Kapitel 29

 

29

 

 

Meine liebe Miss Smith,

 

ich habe versucht, meinen Assistenten John Wills zu benachrichtigen. Vielleicht hat er auch meinen Brief bekommen, aber es wäre möglich, daß ihn meine Botschaft durch irgendeinen unglücklichen Umstand nicht erreicht hat. Ich wäre Ihnen nun zu großem Dank verpflichtet, wenn Sie ihn aufsuchen und ihm den eingeschlossenen Brief übergeben wollten, der eine genaue Abschrift aller Instruktionen enthält, die ich bereits an ihn absandte. Ich hoffe, daß ich den Aufenthaltsort Miss Reddles gefunden habe und Ihnen morgen weitere Nachrichten senden kann. Aber ich habe es hier mit einem Mann von außerordentlicher Verschlagenheit und Schlauheit zu tun. Miss Reddle ist in Gallows Farm in der Nähe von Whitecomb in Somerset. Wenn Sie im Lauf des nächsten Tages kein Telegramm von mir erhalten, so sitze ich vielleicht – aber gegen meinen Willen – gefangen. Ich habe alle Möglichkeiten überdacht, aber trotzdem könnte es sein, daß ich etwas vergessen hätte, oder es könnten unvorhergesehene Ereignisse eintreten. Würden Sie mir daher den Gefallen tun, den ganzen Tag über in Ihrer Wohnung in der Charlotte Street zu bleiben? Es wäre das beste, wenn Sie Mr. Shaddles bäten, Ihnen den Tag freizugeben. Zeigen Sie ihm, wenn nötig, diesen Brief. Er wird meinen Namen kennen, ich habe vor einigen Jahren seine Bekanntschaft gemacht.

 

Mit bestem Gruß

Michael Dorn

 

 

Die Worte »Zeigen Sie ihm, wenn nötig, diesen Brief« waren dick unterstrichen.

 

Ein Eilbote hatte ihr den Brief gebracht. Der Poststempel zeigte den Namen einer Stadt in Somerset. Lizzy Smith las ihn dreimal. Zuerst mußte sie die Worte entziffern, dann verstand sie den Inhalt, und das drittemal las sie ihn mit persönlicher Genugtuung, denn sie fühlte sich plötzlich zu einer wichtigen Persönlichkeit gestempelt. Heimlich mußte sie darüber lachen, daß Michael sich einbildete, ihr alter, geiziger Chef würde ihr Urlaub geben, nur weil er früher einmal Mr. Dorn flüchtig kennengelernt hatte. Der Alte würde ihn wahrscheinlich längst wieder vergessen haben und ihr unter keinen Umständen gestatten, von ihrer Arbeit fernzubleiben.

 

Die Neuigkeit war viel zu interessant, als daß Lizzy sie lange für sich allein behalten konnte. Sie nahm den Brief und ging zu Mr. Mackenzie hinunter. Als sie bei ihm eintrat, war er gerade damit beschäftigt, eine neue Saite auf seine Violine zu ziehen.

 

»Letzte Nacht habe ich es ausgehalten«, sagte sie nicht unhöflich. »Ich hörte Sie in einem fort Ihre Geige stimmen.«

 

»Ich habe doch meine Geige nicht dauernd gestimmt«, erwiderte der alte Mackenzie überrascht. »Ach so –ich habe klassische Musik gespielt, und da ist es möglich, daß Sie es für Stimmen hielten, weil Sie nicht daran gewöhnt sind. Es war die Arie aus ›Samson und Delila‹, es ist ein wundervolles Stück.«

 

Er zog die Brille, die er auf die Stirn geschoben hatte, wieder herunter, und nahm den Brief aus ihrer Hand.

 

»Soll ich das lesen?« fragte er, und als sie nickte, entzifferte er die kleine merkwürdige Schrift Dorns Zeile für Zeile.

 

»Das scheint ja eine sehr gute Nachricht zu sein. Wird Miss Reddle heute abend wieder zurückkommen?«

 

Lizzy seufzte ungeduldig.

 

»Wie soll ich wissen, ob sie schon heute abend zurückkommt?« Sie war empört darüber, daß der Brief auf ihn nicht denselben Eindruck machte wie auf sie. »Es ist möglich, daß sie überhaupt nicht wiederkommt! Verstehen Sie denn gar nichts anderes, als was Sie auf der Violine spielen können, Mr. Mackenzie? Sie ist doch in der Gewalt dieses fürchterlichen Menschen in Gallows Farm! Die ganze Sache hängt jetzt nur von mir ab. Mike versteht nur zu gut die menschlichen Naturen, und wenn er irgendwie in eine schwierige Lage gerät, dann nimmt er seine Zuflucht zu Elizabeth Smith. Der Mann hat Menschenkenntnis.«

 

»Natürlich«, murmelte Mr. Mackenzie.

 

»Nun ist die Frage«, überlegte Lizzy und zog ihre Stirn in nachdenkliche Falten, »soll ich zuerst versuchen, diesen Wills aufzusuchen, oder soll ich zunächst ins Büro gehen?«

 

»Ich würde an Ihrer Stelle in Mr. Dorns Wohnung anrufen«, sagte der alte Mann …

 

Auf Ihrem Weg zum Büro machte sie bei der ersten öffentlichen Telefonzelle halt und rief Michaels Nummer an, aber es meldete sich niemand. Die Nachrichten, die sie heute morgen erhalten hatte, schmeichelten ihr außerordentlich, und die Verantwortung gab ihr das angenehme Gefühl, daß sie persönlich mit großen Ereignissen in Zusammenhang stand. Trotzdem sah sie mit Besorgnis der Unterhaltung mit dem alten Shaddles entgegen. Daß er ihr den Tag freigeben würde, war eine völlig aussichtslose Hoffnung. Viel wahrscheinlicher war es, daß er mit seinem knöchernen Finger auf die Tür zeigen und sie aus seinem Büro verweisen würde. Aber auch wenn sie ihre Lebensstellung dabei opfern sollte – sie war entschlossen, bei der Hand zu sein, wenn man ihre Hilfe brauchte. Was sie aber tun sollte oder auf welche Weise sie Michael zu Hilfe kommen konnte, darüber machte sie sich weiter keine Sorgen.

 

Als sie ins Büro kam, hatte sie sich bereits drei verschiedene Entschuldigungsgründe zurechtgelegt, aber leider standen sie in keinerlei Beziehung zueinander. Glücklicherweise brauchte sie später nur zwei davon vorzubringen.

 

Mr. Shaddles war schon im Büro. Unweigerlich kam er als erster und ging als letzter. Ohne ihren Hut abzunehmen, klopfte sie an die Glastür und als sie sein unfreundliches Herein hörte, hätte sie beinahe ihre Absicht aufgegeben, ihn um Urlaub zu bitten. Er sah sie von der Seite an, als sie hereinkam, und bemerkte auch gleich, daß sie Hut und Mantel noch nicht abgelegt hatte.

 

»Nun, was gibt’s? Warum sind Sie nicht an der Arbeit? Es ist bereits fünf Minuten nach Beginn!«

 

Lizzy legte ihre Hand leicht auf den Tisch und begann in ihrer süßesten und höflichsten Art zu sprechen.

 

»Mr. Shaddles, es tut mir furchtbar leid, daß ich Sie störe, aber infolge eines Todesfalles in der Familie möchte ich Sie bitten, mir den Tag freizugeben.«

 

»Wer ist gestorben?« brummte er.

 

»Eine Tante«, sagte sie kleinlaut und fügte noch hinzu: »Mütterlicherseits.«

 

»Tanten sind keine nahen Verwandten«, entgegnete der alte Mann und winkte ihr zur Tür. »Onkel haben auch nicht viel zu sagen. Ich kann Sie heute nicht entbehren. Wozu müssen Sie denn auch immer zu Begräbnissen laufen?«

 

»Nun ja – der wirkliche Grund ist dieser Brief«, sagte Lizzy, die ganz außer Fassung geraten war, und zeigte ihm Dorns Schreiben. »Ich erhielt ihn heute morgen.«

 

Er nahm den Bogen mit offenbarem Widerwillen, las ihn aber trotzdem sorgfältig durch. Dann saß er lange und schwieg. Sie dachte, er überlege sich, welche Grobheiten er ihr wieder an den Kopf werfen könnte, denn das war eine seiner nichtswürdigen Angewohnheiten.

 

»In dem Brief steht ja gar nichts von einer Tante«, fuhr er sie plötzlich an.

 

»Aber Mr. Dorn ist mir mehr als eine Tante – ich habe ihm den kleinen Spitznamen ›Tante‹ gegeben –, und wenn er auch nicht tot ist, so könnte er bei diesem gefahrvollen Unternehmen doch leicht sterben.«

 

Er schaute aus dem Fenster, strich ärgerlich über sein unrasiertes Kinn und sah sie dann wieder an.

 

»Also Sie können den Tag freihaben«, sagte er dann.

 

Lizzy wäre vor Schrecken beinahe umgefallen. Sie flüsterte ein paar zusammenhanglose Dankesworte, dann schwebte sie aus der Tür.

 

»Warten Sie!«

 

Er steckte die Hand in die Tasche, legte seine Brieftasche auf den Tisch und nahm drei Banknoten heraus.

 

»Es ist möglich, daß Sie Geld brauchen, es ist zwar nicht gewiß, aber es könnte sein. Sie müssen mir aber eine genaue Abrechnung darüber geben, wenn Sie irgendwelche Ausgaben machen. Wenn Sie ein Auto benützen müssen, mieten Sie eins von der Blue Light Company, die Leute sind meine Klienten, und ich bekomme dort Rabatt.«

 

Wie im Traum verließ Lizzy das Büro. Shaddles hatte ihr drei Zwanzigpfundnoten gegeben. Sie hatte keine Ahnung, daß soviel Geld auf der Welt existierte.

 

Sie grüßte den Clerk nicht, der auf der Treppe an ihr vorüberkam, und hatte ihre Fassung noch nicht ganz wiedererlangt, als sie nach Hiles Mansions kam. Der Fahrstuhlführer sagte ihr, daß Mr. Dorn nicht im Hause sei. Auch Mr. Wills war seit gestern nicht wiedergekommen. Lizzy ging zur Brompton Road, rief großartig ein Auto an und fuhr nach Hause. Sie hatte gerade noch genug Kleingeld, um die Taxe bezahlen zu können.

 

Die Ereignisse überstürzten sich, und sofort mußte sie Mr. Mackenzie alles mitteilen.

