, in das er sie führte, war viel größer, als sie erwartet hatte; die durch die Dachneigung verursachte schiefe Decke gab ihm einen eigentümlichen, aber interessanten Charakter. Auf den ersten Blick sah sie, daß die Einrichtung aus alten, wertvollen Möbeln bestand. Der Schreibtisch, auf dem eine offene Zeitung lag, war zweifellos Boule-Arbeit. Das einzige moderne Stück in dem Raum war der tiefe Sessel vor dem Kamin. Radierungen hingen an den geschmackvoll getönten Wänden. In einer Nische stand ein Bücherschrank.

 

»Ich komme aus einem sehr ernsten Anlaß, Mr. Dorn.«

 

»Es tut mir leid, das zu hören«, antwortete er und schob den bequemen Sessel für sie zurecht.

 

»Ich möchte mich nicht setzen, danke schön. Gestern abend sandten Sie mir eine Bonbonniere mit Schokolade. Ich kann wohl verstehen, daß Sie das in guter Absicht taten, aber ich denke, ich hätte Ihnen klar genug gesagt, daß ich Ihre Bekanntschaft nicht wünsche. Ich danke Ihnen vielmals für alles, was Sie für mich getan haben«, fuhr sie zusammenhanglos fort, »aber –« Sie machte eine Pause.

 

»Aber?« wiederholte er.

 

»Sie haben sich mir gegenüber ganz abscheulich betragen!« Sie wurde rot. »Mir Schokolade zu schicken, war schon eine Unverschämtheit, aber in meine Wohnung einzudringen, war ein Verbrechen! Ich bin hierhergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich mich an die Polizei wenden werde, wenn Sie mich jetzt nicht in Ruhe lassen!«

 

Er lehnte am Tisch und spielte mit einem langen, spitzen Dolch, der offensichtlich als Brieföffner diente.

 

»Sie sagten eben, daß ich in Ihre Wohnung eingedrungen sei – wie kommen Sie darauf?«

 

»Ich habe Sie erkannt! Sie kamen, um die Bonbonniere wiederzuholen. Aber die Mühe hätten Sie sich sparen können – ich hätte sie Ihnen heute morgen sowieso zurückgeschickt.«

 

Zu ihrem Erstaunen leugnete er nicht, daß er in ihrem Zimmer gewesen war, er gab es sogar offen zu.

 

»Hätte ich das gewußt, dann wäre ich wahrhaftig nicht in der Nacht gekommen«, sagte er mit einer Ruhe, die sie vollständig fassungslos machte. »Mein Verhalten mag in Ihren Augen unentschuldbar sein, aber die Erklärung dafür ist sehr einfach. Bis Viertel nach eins wußte ich nämlich gar nicht, daß Sie die Schokolade erhalten hatten.«

 

Er ging quer durch das Zimmer, zog eine Schublade auf und nahm die Bonbonniere heraus.

 

»Das ist sie doch?«

 

Sie war über seine Kühnheit so verblüfft, daß sie nicht sprechen konnte. Er legte die Bonbonniere in den Schrank zurück.

 

»Ich habe Ihre Intelligenz unterschätzt, Miss Reddle. Leider habe ich allzu häufig in meinem Leben die Begabung der Frauen zu leicht genommen.«

 

»Ich kann Sie nicht verstehen«, sagte sie hilflos. »Ich wollte Ihnen doch nur sagen –«

 

»Sie wollten mir sagen, daß Sie die Polizei benachrichtigen würden, wenn sich so etwas wiederholt«, vollendete er. »Das wäre auch vollständig in Ordnung. Wann werden Sie Ihre neue Stellung antreten?«

 

»Am Montag.« Sie war über sich selbst verwundert, daß sie ihm das sagte. Aber dann erinnerte sie sich daran, daß der Zweck ihres Herkommens nicht darin bestand, ihm über ihr Tun und Lassen Auskunft zu geben, und sie ging zur Tür. »Sie leugnen also nicht, daß Sie in meiner Wohnung waren?«

 

»Nein – warum sollte ich das tun? Sie sahen mich doch. Durch den Lichtschein meiner Lampe weckte ich sie auf. Das tut mir sehr leid; wenn ich nicht diesen dummen Fehler gemacht hätte, würden Sie es gar nicht gemerkt haben.«

 

Sie starrte ihn entsetzt an.

 

»Sie geben zu, daß Sie bei mir waren?« fragte sie ihn, und ihr Erstaunen wuchs, als sie sich plötzlich darüber klar wurde, wie groß eigentlich sein Vergehen war. »Wie konnten Sie das tun, Mr. Dorn?«

 

»Es ist viel leichter für mich, einen Fehler zuzugeben, als ihn durch Lügen zu beschönigen«, sagte er kühl. »Selbst Sie werden mir wegen meiner Offenheit Glauben schenken müssen.«

 

Er begleitete sie zur Treppe und klingelte nach dem Fahrstuhl.

 

»Sie müssen Ihre Tür zuschließen, Miss Reddle«, sagte er, »ganz gleich, wo Sie sind. Selbst in dem Palais der Gräfin von Moron – Sie müssen Ihre Tür immer verschlossen halten.«

 

Er schaute den Fahrstuhlschacht hinunter und sah, daß der Lift nicht nach oben kam. Der Mann, der ihn bediente, hatte das Gebäude verlassen und sein Klingelzeichen nicht gehört.

 

»Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich Ihrer Mutter nicht schreiben. Sie würden falsche Hoffnungen erwecken – sie ist jetzt ruhig und ausgeglichen. Der Gedanke, daß Sie leben und alles wissen, könnte den schwachen Lebensfaden zerreißen, der sie all die Jahre aufrechterhalten hat.«

 

»Woher wissen Sie das?« fragte sie atemlos und schaute ihn entsetzt an.

 

Man hörte das leise Geräusch des sich nähernden Fahrstuhls.

 

»Ich würde an Ihrer Stelle wirklich nicht schreiben«, sagte er mit einem Lächeln und geleitete dann das verstörte Mädchen in die Kabine. Er wartete, bis er unten das Aufschließen der Lifttür hörte, ging dann langsam in seine Wohnung zurück, schloß die Tür hinter sich und ließ sich in dem Sessel vor seinem Schreibtisch nieder. Aber er las die Zeitung nicht weiter.

 

Eine halbe Stunde lang saß er, das Kinn in die Hand vergraben. Dann erhob er sich und öffnete die Tür zu dem zweiten Zimmer. Ein hagerer, kleiner Mann mit dunklem, melancholischem Gesicht saß geduldig auf einem Stuhl, seitdem die Klingel die Ankunft der jungen Dame gemeldet hatte. Auf einen Wink Dorns kam er in das Arbeitszimmer.

 

+++

 

»Spüren Sie Chesney Praye auf und suchen Sie herauszubekommen, was er letzte Nacht tat und wohin er ging. Er hat wahrscheinlich Bakkarat im Limbo-Klub gespielt. Wenn das stimmt, erkunden Sie, wieviel er verloren hat. Das wäre alles für heute.«

 

Ohne ein Wort zu erwidern, verschwand der kleine Mann durch die Tür. Dorn rief ihn noch einmal zurück.

 

»Gehen Sie auch nach Scotland Yard und versuchen Sie den Eigentümer eines blauen Buick Dr. XC 2997 festzustellen. Ich weiß schon, wer es ist, aber ich möchte die Sache bestätigt haben.«

 

Als sich die Tür hinter seinem Angestellten geschlossen hatte, nahm Mike Dorn mehrere Bogen Papier aus einem Fach seines Schreibtisches und schrieb eine halbe Stunde lang eifrig. Als er den Brief beendet hatte, frankierte er ihn und bat den Liftführer, ihn zur Post zu tragen. Dann kehrte er in seine Wohnung zurück, nahm Kragen und Krawatte ab und legte sich nieder, um zu schlafen. Und er brauchte wirklich Schlaf, denn er hatte die letzten sechsunddreißig Stunden kein Auge geschlossen.

 

Kapitel 34

 

34

 

Sie sah ihn entsetzt an.

 

»Daß ich Sie heirate?«

 

»Daß Sie mich morgen heiraten! Ich habe schon alle Vorbereitungen getroffen und mir einen besonderen Erlaubnisschein erwirkt, damit ich morgen früh heiraten kann. Ich hatte große Schwierigkeiten deshalb, aber hier ist er.« Er zeigte auf seine Brusttasche. »Bevor ich London verließ, telegrafierte ich dem Pfarrer von Leitworth – das Dorf liegt ungefähr dreißig Meilen von hier entfernt – und bat ihn, die Zeremonie morgen früh um zehn Uhr zu vollziehen.«

 

Sein Gesicht war bleich geworden, offenbar kämpfte er mit einer starken Erregung. Dann sprach er leise weiter.

 

»Ich will Sie zu einer reichen Frau machen, Miss Reddle. Sie und Ihre Mutter sollen im Überfluß leben. Ich werde Ihnen eine Stellung in der Welt geben, von der Sie sich niemals haben träumen lassen. Ich will noch mehr tun –« Er trat näher zu ihr, und bevor sie wußte, was er beabsichtigte, ergriff er sie an den Schultern. »Ich werde den Namen Ihrer Mutter reinwaschen – ich kann ihr die Jahre zurückgeben, die sie im Gefängnis verbringen mußte.«

 

»Nein«, sagte sie. »Es tut mir leid, das kann ich nicht. Es mag ja alles richtig sein, was Sie mir da sagen, aber ich kann Sie nicht heiraten, Mr. Praye. Und ich glaube Ihnen nicht. Meine Mutter ist im Gefängnis.«

 

»Ihre Mutter ist in diesem Haus.«

 

Er ging zur Tür, riß sie auf und rief Tappatt.

 

»Bring Mrs. Pinder hierher«, sagte er.

 

Lois stand in der äußersten Ecke des Zimmers, hatte die Hände gefaltet und wartete. Sie hoffte und wagte doch nicht zu hoffen. Dann hörte sie einen leichten Schritt auf der Treppe, die Tür öffnete sich wieder, und eine Frau trat herein.

 

Ein Blick auf ihr gelassenes Gesicht genügte Lois. Im nächsten Augenblick umarmten sie einander, und Lois weinte an der Brust ihrer Mutter.

 

Minutenlang herrschte Schweigen im Raum, und es waren nur die Kosenamen zu hören, die die Mutter ihrer Tochter gab. Dann löste sie sich von ihr, legte ihr die Hände auf die Schultern und sah in das tränenüberströmte Gesicht ihres Kindes.

 

»Meine kleine Lois«, sagte sie sanft. »Es scheint mir fast unmöglich!«

 

Lois versuchte zu sprechen.

 

»Bist du gekommen, um mich zu befreien – mich von hier fortzuholen?«

 

Chesney sah das Mädchen gespannt an. Sie nickte, und seine Hoffnung wuchs, als er sich jetzt Mrs. Pinder selbst vorstellte.

 

»Mein Name ist Chesney Praye«, sagte er ehrerbietig. »Ein Freund von Miss Reddle.«

 

»Reddle? Dann gab dir also Mrs. Reddle ihren Namen!« Sie schaute Chesney an. »Wann werden wir aufbrechen?« fragte sie.

 

»Sobald gewisse Bedingungen erfüllt sind. Würden Sie uns allein lassen, Mrs. Pinder?«

 

Die Frau schaute das Mädchen wieder an, schloß sie in ihre Arme und küßte sie zärtlich. Chesney riß sie in seiner Angst beinahe auseinander, drängte sie zur Tür und kam zu Lois zurück.

 

»Nun? Habe ich Ihnen die Wahrheit gesagt?«

 

Sie nickte.

 

»Wollen Sie meine Bedingungen erfüllen?«

 

»Sie heiraten?« Sie schüttelte den Kopf.

 

»Aber Sie haben Ihrer Mutter doch eben mitgeteilt, daß Sie es tun«, sagte er wütend. »Sie wissen doch, was es heißt, wenn Sie mein Anerbieten zurückstoßen?«

 

»Das kann ich nicht! Wie kann ich Sie heiraten, Mr. Praye? Sie sind mit der Gräfin von Moron verlobt.«

 

»Lassen Sie die Gräfin jetzt aus dem Spiel! Sie wissen, was ich für Sie zu tun bereit bin. Ich rette Ihr Leben, ich gebe ihnen Ihre Mutter wieder –«

 

»Ich kann es nicht!« wiederholte sie hilflos. »Wie können Sie mich zu einer solchen Entscheidung treiben! Ich – ich kenne Sie doch gar nicht. Sie müssen mir Zeit lassen.«

 

»Ich kann Ihnen nur so viel Zeit lassen, wie Sie dazu brauchen, dieses Schriftstück zu unterzeichnen.«

 

Er zog einen Aktenbogen aus seiner Tasche und legte ihn auf den Tisch.

 

»Was ist das?« fragte sie.

 

»Ein Vertrag. Sie brauchen sich nicht die Mühe zu machen, ihn zu lesen – Sie haben nur zu unterzeichnen. Ich will den Doktor hereinrufen, daß er seine Unterschrift als Zeuge gibt.«

 

»Aber was bedeutet denn dieses Dokument?« fragte sie und versuchte es umzudrehen, so daß sie die erste Seite sehen konnte. Jedoch er hinderte sie daran.

 

Das Zusammentreffen mit ihrer Mutter hatte sie sehr erschüttert, aber nun kam allmählich ihre kühle Besinnung zurück, und ihre Haltung wurde eisig und ablehnend. Ein böser Argwohn schlich sich in ihr Herz, und sie glaubte nicht, daß er auch die Macht habe, seine Versprechungen zu erfüllen: Ihr Gefühl sagte ihr, daß das Wort dieses Mannes wertlos sei.

 

»Ich kann mich nicht entscheiden, bevor ich nicht Mr. Dorn gesehen habe.«

 

Sie wußte selbst nicht, warum sie den Namen des Detektivs in diesem Augenblick erwähnte. Sie wollte Zeit gewinnen und nahm den ersten Namen, der ihr ins Gedächtnis kam. Sie hätte sich ebensogut auf Mr. Shaddles berufen können.

 

»Dorn! Da liegt also der Hase im Pfeffer? Wie? Michael Dorn ist der Auserwählte? Nun, ganz gleich, Dorn oder nicht Dorn, Sie werden mich morgen früh um zehn Uhr heiraten – ich bin zu weit gegangen, um noch zurück zu können. Außerdem ist Dorn – tot.«

 

»Tot?« schrie sie entsetzt auf.

 

»Er kam heute morgen hierher, um nach Ihnen zu sehen, und –«

 

Die Tür öffnete sich langsam.

 

»Ich brauche dich jetzt nicht, Tappatt, mach die Tür zu!«

 

Aber sie öffnete sich allmählich immer weiter, und dann erschien langsam die schwarze Mündung einer Pistole, dann ein Arm und zuletzt das lächelnde Gesicht Michael Dorns. »Hände hoch, Praye!« rief er. »Ich will Sie mitnehmen!«

 

Als sich die Tür öffnete und die Hand sich hereinstreckte, griff Chesney blitzschnell nach einem Ebenholzlineal, und als er in das ihm so verhaßte Gesicht Michael Dorns sah, schlug er mit einem Hieb die Petroleumlampe vom Tisch. Man hörte ein Splittern von Glas. Lois schrie wild auf.

 

Praye stürzte auf sie los. Sie hörte, wie die Tür zugeschlagen wurde und wie jemand stöhnte. In der nächsten Sekunde waren die beiden Männer handgemein. Sie wich weiter und weiter in die Ecke des Raumes zurück, je mehr die Tische und Stühle in den Kampf hineingezogen wurden. Chesney brüllte und rief laut nach dem Doktor. »Doktor – Hilfe! Faß dieses Schwein!«

 

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Lois hörte forteilende Schritte. Chesney schien sich entfernt zu haben.

 

»Bleiben Sie stehen, wo Sie sind!« Das Zimmer roch nach Petroleum. »Stecken Sie kein Streichholz an«, rief Michael, aber kaum hatte er die Worte ausgesprochen, als schon eine helle Flamme aus dem Kamin herausfuhr. Das aus der Petroleumlampe ausgelaufene Öl war mit der rotglühenden Asche in Berührung gekommen, und im nächsten Augenblick stand der ganze Fußboden in Flammen.

 

Lois war starr vor Schrecken, aber bevor sie sich rühren konnte, hatte Dorn sie gepackt und trug sie auf den Gang.

 

»Gehen Sie schnell nach hinten – die Hunde tun Ihnen nichts«, sagte er. Dann eilte er die Treppe hinauf und drang in das Gefängnis von Mrs Pinder ein.

 

Aber der Raum war leer, und es war weder etwas von Tappatt noch von der Frau zu entdecken. Er eilte wieder hinunter in die Halle und lief zur Haustür. Als er ins Freie trat, sah er, wie Chesneys großer Wagen eben in voller Fahrt gegen das geschlossene Tor anrannte. Krachend sprang es auf, und die Schlußlichter des Wagens verschwanden.

 

Der vordere Raum brannte jetzt lichterloh. Er durchsuchte das Zimmer der Haushälterin, aber es war auch leer. Es hatte keinen Zweck, noch weiter nachzuforschen. Dr. Tappatt war fort und mit ihm auch die unglückliche Mutter von Lois. Er ging wieder zu dem Mädchen, und sie erzählte ihm, was sich ereignet hatte, bevor er in das Zimmer kam.

 

»Das war also Chesneys Absicht«, sagte Dorn bitter. »Tappatt hat sicher an der Tür gehorcht und dachte, daß man ihn im Stich lassen wollte – da entschied er sich dafür, zu fliehen. Als Praye Ihre Mutter aus dem Zimmer schickte, muß sie der Doktor in den Wagen gebracht haben, und als er den Kampf hörte, machte er sich zur Abfahrt fertig.«

 

»Wo wird er sie hinbringen? Was wird geschehen?« fragte sie angsterfüllt. Sie hängte sich wie ein erschrockenes Kind an ihn.

 

Als er die bebende Gestalt in seinen Atmen hielt, dachte er nicht mehr an die Welt und ihre traurigen Schrecken und lebte für einen Augenblick in einem Himmel von Glück.