 

+++

 

»Shaddles ist ein großzügiger Mann«, sagte Mackenzie schlicht, »ein wirklich weitherziger Mensch!«

 

Lizzy schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nicht, ob ich nicht mit der Polizei in Konflikt komme, weil ich das Geld von dem armen, alten Mann angenommen habe. In der letzten Zeit ist er mir schon so sonderbar vorgekommen. Ich habe schon die ganzen letzten Tage vorausgesehen, daß sich irgend etwas ereignen würde. Als er das Gehalt von Lois Reddle auf drei Pfund wöchentlich erhöhte, wußte ich, daß es nicht mehr richtig bei ihm ist.« Sie schaute mit ehrfürchtiger Scheu auf die drei Banknoten. »Wenn die Männer erst neunzig Jahre alt sind, dann werden sie kindisch«, sagte sie. Plötzlich kam ihr ein guter Gedanke – er war so tollkühn und so ungeheuer, daß sie selbst darüber erschrak.

 

Sie borgte sich etwas Kleingeld von Mr. Mackenzie, eilte zu der nächsten Telefonzelle und rief Lady Morons Nummer an. Der Diener, der an den Apparat kam, sagte ihr, daß die Gräfin noch zu Bett liege.

 

»Ach bitte, bemühen Sie sich nicht«, sagte Lizzy von oben herunter. »Würden Sie vielleicht Seine Lordschaft den jungen Grafen bitten, einmal herzuspringen?«

 

»Wie bitte, gnädige Frau?«

 

»Ich möchte ihn sprechen«, verbesserte sich Lizzy.

 

»Welchen Namen darf ich nennen?«

 

»Sagen Sie ihm nur, Lady Elizabeth sei am Telefon«, erklärte Lizzy und tat so müde und distinguiert, als ob sie selbst von allerhöchstem Adel sei.

 

Sie mußte aber noch lange warten, bis Lord Moron, der zu dieser Stunde noch fest schlief, vom Diener aufgeweckt werden konnte und das nötige Interesse an der Dame zeigte, um sich zum Telefon zu begeben.

 

»Hallo?« fragte er schwach. »Guten Morgen – tut mir sehr leid, daß ich Ihren Namen nicht verstanden habe.«

 

»Hier ist Miss Smith«, sagte Lizzy heiter. Sie hörte, wie Selwyn aufatmete.

 

»Ach so, Sie sind es! Hier war ein furchtbarer Trubel – das ist immer so zwischen sechs und sieben morgens. Dieser schreckliche Vagabund, der Chesney Praye – Sie erinnern sich doch an den Kerl – der Raubvogel – wie? (Lizzy konnte so früh am Morgen nicht darüber lachen.) Er ist mit der Gräfin in der Bibliothek.«

 

»Hören Sie, Selwyn«, sie mußte all ihren Mut zusammennehmen, um ihn so familiär anzusprechen, »können Sie mich besuchen? Sie wissen, wo ich wohne – Sie wollten ja sowieso zum Abendessen bei mir sein. Aber es wäre mir lieb, wenn Sie früher kämen. Ich muß über eine wichtige Angelegenheit mit Ihnen sprechen, ich kann es Ihnen am Telefon nicht sagen.« »Ich werde jetzt gleich kommen. Ich wollte eigentlich zum South Kensington Museum gehen, um einige Modelle zu studieren, aber schon gut, Oberst, ich danke Ihnen sehr für Ihren Anruf!«

 

Die letzten Worte hatte er in einem lauten und offiziellen Ton gesprochen. Lizzy, der diese unschuldigen, kleinen Täuschungen auch geläufig waren, vermutete, daß der Diener oder die Mutter in den Salon gekommen war.

 

Sie ging in gehobener Stimmung nach Hause. Es war ihr nicht nur gelungen, sich die Hilfe eines Mitgliedes der höchsten Aristokratie zu sichern, sondern sie hatte dieses Mitglied auch kühn beim Vornamen angeredet, und das war doch ein großer Erfolg. Sie erzählte Mr. Mackenzie mit gleichgültiger Miene, daß sie gleich den Besuch Lord Morons erwarte. Diesmal machte ihre Mitteilung auf ihn wirklich den gewünschten Eindruck.

 

»Ich sagte ihm, er möchte doch kommen – ich kenne ihn ja sehr gut.« Lizzy wischte dabei in einer vornehmen Haltung den Staub von ihrem Kleid.

 

»So, so«, sagte er und schaute sie bewundernd an. »Ich hätte niemals gedacht, daß einer der Morons mein Haus betreten würde. Sie sind eine sehr alte Familie, ich erinnere mich noch an den alten Earl – er kam sehr häufig ins Theater, allerdings meist nicht in der besten Verfassung.«

 

Lizzy Smith interessierte sich nicht für den alten Lord, sie kümmerte sich nur um den jungen, und das allerdings in hohem Maße. Als das Taxi Selwyns am Bürgersteig hielt, stand sie schon an der Tür, um ihn hereinzulassen.

 

»Was für eine nette, alte Küche«, sagte er, als er sich in dem Raum umschaute, auf den nicht einmal Lizzy stolz war.

 

»Ich hätte Eure Lordschaft nicht hierher gebeten –«

 

»Ach, bitte, fangen Sie nun nicht mit ›Eurer Lordschaft‹ und dergleichen an – für meine Freunde heiße ich Selwyn«, bat er. »Da hängt ja eine wundervolle Bratpfanne – haben Sie die selbst angefertigt?«

 

Lizzy verneinte. Er schien seine eigenen Ansichten über Kochgeräte zu haben und hatte selbst schon eine elektrische Heizplatte erfunden. Er trug sich mit dem Plan, einen neuen elektrischen Kochherd zu konstruieren.

 

»Ich habe schon immer beabsichtigt, von der ganzen verrückten Lordschaft und dem ganzen verrückten Kram wegzulaufen und praktisch zu arbeiten. Ich habe nämlich auch etwas eigenes Geld, von dem die Gräfin nichts weiß. Es ist so gut und sicher angelegt, daß weder sie noch der alte Raubvogel ihre Krallen danach ausstrecken können!«

 

Er war in bester Stimmung und unterhielt sich ausgezeichnet mit Lizzy, die nur so viel von Elektrizität wußte, daß eine Lampe brennt, wenn man den Schalter andreht. Sie hätte ihm stundenlang zuhören können, als er ihr von seinen Plänen erzählte. Selbst ein Ingenieur hätte sich dafür interessieren können, so tief war er in die Materie eingedrungen. Aber dann erinnerte sie ihn daran, daß sie den Brief mit ihm besprechen wollte.

 

Als sie ihm das Schreiben gab, las er es durch. Bei jeder Zeile hielt er an und bat um Erklärung, aber schließlich verstand er den Sinn. Sie hatte schon vorher beobachtet, daß Selwyn bei wirklich wichtigen Dingen ganz vernünftige Meinungen äußerte. Daß er nicht schwächsinnig war, erfuhr sie später, als er ihr erzählte, wie er die verräterische Absicht seiner Mutter durchkreuzt hatte, die ihn für verrückt erklären lassen wollte, um sein ganzes Vermögen in die Hand zu bekommen. Da er ihre Hinterlist durchschaute, konsultierte er drei hervorragende Spezialisten in der Harley Street und brachte von ihnen drei glänzende Zeugnisse über seine Zurechnungsfähigkeit bei.

 

»Ich kenne die Zusammenhänge nicht alle«, sagte er, als er den Brief zurückgab. Er begegnete ihrem bekümmerten Blick. »Ja, ich verstehe den Brief schon ganz gut, aber ich meine all diese Unfälle, daß der alte Braime in der Bibliothek wie tot umfiel und dergleichen. Die Gräfin ist meine Mutter, und ich sollte sie eigentlich nicht erzürnen. Aber sie ist ein fürchterlicher Teufel, Miss Smith, ein ganz entsetzlicher Teufel!«

 

Er strich über die lange, schmale, rote Narbe auf seiner Wange.

 

»Sie können niemals wissen, was sie im Schilde führt. Seit dieser Schuft, dieser Praye, und der betrunkene Doktor im Hause verkehren, ist sie schlimmer als jemals. Wissen Sie, was sie mir einmal zurief? Sie sagte, daß ich morgen tot sei, wenn das ihrer Meinung nach besser für sie wäre – das sind ihre eigenen Worte! Denken Sie, morgen tot, meine liebe Lizzy – ist das nicht schrecklich?«

 

»Was für eine Frau!« sagte Lizzy.

 

»Aber haben Sie niemals etwas davon gehört – ich meine Gallows Farm?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Sie redet niemals in meiner Gegenwart, aber sicher hat sich etwas ereignet, das ist gewiß. Dieser Chesney war schon seit heute morgen um acht Uhr bei der Gräfin. Man sagte Ihnen, daß sie noch zu Bett liege – das war gar nicht wahr, sie war in der Bibliothek. Das Telefon scheint die ganze Nacht geläutet zu haben. Was halten Sie eigentlich von diesem Detektiv, der das junge Mädchen ins Gefängnis gesteckt hat? Das ist doch ein starkes Stück, nicht?«

 

»Er tat es aus einem sehr guten Grund«, sagte Lizzy geheimnisvoll. »Ich kann Ihnen nicht alles sagen, Selwyn. Eines Tages werden Sie die ganze Wahrheit erfahren.«

 

»Es scheint, daß mir niemand etwas sagen darf«, bemerkte er mißmutig. »Aber was hat der Brief zu bedeuten? Jemand hat sie in dem Gehöft mit dem schrecklichen Namen eingesperrt.« Er schlug sich vor die Stirn. »Tappatt, der Kerl, der den Wein immer so hinuntergießt – Sie kennen ihn doch, den fürchterlichen Doktor? Ich wette, daß er bei der ganzen Sache eine schurkische Rolle spielt. In den letzten Tagen ist er nicht hier gewesen – vorher hat er häufig hier herumspioniert.« Er schlug sich aufs Knie. »Gestern abend kam doch tatsächlich ein Fernruf vom Lande! Ich war in der Halle, als das Telefon klingelte, und ich bin sicher, daß es dieser Tappatt war. Er wollte die Gräfin sprechen. Gallows Farm! Das ist doch der Ort, wo er lebt.«

 

Plötzlich sprang er auf, und Lizzy sah die Erregung in seinen Augen.

 

»Sie ist dort, ich will jede Summe wetten – Gallows Farm in Somerset!« Dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn. »Ich habe doch irgendein Schriftstück, eine Kaufurkunde unterschrieben, darauf möchte ich schwören. Es gehört zu den Ländereien, die die Gräfin vor zwei oder drei Jahren gekauft hat. Auch möglich, daß es einer ihrer Anwälte für sie tat. Sie kauft immer alte Besitzungen auf und veräußert sie wieder mit Gewinn. Und ich weiß auch, daß dieser alte Doktor irgendwo eine Anstalt hat – denn die Gräfin hat mir schon öfters gesagt, sie würde mich dorthin schicken, wenn ich mich nicht in acht nehme. Dieser Kerl mit der roten Nase hat sicher Miss Reddle bei sich eingesperrt.« »Selwyn, Sie sind ja wie ein Detektiv!« rief Lizzy atemlos vor Bewunderung.

 

Er drehte an seinem dünnen Schnurrbart und war beglückt.