 

»Liebes Kind!« Seine Hände zitterten, als er ihre Wange streichelte. »Ihre Mutter ist nicht in Gefahr – sie wagen es nicht, etwas gegen sie zu unternehmen.«

 

»Es war zuviel für mich«, sagte sie schluchzend, während sie ihr Gesicht an seine Brust legte. »Michael, ich fürchte mich so sehr was wird mit meiner Mutter geschehen?«

 

»Nichts – niemand wird ihr etwas tun.«

 

Das Feuer hatte sich ausgebreitet, und Flammen schlugen aus dem Dach.

 

»Es wird wie Zunder brennen – es tut mir leid.«

 

»Es tut Ihnen leid?« fragte sie überrascht.

 

»Ich bin traurig, daß Eigentum zerstört wird – ich werde den Buickwagen aus dem Schuppen holen, bevor das Feuer auch dorthin kommt.«

 

Sie gingen quer über den Hof. Er führte sie an seinem Arm.

 

Als sie niederschaute, sah sie einen der Hunde ausgestreckt auf dem Boden liegen.

 

»Ich mußte sie erschießen«, sagte er. »Ich benützte einen Schalldämpfer, weil es der Doktor sonst gehört hätte.«

 

»Man sagte mir, daß Sie tot seien –«

 

»Ich werde Ihnen später alles erklären«, antwortete er kurz und widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Aufbrechen des Schlosses. Gleich darauf holte er den Wagen heraus und prüfte den Inhalt des Benzintanks.

 

»Es ist noch genug Brennstoff vorhanden, um damit zum nächsten Dorf zu kommen«, sagte er. »Der Reservetank ist auch noch gefüllt.«

 

Er fuhr den Wagen vor das Haus und warf noch einen Blick auf die wütenden Flammen, als schon der erste Polizist auf einem Motorrad aus der Richtung von Whitcomb ankam.

 

»Es ist außer mir niemand verletzt«, beantwortete Michael seine Frage. »Und bei mir handelt es sich darum, ob ich einen Antrag auf Verfolgung stelle. Haben Sie nicht ein Auto auf Ihrem Weg hierher gesehen?«

 

»Ja – es fuhren zwei Wagen an mir vorbei. Zuerst ein großes Auto mit drei oder vier Leuten und gleich darauf ein kleiner Wagen.«

 

»Welche Richtung nahmen sie?«

 

»Sie fuhren die Newbury Street entlang.«

 

»Dann werden wir das gleiche tun«, sagte Michael.

 

Und auf der Rückfahrt nach London erzählte er Lois sein Abenteuer.

 

»Ich war mir darüber klar, daß er Sie über Nacht aus dem Haus bringen würde, aber ich wußte auch, daß es nicht weit sein konnte. Leider war es mir unmöglich, alle Seiten des Hauses zu bewachen, und außerdem konnte ich zu Fuß nicht zeitig genug zurückkommen, um ihn zu ertappen. Wie ich erwartet hatte, war das Haus leer, als ich es durchsuchte. Ich überlegte mir nun einen verhältnismäßig einfachen Plan. Als er mir den Kellerraum zeigte, legte ich eine Pistole und einen kleinen Beutel mit allerhand Werkzeugen in das Bett, denn ich vermutete schon, daß er mich dort einsperren wollte, wenn es ihm gelingen würde, mich zu fangen. Offen gestanden glaube ich nicht, daß er schon daran dachte, mich zu betäuben, bis ich es ihm selbst suggerierte. Und dann tat er es in der gröbsten Weise. Er gab vor, draußen jemand zu hören, um meine Aufmerksamkeit abzulenken, und ich ließ mich natürlich auch ablenken. Als er dann das Betäubungsmittel in den Kaffee geschüttet hatte, führte ich ihn hinters Licht. Ich fand einen Vorwand, auf den Hof hinauszugehen, und goß den Kaffee dort aus. Als ich zurückkam, blieb ich in der Tür stehen und tat so, als ob ich den Kaffee austränke. Er ließ sich auch tatsächlich täuschen. Ich stand, und er saß, und so konnte er nicht sehen, ob meine Tasse gefüllt war oder nicht. Er war so befriedigt, daß er genauso handelte, wie ich es vorausgesehen hatte. Er lockte mich in den Kellerraum, und ich ließ mich hineinführen. Ich ahnte, daß er Sie in dem Augenblick zurückbringen würde, in dem er mich hinter Schloß und Riegel wußte. Ich versteckte meine Pistole und meine Werkzeuge, und als er später zu mir kam, fand er mich bewußtlos. Er machte sich nicht die Mühe, den Raum noch einmal zu untersuchen, und wenn er es noch einmal getan hätte, würde er sehr wahrscheinlich sehr erschrocken gewesen sein, wenn er von der hilflosen Gestalt auf dem Bett einen unvorhergesehenen Schlag erhalten hätte!«

 

»Aber wie sind Sie denn herausgekommen?«

 

»Das war leicht – fast jeder Schlüssel hätte das altmodische Schloß geöffnet, und ich hatte einen ganzen Bund Dietriche bei mir. Ich wartete den ganzen Tag, weil ich sicher war, daß er Sie nicht vor Einbruch der Nacht zurückbringen würde. Die Handschellen waren das Schwierigste, denn ich hatte keinen Schlüssel, um sie aufzuschließen. Zwei Stunden mußte ich schwer arbeiten, und einer meiner Daumen ist fast ausgerenkt.«

 

Sie hielten bei der Tankstelle und ließen ihre Benzinbehälter auffüllen. Lois blieb im Wagen sitzen und hörte, wie Michael von der kleinen Station aus telefonierte. Dann setzten sie ihren Weg nach London fort.

 

»Ich weiß jemand, der heute abend sehr glücklich sein wird«, sagte Michael, als der Wagen durch die Bayswater Road fuhr. »Ich bin neugierig, wie sie den Tag verbracht hat.«

 

»Wen meinen Sie denn?« fragte Lois.

 

»Miss Elizabeth Smith.«

 

»Mr. Dorn, glauben Sie wirklich, daß keine Gefahr für meine Mutter besteht?« Sie mußte immer wieder daran denken.

 

Der Wagen hielt vor dem Haus in der Charlotte Street, und Mr. Mackenzie meldete sich auf das Klopfen an der Haustür.

 

»Ist Miss Smith bei Ihnen?« fragte der alte Mann, nachdem er Lois bewillkommnet hatte.

 

»Lizzy?« fragte Lois überrascht. »Sie ist nicht bei uns – ich habe sie nicht gesehen. Warum fragen Sie?«

 

»Sie ist mit Seiner Lordschaft nach Gallows Farm gefahren.«

 

»Meinen Sie Lord Moron?« fragte Michael überrascht.

 

»Sie fuhren um acht Uhr zusammen in einem Taxi fort.«

 

Michael und Lois standen in Mackenzies Zimmer, als er ihnen diese Informationen gab, und sie sahen sich erstaunt an. Das war eine unvorgesehene Entwicklung.

 

»Ich habe keinen Wagen gesehen, weder ein Taxi noch sonst etwas«, sagte Michael. »Graf Moron!« Er pfiff leise vor sich hin.

 

»Vielleicht haben sie sich verirrt«, meinte Lois, und er war nicht abgeneigt, sich ihrer Vermutung anzuschließen.

 

»Wenn Sie nichts dagegen haben, Miss Reddle, möchte ich hier warten, bis sie zurückkommen«, sagte er. »Sie haben doch nicht die Absicht, die Gräfin Moron anzurufen?« fragte er dann.

 

Lois schauderte. »Nein, nein – diese schreckliche Frau!«

 

»So wissen Sie – oder vermuten Sie –«

 

»Ich weiß nichts – mir ist alles noch ein Rätsel. Es ist so widerspruchsvoll und irreführend, daß ich verrückt werden könnte. Aber ich bin so dankbar, daß ich nun hier bin.« Sie lächelte und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich wußte, daß Sie mir helfen würden. Und ebenso weiß ich, daß Sie es sein werden, der mir meine Mutter wiederbringt.«

 

Er nahm ihre Hand und hielt sie fest und suchte ihre Augen.

 

»Ich möchte Ihnen etwas gestehen«, sagte er leise. Sie waren allein in dem kleinen Zimmer, und das Herz des Mädchens schlug heftig. »Ich dürfte eigentlich nichts sagen, weil ich nicht das Recht dazu habe, aber ich fühle, daß ich keine Gelegenheit mehr haben werde, es Ihnen zu sagen, wenn ich es jetzt nicht tue.«

 

Sie sah ihm voll in die Augen.

 

»Ich liebe Sie«, sagte er schlicht. »Ich kann Sie nicht heiraten, kann Sie nicht bitten, mich zu heiraten – dies macht meinen Schmerz nur um so größer. Aber ich möchte Ihnen nur sagen, daß es das größte Glück für mich ist, etwas für Sie getan zu haben.«

 

»Ich werde Ihnen immer dankbar sein.«

 

Dann nahm sie ihre Hand aus der seinen und lächelte ihn an.

 

»Zwei Liebeserklärungen in einer Nacht sind mehr, als ein vernünftiges Mädchen erwarten kann«, sagte er halb scherzend.

 

»Eine Liebeserklärung«, entgegnete sie leise, »und ein Heiratsantrag – das ist ein großer Unterschied. Meinen Sie nicht?«

 

»Ich bin keine Autorität in diesen Dingen«, sagte er und schaute auf die tickende Uhr. Dabei kam ihm zu Bewußtsein, wie spät es war.

 

»Ich bin beunruhigt wegen der beiden. Wo mögen sie wohl geblieben sein? Fürchten Sie sich davor, hier allein zu schlafen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Aber ich mache mir Sorgen über Lizzy – und den armen Lord Moron! Ich möchte nur wissen, was seine Mutter dazu sagt, wenn sie das erfährt!«

 

»Wahrscheinlich weiß sie es«, sagte Michael.

 

In diesem Augenblick hörten sie Lizzys Stimme unten auf dem Gang und gleich darauf Schritte auf der Treppe.

 

Lois lief auf den Vorplatz hinaus und schaute hinunter.

 

»Michael!« rief sie erregt. Er war sofort an ihrer Seite. »Sehen Sie – dort –«, sagte sie mit heiserer Stimme. Michael Dorn schaute hinunter –

 

Kapitel 35

 

35

 

Als das Tor so heftig aufgestoßen wurde und das Auto auf die Straße hinausfuhr, zog Lizzy den jungen Grafen in den Schatten der Mauer zurück. Im nächsten Augenblick lief ein Mann durch das offene Tor und sprang auf den fahrenden Wagen. Das Auto verlangsamte seine Fahrt

 

»Er ist drin«, flüsterte Lizzy. »Schnell auf den Gepäckträger!«

 

Sie lief schon hinter dem Wagen her, griff in die vorstehenden Eisenschienen und sprang hinauf. Der Wagen begann eben wieder schneller zu fahren, als auch Selwyn vorwärtstaumelte. Er erfaßte mit einer Hand den Rand des Gepäckträgers, hielt sich fest, und seine Beine bewegten sich schneller, als sie sich je bewegt hatten. Lizzy beugte sich vor, packte ihn fest bei der Hand und zog ihn an ihre Seite. Sie war völlig erschöpft.

 

»Festhalten!« zischte sie ihm ins Ohr. Diese Vorsicht war auch in höchstem Maße geboten, denn der Wagen stieß und polterte von einer Seite zur anderen, als er auf der unebenen Straße dahinraste.

 

»Tausend Meilen die Stunde!« rief sie ihm in ihrer naiven Art ins Ohr.

 

Jetzt bogen sie in die Chaussee ein. Der Wagen lief nun ruhiger, aber immer schneller. Lizzy hielt sich fest, so gut sie konnte, und ergab sich widerstandslos in ihr Schicksal. Einmal schaute sich ein Motorradfahrer um, der ihnen begegnete. Sie konnte gerade noch etwas von seiner Uniform sehen – es war ein Polizist. Aber bis sie sich darüber klar wurde, war er längst außer Sicht.

 

Selwyn wollte ihr etwas ins Ohr flüstern. Er hatte sich wieder von dem Schrecken erholt und fühlte sich Lizzy gegenüber zu Dank verpflichtet.

 

»Was soll denn nun aber aus unserem Wagen werden? Wir haben ihn doch stundenweise gemietet«, sagte er heiser.

 

»Shaddles zahlt alles«, erwiderte sie vergnügt.

 

Etwas später hielt das Auto an, und die beiden blinden Passagiere machten sich bereit, abzuspringen. Lizzy lugte heimlich um die Rückwand des Wagens herum und stellte die Ursache des Aufenthaltes fest. Sie waren vor einem kleinen Häuschen angekommen. Jemand stieg aus dem Wagen und ging zur Tür. Sie wußte, daß es eine Tankstelle war, in der sich auch ein Telefon befand. Sie hörte eine murmelnde Stimme. Dann kam der Mann, der telefoniert hatte, wieder heraus.

 

»Alles in Ordnung«, sagte er, stieg wieder ein, und der Wagen setzte sich aufs neue in Bewegung.

 

Sie waren keine zwanzig Meilen weitergefahren, als das Auto zu ihrem Erstaunen seine Geschwindigkeit wieder verlangsamte. Sie fuhren durch ein altes Tor, das vor ihnen geöffnet wurde. Lizzy fühlte die Erregung Selwyns, als er sich zu ihr beugte.

 

»Altes Familiengut!« flüsterte er. »Landsitz und all so was. Hab’s gleich erkannt, als ich die Tore sah.«

 

»Wessen Landsitz?« fragte sie vorsichtig.

 

»Meiner«, war die überraschende Antwort. »Der meiner Mutter natürlich«, fügte er dann hinzu. »Schreckliches Haus! Hab’s niemals gemocht. Moron Court, Newbury – ein verrückter Ort.«

 

Sie kamen durch eine lange Ulmenallee, und der Wagen fuhr langsamer und langsamer. Selwyn klopfte Lizzy auf die Schulter und sprang ab.

 

Da sie einsah, daß er recht hatte, folgte sie seinem Beispiel, und sie verbargen sich gerade noch rechtzeitig im Schatten eines Baumes, denn der Wagen hielt gleich darauf an, und sie hörten die Stimme der Gräfin Moron. Selwyn überlief es kalt, als er sie hörte.

 

»Fahren Sie zum Westeingang – dort ist niemand. Was haben Sie denn in Somerset zu tun gehabt, Chesney?«

 

»Ich werde Ihnen später alles erklären«, sagte er kurz.

 

Der Wagen fuhr langsam weiter, und die beiden sahen aus ihrem Versteck, wie die Gräfin ihm langsam nachging.

 

Woher wußte sie, daß das Auto kam? Aber plötzlich erinnerte sich Lizzy an das Telefonhäuschen, bei dem sie gehalten hatten.

 

»Ein merkwürdiger alter Stall«, flüsterte ihr Moron zu. »Sehen Sie dort die Erhebung im Dach? Das ist die Alarmglocke – vom Musikzimmer aus kann sie in Bewegung gesetzt werden, wenn etwas passiert.«

 

Sie warteten, bis die Gräfin Moron außer Sicht war, und folgten ihr vorsichtig. Vor dem Westeingang lag eine glasgedeckte Vorhalle. Die Tür wurde eben geschlossen, als sie ankamen, aber Moron lächelte Lizzy selbstzufrieden an und nahm etwas aus seiner Tasche. »Hausschlüssel«, flüsterte er ihr so laut zu, daß jeder in der Nähe es hätte hören müssen.

 

Er schloß vorsichtig auf und gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen. Ein langer Korridor, der mit dicken roten Teppichen belegt war, dehnte sich vor ihnen aus. Es brannte nur am Ende des Ganges ein Deckenlicht.

 

Sie schlichen sich mit größter Vorsicht den Gang entlang. Plötzlich stand Selwyn still und hob warnend den Finger. Erzeigte energisch auf eine Tür und winkte ihr, dahinterzutreten. Etwas weiter entfernt lag eine breite Marmortreppe. Er stieg mit Lizzy hinauf.

 

Sie sahen schreckenerregend aus. Von Kopf bis Fuß waren sie mit einer Schicht von weißgrauem Kalk bedeckt.

 

Am Ende der Treppe begann ein anderer Gang, der genauso wenig beleuchtet war wie der untere. »Hier ist die Galerie des Musikzimmers.« Er zeigte auf eine schmale Tür. »Machen Sie, bitte, keinen Lärm.«

 

Die Tür selbst lag im Schatten eines breiten Balkons. Unten im Saal brannten die Lichter, und sie hörten Stimmen, als sie eintraten. Sie hielten sich dicht an der Mauer und gingen vorwärts, bis es gefährlich wurde, weiter vorzutreten. Dann hätte Selwyn beinahe Veranlassung gegeben, daß sie entdeckt worden wären. Er wandte sich um.

 

»Sie ist nicht hier – ich meine Miss Reddle. Es ist eine ältere Frau mit weißem Haar.«

 

»Also Sie haben Ihre Tochter gesehen, Mrs. Pinder?« tönte es herauf.

 

»Ja, ich habe Lois gesehen.«

 

Lois! Lizzy hielt sich mit der Hand den Mund zu. Lois Reddles Mutter! Ihr Name war also Pinder.

 

»Ein sehr hübsches Mädchen!« sagte Lady Moron sanft.

 

»Ein liebes, süßes Mädchen! Ich bin sehr stolz, was mir auch immer geschehen sollte.«

 

»Was sollte Ihnen denn zustoßen?«

 

»Ich weiß es nicht – aber ich bin auf alles gefaßt.«

 

Lizzy schaute ihren Begleiter an, der in den großen Saal hinunterstarrte.

 

»Sie ist ein zu anmutiges Kind, als daß Sie es verlieren möchten, Mrs. Pinder, ich machen Ihnen ein Angebot. Gehen Sie mit Ihrer Tochter nach Südamerika – ich werde Ihnen eine jährliche Summe zahlen, viel mehr, als Sie zum Leben brauchen. Wenn sie hiermit einverstanden sind, werden Sie nie mehr belästigt werden.«

 

Mary Pinder lächelte und schüttelte den Kopf. »Ihr Angebot kommt zu spät. Hätten Sie es mir gemacht, als ich noch im Gefängnis saß, und hätten Sie sich bemüht, mich von dieser grausamen Strafe zu befreien, so wäre ich vor Ihnen niedergekniet und hätte Ihnen gedankt und Sie gesegnet, aber jetzt weiß ich zuviel.«

 

»Was wissen Sie?« fragte Gräfin Moron.

 

Mrs. Pinder begann zu sprechen, und während sie erzählte, ergriff Lizzy die Hand des jungen Mannes, der neben ihr stand, und lehnte ihr Gesicht an seinen Arm. Er drehte sich einmal mit verklärtem Gesicht zu ihr um und lächelte sie an, als ob er aus ihrer Haltung alles schließen könnte, was ihr Herz bewegte. Niemand unterbrach Mrs. Pinder, bis sie geendet hatte.

 

»Sie wissen ein wenig zuviel, und das ist für meine Ruhe gefährlich«, sagte die Gräfin dann. »Auch die Sicherheit meiner Freunde wird durch Sie aufs Spiel gesetzt.«

 

»Das verstehe ich vollkommen«, sagte Mary Pinder ernst.

 

»Ich wiederhole mein Angebot. Ich rate Ihnen, es sich gut zu überlegen, bevor Sie die Chance, ein gesichertes Leben zu führen, zurückweisen.«

 

»Sehen Sie, Leonora –«, begann Chesney Praye.

 

»Schweigen Sie!« fuhr ihn die Gräfin an. »Ich habe diese Nacht einen Freund entdeckt, dem ich trauen kann – und das sind nicht Sie, Chesney. Tappatt hat mir alles erzählt, was sich zugetragen hat. Sie wollten mich hinter meinem Rücken betrügen und mir zuvorkommen. Heute abend werden Sie das tun, was ich Ihnen sage. Nun, Mrs. Pinder, nehmen Sie mein Angebot an?« – »Nein.«

 

Gräfin Moron wandte sich an den Doktor mit dem roten Gesicht.

 

»Mrs. Pinder«, sagte er in jovialem Ton und mit freundlicher Miene, während er auf sie zuging, »warum wollen Sie denn nicht vernünftig sein? Tun Sie doch, was die Gräfin von Ihnen verlangt.«

 

»Ich will nicht –«

 

Er war ganz nahe an sie herangetreten. Plötzlich streckte er seine Hand aus und erwürgte den Schrei in ihrer Kehle. Sie wand sich verzweifelt und wie wahnsinnig, aber niemand hinderte diese grausamen Hände. Chesney Praye machte einen halben Schritt vorwärts, aber Gräfin Morons Arm hielt ihn zurück.

 

Doch plötzlich sprang ein wild aussehender, staubbedeckter Mann, den niemand kannte, vom Balkon herunter und packte den Doktor von hinten an den Schultern. Als Tappatt zurücktaumelte und sein Opfer losließ, eilte Selwyn zu dem langen roten Seil, das an der einen Seite der Wand hing, und zog daran. Von oben kam ein betäubender Klang. Und wieder zog er an der Schnur.

 

»Du verrückter Kerl! Bist du toll?« Seine Mutter kam auf ihn zu, aber er stieß sie weg. Dann hörte er auf zu läuten.

 

»Das ist die Alarmglocke«, rief Selwyn. »In einer Minute werden wir das ganze Haus und das halbe Dorf hier versammelt finden, und ich will nicht in Gegenwart der Leute sagen, was ich jetzt zu sagen habe. Du denkst, ich bin ein Narr, und vielleicht hast du recht – aber ich bin kein schlechter Mensch, und ich werde dich und deine gräßlichen Freunde vor den Richter bringen!«

 

»Fort mit ihm!« schrie die Gräfin, als man schon das Laufen auf dem Korridor hörte. »Ich werde sagen, daß es ein unglücklicher Zufall war.«

 

»Rührt ihn nicht an!« rief eine Stimme vom Balkon.

 

Eine Vogelscheuche, ähnlich Selwyn, lehnte sich über das Geländer.

 

»Sie können ihnen erzählen was Sie wollen, aber sie werden Ihnen nicht glauben, nachdem sie mich gehört haben!« rief Lizzy mit drohender Stimme.

 

Die Tür wurde in diesem Augenblick aufgestoßen, und ein mangelhaft bekleideter Mann stürzte herein. Er stand atemlos und staunend still und starrte auf das Bild. Gleich darauf füllte sich die Türöffnung mit Männern und Frauen, die sich schnell und notdürftig bekleidet hatten.

 

»Ist ein Unglück geschehen, Mylady?«

 

»Es ist nichts passiert«, sagte sie scharf. »Warten Sie draußen!«

 

»Nein, gehen Sie nicht fort«, rief Selwyn mit erhobener Stimme.

 

Noch einmal gelang es der Gräfin, sich Ruhe zu verschaffen. Sie schaute zu dem Mädchen auf der Galerie empor.

 

»Reden Sie meinem Sohn das dumme Zeug aus. Das ist das Beste, was Sie tun können. Die Sache wird morgen in Ordnung gebracht.«

 

Immer mehr Leute kamen in den Saal.

 

Selwyn war zu Mrs. Pinder getreten, die auf einem Stuhl saß und am ganzen Körper zitterte. Er stützte sie und führte sie hinaus. Die Leute machten ihnen Platz. Im nächsten Augenblick war Lizzy Smith bei ihnen.

 

Die Gräfin von Moron ging in ihrem Ankleideraum auf und ab. Sie hatte die Hände auf den Rücken gelegt. Die ruhige, kühle Frau war nervös und erregt. Chesney Praye und Tappatt hatte sie im Musikzimmer zurückgelassen. Vor wenigen Minuten war der Wagen abgefahren, der Mary Pinder dem Glück und der Freiheit entgegenbrachte.

 

Die Gräfin fühlte einen heftigen Zorn gegen ihren eigenen Sohn, den sie seit seiner Geburt gehaßt hatte, am meisten aber gegen Chesney. Sie hatte keine Hoffnung mehr, daß sich das Glück noch einmal zu ihren Gunsten wenden könnte. Alles, wofür sie gekämpft hatte, alles, was sie gewonnen hatte, zerrann nun in nichts! Die Stunde der Vergeltung war gekommen.

 

Sie suchte den Fehler zu entdecken, den sie in ihrem Plan gemacht hatte. Irgendeine Kraft hatte gegen sie gearbeitet – Dorn war doch nur das Werkzeug. Welche unbekannte, heimliche Macht stand hinter ihm? Sie bewunderte ihn jetzt doch in seiner Art.

 

Langsam öffnete sie einen kleinen Geheimschrank in der Mauer, der durch ein silbernes Barometer verdeckt wurde, zog einen kleinen Kasten heraus und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Es war ein gefaltetes Stück Briefpapier und ein Schlüssel. Dann holte sie aus dem hinteren Teil des Schrankes noch eine kleine automatische Pistole hervor, nahm sie aus dem Lederetui und überzeugte sich, daß sie geladen war.

 

Kapitel 36

 

36

 

Der alte Mackenzie ging in Lizzys Küche, um mehr Kaffee zu kochen. Da hörte er draußen ein Klopfen.

 

»Es ist jemand an der Tür, Fräulein«, rief er Lizzy zu, »seien Sie doch so gut und öffnen Sie für mich.«

 

Lizzy hatte sich inzwischen frischgemacht und sah wieder schmuck und niedlich aus. Sie eilte die Treppe hinunter, nahm immer zwei Stufen auf einmal und riß die Tür auf. Zuerst erkannte sie den Herrn nicht, der vor ihr stand; aber dann war sie vor Schreck fast sprachlos.

 

»Ich möchte Miss Reddle sprechen«, sagte Mr. Shaddles.

 

Lizzy trat verwirrt zur Seite und folgte dem Anwalt die Treppe hinauf. Die Tür zu Mackenzies Wohnung stand offen, und als sie in das Zimmer traten, wurde es plötzlich still. Mr. Shaddles schaute von einem zum anderen und lächelte.

 

Lois, die neben ihrer Mutter an dem Tisch saß, stand erstaunt auf.

 

»Mr. Shaddles –«

 

Er nickte. Auf einmal wurde ihr klar, daß er zu den Leuten gehören mußte, die der Unterstaatssekretär damals erwähnt hatte.

 

»Sie waren es also –«

 

»Ja, gnädiges Fräulein, ich war es. Wir sind seit Jahrhunderten die Advokaten der Morons, und so habe auch ich mich bemüht, die Interessen der Familie wahrzunehmen. Niemand kennt bis jetzt die Zusammenhänge – bis jetzt. Aber es ist keine lange Geschichte, die ich zu erzählen habe – gestatten Sie?« Er wandte sich an Mrs. Pinder. Sie nickte.

 

»Der verstorbene Graf von Moron heiratete zweimal«, begann Shaddles. »Aus erster Ehe stammte sein Sohn William. Selwyn, der heute abend hier weilt, ist der Sohn der zweiten Frau. William war ein hochbegabter, ehrenhafter junger Mann, der in einem Hochländerregiment diente. Er war etwas romantisch veranlagt, und als er Mary Pinder traf, war es natürlich –«

 

»Mary Pinder?« rief Lois. Aber Shaddles überhörte die Unterbrechung. »– daß er sich in sie verliebte. Mary Pinder war damals ein schönes Mädchen von siebzehn oder achtzehn Jahren. Er liebte es, Fußtouren zu machen, und kam auch durch Hereford, und zwar nicht unter seinem eigenen Namen Viscount Craman, sondern als Mr. Pinder. Dies war der Mädchenname seiner Mutter. Er traf Mary mehrere Male, ohne ihr zu sagen, wer er war, und heiratete sie mit besonderer Erlaubnis unter dem Namen Pinder. Er wollte ihr seinen Stand und seine Würde erst nach der Hochzeit enthüllen.

 

Sie hatten etwa einen Monat zusammengelebt, als er unerwartet nach Hause gerufen wurde, weil sein Vater schwer erkrankt war. Als er in Schottland ankam, fand er den Grafen sterbend. Er erlag einem schweren Scharlachfieber. Es war ein grausames Schicksal, daß William angesteckt wurde und zwei Tage nach seinem Vater starb. Er hinterließ eine Witwe, die nicht wußte, wer er in Wirklichkeit war und wo er sich aufhielt.

 

Auf dem Sterbebett erzählte er seiner Stiefmutter, der jetzigen Gräfin Moron, daß er sich verheiratet hatte, und bat sie, nach seiner Frau zu schicken. Sie tat es nicht, besonders als sie erfuhr, daß seine Frau nicht wußte, wer er war und wo er wohnte. Erst einige Zeit später ging die Gräfin nach Hereford, um die Witwe ausfindig zu machen. Mrs. Pinder lebte bei einer exzentrischen Frau, die etwas verrückt war. Sie hatte schon oft gedroht, Selbstmord zu verüben, und es traf sich, daß sie gerade an dem Morgen, an dem Lady Moron in Hereford ankam, Gift nahm. Die Gräfin ging in das Haus, um ihre Neugierde nach der Frau ihres Stiefsohnes zu befriedigen. Als sie in das Zimmer trat, fand sie die tote Frau. Auf dem Tisch lag ein Brief, der die Gründe des Selbstmordes erklärte.

 

Lady Moron war eine Frau von raschem Entschluß. Hier fand sie eine günstige Gelegenheit, einen möglichen Anspruch auf die Familiengüter der Morons für immer zu beseitigen. Auf dem Tisch lagen auch Juwelen und Geld verstreut. Sie nahm alles an sich und ging damit in das Zimmer der jungen Frau. Sie vermutete wenigstens, daß es ihr Zimmer war, da sie Williams Fotografie auf dem Kamin stehen sah. Es ist übrigens dieselbe Fotografie, die später in Lois‘ Zimmer geschmuggelt wurde, um festzustellen, ob sie ihren Vater kannte. Gräfin Moron legte die Juwelen und das Gift in einen kleinen Kasten, verschloß ihn und nahm nicht nur den Schlüssel, sondern auch den Brief mit sich, der Mrs. Pinders Unschuld und die Schuld der Gräfin Moron bewiesen hätte, wenn ihre Handlungsweise bekannt geworden wäre.

 

Wie Sie wissen, wurde Mary Pinder angeklagt, zum Tode verurteilt und dann zu einer zwanzigjährigen Haftstrafe begnadigt. Im Gefängnis kam ihre kleine Tochter zur Welt, und eine befreundete Nachbarin nahm sich des Kindes an. Aber aus irgendeinem Grund wurde in den Zeitungen verbreitet, daß das Kind der Hereford-Mörderin gestorben sei. Dieser Umstand beruhigte die Gräfin. Sie machte keine Anstrengungen mehr, die Wahrheit der Geschichte nachzuprüfen, bis sie eines Tages zufällig erfuhr, daß Lois Reddle das Kind der Mrs. Pinder sei. Wie sie zu dieser Kenntnis kam, habe ich nicht herausfinden können.

 

Vor vielen Jahren erhielt ich die überzeugende Mitteilung, daß William verheiratet gewesen war und auf dem Totenbett nach seiner Frau geschickt hatte. Ich sah ihn gleich nach seinem Tod und entdeckte einen goldenen Trauring an seinem kleinen Finger, der aber bei der Beerdigung bereits entfernt worden war. Ich war davon überzeugt, daß das Mädchen, die Erbin seines Titels, am Leben sein müsse, und suchte nach ihr. Schließlich fand ich heraus, daß sie in Leith tätig war, und brachte sie nach London in meine Kanzlei, so daß ich sie stets bewachen konnte. Für alle Fälle engagierte ich aber noch den tüchtigsten Detektiv zu ihrem Schutz.

 

Gelegentlich entdeckte ich, daß die Gräfin irgendeine dunkle Ahnung hatte, wer sie war, und ich muß bekennen, daß ich zögerte, meine Einwilligung zu geben, als sie das Mädchen in ihrem Haus als Sekretärin anstellen wollte. Ich beriet mich erst lange mit Mr. Dorn, bevor ich meine Zustimmung gab. Ich teilte meinen Verdacht den Gerichten mit, und es würde ein besonders befähigter Polizeibeamter, Sergeant Braime, als Diener in den Haushalt der Gräfin geschmuggelt, um herauszufinden, ob sie töricht genug war, den Brief der Selbstmörderin aufzubewahren.«

 

Er machte eine Pause und sprach erst nach einiger Zeit weiter.

 

»Als mir Miss Smith Mr. Dorns Brief zeigte, wurde Mr. Wills von mir nach Gallows Farm gesandt. Er rief mich heute abend an, daß er den Wagen verfolgt habe, in dem Mrs. Pinder von Gallows Farm entführt wurde, und daß Mrs. Pinder, Mr. Chesney Praye und Dr. Tappatt in Morons Estate angekommen seien. Daraufhin benachrichtigte ich Scotland Yard. Bevor ich hierherkam, erfuhr ich noch, daß Praye und Tappatt verhaftet wurden, als sie vor dem Portal von Morons Estate in ein Auto steigen wollten, um damit zu fliehen.

 

Die Gräfin Moron hat man nicht mehr verhaften können. Sie erschoß sich in dem Augenblick, als die Polizeibeamten in ihr Zimmer drangen. Auf dem Tisch fanden sie den Brief der Selbstmörderin von Hereford und einen Schlüssel –«

 

»Ich bin in einer unglücklichen Lage, meine liebe Lizzy«, sagte Selwyn traurig. »Ich bin kein Lord, aber ich vermute, daß ich noch eine Art von Moron bin. Sie könnten mich auch einen unnützen Moron nennen.«

 

»Seien Sie nicht albern, Selwyn. Natürlich ist es ein großer Unterschied«, sagte Lizzy. »Aber wenn Sie mich gefragt hätten, als Sie noch ein wirklicher Lord waren und ich eine Stenotypistin – ich bin jetzt auch noch eine –, so hätte ich doch nicht zugeben können, daß Sie Ihre Karriere ruinierten. Aber wie die Dinge jetzt liegen –«

 

Sie gingen zusammen auf einem ruhigen Seitenweg durch den Park.

 

»Wir wollen hier gehen«, schlug Lizzy vor. »Hier führt ein schöner Weg durch die Rhododendronsträucher, und es kommt niemand vorbei. Ich weiß auch eine idyllische, versteckte Bank. Um diese Zeit des Morgens ist kein Mensch dort. Wir können uns hinsetzen und plaudern –«

 

»Das ist das Sonderbarste an dem Fall«, sagte Michael, der an demselben Morgen auch einen Spaziergang mit einer jungen Dame im Park machte.

 

»Glauben Sie«, meinte Lois, Gräfin von Moron. »Ich kenne viele Dinge, die merkwürdiger sind. Heute morgen erhielt ich zum Beispiel eine Rechnung von Mr. Shaddles über ein Pfund und sechs Schilling für die Reparatur seines alten Fordwagens.«

 

»Hat er Ihnen denn keine andere Rechnung geschickt?« fragte Michael erstaunt. »Was für ein Mann! Die ganze Sache hat mindestens zehntausend Pfund gekostet; den größten Teil davon hat er an mich bezahlt.«

 

»Finden Sie, daß Ihre Dienste richtig belohnt wurden?«

 

»Ich fühle mich belohnt genug, wenn Sie, Comtesse, mir freundlichst danken.«

 

»Habe ich Ihnen noch nicht gedankt?« fragte sie mit schelmischer Verwunderung. »Und bitte, sagen Sie doch nicht Comtesse zu mir – das vertrage ich nicht. Ich werde meinen Dank – nein, jetzt noch nicht.«

 

Sie schwiegen, bis sie an das Ende eines schmalen Weges gekommen waren.

 

»Wir wollen hier entlanggehen«, sagte Lois dann. »Ich erinnere mich an eine schöne Partie in diesem Teil des Parks. Es steht eine lauschige Bank dort, und um diese Zeit des Morgens …«

 

Kapitel 32

 

32

 

An demselben Tag wollte auch Mr. Chesney Praye die Wahrheit ergründen. Für gewöhnlich konnte er sie nicht brauchen, aber wie er der Gräfin während des Essens erklärte, wollte er jetzt genau erfahren, woran er sei. Er wußte viel mehr, als sie vermutete, denn er war ein schlauer Mann, der einen ausgesprochenen Instinkt dafür hatte, verborgene Dinge herauszubringen. Er handelte jederzeit nur nach Zweckmäßigkeitsgründen und holte aus jeder Lage stets das Beste für sich heraus.