 

»In manchen Dingen bin ich sehr klug«, sagte er. »Wie wäre es, wenn wir sie befreiten?« fragte er impulsiv.

 

»Was wollen Sie?« Lizzys Herz schlug schneller.

 

»Ich meine, wenn wir sie befreiten?« nickte er. »Wir könnten doch nach Somerset fahren, den alten Doktor besuchen und ihm sagen: Sehen Sie, alter Kerl, solche Dinge können in der zivilisierten Gesellschaft nicht geduldet werden, lassen Sie die Hand von Miss Reddle, oder es geht Ihnen schlecht.«

 

Lizzys Begeisterung war schnell verschwunden.

 

»Ich glaube nicht, daß das großen Eindruck auf ihn machen würde«, meinte sie. »Auch wäre es unnötig, Selwyn, denn wenn Michael Dorn dort ist, wird sie heute nachmittag noch befreit.«

 

Selwyn war etwas verletzt.

 

»Außerdem – was würde denn die Gräfin sagen, wenn wir den ganzen Tag wegblieben?« fuhr Lizzy fort.

 

»Auf die gebe ich gerade noch so viel.« Er schnippte mit den Fingern. »Ich habe genug von ihr, wirklich genug! Ich habe mir überlegt, daß ich jetzt mit Chester Square Schluß machen werde. Ich habe mich schon umgesehen, da ist eine ganz nette kleine Wohnung in Knightsbridge. Es ist an der Zeit, daß ich mich selbständig mache. Ich habe die Absicht, demnächst inkognito zu leben, und ich werde mich dann Mr. Smith nennen.«

 

»Tatsächlich?« fragte Lizzy kühl.

 

»Das ist doch ein ganz hübscher Name – Brown ist allerdings ebensogut.« Und er erzählte ihr noch mehr von seinen Plänen.

 

»Wie wär’s, wollen wir nicht zusammen Mittag essen?«

 

Eine Stunde später betrat Lizzy den großen Speisesaal des Ritz-Carlton, und Lady Moron, die auch mit einem Herrn an einem der Tische saß, schaute sie durch ihre Lorgnette an und zuckte nur die Achseln.

 

»Selwyn macht seine Seitensprünge im Leben ziemlich spät«, sagte sie, und Chesney Praye, der an diesem Morgen von Paris zurückgekommen war, lächelte.

 

Kapitel 3

 

3

 

Der düstere Eingang der Strafanstalt von Telsbury wird gnädig von einer Gruppe dunkler Fichten verborgen. Die roten Wände haben mit der Zeit ihre grelle Farbe verloren, und wenn nicht der hohe Turm in der Mitte emporragte, würde ein Wanderer daran vorübergehen, ohne das Gebäude zu bemerken.

 

Lois hatte das Gefängnis schon zweimal besucht, um Aufträge ihres Chefs dort zu erledigen. Einer seiner Klienten hatte eine Frau wegen Betrugs angezeigt. Sie war zu fünf Jahren verurteilt worden. Es war nun notwendig, ihre Unterschrift unter gewisse Dokumente zu erhalten, um die Aktien, die betrügerischerweise verschoben worden waren, ihrem rechtmäßigen Eigentümer wieder zustellen zu können.

 

Sie ließ ihren Wagen an der Seite des hohen Straßentors halten, stieg aus und klingelte. Gleich darauf wurde ein Gitter von einem Fenster zurückgeschoben, und die wachsamen Augen des Pförtners richteten sich auf sie. Obwohl er sie wiedererkannte, mußte sie ihm doch erst ihren Passierschein zeigen. Dann schloß er auf und führte sie in einen mit Steinfliesen gepflasterten Raum. Die Einrichtung war sehr einfach, sie bestand nur aus einem Pult mit einem Schreibsessel, einem einfachen Tisch und zwei Stühlen.

 

Der Wärter las den Passierschein noch einmal durch und drückte dann auf eine Klingel. Er, die beiden Leute, die ihn ablösten, und der Direktor der Anstalt waren die einzigen Männer, die in diese Mauern kamen. Sein Tätigkeitsfeld beschränkte sich auf den kleinen Raum und den Torweg, der vom Innenhof durch starke, eiserne Gitter getrennt war.

 

»Ist es Ihnen nicht unangenehm hierherzukommen, mein Fräulein?« fragte er lächelnd.

 

»Gefängnisse machen mich immer elend und krank«, sagte sie.

 

Er nickte.

 

»Hier drinnen leben sechshundert Frauen, die noch viel matter und kränker sind, als Sie, hoffentlich, jemals in Ihrem Leben sein werden«, erwiderte er zuvorkommend. »Nicht daß ich eine von ihnen zu sehen bekomme – ich öffne ihnen nur das Tor zum Gefängnis und dann sehe ich sie, solange sie hier sind, nicht wieder. Nicht einmal, wenn sie entlassen werden.«

 

Eine Tür wurde aufgeschlossen, und eine junge Wärterin in gutsitzender blauer Uniform trat ein. Sie grüßte Lois mit einem freundlichen Kopfnicken und führte sie durch eine kleine Stahltür über einen großen Hof, der einsam und verlassen dalag. Danach traten sie durch eine andere Tür und gingen einen langen Gang entlang bis zu dem kleinen Büro des Gefängnisdirektors.

 

»Guten Morgen, Direktor. Ich möchte gern mit Mrs. Desmond sprechen.« Sie entfaltete ihre Dokumente und legte sie dem grauhaarigen Mann auf den Tisch.

 

»Sie wird jetzt in ihrer Zelle sein«, sagte er. »Kommen Sie mit, Miss Reddle, ich werde Sie persönlich hinbringen.«

 

Am Ende des Ganges befand sich eine andere Tür, die in eine große Halle führte. Auf beiden Seiten liefen eiserne Verbindungsgänge, die man über eine breite Mitteltreppe erreichen konnte. Lois schaute in die Höhe, sah die Drahtnetze über ihrem Kopf und schauderte. Sie wußte, daß sie angebracht waren, um zu verhindern, daß diese unglücklichen Frauen sich von oben herabstürzten und ihrem Leben so ein Ende machten.

 

»Wir sind da«, sagte der Direktor und öffnete die Zellentür.

 

Fünf Minuten mußte sie mit der eigensinnigen, verbitterten Frau verhandeln, die sich mit weinerlicher Stimme über alles beschwerte und allen Vorwürfe machte. Schließlich trat Lois mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung wieder zu dem Direktor hinaus.

 

»Gott sei Dank – ich werde nie wieder hierherkommen!« sagte sie, als er die Zelle verschloß.

 

»Wollen Sie Ihre Anwaltstätigkeit aufgeben?« fragte er scherzend. »Ich habe schon immer gesagt, daß das kein passender Beruf für eine junge Dame ist.«

 

»Sie überschätzen mich und meine Stellung. Ich bin nur eine einfache Stenotypistin und weiß von dem Gesetz kaum mehr, als daß Stempelmarken auf gewisse Urkunden gehören und an bestimmten Stellen aufgeklebt werden müssen!«

 

Sie kehrten nicht auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren, sondern gingen durch die große Halle in den Hof. Die Organisation der Anstalt war so vorzüglich, daß sich in der kurzen Zeit, die sie in der Zelle verbrachte, der ganze Hof mit grauen Gefangenen gefüllt hatte, die im Kreis umhergingen.

 

»Um diese Zeit machen sich die Gefangenen immer Bewegung«, erklärte der Direktor. »Ich dachte, Sie würden es vielleicht gern einmal sehen.«

 

Lois war von Mitleid erfüllt, und ihr Herz lehnte sich gegen das Gesetz auf, das diese Frauen zu anonymen Nummern erniedrigte. Die einfachen Kattunkleider und die weißen Hauben erschienen ihr häßlich, und dieser Anblick stimmte sie traurig. Kummer und namenlose Furcht packten sie. Jedes Alter war hier vertreten, sie sah junge Mädchen und alte, verstockte Frauen. Auf jedem Gesicht las Lois den unleugbaren Stempel des Ungewöhnlichen. Als sich dieser gespenstische Kreis langsam an ihr vorüberbewegte, sah sie wilde und schlaue, aber auch ermattete und in ihrem Kummer ergreifende Gesichter. Trübe Augen starrten gedankenlos vor sich hin, dunkle Augen blitzten boshaft auf, sorglose Blicke streiften Lois oberflächlich. Die sich vorwärts schiebenden Frauen erschienen ihr unheimlich und unwirklich.

 

Beinahe der ganze gräßliche Kreis war an ihr vorübergegangen, als sie eine große stattliche Gestalt wahrnahm, die nicht in diese grauenvolle Umgebung zu gehören schien. Die Frau ging aufrecht, mit erhobenem Kopf, und ihre ruhigen Augen sahen geradeaus. Sie mochte zwischen Vierzig und Fünfzig sein. Ihre feingeschnittenen Züge waren nicht gefurcht, aber ihr Haar war weiß. Eine göttliche Ruhe strahlte von ihr aus.

 

»Was tut denn diese Frau hier?« fragte Lois, bevor sie sich bewußt wurde, daß sie eine Frage gestellt hatte, die kein Besucher an einen Gefängnisbeamten richten darf.

 

Direktor Stannard antwortete ihr nicht. Er beobachtete die Gestalt auch, als sie näher kam. Einen Augenblick ruhten die Augen der Frau ernst auf dem jungen Mädchen, aber nur eine Sekunde lang, so lange, wie eine Frau von Haltung das Gesicht einer Fremden anschauen würde. Dann war sie vorübergegangen.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie gefragt habe«, sagte sie, als sie an der Seite des Direktors durch das Gitter in sein Büro ging.

 

»Schon viele haben dieselbe Frage gestellt«, entgegnete er, »und haben auch keine Antwort erhalten. Es verstößt gegen die Gefängnisregeln, den Namen irgendeiner Gefangenen zu verraten. Das wissen Sie wohl. Aber merkwürdig –«

 

Er schaute sich um und nahm ein aufgeschlagenes Buch von einem Seitenbrett herunter. Es war ein dicker, in Kalbsleder gebundener Band. Ohne ein Wort zu sagen, reichte er ihr das Buch. Sie las den Titel: »Fawleys Kriminalfälle.«

 

»Mary Pinder«, sagte er kurz, und sie entdeckte, daß das Buch an der Stelle aufgeschlagen war, wo das Kapitel mit diesem Namen begann. »Es ist doch merkwürdig, daß ich gerade, bevor Sie kamen, den Fall nachgelesen habe. Ich bin alle Einzelheiten durchgegangen, um zu sehen, ob mein Gedächtnis mich nicht im Stich gelassen hat. Ich gestehe Ihnen, daß ich ebenso verwundert über diese Frau bin wie Sie.« Bei den letzten Worten senkte er seine Stimme, als ob er irgendwelche Horcher fürchtete.

 

Sie schaute wieder auf die Überschrift: »Mary Pinder. Begangenes Verbrechen: Mord.« Sie war sehr erstaunt.

 

»Eine Mörderin?« fragte sie ungläubig.

 

Der Direktor nickte.

 

»Aber das ist doch unmöglich!«

 

»Lesen Sie den Fall.«

 

Sie schaute in das Buch:

 

Mary Pinder – verurteilt wegen Mordes vor dem Schwurgericht zu Hereford. Das Urteil lautete auf Tod, wurde später aber in zwanzigjährige Kerkerstrafe umgewandelt. Hier haben wir den typischen Fall eines Raubmordes. Die Pinder lebte mit einem jungen Mann zusammen, der allem Anschein nach ihr Gatte war. Dieser verschwand einige Zeit vor dem Verbrechen. Man nimmt an, daß er sie ohne Mittel zurückließ. Ihre Wirtin, Mrs. Curtain, war eine reiche Witwe, deren exzentrische Launen beinahe an Geisteskrankheit grenzten. Sie verwahrte große Summen und viel alten Schmuck in ihrem Haus. Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, annoncierte die Pinder um eine Stellung. Eine Frau, die sie in dem Haus aufsuchen wollte, fand die Haustür geöffnet. Nachdem sie verschiedentlich geklopft und keine Antwort erhalten hatte, trat sie ein. Sie bemerkte, daß eine der Zimmertüren offenstand, und als sie in den Raum schaute, sah sie zu ihrem größten Schrecken, daß Mrs. Curtain auf dem Boden lag und anscheinend einen Anfall hatte. Sie eilte sofort zu einem Polizisten, der aber nur feststellen konnte, daß die Frau tot war. Die Schubladen eines alten Sekretärs waren geöffnet und ihr Inhalt auf dem Boden verstreut; auch ein Schmuckstück war darunter. Da man Verdacht hatte, wurde das Zimmer der Mieterin, die das Haus kurz vor der Entdeckung verlassen hatte, in ihrer Abwesenheit durchsucht. Man fand dort in einem verschlossenen Kasten eine Flasche Zyankali und viele Juwelen. Die Verteidigung machte geltend, daß die Verstorbene schon mehrmals versucht hatte, Selbstmord zu verüben, und daß man nicht beweisen konnte, daß die Pinder das Gift gekauft hatte, das in einer Flasche ohne Etikett gefunden wurde. Die Pinder selbst lehnte es ab, über sich und ihren Mann irgendwelche Aussagen zu machen. Ein Trauschein wurde nicht gefunden. Der Richter Darson leitete als Vorsitzender die Verhandlung ihres Falles. Sie wurde verurteilt. Man nimmt an, daß die Pinder, die dringend Geld brauchte, einer plötzlichen Versuchung unterlag, Zyankali in den Tee der Frau goß und darauf deren Schreibtisch plünderte. Der Fall zeigt keine außergewöhnlichen Züge mit Ausnahme der Weigerung der Gefangenen, sich zu verteidigen.

 

Lois las den Bericht zweimal durch.

 

»Ich kann es trotzdem nicht glauben – es ist unfaßbar. Sie wurde zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt – aber sicher wird sie doch begnadigt? Gibt es denn keinen Straferlaß wegen guter Führung?«

 

»Unglücklicherweise machte sie zwei Versuche auszubrechen, und so wurde ihr die gute Führung von früher gestrichen. Es ist sehr schade, denn sie ist eine wohlhabende Frau. Ihr Onkel, der erst fünf Jahre nach ihrer Verurteilung erfuhr, daß sie im Gefängnis war, hinterließ ihr ein großes Vermögen. Sie hat uns niemals gesagt, wer sie war. Er besuchte sie ein paar Wochen vor seinem Tode hier, und wir wurden davon auch nicht klüger. Wir konnten nur feststellen, daß er einer ihrer Verwandten mütterlicherseits war.«

 

Lois sah wieder auf das Buch.

 

»Diese wundervolle Frau soll eine Mörderin sein?«

 

Er nickte.

 

»Ja – es ist merkwürdig, aber selbst Leute, die vollkommen unschuldig aussehen, begehen böse Verbrechen. Ich bin seit zwanzig Jahren hier auf meinem Posten – ich habe alle Illusionen verloren.«

 

»Aber wenn man doch davon überzeugt war, daß sie eine Mörderin sei, warum hat man sie denn nicht –«

 

Sie konnte es nicht über sich bringen, »aufgehängt« zu sagen.

 

Der Direktor sah sie an.

 

»Nun ja – es war da ein Grund, ein sehr wichtiger Grund sogar –«

 

Lois war einen Augenblick erstaunt, aber plötzlich wurde es ihr klar. Sie verstand.

 

»Ja, das Baby wurde hier in diesem Gefängnis geboren. Es war das entzückendste kleine Mädchen, das ich jemals gesehen habe ein wirklich schönes Kind. Es tat mir furchtbar leid, als es aus dem Gefängnis gebracht werden mußte, das arme kleine Ding!«

 

»Es wußte von nichts, vielleicht weiß es heute noch nicht –« Lois‘ Augen füllten sich mit Tränen.

 

»Nein, ich glaube nicht, daß die Kleine es erfahren hat«, fuhr der Direktor fort. »Sie wurde von einer Nachbarin der Mrs. Pinder adoptiert, die stets an ihre Unschuld glaubte. Wenn ich aber vorher sagte, das arme, kleine Mädchen, dann dachte ich an die dumme Kinderpflegerin, durch deren Nachlässigkeit sich das Kind den Arm an einer Flasche mit kochendem Wasser verbrannte. Es hat eine recht ansehnliche Brandnarbe gegeben, ich erinnere mich deutlich daran. Es blieb eine sternförmige Narbe nahe des Ellenbogens zurück – der Knopf der Heißwasserflasche war so geformt.«

 

Lois Reddle hielt sich krampfhaft an der Tischplatte fest. Ihr Gesicht war schneeweiß geworden. Der Direktor stellte das Buch in das Fach zurück und wandte ihr den Rücken zu. Mit Aufbietung aller Energie riß sie sich zusammen.

 

»Wissen Sie – können Sie sich an den Namen des Kindes erinnern?« fragte sie leise.

 

»Ja, denn es war ein ganz ungewöhnlicher Name, ich werde ihn nicht vergessen: Lois Margeritta!«

 

Kapitel 30

 

30

 

Obgleich Lois Reddle schon viele recht unangenehme Tage in ihrem Leben durchgemacht hatte, konnte sie sich doch auf keine Zeit besinnen, die so schrecklich gewesen wäre wie die letzten zwanzig Stunden nach ihrem Fortgang von Gallows Farm. Sie war von der Haushälterin mitten in der Nacht aufgeweckt worden. Die Frau hatte ihr gesagt, daß sie sich anziehen und herunterkommen solle. Die erste Aufforderung war leicht zu erfüllen, denn sie hatte sich angekleidet aufs Bett gelegt. Als sie in den Gang hinunterkam, fand sie den Doktor, der auf sie wartete. Er trug seinen dicksten Mantel, hatte einen starken Stock in der Hand und prüfte eine Taschenlampe, als sie zu ihm trat.

 

»Wo bringen Sie mich denn jetzt hin?« fragte sie, als er sie quer über den Hof führte, während die Hunde an ihren Ketten fürchterlich bellten.

 

»Das werden Sie noch rechtzeitig erfahren«, war die unbefriedigende Antwort. »Ich wünsche nicht, daß Sie sprechen oder Fragen stellen. Bis Sie dieses Haus verlassen haben, müssen Sie ruhig sein verstehen Sie mich?«

 

Sie stiegen den sanften Abhang des Hügels hinan und gingen auf der anderen Seite wieder in ein Tal hinab. Obgleich der Mond nicht schien, war es doch genügend hell, daß sie den Weg über den Sturzacker finden konnte und seinen Arm ablehnte, den er ihr bot. Sie machten einen weiten Umweg, um einer sumpfigen Stelle aus dem Wege zu gehen. Einmal mußte er ihr doch helfen, als sie über eine Weißdornhecke kletterten. Dann lag eine dunkle Baumreihe vor ihnen, die noch zu der Farm gehörte. Er sagte ihr, daß das ganze Gut zwölfhundert Morgen groß sei. Nur ein kleiner Teil war in Pacht gegeben, und keines der Felder war bestellt.

 

»Es ist nur magerer Boden wie all dieses Land in den Niederungen – da drüben ist Gallows Wood.« Er zeigte auf ein Gehölz. »Die Farm hat ihren Namen von dem Wald – vor langen Jahren stand ein Galgen auf der Spitze des Hügels. Fürchten Sie sich nicht?«

 

Er lachte, als sie verneinte.

 

Nach einiger Zeit kamen sie auf einen schlechten Pfad, der sie mitten in das Gehölz führte. Jetzt benützte er zum erstenmal die Taschenlampe, denn der Weg war überwachsen, und es war sehr schwierig, ihm zu folgen. Obwohl ihre Stimme fest und ihre Haltung zuversichtlich schien, war ihr doch bang zumute. Es war eine schlechte Vorbedeutung, daß sie das Gehöft verlassen mußte. Vermutlich brachte sie der Doktor zu einer anderen Stelle, weil er die Rückkehr Michael Dorns erwartete. Sie fürchtete nur das eine, daß Michael während ihrer Abwesenheit das Haus durchsuchen und sich damit zufrieden geben könnte, daß sie nicht dort war. Nachdem sie zehn Minuten weitergegangen waren, hielt er an, und sie glaubte, er hätte den Weg verloren. Aber dann sah sie bei dem Licht seiner Lampe ein kleines Steinhäuschen, das seitwärts von dem Pfad stand und ganz von Bäumen und Sträuchern verborgen war. Das war also ihr neues Gefängnis!

 

»Halten Sie die Lampe!« befahl er ihr, und sie gehorchte, während er von seinem Bund einen Schlüssel nach dem anderen probierte, um aufzuschließen. Nach einiger Zeit sprang die Tür auf, und er ging hinein, schaute sich aber um, ob sie ihm folgte. Auf dem Fußboden lag dick der Staub, und ein alter Stuhl mit abgebrochener Lehne war das einzige Mobiliar des Raumes, in den er sie brachte. An einer Wand hing ein alter Abreißkalender. Anscheinend war das Haus seit dieser Zeit nicht mehr bewohnt worden.

 

»Sie bleiben hier und verhalten sich vollständig ruhig. In einigen Stunden wird es hell. Wenn Sie etwas brauchen, dann fragen Sie Mrs. Rooks – sie wird gleich hier sein.«

 

Er ging hinaus, schloß aber die Tür nicht zu. Später entdeckte Lois, daß das Schloß nicht in Ordnung war. Sie wartete eine halbe Stunde, dann hörte sie Schritte und Stimmen in dem Vorraum. Irgend etwas fiel polternd zu Boden. Einen Augenblick erschrak sie furchtbar, aber wahrscheinlich hatte Mrs. Rooks, die bleiche Wirtschafterin, nur eine schwere Last abgeworfen. Sie hörte, wie die Frau darüber schimpfte. Sie hatte wohl alle möglichen Dinge mitgebracht, die für diesen Umzug notwendig waren. Es schien ziemlich viel Vorrat zu sein. Tappatt hatte sie darauf vorbereitet, daß ihr Aufenthalt hier länger dauern sollte.