 

»Du willst mich heiraten, Leonora, sobald diese Angelegenheit geklärt ist. Aber bevor wir weitergehen, mußt du mir deine Karten aufdecken. Zunächst will ich wissen, was ich getan habe. Blinder Gehorsam ziemt einem Soldaten, aber ich bin kein Soldat. Ich habe mir die Hände mit dieser Sache schon böse beschmutzt, und ich kann fünf Jahre im Gefängnis sitzen, wenn Dorn mir jemals auf die Spur kommt. Es gibt so viele Dinge, die du mir noch nicht erzählt hast – und ich möchte jetzt vor allen Dingen Klarheit haben.«

 

Die Gräfin nahm die Zigarette aus dem Mund, blies eine Rauchwolke von sich und verfolgte sie mit den Augen, bis sie sich auflöste. Dann drückte sie die Zigarette langsam in dem Aschenbecher aus und erzählte ihm alles. Chesney Praye hörte ihr eine halbe Stunde lang zu, ohne sie zu unterbrechen. Und er beschloß, alles was er erfuhr, zu seinem eigenen Vorteil auszunützen.

 

Nur einmal machte sie eine Pause, als sie ihren Sohn mit Lizzy in dem Palmenhof sah.

 

»Sie ist hübscher, als ich dachte. Wenn sie auch nur das nette Aussehen einer Choristin hat – immerhin –«

 

»Das ist aber jetzt ganz gleichgültig«, sagte Chesney ungeduldig. »Was passierte dann?«

 

Die Gräfin sprach weiter und verheimlichte ihm nichts. Als sie geendet hatte, saß er mit heißem Kopf auf seinem Stuhl.

 

»Bei Gott«, sagte er atemlos, »du bist einfach eine wundervolle Frau – jetzt verstehe ich auch das ganze Geheimnis von Gallows Farm. Ich muß wirklich sagen, ich bin starr vor Staunen.«

 

»Ja – das ist das ganze Geheimnis von Gallows Farm«, sagte Lady Moron. Chesney Praye verließ das Hotel allein. Die Gräfin wollte auf ihr Landgut gehen und lud ihn ein, sie zu begleiten. Aber er schützte rasch eine Verabredung vor, die er im Moment ersonnen hatte. Er war ein schneller Denker und verdankte es dieser Eigenschaft, daß er damals in Indien einer Verurteilung entgangen war.

 

Er schaute nach einer Uhr in der Straße. Es war höchste Zeit, daß er einen Teil seiner Absicht ausführte. Wenn sein Plan auch noch nicht in allen Einzelheiten festlag, als er in ein Auto stieg, so war er doch schon in allen Details durchdacht, als er den St. Pauls-Kirchhof erreichte.

 

Lord Moron und seine Begleiterin saßen in einem gewöhnlichen Autobus, als sein Wagen an ihnen vorbeifuhr.

 

»Mein Stiefvater«, brummte der Graf. »Sie können sich doch auch nicht denken, daß ein so schrecklicher Verbrecher eine Frau wie die Gräfin anziehen kann, Elizabeth?«

 

Aber Lizzy preßte die Lippen zusammen und sagte nur die nichtssagenden Worte: »Gleich und gleich gesellt sich gern«, die man auf die verschiedenste Weise deuten konnte. Als sie nach der Charlotte Street kamen, fanden Sie kein Telegramm vor.

 

»Es wird auch keins kommen«, sagte Lord Moron mit Genugtuung. »Ich will um jede Summe mit Ihnen wetten, daß dieser Doktor es beiseite geschafft hat. Passen Sie auf, Elizabeth! Ich habe Gelegenheit gehabt, ihn aus nächster Nähe kennenzulernen, und was Sie auch immer von mir sagen mögen, Charaktere kann ich gut beurteilen.«

 

»Ich glaube, daß Sie klug sind«, gab Lizzy zu.« Das habe ich immer behauptet. Was wird Ihre Mutter sagen, daß wir in einem so teuren Restaurant Mittag gegessen haben?«

 

Lord Moron antwortete, daß das sehr gleichgültig sei.

 

»Von heute an bin ich mein eigener Herr – man kann nicht früh genug damit anfangen. Die Gräfin macht sich nichts daraus, wenn sie sich in der Öffentlichkeit mit diesem völlig unmöglichen Chesney zeigt, diesem Raubvogel, wie ich ihn manchmal nenne!« Er wartete, daß sie ihm zustimmte, aber sie schaute ihn nur freundlich lächelnd an. »Und wenn sie dabei nichts findet, dann sehe ich auch nicht ein, was sie dagegen haben könnte, daß ich mit einer – ganz gleich, mit einem hübschen Mädchen zum Essen gehe«, fügte er etwas verwirrt hinzu. Und Elizabeth hob ihre Augen in der Art, wie sie es in den Filmen gesehen hatte.

 

Um acht Uhr wurden die Postämter geschlossen. Selwyn ging zu dem nächsten und fragte nach einem Telegramm, aber es war nichts angekommen. Es gelang ihnen auch nicht, in Verbindung mit Mr. Wills zu kommen. Auf dem Rückweg telefonierte er gemäß der Instruktion, die Lizzy von ihrem Chef erhalten hatte, die Blue-Light-Company an, und sie fuhren gerade die breite Great West Road entlang, als ein schneller Wagen sie überholte. Selwyn setzte sich unwillkürlich tiefer in den Sitz zurück.

 

»Wer war das?« fragte Lizzy.

 

Lord Moron hob seinen Finger an die Lippen, obgleich keine Möglichkeit vorhanden war, sie zu belauschen. Erst als das Auto in der Ferne zu einem kleinen Punkt zusammengeschrumpft war, drehte er sich zu ihr um.

 

»Chesney – Chesney Praye! Er fährt auch dorthin! Ich wußte doch, daß er daran beteiligt ist!«

 

»Hat er uns gesehen?«

 

»Nein, er saß am Steuer. Aber er grinste wie ein Affe – und das hat sicher etwas zu bedeuten!«

 

In Maidenhead sahen sie sein Auto vor einem Hotel stehen.

 

»Es ist hier«, sagte Selwyn aufgeregt. »Wir müssen uns sehr vorsehen, daß er uns nicht erkennt, sollte er noch einmal vorbeifahren.«

 

Er überlegte, ob sie sich hinter einer Zeitung verstecken sollten, falls Chesneys Wagen wieder vorbeifahren würde. Aber jegliche Sorge war überflüssig, denn es war bereits dunkel, als seine tiefe Hupe ertönte und er gleich darauf in höchster Geschwindigkeit vorübersauste.

 

Zehn Meilen von Gallows Farm entfernt mußten sie Erkundigungen einziehen. Es war schwer, die genaue Lage des Gehöftes festzustellen. Erst als sie Whitcomb Village erreichten, wußten sie, daß sie auf der richtigen Straße waren. Aber es gab noch andere Schwierigkeiten zu überwinden.

 

»Es hat keinen Zweck, daß wir direkt nach Gallows Farm fahren und dort einfach fragen: Wo ist sie?« erklärte der Lord vollkommen richtig. »Wenn irgend etwas Verdächtiges dabei ist – und ich bin sicher, daß jedes Ding faul ist, an dem sich Chesney beteiligt –, dann werden wir überhaupt keine Antwort bekommen. Auf der anderen Seite würden wir in eine unangenehme Lage kommen, wenn wir hineinplatzen, und es ist nichts –«

 

»Böses an der Sache«, vollendete Lizzy, um ihm zu helfen.

 

Zwei Meilen von Whitcomb entfernt hielten sie Kriegsrat und entschieden sich dafür, den Wagen zur Hauptstraße zurückzuschicken und zu Fuß weiterzugehen. Es war ein Vorschlag des jungen Grafen.

 

»Die Lage erfordert einen gewissen Takt, und wenn jemand taktvoller ist als ich, dann möchte ich ihn sehen.«

 

Sie wanderten mühsam auf der staubigen Straße vorwärts und schauten gespannt nach Chesneys Auto aus. Es war vollständig dunkel geworden, und sie hatten nur Streichhölzer bei sich, von denen Lord Moron von Zeit zu Zeit eines anzündete. Als sie das Gehöft endlich sahen, waren sie gänzlich erschöpft.

 

»Das ist kein hübscher Ort«, sagte Selwyn. Seine Unternehmungslust war ziemlich verflogen. »Ein schreckliches Loch! Ich wäre nicht im mindesten erstaunt, wenn hier irgendwo in der Nähe ein wirklicher Galgen stände. Ich glaube, es war ein Fehler, daß wir den Wagen fortgeschickt haben.«

 

»Jetzt ist es zu spät, über Fehler zu sprechen«, sagte Lizzy resolut und ging voraus. »Wir haben die Stelle gefunden – das ist doch immerhin schon etwas. Es sieht allerdings nicht gerade sehr einladend aus.«

 

Schließlich kamen sie an die häßliche Mauer und an das schwarze Tor.

 

»Sollen wir klingeln oder klopfen?« fragte Selwyn. »Da drinnen ist ein Wagen – hören Sie ihn?«

 

Lizzy stieß mit dem Fuß gegen die Tür, als plötzlich aus dem Haus der Schrei einer Frau kam. Er klang durchdringend und angstvoll, daß Selwyns Blut zu Eis erstarrte.

 

Gleich darauf flogen die Türflügel krachend nach außen auf, so daß die beiden zurückprallten. Das Vorderteil eines Autos wurde sichtbar.

 

»Eine Frau sitzt in dem Wagen«, schrie Lizzy, aber das Motorengeräusch übertönte ihre Stimme.

 

Kapitel 33

 

33

 

Mr. Chesney Praye war ein angenehmer Besuch. Er hatte sein Auto in dem Vorhof stehengelassen und saß nun vor dem kleinen Holzfeuer am Kamin. Er wärmte sich die erstarrten Hände, denn die Nacht war ungewöhnlich kalt gewesen, und er war in höchster Eile gegen den Wind und durch die Niederungen gefahren.

 

»Brr, so was nennt man in England Sommer! Ich würde gern wieder nach Indien zurückgehen.«

 

»Hast du das vor?«

 

»Möglich – alles hängt davon ab –«

 

»Du hast Glück, daß du mich antriffst«, sagte der Doktor und stellte sein Glas auf den Tisch.

 

»Warum?« fragte Chesney erstaunt. »Ich dachte, du würdest diesen friedlichen Wohnsitz nicht verlassen, auf keinen Fall jetzt.«

 

Der Doktor erzählte ihm kurz, warum er in der Nacht die beiden Frauen fortgebracht hatte. Chesney machte ein ernstes Gesicht.

 

»Ist es möglich, daß Dorn zurückkommt?«

 

Tappatts Lustigkeit beruhigte ihn aber wieder.

 

»Er ist schon zurück – er befindet sich augenblicklich auch hier!«

 

»Was zum Teufel, meinst du?« fragte er barsch.

 

»Setz dich nur wieder hin, du brauchst dich nicht zu fürchten. Er liegt hinter einer zwei Zoll dicken Tür, hat Handschellen an den Gelenken und Kopfschmerzen –, er wird sich kaum rühren können. Ich hätte das telefonisch durchgesagt, aber ich traue dem Amt nicht.« Und dann erzählte er ihm sein Erlebnis mit Dorn.

 

»Es war die Frage, wer weiter voraussehen konnte. Es war verteufelt schwer, sich mit einem solchen Mann zu messen, immer zu überlegen, was er unter den gegebenen Umständen tun würde, seine Pläne zu durchkreuzen und seine Gegenmaßnahmen zuschanden zu machen. Einer von uns beiden mußte gewinnen – er oder ich. Aber er hat eine der einfachsten Vorsichtsmaßregeln außer acht gelassen – der blutigste Laie hätte wissen müssen, daß ich ihm ein Betäubungsmittel in den Kaffee schütten würde, wenn er nur einen Augenblick seine Aufmerksamkeit ablenken ließ. Die Sache war ein Kinderspiel und ist gerade kein großes Verdienst – er hat es mir wirklich leichtgemacht.«

 

Chesney war trotzdem nicht sehr behaglich zumute.

 

»Hat er sich von seiner Betäubung wieder erholt?«

 

»O ja, ich hatte schon eine interessante Unterhaltung mit ihm durch die Tür. Es ist nämlich ein kleines Guckloch darin, durch das man leicht angenehme Scherze austauschen kann. Michael Dorn ist in diesem Augenblick ein kranker Mann.«

 

Chesney Praye ging im Zimmer auf und ab.

 

»Vielleicht ist es besser, daß ich Miss Reddle heute nacht mit fortnehme.«

 

»Die Gräfin wollte nicht –«, begann der Doktor.

 

»Du brauchst dich nicht um die Gräfin zu kümmern – sie hätte telefonische Anweisung gegeben, aber sie hatte auch Bedenken wegen des Amtes. Das Mädchen und Mrs. Pinder müssen fortgeschafft werden. Das Risiko, sie hier zu behalten, ist zu groß. Dorn hat auch noch Leute, die mit ihm zusammenarbeiten, und eines Morgens wirst du hier aufwachen und bist von der Polizei umstellt.«

 

»Wohin willst du denn gehen?«

 

»Ich werde außer Landes gehen und sie mitnehmen.«

 

»Und die alte Frau?«

 

»Es ist möglich, daß ich sie – später auch brauche«, sagte Chesney.

 

»Dann werde ich Miss Reddle herunterbringen«, sagte der Doktor und ging zur Tür. Aber Praye holte ihn zurück.

 

»Das hat gar keine Eile«, sagte er. Er wollte ihm anscheinend noch etwas mitteilen, das er bis jetzt verschwiegen hatte.

 

»Was hast du für Pläne für die Zukunft, Tappatt?«

 

»Ich? Ich muß schleunigst machen, daß ich fortkomme. Sie werden mich aus der Liste der Ärzte streichen – wenigstens hat Dorn mir das gesagt.«

 

»Was willst du denn mit ihm anfangen?«

 

Ein häßliches Grinsen zeigte sich auf dem Gesicht des Doktors.

 

»Ich weiß noch nicht. Er wird mir nachgerade sehr lästig – ich habe das gleich von Anfang an gesehen. Ich könnte ihn einfach hier lassen. Das werde ich wahrscheinlich auch tun. Niemand wird herkommen, vielleicht monatelang nicht, vielleicht sogar in einem Jahr noch nicht –«

 

Chesney Prayes Gesicht wurde aschfahl. »Du willst ihn hier verhungern lassen?«

 

»Warum nicht?« fragte der andere kühl. »Wer wird es denn herausbringen? Ich werde am besten nach Australien gehen. Meine Haushälterin nehme ich mit – sie wird denken, ich habe Dorn freigelassen. Auf keinen Fall stellt sie überflüssige Fragen. Das Anwesen ist Lady Morons Eigentum. Wer soll denn hierherkommen, wenn ich fortgehe? Es ist möglich, daß es jahrelang leersteht.«

 

Chesney fühlte ein Würgen in der Kehle, und seine Hand zitterte.

 

»Ich weiß nicht – es ist doch zu schrecklich, einen Menschen einfach verhungern zu lassen –«

 

»Aber was habe ich denn davon, wenn er mir auf den Fersen ist?« fragte der Doktor und stocherte mit dem Eisen im Feuer, das beinahe ausgegangen war. »Dann müßte ich meine Mahlzeiten im Gefängnis zu regelmäßig einnehmen. Er hat mir ja gesagt, daß das Essen in Dartmoor ganz gut sein soll, und ich glaube das gern. Ich brauche dazu keine persönliche Erfahrung. Für einen Arzt gibt es ja immer noch einen Ausweg. Ich verdanke Dorn so verschiedenes. Er hat mich von Indien fortgejagt. Dein besonderer Freund ist er doch auch nicht gerade, Chesney?«

 

»Nein, aber –«

 

»Aber was? Du hast soviel Mut wie ein altes Huhn! Denke daran, was uns passiert, wenn die Geschichte herauskommt!« Er zeigte auf die Decke. »Das würde die meiste Zeit deines Lebens kosten und mehr Jahre, als ich noch zu leben habe. Nein, ich kenne das Risiko sehr gut und habe mir ganz genau überlegt, was das in Zukunft mit sich bringen kann. – Du wolltest doch das Mädchen hier unten haben – vermutlich willst du sie allein sprechen?«

 

Chesney nickte. Tappatt verließ das Zimmer und blieb lange Zeit fort. Als sich die Tür endlich wieder öffnete, kam Lois Reddle in den Raum. Als sie Praye sah, blieb sie stehen.

 

»Sie sind hier?« fragte sie verwundert.

 

»Guten Abend, Miss Reddle. Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

 

Chesney war die Höflichkeit selbst, und sein Benehmen war tadellos.

 

»Ich fürchte, Sie haben sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Ich habe erst heute nachmittag davon erfahren und kam sofort hierher, um alles zu tun, was in meinen Kräften steht, um Ihnen zu helfen. Der Doktor erzählte mir eben, daß Sie amtlicherseits für verrückt erklärt worden sind.«

 

»Das ist eine Lüge«, sagte sie erregt. »Ich kenne die Gesetze sehr wenig, aber ich bin doch zu lange in Mr. Shaddles‘ Büro gewesen, um nicht zu wissen, daß eine Person nicht auf die Untersuchung eines einzigen Arztes hin für verrückt erklärt wird. Wollen Sie mich von hier fortbringen?«

 

Er nickte.

 

»Und die andere unglückliche Frau?«

 

»Die kann auch fortgehen«, sagte er langsam. »Unter gewissen Bedingungen.«

 

Sie sah ihm fest ins Gesicht.

 

»Ich verstehe Sie nicht ganz, Mr. Praye.«

 

Er lud sie wieder ein, Platz zu nehmen, aber sie rührte sich nicht.