 

»Es hätte mir beinahe das Kreuz eingedrückt«, knurrte Mrs. Rooks. »Warum konnte sie es denn nicht tragen, Doktor?«

 

Lois schlich sich näher an die Tür und horchte. Sie hoffte zu hören, daß sie nur hier versteckt wurde, weil Tappatt die Rückkehr Dorns erwartete.

 

»Holen Sie einen Stuhl aus dem anderen Zimmer«, hörte sie ihn brummen. »Warum machen Sie denn all diesen Lärm? Es ist für Sie doch nicht schlimmer als für mich. Es ist doch nicht das erstemal, daß Sie eine Nacht wachen müssen!«

 

»Ich sehe bloß nicht ein, warum Sie soviel Umstände machen«, brummte die Frau. »Er wird nicht wiederkommen, und wenn er wirklich kommt – wie wollen Sie ihn denn daran hindern, auch hierher zu gehen?«

 

»Er wird bestimmt zurückkommen – darüber gibt es gar keinen Zweifel. Ich kenne diesen Mann. Aber Sie brauchen sich keine Sorge zu machen, daß er sie finden wird. Er kann doch nicht jedes Gehölz in der Umgegend absuchen.«

 

Ein paar Minuten später schlug er die Haustür zu, als er fortging, und Lois hörte die Frau noch mit sich selbst reden. Sie saß dicht neben der Tür und konnte jedes Geräusch und jede Bewegung in dem leeren Raum verfolgen. Vielleicht hätte man auch das Fenster öffnen können, aber es war unmöglich, das zu tun, ohne daß es die Frau gehört hätte.

 

Kurz nach Tagesanbruch nahm Mrs. Rooks das Mädchen mit in die Küche. Sie kamen an dem Raum vorbei, in dem die zweite Gefangene untergebracht sein mußte. Lois sah, daß ein Schlüssel in der Tür steckte, und wenn die Lage in dem Zimmer ebenso war, so konnte die unbekannte Frau unmöglich entfliehen. Wer mochte sie sein? Irgendeine arme Person, die von ihren Freunden oder ihrer Familie der Pflege Dr. Tappatts übergeben worden war? Sie empfand schmerzliches Mitleid mit ihr.

 

Während des langen, unangenehmen Tages, der nun folgte, sah sie außer der Haushälterin kein einziges menschliches Wesen. Der Wald gehörte zu einem Privatgrundstück, und der zugewachsene Weg sagte ihr, daß nicht einmal die Leute, die dort wohnten, ihn häufig gingen. Vom Fenster aus konnte sie nur die Stämme von Buchen und das grüne Laubdach der Bäume sehen. Die fürchterliche Einsamkeit bedrückte selbst Mrs. Rooks, die sonst so unzugänglich war. Sie war wahrscheinlich nicht an ein einsames Leben gewöhnt. Am Nachmittag kam sie in das Zimmer, und Lois benützte die Gelegenheit, sie näher zu betrachten. Sie mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen, schaute rauh und böse drein und schien mit der Welt und den Menschen zerfallen zu sein.

 

»Es ist so verteufelt ruhig hier, daß man den Verstand verlieren könnte«; klagte sie.

 

Lois war neugierig, ob sie die Frau zum Sprechen bringen und in eine Unterhaltung verwickeln könnte.

 

»Sind Sie schon lange in England?« fragte Lois.

 

Mrs. Rooks mußte erst ihren natürlichen Widerwillen überwinden, bevor sie antwortete.

 

»Erst zwei Jahre – vorher waren wir in Indien. Aber ich weiß gar nicht, was das mit Ihnen zu tun hat.«

 

»Ich hörte, wie Sie die Hunde mit indischen Namen riefen. Mali heißt doch Geld, nicht wahr?«

 

»Stellen Sie keine Fragen«, sagte die Frau. »Verhalten Sie sich nur ruhig, Sie werden nicht schlecht behandelt. Aber wenn Sie sich närrisch aufführen, dann wird man Ihnen –« Sie nickte bedeutungsvoll. »Natürlich heißt Mali Geld.« Dann sagte sie noch einige hindostanische Worte.

 

Lois schüttelte lächelnd den Kopf. Sie vermutete, daß die Frau sie fragte, ob sie Hindostani spräche oder verstände.

 

»Warum werde ich hier gefangengehalten? Können Sie das nicht sagen?«

 

»Weil Sie nicht richtig im Kopf sind.«

 

Diese Antwort hätte Lois wütend gemacht, wenn ihr die Vermutung nicht schon selbst gekommen wäre, daß man dies als Vorwand benützte, um sie gefangenzuhalten.

 

»Sie haben Dinge gehört und gesehen, die nicht existieren, und solche Leute sind immer verrückt.«

 

Lois lachte. »Sie wissen ganz genau, daß ich nicht verrückt bin.«

 

»Keiner von diesen Menschen weiß, daß er verrückt ist«, sagte Mrs. Rooks zur größten Beruhigung von Lois. »Das ist doch eines der Symptome. Sobald jemand glaubt, daß er vernünftig ist, ist er verrückt! Der Doktor weiß das, er ist der klügste Mann in der Welt!«

 

Sie schaute durch die offene Tür. Lois hörte von dort dauernd Schritte, als ob jemand auf und ab ginge.

 

»Wer ist in dem anderen Zimmer?« fragte sie, aber sie erwartete keine befriedigende Antwort.

 

»Eine Frau – die ist auch verrückt.« »Habe ich sie nicht neulich abends gesehen?« fragte das Mädchen und bemühte sich, so gleichgültig wie möglich zu sein. »Haben Sie nicht mit ihr im Hof – gesprochen?«

 

Die Frau musterte sie von oben bis unten.

 

»Sie haben gesehen, wie ich sie mit der Peitsche beruhigte – manchmal wird sie nämlich ein wenig frech, aber daran bin ich schon gewöhnt. Die meisten sind so. Bei Ihnen kommt das auch noch.«

 

Lois schauderte vor dieser furchtbaren Prophezeiung.

 

»Da ist doch nichts dabei – ein paar Schläge – Mondsüchtige sind eben keine Menschen mehr, sie sind wie Tiere, sagt der Doktor. Und man muß sie eben auch wie Tiere behandeln. Das ist die einzige Methode, die sie verstehen.«

 

Lois versuchte ihren Schrecken und ihren Abscheu zu verbergen, aber es gelang ihr nicht ganz.

 

»Ich hoffe, Sie werden mich nicht wie ein Tier behandeln«, sagte sie.

 

Mrs. Rooks rümpfte die Nase.

 

»Wenn Sie sich ordentlich betragen, werden Sie auch gut behandelt. Alle verrückten Leute haben eine gute Zeit bei uns, wenn sie nicht frech und aufsässig sind. So hält es der Doktor immer.«

 

Es war Lois klar, daß diese brutale Frau ohne zu fragen jede Diagnose annahm, die der Doktor stellte. Für Mrs. Rooks war sie eben verrückt, genau wie die andere unglückliche Frau. Und wenn sie widerspenstig wurde, sollte sie in derselben Weise behandelt werden.

 

»Warum haben Sie sie denn eine Zuchthäuslerin genannt?«

 

Wieder traf sie ein argwöhnischer Blick.

 

»Ich habe eine Menge Schimpfnamen für sie«, sagte Mrs. Rooks kühl. »Wenn Sie nicht spioniert hätten, wüßten Sie nichts davon. Aber Schimpfnamen verletzen niemanden, sie sind immer noch viel besser als die Peitsche. Kennen Sie den Mann, der gestern abend kam?«

 

»Mr. Dorn?«

 

»Ja – wer ist das?«

 

»Ein Polizeibeamter.«

 

Lois hatte nicht erwartet, daß diese Worte solchen Eindruck auf die Frau machen würden. Das Gesicht der Haushälterin wurde plötzlich blaß.

 

»Ein Detektiv?«

 

Lois nickte, aber Mrs. Rooks‘ Gesicht hellte sich wieder auf.

 

»Das ist ein Teil Ihrer verrückten Ideen«, sagte sie ruhig. »Er ist ein Mann, dem der Doktor Geld schuldet, ich weiß es, weil er es mir selbst erzählt hat. Der Doktor ist in Geldnot, aber deswegen hat er noch lange keine Unannehmlichkeiten mit der Polizei. Man hat viele Lügen über ihn in Indien verbreitet, aber er ist ein guter Mensch, der beste Mann, den es auf der Welt gibt.«

 

Plötzlich kam Lois ein Gedanke.

 

»An welchem Irrwahn leide ich denn?« fragte sie.

 

Mrs. Rooks sah das Mädchen mit einem schlauen Blick an.

 

»Ich bin erstaunt, daß Sie das fragen. Sie haben wirklich die verrückte Idee, zu glauben, daß Sie jemand anders sind als in Wirklichkeit!«

 

Lois runzelte die Stirn.

 

»Wollen Sie damit sagen, daß ich unter dem Eindruck stehe, eine hohe Persönlichkeit zu sein?

 

Mrs. Rooks nickte.

 

»Ja – Sie denken, daß Sie die Gräfin von Moron sind!«

 

Kapitel 22

 

22

 

Als Michael Dorn die Polizeistation verließ, eilte er in seinem Wagen nach der Charlotte Street. Um diese frühe Morgenstunde war die Straße völlig leer. Er war auf ein langes Warten gefaßt, aber wenn er die Gewohnheiten des alten Mackenzie gekannt hätte, wäre er nicht erstaunt gewesen, daß er ihm sofort öffnete.

 

Der alte Mann war im Schlafrock und hatte sich erst vor einer halben Stunde zur Ruhe gelegt. Er schaute den Besucher ein wenig argwöhnisch an, und sein Verdacht verstärkte sich noch, als er erfuhr, weshalb er kam.

 

»Ja, Sir. Miss Smith ist zu Hause – kommen sie von der Polizei?«

 

»Ja«, erwiderte Dorn, ohne damit die Wahrheit zu verletzen, »kann ich Miss Smith sprechen?«

 

»Sie ist erst sehr spät nach Hause gekommen und war sehr aufgeregt. Soviel ich weiß, hat die gute Gräfin versprochen, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, um Miss Reddle wieder zu befreien. Es ist wirklich schrecklich, was da passiert ist. Wollen Sie bitte eintreten, Sir.«

 

Michael folgte ihm die Treppe hinauf zu seinem kleinen Zimmer und setzte sich nieder, während der alte Mann die Treppe hinaufstieg, um Lizzy zu wecken. Sie hatte aber das Klopfen an der Haustür auch gehört und wartete an der offenen Tür ihres Zimmers, als Mackenzie heraufkam.