 

»Hören Sie mich bitte an, Miss Reddle. Ich nehme Ihretwegen ein großes Wagnis auf mich. Ich brauche es Ihnen nicht im einzelnen auseinanderzusetzen, aber wenn ich heute abend keinen Erfolg habe, dann ist meine Zukunft und wahrscheinlich« – er zögerte zu sagen: meine Freiheit – meine Zukunft ernstlich gefährdet. Ich habe diese Fahrt ohne das Wissen einer bestimmten Persönlichkeit unternommen, deren Namen ich im Augenblick nicht nennen will. Ich täusche, das Vertrauen, das sie in mich setzt. Sie wird es mir nicht verzeihen.«

 

»Sprechen Sie von der Gräfin Moron?« fragte sie ruhig.

 

»Es hat keinen Zweck, wie die Katze um den heißen Brei zu gehen – ja, ich meine die Gräfin Moron.«

 

»Bin ich auf ihre Anordnung hier?«

 

Er nickte.

 

»Aber warum? Was habe ich ihr getan, daß sie auch nur den Wunsch haben könnte, mir irgend etwas zuleide zu tun?«

 

»Das werden Sie in einigen Tagen erfahren«, sagte er ungeduldig. »Das gehört jetzt nicht hierher. Ich kann Sie und ihre Mutter retten.«

 

Sie prallte zurück.

 

»Meine Mutter?« fragte sie atemlos. »Diese Frau« – sie zeigte mit zitternden Fingern auf die Tür – »ist meine Mutter?«

 

Er nickte.

 

»Hier – o mein Gott, was hat das alles zu bedeuten?«

 

»Sie ist aus demselben Grunde hier wie Sie«, war seine kühle Antwort. »Miss Reddle, Sie sind eine intelligente junge Dame – ich hoffe, Sie sind vernünftig und sehen ein, welche Opfer ich für Sie bringe. Nehmen Sie die Bedingungen an, die ich stellen muß, wenn ich Ihre Mutter befreie?«

 

»Was sind Ihre Bedingungen?« fragte sie langsam.

 

»Die erste ist, daß Sie mich heiraten«, sagte Chesney Praye.

 

Kapitel 26

 

26

 

Es war ein unglückliches Zusammentreffen, daß Michael Dorn gleich von zwei privaten Flugstationen in der Nähe Londons die Nachricht erhielt, daß am frühen Morgen Flugzeuge aufgestiegen waren. Noch schlimmer war es aber, daß er zuerst der Mitteilung aus Cambridgeshire nachging. Durch das Telefon konnte er keine ausreichende Aufklärung erhalten. Erst als er in Morland ankam, erfuhr er, daß der Passagier ein Student aus Cambridge war, der telegrafisch nach Hause gerufen worden war, weil seine Schwester schwer krank lag. Er war nach Cornwall geflogen.

 

»Ich war leider nicht im Büro, als Sie anriefen«, sagte der Kommandant des Flugplatzes. »Sonst hätte ich Ihnen das alles schon vorhergesagt.«

 

»Schade«, entgegnete Michael, »aber daran läßt sich nichts mehr ändern.«

 

Er ging zu seinem Wagen zurück und studierte die Karte. Von Whitcomb war er hundertsieben Meilen entfernt, und die Straßen, die er benutzen mußte, waren nicht die besten. Außerdem hatte er während der ersten zwanzig Meilen zwei Defekte an der Bereifung. Bis der Schaden repariert war, hatte er beinahe eine Stunde Tageslicht verloren. Der schlechteste Teil des Weges lag noch vor ihm, und es war durchaus nicht sicher, daß er der Auffindung der Gesuchten auch nur um einen Schritt näher kam, selbst wenn er sein Ziel noch erreichte.

 

Während er in Market Silby auf den Wechsel des Reifens wartete, studierte er die kleine Zeittafel, die er sich zusammengestellt hatte. Lois war um zwei Uhr morgens aus dem Polizeirevier entführt worden, wie er festgestellt hatte. Um acht Uhr – sechs Stunden später – hatte Chesney Praye von Paris aus telegrafiert. Wenn er mit einem Privatflugzeug in der Nähe Londons aufgestiegen war, so dauerte es mindestens zwei Stunden, bis er die französische Hauptstadt erreichte. Er mußte etwa gegen fünf Uhr abgeflogen sein. Zwischen zwei und fünf Uhr morgens lag also die unbekannte Fahrt. Lois mußte an einen Ort gebracht worden sein, der anderthalb bis zwei Stunden von der Hauptstadt entfernt war. Wenn seine Annahme wegen des Flugzeuges richtig war, wurde sie an einem Platz zurückgehalten, der vom Flugplatz nicht mehr als zwanzig Meilen entfernt lag, wenn Chesney Praye ein Auto benutzt hatte, dagegen sechs oder sieben Meilen, wenn er den Weg in einem Pferdewagen zurückgelegt hatte oder zu Fuß gegangen war.

 

Der Flugplatz in Cambridge hätte seinen Voraussetzungen am besten entsprochen, aber auch Whitcomb an der Grenze von Somerset war denkbar. Er erreichte den Flugplatz gegen Abend, gerade als der Kommandant nach Hause gehen wollte. Michael Dorn gab sich zu erkennen, und seine Befugnisse hatten doch mehr amtlichen Charakter, als Lady Moron annahm. Dann ging er mit dem Kommandanten in das Büro.

 

»Der Herr, der heute früh abflog, hieß Stone. Gestern abend spät hat er von London aus angerufen, daß wir eine Maschine für ihn bereithalten sollten, die ihn nach Paris brächte. Heute morgen kam er zeitig hier an.«

 

Er beschrieb den Reisenden so genau, daß Michael glaubte, Chesney Praye leibhaftig vor sich zu sehen.

 

»Das wäre die Persönlichkeit«, sagte er. »Wie kam er hierher? Hatte er ein Auto?«

 

»Nein – er kam in einem kleinen Wagen bis zur Abgrenzung des Platzes und ging den Rest zu Fuß.«

 

»Kam er in einem Pferdewagen? Wer hat das Gefährt gelenkt?«

 

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Die Entfernung war zu groß, als daß ich jemand hätte sehen können. Auch kenne ich nur wenig Leute hier in der Umgebung.«

 

Dorn überlegte einen Augenblick.

 

»Aber vielleicht können Sie mir die Stelle zeigen, wo er den Wagen verließ.« Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Haben Sie eine Generalstabskarte von dieser Gegend?«

 

Der Kommandant konnte ihm eine solche Karte zeigen und ihm sogar genau die Stelle angeben, wo der Passagier aus dem Wagen gestiegen war. Michael fuhr den Weg mit dem Finger nach und begann dann nach einem Gehöft zu suchen.

 

»Das ist der Wohnsitz Lord Kelvers‘ – zufälligerweise kenne ich ihn, ich war schon dort. Dies ist das Haus eines Rechtsanwalts.« Michael deutete auf eine andere Stelle. »Hier geht die Straße nach Ilfey Village, da liegt ein Gasthaus, der ›Rote Löwe‹. Von dorther hätte er kommen können.« Aber Michael lehnte die Möglichkeit ab, daß Chesney sich so dicht in der Nähe aufgehalten hätte.

 

»Was ist hier?« Er zeigte mit dem Finger auf einen Punkt der Karte, aber der Kommandant schüttelte den Kopf. »Ich kann mich auf den Namen nicht besinnen, vielleicht weiß einer von den Mechanikern, wie der Platz heißt.«

 

Er ging hinaus und kam mit einem Werkmeister zurück, der sich über die Karte beugte.

 

»Das ist Gallows Farm«, sagte er gleich. »Ein ganz altes Gehöft. Steht schon seit Jahrhunderten dort. Ich kann nicht sagen, wie der Besitzer jetzt heißt, aber es ist kein Landwirt – wenigstens habe ich noch niemals gesehen, daß Vieh ausgetrieben wurde.«

 

Michael rief das nächste Polizeirevier an, gab sich zu erkennen und fragte nach dem Besitzer von Gallows Farm. Er mußte einige Zeit warten, bis man die nötigen Unterlagen herausfand.

 

»Das Gehöft wurde vor zwölf Monaten an einen Mr. – verpachtet.« Er hörte einen Namen, den er nicht kannte. »Außer diesem Herrn und seiner Haushälterin wohnt niemand dort.«

 

Das war gerade keine glänzende Auskunft, aber Michael ließ sich nicht verblüffen. Wieder studierte er die Karte, und nach einiger Überlegung kam er zu dem Schluß, daß Gallows Farm das einzige Anwesen in der Nachbarschaft sein konnte, das irgendwie in Betracht kam. Er aß schnell etwas in dem Restaurant des Flughafens. Es wurde schon dunkel, als er den Platz überquerte und die Straße entlangfuhr, die Chesneys Wagen gekommen war. Als er über die Kuppe des Hügels fuhr, tauchten die Umrisse des Gehöftes undeutlich in dem Licht seiner hellen Scheinwerfer auf, er konnte aber kein Licht oder irgendein Anzeichen von Leben in dem Haus erkennen. Die graue, häßliche Mauer war oben mit Glassplittern bedeckt, und das Tor, das zur Straße lag, war fest verriegelt.

 

Er ging zu seinem Wagen zurück, holte seine elektrische Taschenlampe und setzte seine Nachforschungen fort. Das Gehöft lag an dem Abhang des Hügels, und er mußte weiter hinuntersteigen, um auf die Rückseite zu kommen. Hier war eine größere und leicht verschlossene Tür zu sehen. Als er zu öffnen versuchte, hörte er drinnen wütendes Bellen und Kettenrasseln. Er horchte gespannt auf. Das Hundegebell kam ihm bekannt vor. Es war nicht das tiefe Bellen von Bulldoggen oder das helle Gekläff eines Terriers, sondern das Geheul, das er in früheren, längst vergangenen Nächten in indischen Dörfern gehört hatte.

 

»Wenn das keine indischen Paria sind, habe ich nie welche gehört«, sagte er vor sich hin und setzte seinen Weg fort.«

 

Von dem Abhang auf der Rückseite des Hauses konnte er die oberen Fenster des niedrigen Gebäudes sehen. Dann ging er wieder nach vorn und klopfte an das dicke, schwarze Holztor.

 

Das Heulen der Hunde mußte jemanden aufgeweckt haben, denn gleich darauf hörte er die scharfe Stimme einer Frau: »Wer ist da?«

 

»Ich möchte den Hausherrn sprechen«, sagte er.

 

»Sie können ihn jetzt nicht sprechen – er ist schon zu Bett gegangen.«

 

»Dann will ich Sie sprechen. Offnen Sie das Tor.«

 

Ein Schweigen folgte, dann sagte die Frau plötzlich: »Machen Sie, daß sie fortkommen, oder ich rufe die Polizei an.«

 

Die Pause verriet dem scharfsinnigen Detektiv, daß noch jemand anders zugegen war, der mit der Frau im Flüsterton sprach.

 

»Wollen Sie bitte Ihrem Herrn sagen, der schon zu Bett liegt, aber vermutlich noch nicht schläft, daß ich über die Mauer klettere, wenn Sie nicht öffnen?«

 

Diesmal schien die Frau auf keine Anweisung zu warten.

 

»Wenn Sie sich unterstehen, das zu tun, werde ich die Hunde auf Sie hetzen!« schrie sie.

 

Sie lief über das holprige Pflaster des Hofes, und gleich darauf ertönte das Geheul der Hunde, die vor ihr herstürmten.

 

»Werden Sie nun endlich machen, daß Sie fortkommen? Wenn ich das Tor öffne, werden sie Ihnen das Herz aus dem Leibe reißen, ek dum!«

 

Michael Dorn stieß unwillkürlich einen Ruf aus. Ek dum? Das war ein indischer Ausdruck. Wer konnte ihn gebrauchen?

 

»Ich denke, es ist besser, daß du mich einläßt, meine Schwester«, sagte er in Hindostani.

 

Es kam nicht sofort eine Erwiderung, aber Michael hörte deutlich, daß jemand energisch und eindringlich flüsterte.

 

»Ich weiß nicht, was Sie mit Ihrem fremden Kauderwelsch wollen«, antwortete die Frau dann heiser. »Gehen Sie endlich fort, sonst werden Sie es noch bereuen.«

 

Michael leuchtete mit seiner Lampe den oberen Rand des Tores ab und sah eine Reihe von rostigen Eisenspitzen. Sollte er es wagen? Aber es konnten ja redliche Leute sein. Es war nichts Außergewöhnliches, daß eine Frau ein paar indische Worte gebrauchte. Ihr Mann mochte ein Soldat gewesen sein, der früher in Indien gedient hatte, und sie hatte einige Redensarten von ihm aufgeschnappt.

 

»Seien Sie doch nicht so argwöhnisch und lassen Sie mich herein. Ich möchte nur ein paar Fragen an Sie stellen.« Es kam ihm ein guter Gedanke. »Ich komme nämlich von Chesney Praye.«

 

Es folgte ein langes, tiefes Schweigen, so daß er dachte, die Leute seien fortgegangen. Aber plötzlich sprach die Frau wieder.

 

»Wir kennen keinen Chesney Praye.«

 

»Wir? Wer ist denn Ihr Freund?« fragte Michael, aber er erhielt keine Antwort mehr.

 

Die Haustür wurde laut zugeworfen. Hinter dem Tor heulten und bellten die Hunde, und als er seine Fußspitzen vorsichtig zwischen den Boden und die Tür schob, hörte er das böse Schnappen und lächelte im Dunkeln.

 

Gleich darauf vernahmen sie drinnen im Haus von dem oberen Fenster aus das Geräusch des abfahrenden Autos. Der helle Schein der beiden Lampen zeigte ihnen, daß er sich in der Richtung nach London entfernte.

 

Lois Reddle packte Verzweiflung, und sie warf sich schluchzend auf ihr Bett.

 

Kapitel 27

 

27

 

Zwei Stunden waren nach Michael Dorns Abfahrt vergangen. Dr. Tappatt saß in seinem Wohnzimmer, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und sein dickes Gesicht in die Hände vergraben. Neben ihm stand ein halbgefülltes Whiskyglas. Er starrte düster ins Feuer, das Sommer und Winter für ihn brannte, seitdem er aus Indien zurückgekommen war. Früher hatte er einen berühmten Namen in der medizinischen Welt besessen, aber ein unglücklicher Vorfall trieb ihn von Edinburgh fort, wo er, obwohl er noch jung war, eine glänzende Praxis gehabt hatte. So war er nach Indien gekommen, aber auch dort hatte er einen schweren Stand. Ihm war nichts als seine sicherlich großen wissenschaftlichen Kenntnisse, seine geringen Ersparnisse und seine Vorliebe für guten Wein geblieben. Eine Zeitlang war er der Leibarzt eines indischen Fürsten, dann gründete er in einem bösen Augenblick ein Sanatorium für geisteskranke, reiche Inder.

 

Wenn nicht seine immer mehr zunehmende Trunksucht gewesen wäre, hätte er sich nach einigen Jahren angestrengter Tätigkeit mit einem Vermögen zurückziehen können, von dessen Zinsen er für den Rest seines Lebens sorglos hätte leben können. Aber Dr. Tappatt hatte böse Einfälle, die sich leider auch bei der Führung der Anstalt bemerkbar machten. Er mußte die Nordwestprovinzen in größter Eile verlassen und ließ sich in Bengalen nieder, wo er eine neue Anstalt gründete. Aber bald passierten auch hier merkwürdige Geschichten. Die Verwandten der Patienten zeigten ihn bei Gericht an, daß er Angehörige in der Anstalt festhielt oder verschwinden ließ, weil andere Leute daran interessiert waren. Schließlich wurde die Anstalt geschlossen, und er zog nach dem Pandschab.

 

Sein glänzender Verstand war durch den Konflikt mit den Behörden nur noch schärfer geworden; denn Strategie ist die Kunst, die Absichten seines Feindes genau zu erkennen.

 

Während er in die Flammen schaute, dachte er über die Charaktereigentümlichkeiten Michael Dorns nach, und er kam zu ganz bestimmten Schlüssen. Die Haushälterin war schon lange zu Bett gegangen und lag in festem Schlaf, als er den Gang entlangschlürfte und an ihre Tür klopfte.

 

»Kommen Sie heraus, ich will mit Ihnen sprechen.«

 

Er hörte sie schimpfen und ging zu seinem Studierzimmer zurück. Während er wartete, blickte er aufs Telefon und war versucht, die Hand nach dem Hörer auszustrecken. Aber er wußte, daß er die Person, die er anrufen wollte, nicht gut noch einmal stören durfte. Er hatte bereits seinen Bericht durchgegeben. Sein Plan war gut, und wenn er sich in der Beurteilung Michael Dorns auch täuschen sollte, konnte die Sache doch nicht weiter schlimm werden.

 

Als die Frau blinzelnd eintrat und ihr Kleid zuknöpfte, ließ er sie in einem Stuhl Platz nehmen und sprach ungefähr eine halbe Stunde mit ihr.

 

Sie war ärgerlich und machte viele Einwendungen, aber er beachtete sie nicht.

 

»Ich habe die letzten beiden Nächte kaum geschlafen«, beklagte sie sich, »und ich sehe gar nicht ein, warum –«

 

»Sollen Sie denn überhaupt etwas einsehen?« fuhr er sie an. »Sie haben zuzuhören – verstanden?«

 

Fast zwanzig Jahre lang diente sie ihm und fürchtete nur ihn. Nachdem sie vergeblich gemurrt hatte, fing sie an zu weinen. Da schickte er sie unwillig aus dem Zimmer.

 

+++

 

Um sieben Uhr morgens hüllte sich Dr. Tappatt in einen dicken, wollenen Mantel, denn er fröstelte in der kühlen Morgenluft. Dann zog er die Jalousien hoch und öffnete die Fenster des Wohnzimmers. Nachdem er auf einem Rundgang das Haus noch einmal inspiziert hatte, legte er Holzklötze aufs Feuer, nahm zwei große Stücke Fleisch und trug sie den Hunden hinaus, die ihn mit heiserem Gebell empfingen. Er ließ sich Zeit und hatte eine teuflische Freude daran, sie möglichst lange warten zu lassen. Als er sich umgesehen hatte, ging er zu der Vordertür des Gehöftes, drehte den Schlüssel um, schob die Riegel zurück und öffnete. Gerade im Eingang ihm gegenüber stand ein Mann. Der Doktor war verblüfft.

 

»Guten Morgen, Dr. Tappatt«, sagte Michael Dorn. »Ich dachte mir schon, daß ich Sie sehen würde, wenn ich nur früh genug zur Stelle wäre.«

 

»Großer Gott!« rief Tappatt. »Das ist ja ein unerwartetes Vergnügen, Mr. Dorn!«

 

»Ich freue mich, daß Sie so denken – hat Miss Reddle gut geschlafen?«

 

Der Doktor runzelte die Stirn.

 

»Miss Reddle? Wer ist denn das? Ach so – das war doch die nette, junge Dame, die ich im Haus der Gräfin von Moron traf – was fragen Sie mich da für sonderbares Zeug!«

 

»Sie haben mich nicht einmal hereingebeten – Sie haben wohl die alte anglo-indische Gastfreundschaft vollständig vergessen?« sagte Michael spöttisch.

 

Tappatt stand mit vorgebeugtem, rot aufgedunsenem Gesicht in der Tür und hatte die Hände in den Taschen vergraben.

 

»Ich kann mich nicht besinnen, Dorn, daß wir gerade sehr gute Freunde waren. Wir hatten doch im Gegenteil verschiedene recht unangenehme Auseinandersetzungen!« »Trotzdem – entweder laden Sie mich ein oder –«

 

»Oder?« wiederholte der Doktor.

 

»Oder ich lade mich selbst ein. Ich habe so einen ganz besonderen Wunsch, mich einmal in Ihrem kleinen Haus umzusehen.«

 

Ein Grinsen ging über das häßliche Gesicht Dr. Tappatts.

 

»Kommen Sie mit oder ohne Erlaubnisschein von der Polizei, mein Haus zu durchsuchen?« fragte er höflich.

 

»Im Augenblick habe ich noch keinen, aber Sie und ich sind doch zwei alte Gesetzesübertreter, Tappatt, wir haben uns beide nie viel Sorgen um Formalitäten gemacht.«

 

Inzwischen war er durch das Tor gegangen, aber merkwürdigerweise schien er sich nicht um die Hunde zu kümmern. Tappatt sah es, und es kam eine plötzliche Bewegung in ihn.

 

Er hatte früher, als Dorn noch ein höherer Polizeibeamter war, öfter böse Zusammenstöße mit ihm gehabt und dabei fast immer den kürzeren gezogen.

 

»Ich kann Ihnen nicht widerstehen«, sagte er und öffnete die Haustür. »Treten Sie ein.«

 

Er brauchte Michael nicht zweimal einzuladen. Sorglos ging er in das Haus und wandte sich gleich dem Studierzimmer zu, als ob er schon früher hier gewesen wäre. Der Doktor folgte ihm.

 

»Nun, was wünschen Sie denn?«

 

»Ich möchte das Grundstück durchsuchen. Ich bin nämlich auf der Spur der Mrs. Pinder und ihrer Tochter, Lois Margeritta Reddle, und ich vermute, daß sie gewaltsam hier zurückgehalten werden.«

 

Tappatt schüttelte den Kopf.

 

»Ich fürchte nur, Sie sind auf einer ganz falschen Fährte. Keine von diesen beiden Damen bewohnt mein Haus. Im Augenblick habe ich keine Patienten.«

 

»Sie haben ja auch gar nicht die Erlaubnis dazu«, sagte Michael. »Ich habe mir die Mühe genommen, die Akten durchzulesen. Man kann sie sogar mitten in der Nacht bekommen – ich fürchtete schon, daß eine Behörde mit zu kurzem Gedächtnis Ihre verschiedenen schweren Vergehen übersehen und vergessen hätte, und ich freute mich, daß Ihre Akten auch hier vollständig vorhanden sind.«

 

»Ich habe noch kein Gesuch eingereicht«, erwiderte Tappatt kurz. Jede Frage nach seinem Beruf berührte bei ihm einen wunden Punkt. »Ich sehe nicht ein, warum ich Ihnen erlauben sollte, mein Haus zu durchsuchen«, fuhr er fort. »Sie haben ebensowenig amtliche Autorität als Detektiv, wie ich die Erlaubnis habe, eine Anstalt für Geisteskranke zu führen. – Sie können ja meinethalben hier anfangen – sehen Sie doch unter den Tisch oder unter das Sofa.« Er wurde sarkastisch. »Es ist ja möglich, daß ich irgendeinen Unglücklichen verborgen habe!«

 

Dorn verließ das Zimmer, ging den Gang entlang, blieb vor einer Tür stehen, die gleich neben der Treppe lag und drückte die Klinke herunter.

 

»Das ist das Zimmer meiner Haushälterin.«

 

»Wo ist sie jetzt?« fragte Michael.

 

»Sie ist in der Küche.«

 

Michael trat in das Zimmer, zog die Vorhänge auf und sah sich um. Seine Gemütsverfassung war nicht zu erkennen. Die Willfährigkeit aber, mit der Dr. Tappatt ihm die Erlaubnis gab, das Haus zu untersuchen, schien ihm verdächtig. Die Sache entwickelte sich anders, als er erwartet hatte.

 

»Oben sind noch zwei Räume – wollen Sie die vielleicht auch sehen?«

 

Dorn nickte und folgte dem Doktor auf dem Fuße.

 

»Diesen Raum würde ich als Krankenzimmer benützen, wenn ich das Glück hätte, Patienten zu bekommen.«

 

Er stieß die Tür zu dem Zimmer auf, in dem Lois sich aufgehalten hatte. Es war leer, die Bettbezüge waren von den Betten abgenommen und die Bettücher sorgfältig am Fußende zusammengelegt. Michael ging in den Raum, sah sich auch in dem Badezimmer um, untersuchte die Fenster und kam wieder heraus, ohne ein Wort zu sagen. Die meisten Frauen haben ein bestimmtes Parfüm, das sie stets gebrauchen. Er wußte, daß Lois stets ein wenig Lavendel nahm – hier hatte er, allerdings nur ganz schwach, denselben Duft wahrgenommen.

 

Das Zimmer gegenüber war weniger bequem eingerichtet und stand auch leer. Er wußte, daß zwischen der Decke und dem Dach nur wenig Platz war und daß man dort nur jemand unterbringen konnte, der selbst ein Interesse daran hatte, nicht aufgefunden zu werden.

 

Er begnügte sich deshalb mit einer ganz kurzen Untersuchung. Der andere Flügel des Hauses war kaum bewohnbar. An manchen Stellen schaute der Himmel durch große Lücken im Dach, und die Balkenlage des oberen Geschosses war durch Regenwasser und Feuchtigkeit vollkommen verfault. Der Verfall war schon so weit fortgeschritten, daß nicht einmal ein Kind ohne Gefahr den Fußboden hätte betreten können.

 

»Wohin kommt man da?« fragte Michael, als er auch das Untergeschoß des zerfallenen Teiles besichtigt hatte. Er zeigte auf eine Treppe, die nach unten führte.

 

»Das ist eine Art Keller – Sie können hineingehen«, sagte Tappatt gleichgültig.

 

Michael stieß die Tür auf und trat in einen kleinen Raum. Ein wenig Luft und Licht wurde durch ein Gitter in der Wand eingelassen, sonst war kein Fenster oder irgendeine Öffnung vorhanden. Nur in der Tür bemerkte er ein Guckloch. Mit seiner Taschenlampe leuchtete er den Raum ab und entdeckte in der einen Ecke eine alte Bettstelle und einen einfachen Waschtisch. Er trat an das Lager, drehte die zusammengefalteten Bettücher um und kam dann wieder nach oben an das Tageslicht. »Ein luftiger Raum!« sagte er trocken. »Ist das auch ein Krankenzimmer?«

 

»Mancher arme Kerl, der draußen kampieren muß, wäre froh, wenn er einen solchen Raum hätte«, entgegnete Dr. Tappatt.

 

Michael zeigte seine Zähne und lächelte grimmig.

 

»Sind Sie jemals im Gefängnis gewesen, Tappatt? Vermutlich nicht«, sagte er, als er die Treppe wieder hinaufstieg.

 

Niemand wußte besser als Dorn, daß der Doktor mehrere Male der Verurteilung nur mit knapper Not entgangen war. Aber er wollte ihm auf diese Weise eine Warnung geben.

 

»Ich hatte nicht diesen Vorzug.«

 

»Noch nicht«, sagte Dorn. »Die Zellen in Dartmoor sind bedeutend gesünder als dieses schwarze Loch hier im Keller – wie Sie sich überzeugen können. Viel frische Luft und viel Licht, und das Essen ist auch gut.«

 

Tappatt schluckte ärgerlich, aber er, sagte nichts.

 

»Was ist hier drin?« Dorn blieb vor einem verschlossenen Schuppen stehen.

 

»Ein Auto, das einem meiner Freunde gehört – wollen Sie es sehen?« »Ach, das ist der blaue Buick!«

 

»Ja, es ist ein Buick.«

 

»Der ist gestern abend hier eingestellt worden?«

 

Tappatt lächelte und schüttelte den Kopf.

 

»Er ist schon eine ganze Woche hier. Manchmal sind Sie auch etwas zu schlau.«

 

»Kann ich ihn sehen?« fragte Dorn.

 

Der Doktor ging zum Haus zurück, um den Schlüssel zu holen, während Michael schnell die übrigen Gebäude besichtigte. Die beiden Hunde bellten furchtbar, als er in ihre Nähe kam, rissen an ihren Ketten, so daß es schien, als ob sie sich erwürgen wollten. Als der Doktor zurückkam, untersuchte Dorn gerade das hintere Tor und seine nähere Umgebung. Der Boden war hart, und er konnte keine Fußspuren entdecken; selbst das Auto hatte keine Eindrücke hinterlassen.

 

»Hier ist der Schlüssel.«

 

»Ich glaube nicht, daß der Wagen mich noch interessiert«, sagte Dorn langsam. »Ich kenne ihn ja sehr gut und den Eigentümer noch besser.« Er schaute sich wieder um. »Aber ich sehe die Haushälterin nirgends.«

 

»Sie wird ins Dorf gegangen sein, um für die Küche einzukaufen.«

 

Michael zog langsam ein goldenes Etui aus seiner Tasche, nahm eine Zigarette heraus, zündete sie an und warf das noch brennende Streichholz den Hunden zu. Hierdurch wurde ihre Wut aufs neue angestachelt.

 

»Nehmen Sie sich bloß vor den Tieren in acht«, warnte ihn der Doktor. »Man darf nicht mit ihnen spaßen oder sie zu sehr ärgern. Ich wüßte nicht, was sie mit Ihnen machen würden, wenn sie sich losrissen – selbst wenn ich dabeistünde.«

 

»Die Hunde müßten sich im Gegenteil vor mir sehr in acht nehmen«, sagte Dorn. »Ich habe während meiner Dienstzeit in Indien mehr Pariahunde getötet als irgendein anderer Polizeioffizier.«

 

»Die hätten sie eher geschnappt, als Sie nur den Finger rühren könnten«, erwiderte Tappatt ärgerlich.

 

Dorn lächelte und streckte seine Hand gerade aus.

 

»Sehen Sie das?« fragte er. »Passen Sie mal auf.«

 

Wie es kam, konnte Tappatt nicht sehen oder sich auch nur im mindesten erklären, aber obwohl Dorn die Hand nicht bewegt hatte, hielt er plötzlich eine kurze, schwerkalibrige Browningpistole in der Hand.

 

»Wie haben Sie das bloß gemacht?« staunte er. »Sie hatten sie schon immer in der Hand –«

 

»Nein – die Pistole kam aus meiner Tasche«, lachte Michael. Er liebte es, durch seine Taschenspielerkunststückchen anderen Furcht einzujagen.

 

»Ich möchte schwören, daß sie nicht in Ihrer Tasche war!«

 

»Passen Sie auf!«

 

Wieder streckte er die Hand mit der Pistole aus. Eine unauffällige Bewegung – ob nach oben oder nach rückwärts, konnte Tappatt nicht sagen –, und die Pistole war wieder verschwunden.

 

»Da ist eben ein Trick dabei«, sagte Dorn gleichgültig. »Und wenn Sie die Hundesprache sprechen können, dann erklären Sie Ihren Bestien, daß sie mich besser in Ruhe lassen. Aber ich erinnere mich – Hundehetzen ist doch immer Ihre Spezialität gewesen? War nicht in Bengalen einmal ein großer Skandal wegen eines Patienten, der von den Hunden zerrissen wurde?«

 

Der Doktor schaute zur Seite.

 

»Warum liegen eigentlich die Hunde jetzt an der Kette?«

 

»Ich habe sie meistens angeschlossen.«

 

»Aber letzte Nacht waren sie doch frei – Sie wissen ja, daß ich mich in der Nähe aufgehalten habe. Dagegen waren sie heute morgen um vier Uhr wieder festgemacht, und das scheint doch nicht die richtige Zeit zu sein, sie an die Kette zu legen. Warum haben Sie das getan?«

 

Tappatt schwieg. Dorn war um vier Uhr morgens zurückgekommen! Er hatte also die Menschen nicht mehr gesehen, die Gallows Farm verließen und querfeldein gingen.

 

»Soll ich Ihnen sagen, warum?« fragte Dorn wieder.

 

»Sie haben ja ein außerordentliches Bedürfnis, mir Mitteilungen zu machen«, knurrte der Doktor.

 

»Sie haben die Hunde an die Kette gelegt, weil Sie die beiden Frauen in der vergangenen Nacht aus dem Haus geschafft haben. Sie mußten über den Hof gehen, und das konnte nur geschehen, wenn die Hunde nicht frei umherliefen. Bitte sagen Sie es, wenn ich nicht recht habe. Sie sind hier auf diesem Weg hinausgegangen, und auf diesem Weg werden sie auch zurückkommen.«

 

Dr. Tappatts Gesicht wurde lang. Das war eine Entwicklung zu seinen Ungunsten. Er hatte erwartet, daß Dorn sich mit der Durchsuchung zufriedengeben und dann das Gehöft wieder verlassen würde. Sein Plan klappte nicht so, wie er gedacht hatte.

 

»Sie können mich zum Frühstück einladen – ich bleibe so lange, bis die beiden Frauen zurückkommen.«

 

»Ich schwöre Ihnen, daß ich nichts von den Frauen weiß, von denen Sie da fabeln«, protestierte Tappatt heftig. »Sie irren sich, Dorn, außerdem haben Sie überhaupt kein Recht hier zu sein – das weiß ich!«

 

»Ich irre mich niemals«, sagte Dorn herausfordernd, »und ich habe volle Berechtigung, hier zu sein und zu bleiben. Es ist die erste Pflicht eines Staatsbürgers, Verbrechen zu vereiteln, und die erste Pflicht eines Gastgebers ist es, seinen Gast einzuladen, wenn er hungrig ist. Nun laden Sie mich eben zum Frühstück ein und während des netten Essens will ich Ihnen dann noch verschiedenes erzählen, was Sie sehr interessieren und belustigen wird.«

 

Tappatt schaute verwirrt zur Seite. Jetzt saß er in der Falle. Seine List hatte nicht nur versagt, sondern sich sogar gegen ihn selbst gekehrt. Dorn beobachtete ihn unauffällig von der Seite und bemerkte, daß er schwer atmete. Mit Befriedigung sah er, daß er ihm einen Schrecken eingejagt hatte.

 

»Sie können nicht hier bleiben. Ich kann Sie nicht gebrauchen«, rief Tappatt ärgerlich. »Diese wahnsinnige Geschichte, daß zwei Frauen in meinem Haus sein sollen, ist irgendeine Mondscheinphantasie von Ihnen. Das wissen Sie auch ganz genau. Ich gebe Ihnen eine Minute Zeit, das Gehöft zu verlassen! Denken Sie doch ja nicht, daß ich mich von Ihnen bluffen lasse!«

 

Michael lachte leise.

 

»Nun, was wird denn passieren, wenn ich nicht fortgehe? Wollen Sie zur Polizei schicken? Damit wäre doch der Polizei die Möglichkeit gegeben, einmal die ganze Gegend gründlich abzusuchen und Sie zu überführen. Denken Sie doch nur an den scharfen Polizeikommissar, der damals Ihre Anstalt in den Nordwestprovinzen in Indien schloß. Sie wären damals fünf Jahre ins Delhi-Gefängnis gesperrt worden, wenn sich die Regierung etwas schneller entschlossen hätte. Holen Sie nur die Polizei, mein Lieber, das wird ja für Sie eine große Reklame werden.«

 

Tappatt hatte wirklich nicht die Absicht, das zu tun. Für ihn war die Polizeitruppe keine öffentliche Einrichtung, die er brauchen konnte. Da er selbst einen scharfen Verstand besaß, glaubte er sich über die Polizei lustig machen zu können.

 

»Na ja«, brummte er endlich, »kommen Sie herein. Aber Sie werden ja sehen, daß Sie sich bei der Geschichte mit den Frauen geirrt haben.«

 

»Wir wollen auch nicht weiter darüber reden«, sagte Michael mit einer freundlichen Handbewegung.

 

Kapitel 28

 

28

 

Michael Dorn konnte wirklich zufrieden sein mit diesem Teilerfolg. Aber er war ein nüchterner Kopf, der Eier nicht als Hühner rechnete. Auch unterschätzte er nicht die Schlauheit dieses ränkevollen Mannes, mit dem er hier zu tun hatte.

 

Die Gedanken des Doktors arbeiteten schnell, und ein volles Glas Whisky half ihm. Er hatte seine volle Denkkraft und Leistungsfähigkeit immer erst erreicht, wenn er ein Anregungsmittel zu sich genommen hatte. Dorn wollte also vorläufig in seinem Haus bleiben. Es kamen ihm allerhand Gedanken, wie er sich dieses unliebsamen Besuchers entledigen könnte, aber er verwarf sie alle wieder.