 

»Ist Dorn unten?« fragte sie böse. »Dann komme ich gleich hinunter und rede einmal einen Ton mit ihm. Er wird ganz klein sein, wenn ich zu Ende bin!« Sie kam wutentbrannt herunter.

 

»Na, das ist aber eine Dreistigkeit, noch hierher zu kommen, nachdem Sie die arme Lois so heimtückisch verraten haben –«

 

»Ist sie nicht hier?« unterbrach er sie barsch.

 

»Hier? Natürlich ist sie nicht hier! Sie ist doch auf dem Polizeirevier. Wie konnten Sie bloß –«

 

»Sie ist nicht mehr auf dem Polizeirevier – sie ist freigelassen worden, und ich muß den Mann finden, der ihre Entlassung durchgesetzt hat.«

 

Sein Auftreten und seine Stimme schüchterten Lizzy vollständig ein.

 

»Ist sie denn nicht bei Lady Moron?«

 

»Ich fahre jetzt sofort zum Chester Square – aber ich erwarte nicht, Miss Reddle dort zu finden. Ich habe sie einsperren lassen, um ihr Leben zu retten – hoffentlich begreifen Sie das nun endlich! Man hat schon drei Versuche gemacht, sie zu töten, und nach meinen Ermittlungen war ein vierter Anschlag geplant, der mehr Erfolg versprach. Ich wußte, daß ihre Mutter jetzt aus dem Gefängnis entlassen werden sollte, und sie ist auch tatsächlich gestern abend herausgekommen – es ist jetzt dringend notwendig, daß ich Lois Reddle unter meiner Aufsicht habe.«

 

Lizzy sank in einen Stuhl.

 

»Ihre Mutter ist aus dem Gefängnis entlassen? Was sagen Sie da? Ihre Mutter ist doch tot! Man versucht, Lois umzubringen – wer will denn Lois ermorden? Das Unglück mit dem Balkon war doch ein Zufall.«

 

»Es war kein Zufall«, erwiderte Michael ruhig. »Der Balkon war schon seit Jahresfrist baufällig, und die Baupolizei hatte angeordnet, daß er repariert werden sollte. Bis Miss Reddle das Zimmer dort oben am ehester Square bezog, wurden die großen Fenster, die auf den Balkon führten, auch stets geschlossen gehalten.«

 

Lizzy atmete schwer. »Aber die Dienstboten –«

 

»Die Dienstboten waren alle neu engagiert. Keiner war länger als vierzehn Tage im Haus. Sergeant Braime kam von Newbury, und selbst er wußte nichts.«

 

»Sergeant Braime?« wiederholte sie und schaute ihn groß an.

 

»Braime ist ein Beamter der Staatsanwaltschaft, der seit sechs Monaten im Haushalt der Gräfin angestellt war«, lautete die überraschende Antwort. »Niemand durfte auf den Balkon hinausgehen. Es war auch ein Holzgitter dort angebracht, das die Dienerschaft davon abhalten sollte – aber als Lois an jenem Abend in ihr Zimmer kam, war es vorher entfernt worden.«

 

»Wer hat das getan?« fragte Lizzy.

 

Michael zuckte die Achseln.

 

»Ich weiß es nicht – aber ich werde es noch entdecken.«

 

»Aber wo ist Lois denn?«

 

»Das will ich ja gerade herausbringen. Ich fahre jetzt direkt zum Chester Square. Wollen Sie mich begleiten?«

 

Sie verschwand im Augenblick aus dem Zimmer.

 

»Aber, Mr. Dorn, es ist doch fürchterlich, daß sich alle Leute gegen dieses unschuldige Mädchen verschwören«, sagte der alte Mackenzie, von Schrecken gepackt. »Sicherlich werden Sie Miss Reddle im Haus der guten Gräfin finden.«

 

»Ich hoffe es, aber ich bin nicht davon überzeugt«, entgegnete er.

 

Die Lippen des alten Mannes zitterten.

 

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Ich gehe ja niemals aus dem Haus, aber ich würde selbst das tun –«

 

Michael schüttelte den Kopf.

 

»Ich fürchte, Sie können nichts helfen, höchstens wenn das Unvorhergesehene eintreten sollte, daß Miss Reddle hierher zurückkommt. Dann sorgen Sie bitte dafür, daß sie nicht wieder weggeht, und daß sie unter keinen Umständen irgendwelchen Besuch empfängt. Aber ich bezweifle stark«, fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu, »daß Ihre Hilfe nötig sein wird.«

 

Lizzy erschien in Mantel und Hut, und während sie zum Chester Square fuhren, erzählte sie Dorn, was sie inzwischen unternommen hatte, um Lois Reddle zu befreien.

 

»Ich ging los, um die Gräfin zu suchen, und fand sie in dem Haus eines Freundes. Ich teilte ihr alles mit, was mit Lois geschehen war. Sie war furchtbar aufgeregt – ich hatte früher noch nicht mit ihr gesprochen, aber sie war sehr liebenswürdig zu mir.«

 

»War sie in Begleitung? Kennen Sie Chesney Praye?«

 

Lizzy schüttelte den Kopf. »Nein, persönlich nicht. Lois hat mir nur von ihm erzählt. Aber ich habe ihn noch nie zu sehen bekommen.«

 

Michal beschrieb ihr den Mann genau, aber sie schüttelte wieder den Kopf.

 

»Nein, das war er nicht.«

 

»Was tat die Gräfin?«

 

»Sie telefonierte mit jemand und sagte, sie würde dem Polizeioffizier vom Dienst einen Brief schicken. Dann bat sie mich, wieder in die Charlotte Street zu gehen und ruhig zu warten, bis Lois käme.«

 

Dorn nickte.

 

»Da hätten Sie lange warten können – die Gräfin wußte ganz genau, daß Lois nicht in ihr Haus zurückkehren würde«, sagte er grimmig. »Und wenn sie sich nicht am ehester Square eingefunden hätte und Sie hätten sie dort erwartet, dann hätten Sie wissen wollen, wo man sie hingebracht hat.«

 

Der Wagen fuhr vor dem Haus Nr. 307 vor. Dorn stieg aus und drückte auf die Klingel. Aber es meldete sich niemand. Er läutete noch einmal und klopfte dann – aber es kam immer noch keine Antwort. Als er wieder aus der Vorhalle heraustrat und zu den Fenstern hinaufsah, wurde ein Schiebefenster in die Höhe gezogen, und ein zerzauster Kopf zeigte sich oben. Es war Lord Moron, der anscheinend in dem Geschoß schlief, das sonst dem Dienstpersonal überlassen war.

 

»Hallo – was gibt es?«

 

»Wollen Sie herunterkommen?« rief Michael.

 

Sie warteten lange, bevor sich die Tür öffnete, aber dann war eine weitere Erklärung für die Verzögerung nicht mehr notwendig, denn neben Selwyn stand die Gräfin in der Halle. Sie war in einen Mantel gehüllt, und ihre majestätische Erscheinung bot ein imposantes Bild.

 

Kapitel 23

 

23

 

»Was soll das bedeuten?« fragte sie.

 

»Ich komme wegen Miss Reddle«, erwiderte Dorn kurz.

 

»Sie ist nicht hier, sie ist außerhalb des Bereichs Ihrer Rachsucht.«

 

»Wo ist sie?«

 

»Darüber gebe ich Ihnen keine Auskunft, nachdem Sie sich letzte Nacht so nichtswürdig betragen haben und das arme unschuldige Kind festnehmen ließen.«

 

»Sie können sich Ihre Worte schenken, Lady Moron«, sagte Michael wild. »Niemand weiß besser als Sie, warum sie festgenommen wurde. Wo ist sie?«

 

»Ich habe sie zu einem Freund geschickt.«

 

»Die Adresse?«

 

»Sie sind ein sehr draufgängerischer junger Mann«, sagte die Gräfin beinahe vergnügt. »Wollen Sie in die Bibliothek kommen? Ich kann in dieser zugigen Halle nicht mit Ihnen sprechen. Sie haben Miss Smith mitgebracht? Sie soll auch hereinkommen.«

 

»Sie ist draußen in größerer Sicherheit«, sagte er kühl und ging durch die Halle.

 

Während dieser ganzen Zeit hatte Selwyn nichts gesagt, aber jetzt wandte er sich an seine Mutter.

 

»Wo ist Miss Reddle? Vielleicht sagst du es mir?«

 

»Ich werde dir nichts sagen«, antwortete sie eisig. »Du gehst jetzt in dein Zimmer zurück.«

 

»Ich will mich schlagen lassen, wenn ich jetzt in mein Zimmer zurückgehe«, protestierte Lord Moron. »Hier geht irgend etwas Verdächtiges vor, und ich wünsche zu wissen, was hier gespielt wird.«

 

Es war eine heldenhafte Rede für Selwyn, und Michael fühlte eine leise Bewunderung für ihn, denn er wußte, wieviel Mut dazu gehörte, dieser Frau zu trotzen. Sogar die Gräfin war bestürzt.

 

»Selwyn«, sagte sie milder, »in diesem Ton verkehrt man nicht mit seiner Mutter.«

 

»Das kümmert mich sehr wenig«, gab er trotzig zurück. »Es ist irgend etwas verdächtig hier – ich habe immer gesagt, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist. Was ist mit Miss Reddle?«

 

»Sie ist bei Freunden auf dem Lande«, sagte Lady Moron.

 

Die Antwort schien seinen Widerstand zu brechen.

 

»Nun gut«, meinte er freundlicher. Er schaute durch die offene Tür auf Lizzy, lächelte und winkte ihr mit der Hand, sah dann zurück auf seine Mutter, nahm all seinen Mut zusammen und ging in seinem Pyjama und seinem Schlafrock die Treppe hinab, um mit dem Mädchen zu sprechen.

 

»Sind Sie zufrieden, Mr. Dorn?«

 

»Ich bin weit davon entfernt, zufrieden zu sein, Lady Moron«, erwiderte Michael, während er ihr in die Bibliothek folgte.

 

Er bemerkte den Flecken auf dem Teppich, wo das Wasser auf Braime geschüttet worden war, und sah, daß auch ihre Augen an dieser Stelle hafteten.

 

»Es gibt keinen Grund, warum wir uns streiten sollten, Mr. Dorn«, sagte sie fast liebenswürdig. »Was haben Sie mit Miss Reddle vor? Das arme Mädchen war ganz außer sich in der letzten Nacht. Ich habe sie aus Mitleid aufs Land geschickt.«

 

»Wer hat sie fortgebracht?«

 

»Mein Chauffeur.« Sein scharfer Blick ruhte auf ihr, aber sie hielt ihm stand.