 

»Sagen Sie mir, wo der Kaffee steht, und ich werde ihn selbst kochen«, sagte Dorn. »Seien Sie nicht böse, wenn ich ein wenig argwöhnisch bin, aber die Ärzte haben eine unheimliche Kenntnis gewisser Drogen und Gifte, und ich würde nicht gern aus dem einen oder anderen Grund hier einschlafen, nur weil Sie die Möglichkeit hatten, mir etwas in mein Getränk zu gießen.«

 

Er ging in die Küche, machte Feuer und setzte den Wasserkessel auf. In einer Schublade des Schranks fand er eine Schachtel Keks und eine Büchse Kondensmilch – die Zutaten zum Frühstück hatte er schon beisammen. Er kannte den Doktor nur zu gut. Er hatte durch seine Bemerkung Tappatts Gedanken in bestimmter Richtung in Bewegung gesetzt. Würde er wohl den ihm angedeuteten Schritt tun oder würde er anders handeln, als der Detektiv vermutete?

 

Im Arbeitszimmer lag der Doktor zusammengerollt in seinem Sessel vor dem Feuer und schmiedete Pläne. Merkwürdigerweise hatte er nicht an ein Betäubungsmittel gedacht, bis Dorn die Bemerkung machte. Er hörte, wie Michael draußen vor sich hinpfiff, erhob sich leise, ging zu seinem Pult und suchte unter den Medizinflaschen, die in verschiedenen Schubladen untergebracht waren. Er fand auch sofort, was er suchte.

 

Aus einer Glashülse nahm er eine kleine, graue Pille, ließ sie in seine flache Hand gleiten und stellte das kleine Fläschchen wieder an seinen Platz. Dann zog er die Jalousie wieder vorsichtig über den Schreibtisch und schloß ihn ab. Es war möglich, daß er keine Gelegenheit finden würde, das Betäubungsmittel zu gebrauchen. Aber selbst ein Mann wie Dorn, der so sehr auf seine eigene Sicherheit bedacht war, hatte manchmal seine schwachen Momente, in denen er die nötige Vorsicht außer acht ließ. Er klemmte die Pille zwischen den zweiten und dritten Finger seiner linken Hand und setzte sich wieder an den Kamin. Michael Dorn fand ihn dort, als er mit dem fertigen Kaffee hereinkam. Tassen, Teller und alles nötige Zubehör trug er auf einem Tablett, die Schachtel mit Keks hatte er unter dem Arm.

 

»Es ist am besten, wenn Sie mir gleich die Zeit mitteilen, in der Sie unsere Freundinnen zurückerwarten, oder wenn Sie das nicht wollen, sagen Sie mir wenigstens, welches Signal Sie verabredet haben, um ihnen anzudeuten, daß die Luft wieder rein ist?«

 

»Sie sind doch verrückt, wenn Sie so etwas sagen«, entgegnete Tappatt böse. »Ich dachte, Sie wollten nicht mehr über die Frauen reden. Glauben Sie mir doch, sie sind wirklich nicht hier.«

 

»Also habe ich doch schon wieder von der Sache reden müssen«, murmelte Michael entschuldigend. »Wollen Sie nicht etwas Kaffee nehmen? Er ist unvergleichlich besser und bekömmlicher als der gelbe Whisky, den Sie da auf dem Kamin stehen haben, auch kostet Kaffee nur den zwanzigsten Teil!«

 

Er goß eine Tasse ein und schob sie dem andern hin, aber der Doktor schaute sich nicht einmal danach um.

 

Dorn schlürfte mit größtem Wohlbehagen das heiße, belebende Getränk und beobachtete dabei Tappatts mürrisches Gesicht.

 

Plötzlich hob der Doktor den Kopf, als ob er irgend etwas gehört hätte.

 

»Es kommt jemand«, sagte er.

 

Der Detektiv ging zur Tür und horchte. Als er sich wieder umdrehte, saß der Doktor in seiner alten Stellung am Kamin.

 

»Es war eine Einbildung – scheint vom Whisky zu kommen, alter Freund!« sagte Dorn.

 

Er goß sich wieder ein, nahm reichlich Milch und rührte seine Tasse um.

 

»Sie sagten doch vorhin, daß Sie mir etwas Interessantes erzählen wollten«, erinnerte Tappatt, der noch immer ins Feuer starrte, seinen unwillkommenen Gast.

 

»Ja, es betrifft Sie. Man beabsichtigt, Sie wegen der indischen Geschichte vor das ärztliche Ehrengericht zu stellen – und es ist ja klar, daß Ihnen dann Ihr Titel und Ihre Approbation als Arzt genommen werden.«

 

Das war selbst Tappatt ganz neu. Er sprang erregt auf.

 

»Das ist eine Lüge«, rief er laut.

 

Plötzlich neigte Michael seinen Kopf zur Seite.

 

»Was war das?« fragte er.

 

Tappatt schaute sich um.

 

»Ich habe nichts gehört.«

 

Aber der Detektiv brachte ihn durch einen Wink zum Schweigen. Er stand auf, nahm seine Tasse Kaffee mit und ging wieder an die Tür, um zu lauschen.

 

»Bleiben Sie hier«, sagte er leise und ging hinaus.

 

Eine Minute später kam er wieder zurück, blieb aber an der Tür stehen und trank seine Tasse aus. Der Doktor wandte sich zur Seite, um sein Grinsen zu verbergen.

 

»Sie sind nervös, mein Lieber«, sagte er. »Wenn Sie mir genug Vertrauen geschenkt und Ihre Tasse hiergelassen hätten, dann hätte ich Ihnen etwas gegeben, um Sie zu heilen!«

 

»Das glaube ich auch!« sagte Michael und setzte die leere Tasse auf den Tisch. »Ich bin meinem Gastgeber gegenüber nicht gern unhöflich, aber ich habe den Grundsatz, in solchen Fällen stets meinen Trunk auszugießen, wenn ich in zweifelhafter Gesellschaft bin.«

 

Der Doktor schaute in Dorns Tasse und war befriedigt, als er sah, daß er sie ganz ausgetrunken hatte. Es war diesmal leichtgefallen, ihn zu überlisten, aber immerhin war die Gefahr keineswegs vorüber.

 

»Wissen Sie, Dorn, was ich an Ihnen schätze? Sie sind ein Gentleman – ich will Ihnen damit kein Kompliment machen, ich konstatiere nur eine Tatsache. Ich habe schon mit Polizeibeamten zu tun gehabt, die der Abschaum der Gesellschaft waren, und es ist doch sehr angenehm, wenn man auch einmal das Gegenteil kennenlernt. Sie wollten mich doch nur zum besten haben, als Sie mir eben erzählten, daß mir meine Approbation als Arzt aberkannt werden soll?«

 

»Ich habe Sie nicht zum besten gehabt – im Gegenteil, ich bin ja gerade derjenige, der bei der Sitzung des Ehrengerichts persönlich den Antrag stellen will, und Sie können sicher sein, daß ich in der Lage bin, genügend Material über Sie zu liefern, so daß Ihre Stellung in England unhaltbar wird.«

 

Tappatt lächelte gezwungen.

 

»In diesem Fall ist es besser, daß ich alles tue, um mich mit Ihnen gut zu stellen.« Er erhob sich. »Wenn Sie mit mir kommen, werde ich Ihnen etwas zeigen, was Sie übersehen haben.«

 

Er lächelte Dorn an, und dieser folgte ihm auf den Hof.

 

»Sie haben sich sehr ungünstig über die Lüftung dieser kleinen, netten Gefängniszelle ausgesprochen«, sagte der Doktor. Er stand am Eingang der Treppe, die zu dem Kellerraum führte. »Es ist Ihnen anscheinend entgangen, daß das Gelaß doch mehr Luftzufuhr hat, als Sie dachten. Kommen Sie mit.«

 

Er eilte die Treppe hinunter, stieß die schwere Tür auf und ging hinein.

 

»Haben Sie nicht die Falltür in der Ecke des Raumes gesehen?«

 

Michael folgte ihm und ging quer über den mit Ziegelsteinen ausgelegten Fußboden, aber kaum hatte er drei Schritte getan, als die Tür zuschlug. Der Schlüssel drehte sich im Schloß, und er hörte Tappatts hämisches Lachen …

 

»Das ist mein Trick – und zeigen Sie mir noch mal Ihren mit der Pistole«, lachte der Doktor.

 

Ein scharfer Schuß ertönte, und Holzsplitter flogen von der Tür. Tappatt stieg die Treppe hinauf und lachte hysterisch.

 

Er ging zum Wohnzimmer zurück. Michaels Tasse stand noch auf dem Tisch. Er schüttete etwas lauwarmen Kaffee hinein und probierte vorsichtig den Geschmack.

 

»Geist gegen Geist! Verstand gegen Verstand! Ich denke, daß ich in diesem Kampf den Schlußpunkt gesetzt habe«, sagte er dann befriedigt. Die Überrumpelung war einfach gewesen. Er machte sich keine Sorge um das, was jetzt noch geschehen konnte.

 

Für Dr. Tappatt war das Spiel im Prinzip schon beendet. Seine Auftraggeberin war mehr als freigebig gewesen – eine bedeutende Summe war ihm für seine letzten Dienste versprochen worden, und dann lag die ganze Welt offen vor ihm. Zwei Jahre lang hatte er nun der Gräfin treu und gut gedient. Es war eine ziemlich langweilige Arbeit, aber was von ihm verlangt wurde, hielt sich immer noch innerhalb der Grenzen des Gesetzes. Der Doktor war sich aber über die Konsequenzen seiner letzten Handlungen durchaus klar. Er wußte, daß dieses Abenteuer ihn in eine sehr böse Lage bringen konnte. Er wollte es unter keinen Umständen zu einer Aburteilung kommen lassen. Daß er Michael Dorn eingesperrt hatte, gab ihm eine Atempause, einen Aufschub. Bevor die schwerfällige Gesetzesmaschine in Gang kam, würde es noch einige Zeit dauern. Und heute konnte ein Mann, der kurz entschlossen und umsichtig handelte, in vierundzwanzig Stunden von einem Ende Europas zum anderen kommen.

 

Eine halbe Stunde verging, eine ganze halbe Stunde – er schaute wohl schon zum zwanzigstenmal auf seine Uhr. Endlich erhob er sich und zog eine Schublade in seinem Schreibtisch heraus. Er nahm ein Paar Handschellen heraus und summte vergnügt eine Melodie vor sich hin, als er sie aufschloß.

 

Dann klopfte er laut an die Tür des Kellerraums und rief den Gefangenen beim Namen. Als er keine Antwort erhielt, schloß er auf und schaute vorsichtig hinein. Er öffnete einen schmalen Schlitz, so daß er auf das Bett schauen konnte. Michael Dorn lag bewegungslos mit dem Gesicht nach unten und hatte seinen Kopf auf den Arm gelegt.

 

Ohne Zögern ging Tappatt hinein, drehte die steife Gestalt um und durchsuchte schnell die Taschen. In der Hüfttasche fand er die Pistole nicht, sie stak in einer besonderen Tasche innerhalb seines Rocks. Als er den Detektiv durchsuchte, blinzelte dieser und murmelte etwas Unverständliches.

 

»Das viele kluge Reden ist Ihnen jetzt vergangen, alter Freund«, meinte der Doktor vergnügt.

 

Er nahm einige Papiere aus der Tasche Dorns und steckte sie in seine eigene. Uhr und Kette ließ er zurück, aber alles, was Michael irgendwie als Waffe hätte brauchen können, sogar das kleine Taschenmesser, nahm er an sich. Als er damit fertig war, legte er seinem Gefangenen die Handschellen an und schaute dann befriedigt lächelnd auf sein Werk. Darauf ging er zum Haus zurück, nahm die Keksschachtel, füllte einen Krug mit Wasser, brachte beides in den Kellerraum und stellte es neben das Bett.

 

»Sie haben sich leicht übertölpeln lassen«, sagte er, zu dem Bewußtlosen gewandt, »und die Sache ist noch viel einfacher, weil Sie keine offizielle Stellung einnehmen und nur ein paar Freunde haben, die sich um Sie kümmern oder die Polizei von Ihrem Verschwinden verständigen könnten. Und wenn die Polizei auch wirklich alarmiert wird – wo sollte die mit Nachforschungen beginnen?«

 

Er verschloß die Tür wieder, ging durch das vordere Tor der Umfassungsmauer und sah sich um. Dorn mußte seinen Wagen irgendwo hier in der Nähe gelassen haben, und ein Auto, das im Freien steht, konnte die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich ziehen. Es war auch möglich, daß er nicht allein gekommen war. Aber obwohl der Doktor eine Meile im Umkreis alles absuchte, konnte er nichts entdecken und kehrte müde zu dem Haus zurück.

 

Die Gewißheit hatte er freilich: nie wieder würde der Gedanke an Michael Dorn wie ein drohendes Gespenst seine angenehmen Zukunftsträume stören.

 

Er triumphierte.

 

Kapitel 29

 

29

 

 

Meine liebe Miss Smith,

 

ich habe versucht, meinen Assistenten John Wills zu benachrichtigen. Vielleicht hat er auch meinen Brief bekommen, aber es wäre möglich, daß ihn meine Botschaft durch irgendeinen unglücklichen Umstand nicht erreicht hat. Ich wäre Ihnen nun zu großem Dank verpflichtet, wenn Sie ihn aufsuchen und ihm den eingeschlossenen Brief übergeben wollten, der eine genaue Abschrift aller Instruktionen enthält, die ich bereits an ihn absandte. Ich hoffe, daß ich den Aufenthaltsort Miss Reddles gefunden habe und Ihnen morgen weitere Nachrichten senden kann. Aber ich habe es hier mit einem Mann von außerordentlicher Verschlagenheit und Schlauheit zu tun. Miss Reddle ist in Gallows Farm in der Nähe von Whitecomb in Somerset. Wenn Sie im Lauf des nächsten Tages kein Telegramm von mir erhalten, so sitze ich vielleicht – aber gegen meinen Willen – gefangen. Ich habe alle Möglichkeiten überdacht, aber trotzdem könnte es sein, daß ich etwas vergessen hätte, oder es könnten unvorhergesehene Ereignisse eintreten. Würden Sie mir daher den Gefallen tun, den ganzen Tag über in Ihrer Wohnung in der Charlotte Street zu bleiben? Es wäre das beste, wenn Sie Mr. Shaddles bäten, Ihnen den Tag freizugeben. Zeigen Sie ihm, wenn nötig, diesen Brief. Er wird meinen Namen kennen, ich habe vor einigen Jahren seine Bekanntschaft gemacht.

 

Mit bestem Gruß

Michael Dorn

 

 

Die Worte »Zeigen Sie ihm, wenn nötig, diesen Brief« waren dick unterstrichen.

 

Ein Eilbote hatte ihr den Brief gebracht. Der Poststempel zeigte den Namen einer Stadt in Somerset. Lizzy Smith las ihn dreimal. Zuerst mußte sie die Worte entziffern, dann verstand sie den Inhalt, und das drittemal las sie ihn mit persönlicher Genugtuung, denn sie fühlte sich plötzlich zu einer wichtigen Persönlichkeit gestempelt. Heimlich mußte sie darüber lachen, daß Michael sich einbildete, ihr alter, geiziger Chef würde ihr Urlaub geben, nur weil er früher einmal Mr. Dorn flüchtig kennengelernt hatte. Der Alte würde ihn wahrscheinlich längst wieder vergessen haben und ihr unter keinen Umständen gestatten, von ihrer Arbeit fernzubleiben.

 

Die Neuigkeit war viel zu interessant, als daß Lizzy sie lange für sich allein behalten konnte. Sie nahm den Brief und ging zu Mr. Mackenzie hinunter. Als sie bei ihm eintrat, war er gerade damit beschäftigt, eine neue Saite auf seine Violine zu ziehen.

 

»Letzte Nacht habe ich es ausgehalten«, sagte sie nicht unhöflich. »Ich hörte Sie in einem fort Ihre Geige stimmen.«

 

»Ich habe doch meine Geige nicht dauernd gestimmt«, erwiderte der alte Mackenzie überrascht. »Ach so –ich habe klassische Musik gespielt, und da ist es möglich, daß Sie es für Stimmen hielten, weil Sie nicht daran gewöhnt sind. Es war die Arie aus ›Samson und Delila‹, es ist ein wundervolles Stück.«

 

Er zog die Brille, die er auf die Stirn geschoben hatte, wieder herunter, und nahm den Brief aus ihrer Hand.

 

»Soll ich das lesen?« fragte er, und als sie nickte, entzifferte er die kleine merkwürdige Schrift Dorns Zeile für Zeile.

 

»Das scheint ja eine sehr gute Nachricht zu sein. Wird Miss Reddle heute abend wieder zurückkommen?«

 

Lizzy seufzte ungeduldig.

 

»Wie soll ich wissen, ob sie schon heute abend zurückkommt?« Sie war empört darüber, daß der Brief auf ihn nicht denselben Eindruck machte wie auf sie. »Es ist möglich, daß sie überhaupt nicht wiederkommt! Verstehen Sie denn gar nichts anderes, als was Sie auf der Violine spielen können, Mr. Mackenzie? Sie ist doch in der Gewalt dieses fürchterlichen Menschen in Gallows Farm! Die ganze Sache hängt jetzt nur von mir ab. Mike versteht nur zu gut die menschlichen Naturen, und wenn er irgendwie in eine schwierige Lage gerät, dann nimmt er seine Zuflucht zu Elizabeth Smith. Der Mann hat Menschenkenntnis.«

 

»Natürlich«, murmelte Mr. Mackenzie.

 

»Nun ist die Frage«, überlegte Lizzy und zog ihre Stirn in nachdenkliche Falten, »soll ich zuerst versuchen, diesen Wills aufzusuchen, oder soll ich zunächst ins Büro gehen?«

 

»Ich würde an Ihrer Stelle in Mr. Dorns Wohnung anrufen«, sagte der alte Mann …

 

Auf Ihrem Weg zum Büro machte sie bei der ersten öffentlichen Telefonzelle halt und rief Michaels Nummer an, aber es meldete sich niemand. Die Nachrichten, die sie heute morgen erhalten hatte, schmeichelten ihr außerordentlich, und die Verantwortung gab ihr das angenehme Gefühl, daß sie persönlich mit großen Ereignissen in Zusammenhang stand. Trotzdem sah sie mit Besorgnis der Unterhaltung mit dem alten Shaddles entgegen. Daß er ihr den Tag freigeben würde, war eine völlig aussichtslose Hoffnung. Viel wahrscheinlicher war es, daß er mit seinem knöchernen Finger auf die Tür zeigen und sie aus seinem Büro verweisen würde. Aber auch wenn sie ihre Lebensstellung dabei opfern sollte – sie war entschlossen, bei der Hand zu sein, wenn man ihre Hilfe brauchte. Was sie aber tun sollte oder auf welche Weise sie Michael zu Hilfe kommen konnte, darüber machte sie sich weiter keine Sorgen.