 

»War es nicht Mr. Chesney Praye?«

 

»Mr. Praye ist seit einigen Tagen in Paris. Sie glaubten etwas Außerordentliches entdeckt zu haben, aber hinter den Unglücksfällen, die sich hier ereignet haben, steckt wirklich kein Geheimnis. Ich habe Miss Reddle doch nur engagiert, weil ich den Wunsch hatte, ein nettes, liebes Mädchen um mich zu haben.« Dann fuhr sie fort: »Geht es Braime besser?«

 

»Sergeant Braime hat sich gut erholt«, erwiderte Michael und sah, daß er sie mit dieser Bemerkung schwer getroffen hatte. Sie zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen, und ihre Stimme verlor alle Selbstsicherheit.

 

»Sergeant Braime?« stotterte sie. »Ich sprach von meinem Butler.«

 

»Und ich spreche von Sergeant Braime von der Kriminalpolizei, der sechs Monate lang in Ihren Diensten stand.«

 

»Aber – er wurde mir doch empfohlen von –«

 

»Von einer Gesellschaft zur Unterstützung früherer Gefangener. Damit wollte man Sie sicher machen. Er hatte größere Aussicht, von Mylady angestellt zu werden, wenn er schon ein Verbrechen begangen hatte.«

 

Im nächsten Augenblick war sie wieder gefaßt.

 

»Warum bringt man einen Detektiv in mein Haus? Das ist eine Beleidigung, ich werde die Sache sofort der Polizei anzeigen.«

 

Er schaute sich in dem Raum um, und seine Blicke streiften den Bücherschrank, der durch die Sicherheitstür verschlossen war.

 

»Sie haben dort ein Buch, das ich gern sehen möchte. Ich beabsichtigte schon gestern abend zu kommen, aber ich wurde leider abgehalten.«

 

»Ein Buch?«

 

»Ein Buch, das den Titel trägt: ›Das Leben Washingtons‹. Das ist doch ein ganz unschuldiger Titel, nicht?«

 

Sie ging zu dem Bücherschrank, nahm einen Schlüssel aus der Schublade ihres Pults und öffnete die mit einem starken Drahtnetz gesicherte Tür.

 

»Bitte – lesen Sie es zu Ihrer Beruhigung.«

 

Sie ging zur Tür, wandte sich um und beobachtete ihn. Aber er tat etwas Außergewöhnliches. Er nahm einen dicken, roten Handschuh aus seiner Tasche, zog ihn über die rechte Hand und riß dann das Buch aus dem Schrank heraus. Es knackte verdächtig, und ein hell leuchtender, blendender Funke sprang heraus. Weiter ereignete sich nichts. Er legte das Buch auf den Tisch.

 

»Eine gute Imitation«, sagte er ruhig. »Es ist ein Stahlkasten, und jeder, der ihn herauszunehmen versucht, kommt automatisch mit einem starken elektrischen Strom in Verbindung. Wo ist der Schalter?«

 

Sie gab keine Antwort. Ihr Gesicht sah plötzlich eingesunken und alt aus. Michael ging zur Tür, suchte einen Augenblick, beugte sich nieder und drehte an einem großen Schalter.

 

»Haben Sie den Schlüssel zu dem Stahlkasten?«

 

»Er ist nicht verschlossen«, sagte sie. Sie trat zu ihm und drückte auf eine Feder. Der Deckel sprang auf.

 

Das ›Buch‹ war, wie er vermutete, innen vollständig leer.

 

»Gibt es etwa ein Gesetz, das verbietet, sich eine Sparbüchse in Gestalt eines Buches anfertigen zu lassen?« fragte sie sanft. »Kann man in Ungelegenheiten kommen, weil man sein Eigentum vor diebischen Butlern und – Spürhunden von Detektiven schützt?«

 

»Es gibt ein Gesetz gegen Mord«, erwiderte Dorn kurz. »Wenn ich das Buch ohne Gummihandschuhe angefaßt hätte, wäre ich jetzt tot. Braime ist mit knapper Not davongekommen, weil er eine Konstitution wie ein Riese hat.«

 

»Ich habe Sie ja gar nicht darum gebeten, das Buch herauszuziehen.«

 

»Aber Sie haben mich auch nicht gewarnt«, sagte Michael mit grimmigem Lächeln. »Leer ist es auch – natürlich! Sie hatten einen Verdacht auf Braime und ließen ein kleines Notizbuch in Ihrem Schlafzimmer herumliegen, in dem Sie verschiedene Bemerkungen über das ›Leben Washingtons‹ machten. Braime las sie und ging in die Falle. Er wäre ein toter Mann, wenn ich nicht die Erste Hilfe geleistet hätte.«

 

Es entstand eine lange Pause.

 

»Ist das alles, was Sie zu sagen haben?« fragte Lady Moron.

 

»Nein, nicht alles – ich will wissen, wo Miss Reddle ist.«

 

»Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht sagen. Als sie heute früh entlassen wurde, wollte sie weder hierher noch in ihre Wohnung zurückkehren. Sie erklärte, daß sie einige Tage aufs Land gehen wollte, um sich zu erholen –«

 

»Drückte auch Mrs. Pinder den Wunsch aus, aufs Land zu gehen?« fragte er und fixierte sie mit eisigem Blick.

 

»Mrs. Pinder? Ich weiß nicht, wer das ist.«

 

»Wünschte Mrs. Pinder auch aufs Land zu gehen?« fragte er drohend. »Lady Moron, Sie stürzen sich und die Leute, die Ihnen verbündet sind, in fürchterliche Gefahr.«

 

Sie zuckte die breiten Schultern.

 

»Wenn diese Gefahr in nichts anderem als in dem Besuch eines theatralischen Detektivs am frühen Morgen besteht, dann sehe ich allem, was kommt, mit Gleichmut entgegen«, sagte sie und ging in die Halle hinaus. Michael Dorn folgte ihr.

 

Als sie zur Seite trat, um ihn zur Haustür zu lassen, sah sie Selwyn, der an der Seite des Autos stand und sich über die Tür lehnte. Er schien sich eifrig zu unterhalten – sie schaute ihn mit einem verächtlichen Lächeln an.

 

»Mein Sohn hat jemanden gefunden, dessen Intelligenz der seinen gleicht«, sagte sie, dann rief sie ihn beim Namen.

 

Zu Michaels Verwunderung drehte sich der junge Mann nur kurz um und sprach dann mit dem jungen Mädchen weiter.

 

»Selwyn!« Er nahm sich immer noch Zeit.

 

»Also leben Sie wohl, liebes Fräulein, und vergessen Sie nicht« – das flüsterte er ihr zu – »Schweinswürstchen, kein Rindfleisch – das mag ich nicht.« Dann winkte er ihr zum Abschied und ging zu seiner Mutter zurück. Ihr Gesicht war von Wut und Zorn entstellt.

 

»Es klang ja beinahe so, als ob Sie mit dem jungen Mann ein Stelldichein verabredet hätten«, sagte Michael, als sie abfuhren.

 

»Er kommt zum Abendessen«, erwiderte Lizzy. »Ist Lois dort?«

 

»Nein, das vermutete ich ja auch nicht.«

 

Aber selbst die Aussicht auf ein gemeinsames Essen mit einem Mitglied des hohen Adels war kein Ausgleich für die beunruhigende Nachricht.

 

»Wo mag sie bloß sein, Mr. Dorn?«

 

»Irgendwo auf dem Land. Ich nehme an, daß ihr in den nächsten beiden Tagen kein Unglück zustößt.«

 

Lizzy schaute ihn ruhig an.

 

»Glauben Sie das wirklich?«

 

»Ja.«

 

Sie betrachtete ihn immer noch.

 

»Sie sehen aber totenbleich aus«, sagte sie dann. »Sie haben Lois furchtbar gern, nicht wahr?«

 

Er war über diese Frage sehr betroffen.

 

»Lois gern haben? Warum fragen Sie mich? Ja, ich liebe sie.«

 

Er brachte Lizzy Smith zur Charlotte Street, lehnte aber ihre Einladung ab, mit hinaufzukommen. Dann fuhr er heim, ließ seinen Wagen im Hof der Hiles Mansions stehen und schleppte sich todmüde in seine Wohnung.

 

Er lag angezogen auf seinem Bett und schlief, als Wills schweigend mit einem Telegramm hereinkam. Dorn fuhr aufgeregt in die Höhe, nahm es, riß es auf und las. Es war um acht Uhr in Paris aufgegeben und lautete:

 

›Würden Sie mir bitte angeben, wer Distriktskommissar von Karrili war, als Sie im Pandschab weilten? Chesney Praye, Grand Hotel.‹

 

»Das tat er nur des Alibis wegen«, sagte Michael und gab Wills das Telegramm zurück. »Er will beweisen, daß er in diesem Augenblick in Paris weilt. Telefonieren sie an alle Flugstationen im Umkreis von hundert Meilen, die Flugzeuge an Privatleute vermieten. Suchen Sie herauszubringen, ob heute in den frühen Morgenstunden jemand nach Paris geflogen ist.«

 

Wills nickte und verließ das Zimmer.

 

»Solch einen dummen Bluff zu versuchen!« sagte Michael böse, als sich die Tür hinter dem Mann schloß.

 

Kapitel 24

 

24

 

Es war bereits drei Uhr nachmittags, als Lois Reddle aus tiefem Schlaf erwachte und entsetzlichen Hunger fühlte. Schnell sprang sie aus dem Bett, zog ihre Schuhe an und ging zum Fenster. Die Aussicht, die sie von hier aus hatte, war wirklich wenig reizvoll. Sie schaute auf den Wirtschaftshof hinunter, in den sie heute früh eingefahren waren. In der schlampigen Frau, die die Hühner fütterte, erkannte sie die Pförtnerin wieder, die ihnen das Tor geöffnet hatte. Hinter der grauen Mauer senkte sich ein kahler Abhang, auf dem nicht ein einziger Baum oder Strauch stand. Als sie ihr Gesicht dicht an die Scheibe drückte und seitwärts blickte, konnte sie nichts anderes als eine Talsenkung zwischen den Hügeln erblicken, die von dunklem Gebüsch überragt war.

 

Nachdem sie sich Gesicht und Hände mit kaltem Wasser gewaschen hatte, fühlte sie sich erfrischt, aber ihr Hunger hatte sich noch gesteigert. Sie ging zur Tür und versuchte sie zu öffnen, aber sie rührte sich nicht. Sie war verschlossen. Auch die Fensterflügel öffneten sich nur ein wenig; wie sie jetzt feststellte. Aber sie konnte wenigstens die Frau auf dem Hof anrufen, und es gelang ihr auch, sie auf sich aufmerksam zu machen. Die Alte winkte aber nur ungeduldig mit der Hand und fütterte die Hühner weiter. Nach ein paar Minuten ging sie seitwärts in den Hof, so daß Lois sie aus dem Gesichtskreis verlor. Es dauerte noch einige Zeit, bis sie ihren schweren Tritt auf der Treppe hörte. Sicherlich war die Tür nicht nur zufällig verschlossen worden, denn als die Frau mit einem Tablett hereinkam, sah sie den Schlüssel an ihrem Gürtel hängen.