 

Als sie ins Büro kam, hatte sie sich bereits drei verschiedene Entschuldigungsgründe zurechtgelegt, aber leider standen sie in keinerlei Beziehung zueinander. Glücklicherweise brauchte sie später nur zwei davon vorzubringen.

 

Mr. Shaddles war schon im Büro. Unweigerlich kam er als erster und ging als letzter. Ohne ihren Hut abzunehmen, klopfte sie an die Glastür und als sie sein unfreundliches Herein hörte, hätte sie beinahe ihre Absicht aufgegeben, ihn um Urlaub zu bitten. Er sah sie von der Seite an, als sie hereinkam, und bemerkte auch gleich, daß sie Hut und Mantel noch nicht abgelegt hatte.

 

»Nun, was gibt’s? Warum sind Sie nicht an der Arbeit? Es ist bereits fünf Minuten nach Beginn!«

 

Lizzy legte ihre Hand leicht auf den Tisch und begann in ihrer süßesten und höflichsten Art zu sprechen.

 

»Mr. Shaddles, es tut mir furchtbar leid, daß ich Sie störe, aber infolge eines Todesfalles in der Familie möchte ich Sie bitten, mir den Tag freizugeben.«

 

»Wer ist gestorben?« brummte er.

 

»Eine Tante«, sagte sie kleinlaut und fügte noch hinzu: »Mütterlicherseits.«

 

»Tanten sind keine nahen Verwandten«, entgegnete der alte Mann und winkte ihr zur Tür. »Onkel haben auch nicht viel zu sagen. Ich kann Sie heute nicht entbehren. Wozu müssen Sie denn auch immer zu Begräbnissen laufen?«

 

»Nun ja – der wirkliche Grund ist dieser Brief«, sagte Lizzy, die ganz außer Fassung geraten war, und zeigte ihm Dorns Schreiben. »Ich erhielt ihn heute morgen.«

 

Er nahm den Bogen mit offenbarem Widerwillen, las ihn aber trotzdem sorgfältig durch. Dann saß er lange und schwieg. Sie dachte, er überlege sich, welche Grobheiten er ihr wieder an den Kopf werfen könnte, denn das war eine seiner nichtswürdigen Angewohnheiten.

 

»In dem Brief steht ja gar nichts von einer Tante«, fuhr er sie plötzlich an.

 

»Aber Mr. Dorn ist mir mehr als eine Tante – ich habe ihm den kleinen Spitznamen ›Tante‹ gegeben –, und wenn er auch nicht tot ist, so könnte er bei diesem gefahrvollen Unternehmen doch leicht sterben.«

 

Er schaute aus dem Fenster, strich ärgerlich über sein unrasiertes Kinn und sah sie dann wieder an.

 

»Also Sie können den Tag freihaben«, sagte er dann.

 

Lizzy wäre vor Schrecken beinahe umgefallen. Sie flüsterte ein paar zusammenhanglose Dankesworte, dann schwebte sie aus der Tür.

 

»Warten Sie!«

 

Er steckte die Hand in die Tasche, legte seine Brieftasche auf den Tisch und nahm drei Banknoten heraus.

 

»Es ist möglich, daß Sie Geld brauchen, es ist zwar nicht gewiß, aber es könnte sein. Sie müssen mir aber eine genaue Abrechnung darüber geben, wenn Sie irgendwelche Ausgaben machen. Wenn Sie ein Auto benützen müssen, mieten Sie eins von der Blue Light Company, die Leute sind meine Klienten, und ich bekomme dort Rabatt.«

 

Wie im Traum verließ Lizzy das Büro. Shaddles hatte ihr drei Zwanzigpfundnoten gegeben. Sie hatte keine Ahnung, daß soviel Geld auf der Welt existierte.

 

Sie grüßte den Clerk nicht, der auf der Treppe an ihr vorüberkam, und hatte ihre Fassung noch nicht ganz wiedererlangt, als sie nach Hiles Mansions kam. Der Fahrstuhlführer sagte ihr, daß Mr. Dorn nicht im Hause sei. Auch Mr. Wills war seit gestern nicht wiedergekommen. Lizzy ging zur Brompton Road, rief großartig ein Auto an und fuhr nach Hause. Sie hatte gerade noch genug Kleingeld, um die Taxe bezahlen zu können.

 

Die Ereignisse überstürzten sich, und sofort mußte sie Mr. Mackenzie alles mitteilen.

 

+++

 

»Shaddles ist ein großzügiger Mann«, sagte Mackenzie schlicht, »ein wirklich weitherziger Mensch!«

 

Lizzy schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nicht, ob ich nicht mit der Polizei in Konflikt komme, weil ich das Geld von dem armen, alten Mann angenommen habe. In der letzten Zeit ist er mir schon so sonderbar vorgekommen. Ich habe schon die ganzen letzten Tage vorausgesehen, daß sich irgend etwas ereignen würde. Als er das Gehalt von Lois Reddle auf drei Pfund wöchentlich erhöhte, wußte ich, daß es nicht mehr richtig bei ihm ist.« Sie schaute mit ehrfürchtiger Scheu auf die drei Banknoten. »Wenn die Männer erst neunzig Jahre alt sind, dann werden sie kindisch«, sagte sie. Plötzlich kam ihr ein guter Gedanke – er war so tollkühn und so ungeheuer, daß sie selbst darüber erschrak.

 

Sie borgte sich etwas Kleingeld von Mr. Mackenzie, eilte zu der nächsten Telefonzelle und rief Lady Morons Nummer an. Der Diener, der an den Apparat kam, sagte ihr, daß die Gräfin noch zu Bett liege.

 

»Ach bitte, bemühen Sie sich nicht«, sagte Lizzy von oben herunter. »Würden Sie vielleicht Seine Lordschaft den jungen Grafen bitten, einmal herzuspringen?«

 

»Wie bitte, gnädige Frau?«

 

»Ich möchte ihn sprechen«, verbesserte sich Lizzy.

 

»Welchen Namen darf ich nennen?«

 

»Sagen Sie ihm nur, Lady Elizabeth sei am Telefon«, erklärte Lizzy und tat so müde und distinguiert, als ob sie selbst von allerhöchstem Adel sei.

 

Sie mußte aber noch lange warten, bis Lord Moron, der zu dieser Stunde noch fest schlief, vom Diener aufgeweckt werden konnte und das nötige Interesse an der Dame zeigte, um sich zum Telefon zu begeben.

 

»Hallo?« fragte er schwach. »Guten Morgen – tut mir sehr leid, daß ich Ihren Namen nicht verstanden habe.«

 

»Hier ist Miss Smith«, sagte Lizzy heiter. Sie hörte, wie Selwyn aufatmete.

 

»Ach so, Sie sind es! Hier war ein furchtbarer Trubel – das ist immer so zwischen sechs und sieben morgens. Dieser schreckliche Vagabund, der Chesney Praye – Sie erinnern sich doch an den Kerl – der Raubvogel – wie? (Lizzy konnte so früh am Morgen nicht darüber lachen.) Er ist mit der Gräfin in der Bibliothek.«

 

»Hören Sie, Selwyn«, sie mußte all ihren Mut zusammennehmen, um ihn so familiär anzusprechen, »können Sie mich besuchen? Sie wissen, wo ich wohne – Sie wollten ja sowieso zum Abendessen bei mir sein. Aber es wäre mir lieb, wenn Sie früher kämen. Ich muß über eine wichtige Angelegenheit mit Ihnen sprechen, ich kann es Ihnen am Telefon nicht sagen.« »Ich werde jetzt gleich kommen. Ich wollte eigentlich zum South Kensington Museum gehen, um einige Modelle zu studieren, aber schon gut, Oberst, ich danke Ihnen sehr für Ihren Anruf!«

 

Die letzten Worte hatte er in einem lauten und offiziellen Ton gesprochen. Lizzy, der diese unschuldigen, kleinen Täuschungen auch geläufig waren, vermutete, daß der Diener oder die Mutter in den Salon gekommen war.

 

Sie ging in gehobener Stimmung nach Hause. Es war ihr nicht nur gelungen, sich die Hilfe eines Mitgliedes der höchsten Aristokratie zu sichern, sondern sie hatte dieses Mitglied auch kühn beim Vornamen angeredet, und das war doch ein großer Erfolg. Sie erzählte Mr. Mackenzie mit gleichgültiger Miene, daß sie gleich den Besuch Lord Morons erwarte. Diesmal machte ihre Mitteilung auf ihn wirklich den gewünschten Eindruck.

 

»Ich sagte ihm, er möchte doch kommen – ich kenne ihn ja sehr gut.« Lizzy wischte dabei in einer vornehmen Haltung den Staub von ihrem Kleid.

 

»So, so«, sagte er und schaute sie bewundernd an. »Ich hätte niemals gedacht, daß einer der Morons mein Haus betreten würde. Sie sind eine sehr alte Familie, ich erinnere mich noch an den alten Earl – er kam sehr häufig ins Theater, allerdings meist nicht in der besten Verfassung.«

 

Lizzy Smith interessierte sich nicht für den alten Lord, sie kümmerte sich nur um den jungen, und das allerdings in hohem Maße. Als das Taxi Selwyns am Bürgersteig hielt, stand sie schon an der Tür, um ihn hereinzulassen.

 

»Was für eine nette, alte Küche«, sagte er, als er sich in dem Raum umschaute, auf den nicht einmal Lizzy stolz war.

 

»Ich hätte Eure Lordschaft nicht hierher gebeten –«

 

»Ach, bitte, fangen Sie nun nicht mit ›Eurer Lordschaft‹ und dergleichen an – für meine Freunde heiße ich Selwyn«, bat er. »Da hängt ja eine wundervolle Bratpfanne – haben Sie die selbst angefertigt?«

 

Lizzy verneinte. Er schien seine eigenen Ansichten über Kochgeräte zu haben und hatte selbst schon eine elektrische Heizplatte erfunden. Er trug sich mit dem Plan, einen neuen elektrischen Kochherd zu konstruieren.

 

»Ich habe schon immer beabsichtigt, von der ganzen verrückten Lordschaft und dem ganzen verrückten Kram wegzulaufen und praktisch zu arbeiten. Ich habe nämlich auch etwas eigenes Geld, von dem die Gräfin nichts weiß. Es ist so gut und sicher angelegt, daß weder sie noch der alte Raubvogel ihre Krallen danach ausstrecken können!«

 

Er war in bester Stimmung und unterhielt sich ausgezeichnet mit Lizzy, die nur so viel von Elektrizität wußte, daß eine Lampe brennt, wenn man den Schalter andreht. Sie hätte ihm stundenlang zuhören können, als er ihr von seinen Plänen erzählte. Selbst ein Ingenieur hätte sich dafür interessieren können, so tief war er in die Materie eingedrungen. Aber dann erinnerte sie ihn daran, daß sie den Brief mit ihm besprechen wollte.

 

Als sie ihm das Schreiben gab, las er es durch. Bei jeder Zeile hielt er an und bat um Erklärung, aber schließlich verstand er den Sinn. Sie hatte schon vorher beobachtet, daß Selwyn bei wirklich wichtigen Dingen ganz vernünftige Meinungen äußerte. Daß er nicht schwächsinnig war, erfuhr sie später, als er ihr erzählte, wie er die verräterische Absicht seiner Mutter durchkreuzt hatte, die ihn für verrückt erklären lassen wollte, um sein ganzes Vermögen in die Hand zu bekommen. Da er ihre Hinterlist durchschaute, konsultierte er drei hervorragende Spezialisten in der Harley Street und brachte von ihnen drei glänzende Zeugnisse über seine Zurechnungsfähigkeit bei.

 

»Ich kenne die Zusammenhänge nicht alle«, sagte er, als er den Brief zurückgab. Er begegnete ihrem bekümmerten Blick. »Ja, ich verstehe den Brief schon ganz gut, aber ich meine all diese Unfälle, daß der alte Braime in der Bibliothek wie tot umfiel und dergleichen. Die Gräfin ist meine Mutter, und ich sollte sie eigentlich nicht erzürnen. Aber sie ist ein fürchterlicher Teufel, Miss Smith, ein ganz entsetzlicher Teufel!«

 

Er strich über die lange, schmale, rote Narbe auf seiner Wange.

 

»Sie können niemals wissen, was sie im Schilde führt. Seit dieser Schuft, dieser Praye, und der betrunkene Doktor im Hause verkehren, ist sie schlimmer als jemals. Wissen Sie, was sie mir einmal zurief? Sie sagte, daß ich morgen tot sei, wenn das ihrer Meinung nach besser für sie wäre – das sind ihre eigenen Worte! Denken Sie, morgen tot, meine liebe Lizzy – ist das nicht schrecklich?«

 

»Was für eine Frau!« sagte Lizzy.

 

»Aber haben Sie niemals etwas davon gehört – ich meine Gallows Farm?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Sie redet niemals in meiner Gegenwart, aber sicher hat sich etwas ereignet, das ist gewiß. Dieser Chesney war schon seit heute morgen um acht Uhr bei der Gräfin. Man sagte Ihnen, daß sie noch zu Bett liege – das war gar nicht wahr, sie war in der Bibliothek. Das Telefon scheint die ganze Nacht geläutet zu haben. Was halten Sie eigentlich von diesem Detektiv, der das junge Mädchen ins Gefängnis gesteckt hat? Das ist doch ein starkes Stück, nicht?«

 

»Er tat es aus einem sehr guten Grund«, sagte Lizzy geheimnisvoll. »Ich kann Ihnen nicht alles sagen, Selwyn. Eines Tages werden Sie die ganze Wahrheit erfahren.«

 

»Es scheint, daß mir niemand etwas sagen darf«, bemerkte er mißmutig. »Aber was hat der Brief zu bedeuten? Jemand hat sie in dem Gehöft mit dem schrecklichen Namen eingesperrt.« Er schlug sich vor die Stirn. »Tappatt, der Kerl, der den Wein immer so hinuntergießt – Sie kennen ihn doch, den fürchterlichen Doktor? Ich wette, daß er bei der ganzen Sache eine schurkische Rolle spielt. In den letzten Tagen ist er nicht hier gewesen – vorher hat er häufig hier herumspioniert.« Er schlug sich aufs Knie. »Gestern abend kam doch tatsächlich ein Fernruf vom Lande! Ich war in der Halle, als das Telefon klingelte, und ich bin sicher, daß es dieser Tappatt war. Er wollte die Gräfin sprechen. Gallows Farm! Das ist doch der Ort, wo er lebt.«

 

Plötzlich sprang er auf, und Lizzy sah die Erregung in seinen Augen.

 

»Sie ist dort, ich will jede Summe wetten – Gallows Farm in Somerset!« Dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn. »Ich habe doch irgendein Schriftstück, eine Kaufurkunde unterschrieben, darauf möchte ich schwören. Es gehört zu den Ländereien, die die Gräfin vor zwei oder drei Jahren gekauft hat. Auch möglich, daß es einer ihrer Anwälte für sie tat. Sie kauft immer alte Besitzungen auf und veräußert sie wieder mit Gewinn. Und ich weiß auch, daß dieser alte Doktor irgendwo eine Anstalt hat – denn die Gräfin hat mir schon öfters gesagt, sie würde mich dorthin schicken, wenn ich mich nicht in acht nehme. Dieser Kerl mit der roten Nase hat sicher Miss Reddle bei sich eingesperrt.« »Selwyn, Sie sind ja wie ein Detektiv!« rief Lizzy atemlos vor Bewunderung.

 

Er drehte an seinem dünnen Schnurrbart und war beglückt.

 

»In manchen Dingen bin ich sehr klug«, sagte er. »Wie wäre es, wenn wir sie befreiten?« fragte er impulsiv.

 

»Was wollen Sie?« Lizzys Herz schlug schneller.

 

»Ich meine, wenn wir sie befreiten?« nickte er. »Wir könnten doch nach Somerset fahren, den alten Doktor besuchen und ihm sagen: Sehen Sie, alter Kerl, solche Dinge können in der zivilisierten Gesellschaft nicht geduldet werden, lassen Sie die Hand von Miss Reddle, oder es geht Ihnen schlecht.«

 

Lizzys Begeisterung war schnell verschwunden.

 

»Ich glaube nicht, daß das großen Eindruck auf ihn machen würde«, meinte sie. »Auch wäre es unnötig, Selwyn, denn wenn Michael Dorn dort ist, wird sie heute nachmittag noch befreit.«

 

Selwyn war etwas verletzt.

 

»Außerdem – was würde denn die Gräfin sagen, wenn wir den ganzen Tag wegblieben?« fuhr Lizzy fort.

 

»Auf die gebe ich gerade noch so viel.« Er schnippte mit den Fingern. »Ich habe genug von ihr, wirklich genug! Ich habe mir überlegt, daß ich jetzt mit Chester Square Schluß machen werde. Ich habe mich schon umgesehen, da ist eine ganz nette kleine Wohnung in Knightsbridge. Es ist an der Zeit, daß ich mich selbständig mache. Ich habe die Absicht, demnächst inkognito zu leben, und ich werde mich dann Mr. Smith nennen.«

 

»Tatsächlich?« fragte Lizzy kühl.

 

»Das ist doch ein ganz hübscher Name – Brown ist allerdings ebensogut.« Und er erzählte ihr noch mehr von seinen Plänen.

 

»Wie wär’s, wollen wir nicht zusammen Mittag essen?«

 

Eine Stunde später betrat Lizzy den großen Speisesaal des Ritz-Carlton, und Lady Moron, die auch mit einem Herrn an einem der Tische saß, schaute sie durch ihre Lorgnette an und zuckte nur die Achseln.

 

»Selwyn macht seine Seitensprünge im Leben ziemlich spät«, sagte sie, und Chesney Praye, der an diesem Morgen von Paris zurückgekommen war, lächelte.