 

»Bitte schließen Sie die Tür nicht wieder ab«, sagte Lois, während sie erfreut auf das einfache Essen sah.

 

»Essen Sie nur ruhig und kümmern Sie sich nicht um die Tür«, war die unerwartete Antwort.

 

Lois war sich nicht im Zweifel darüber, daß diese Frau ihr feindlich gesinnt war, und sie besaß Klugheit genug, nicht weiter mit ihr zu streiten. Die Alte entfernte sich und schloß den Raum wieder zu. Lois eilte bestürzt zur Tür und schlug heftig dagegen.

 

»Schließen Sie die Tür sofort wieder auf«, rief sie. Aber sie erhielt keine Antwort. Nur die harten Tritte der Frau klangen von der Treppe zu ihr herauf. Lois ging langsam zum Tisch zurück, auf dem das Essen noch stand. Sie fand sich vor einem neuen Problem.

 

Aber der gesunde Hunger der Jugend siegte, und als sie ihre Mahlzeit beendet hatte, kehrte ihr Selbstbewußtsein bis zu einem gewissen Grad zurück. Es war doch unmöglich, daß man sie hier gefangenhielt. Dieser Gedanke schien ihr lächerlich. Wahrscheinlich hatte die Frau die Tür nur in ihrem Übereifer geschlossen, um sie – vor wem? – zu schützen. Sie schüttelte den Kopf. Doch nicht etwa vor Michael Dorn? Was die Gräfin auch immer von ihm denken und so unverzeihlich sein Betragen auch gewesen sein mochte, sie trug ihm nichts nach. Er würde sie nicht verfolgen, um sich zu rächen. Das war ausgeschlossen.

 

Sie versuchte noch einmal vorsichtig, die Tür zu öffnen. Aber sie war fest verschlossen. Als sie sich zu dem Fenster wandte, entdeckte sie, daß zwei starke Hölzer mit großen Schrauben von außen angebracht waren, so daß man nur ein paar Zentimeter weit öffnen konnte. Das andere Fenster war in ähnlicher Weise gesichert. Da sah sie den Doktor unten im Hof. Er trug einen zerschlissenen Anzug und hatte keinen Kragen an. Eine alte Golfkappe bedeckte seinen Kopf.

 

Mit unsicheren Schritten ging er zu dem Tor, durch das sie heute morgen gekommen waren. Es stand weit auf, und er hatte Mühe, es zu schließen. Es bedurfte keiner eingehenden Kenntnis menschlicher Schwächen, um an seinem schwankenden Gang zu sehen, daß er mehr getrunken hatte, als er vertragen konnte. Als er sich umwandte und zum Haus zurückging, sah er sie und rief ihr mit schriller Stimme einen Gruß zu.

 

»Haben Sie gut geschlafen, junge Freundin?« brüllte er hinauf. »Hat Ihnen die alte Hexe auch das Mittagessen gebracht?«

 

»Doktor –«, sie sprach durch den engen Fensterspalt zu ihm, »kann ich nicht nach unten kommen? Sie hat mich eingeschlossen.«

 

»Sie eingeschlossen?« Diese Feststellung schien ihm Vergnügen zu bereiten, denn er schüttelte sich vor Lachen. »Sie hat Sie sicherlich zum Spaß eingeschlossen, sie muß Angst vor Ihnen gehabt haben, meine Liebe! Das ist schon alles in Ordnung. Ich werde nach Ihnen sehen. Haben Sie wieder Stimmen gehört? Haben Sie jemand gesehen, der Ihnen folgte, als Sie umhergingen? In ein paar Tagen geht es Ihnen wieder besser.«

 

Diese Worte beunruhigten sie. Er hatte schon bei ihrer ersten Begegnung von geheimnisvollen Stimmen gesprochen und von Leuten, die ihr folgten. Glaubte er denn, daß sie verrückt sei? Bei diesem Gedanken lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Sie ging zur Tür und wartete, daß er die Treppe heraufkommen sollte, aber sie vernahm nur ein weiches Tappen, und gleich darauf schnüffelte etwas an der Tür. Dann hörte sie ein leises, unterdrücktes Knurren und die harte Stimme der Frau.

 

»Bati, Bati hiserao! Komm herunter, du schwarze Bestie!«

 

Das Tier rannte die Treppe hinunter, und Lois hörte noch einen Hieb und ein scharfes Bellen. Später sah sie zwei schwarze Hunde auf dem Hof, die viel größer und stärker als Alaskahunde waren, aber viel plumper aussahen. Sie liefen umher und durchwühlten den Stallmist. Eines der Tiere knurrte mit gesträubten Haaren und zeigte ein starkes Gebiß. Sie trat schnell vom Fenster zurück. Dann klopfte sie wieder an die Tür und stampfte auf den Fußboden, aber niemand kümmerte sich um sie, und obwohl sie die Stimme des Doktors hörte und nach ihm rief, meldete er sich nicht. Ihre Lage war gefährlich, und es begann ihr langsam klarzuwerden, warum Dorn jene ungeheuerlich erscheinende Maßnahme ergriffen hatte.

 

Sie wußte nicht, in welcher Gegend sie sich befand, denn die Landschaft zeigte, soweit sie sehen konnte, keine besonderen Merkmale. Sie konnte nur feststellen, daß ihre Fenster nach Norden gingen, sonst war sie unfähig, die Lage des Gehöftes näher zu bestimmen.

 

Am Nachmittag brachte ihr die Frau Tee, aber er war schlecht zubereitet. Lizzys Tee war dagegen ein wahrer Göttertrank.

 

»Ich bestehe darauf, daß Sie die Tür offenlassen«, sagte Lois.

 

»Die Hunde würden Sie in Stücke reißen, wenn ich das täte«, erwiderte die Frau. »Man kann sie nicht haken, wenn Fremde hier sind. Horchen Sie, wie Bati jetzt bellt!«

 

Von der Tür kam ein Schnüffeln und Knurren.

 

»Willst du wohl fort, Juldi!« rief sie mit kreischender Stimme in ihrem komischen Gemisch von Englisch und Hindostani.

 

Lois sah sie fest an. »Ich fürchte mich nicht vor Hunden«, sagte sie bestimmt und ging zur Tür.

 

Aber die Frau überholte sie, faßte sie am Arm und riß sie herum.

 

»Sie bleiben hier und tun das, was man Ihnen sagt, oder es geht Ihnen schlecht«, rief sie drohend.

 

»Wo ist der Doktor? Ich muß ihn sprechen!«

 

»Er ist nicht da – er ist ins Dorf gegangen, um seinen Whisky zu trinken.«

 

Sie stieß den Hund, der durch die halboffene Tür hereinkommen wollte, mit einem Tritt zurück und schloß wieder ab.

 

+++

 

Eine halbe Stunde saß Lois vor ihrem Essen, ohne es anzurühren, und versuchte nachzudenken. Es begann bereits zu dunkeln, als sie den zweiten dramatischen Auftritt erlebte. Sie stand am Fenster, schaute in den trostlosen Hof hinunter und dachte an Michael Dorn. Neue Hoffnung regte sich in ihr. Er würde sie finden, er würde ihr überallhin folgen, wo sie auch sein mochte. Woher ihr dieser Gedanke kam, war ihr selbst nicht ganz klar. Es war ein Geheimnis für sich, daß er ihrem Schutz seine ganze Kraft und Zeit widmete. Aber er beschäftigte sich mit ihr und er tat es sicherlich auch jetzt. Dieser Gedanke beruhigte sie, und sie vergaß die Furcht.

 

Plötzlich tönte vom Hof die schrille Stimme der alten Frau herauf.

 

»Ich sagte Ihnen doch, daß Sie diese Schüsseln waschen sollten haben Sie das nicht getan? Wenn ich Ihnen einen Auftrag gebe, dann haben Sie ihn auszuführen! Sie alte Zuchthäuslerin!«

 

»Warum hält man mich hier fest?« hörte Lois eine sanfte Stimme und zitterte. »Er sagte mir doch, daß –«

 

»Ganz gleich, was er Ihnen sagte – waschen Sie die Schüsseln, und danach können Sie den Fußboden schrubben; wenn die Arbeit nicht in einer halben Stunde getan ist, sperre ich Sie in den Keller zu den Ratten, oder ich lasse die Hunde auf Sie los – die werden Sie in Stücke reißen. He, Bati, Mali!«

 

Die Hunde bellten heiser und rasselten mit ihren Ketten.

 

»Das tue ich nicht – das tue ich nicht!«

 

Da hörte Lois ein unheimliches Klatschen.

 

»Wenn Sie mir nicht gehorchen, werde ich Sie bis aufs Blut peitschen!«

 

Die beiden mußten wohl miteinander ringen. Lois blickte entsetzt hinunter. Sie sah, wie eine schwache Frau schwankte und zu Boden fiel und wie die Alte mit der Peitsche auf sie einschlug.

 

»Halten Sie ein!« schrie Lois heiser. Im selben Augenblick beugte sich die alte Hexe über die am Boden liegende Frau und zog sie beiseite. Lois Reddle taumelte und fiel ohnmächtig zu Boden.

 

Kapitel 25

 

25

 

Lois lag mindestens eine halbe Stunde auf dem Boden, bevor sie sich wieder rühren konnte und zu sich kam. Krank, schwach und zitternd schleppte sie sich mühsam zum Bett.

 

Sie fühlte sich elend und barg ihr Gesicht in den Händen, um den entsetzlichen Anblick der niedersausenden Peitsche zu vergessen und eine vernünftige Erklärung für diese Vorgänge zu finden. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Michael Dorn zurück. Wer war diese andere Gefangene? Welche Rolle spielte die Gräfin bei dieser ganzen Sache? Waren die Unfälle, die sie erlebt hatte, wirklich wohlüberlegte Versuche, sie zu töten, wie Michael Dorn ihr erzählt hatte?

 

Als die Frau ihr das Abendessen brachte, war Lois äußerlich wieder ganz ruhig. Sie hatte eingesehen, daß es nutzlos war, die Alte zu fragen. Als sie später abräumte, brachte sie eine kleine Petroleumlampe mit und zündete sie an. Dann zog sie die zerrissenen Vorhänge vor den Fenstern zusammen. An der Tür blieb sie stehen und wünschte ihr gute Nacht.

 

»Wenn Sie irgend etwas wollen, stampfen Sie auf den Fußboden. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, so fragen Sie nicht nach dem Doktor, er ist schwer betrunken. Kümmern Sie sich auch nicht um die Frau da unten – die ist verrückt!«

 

Das waren keine beruhigenden Mitteilungen. Aber es war jedenfalls sicher, daß man sie in der Nacht nicht mehr stören würde. Sie wollte jetzt den Plan ausführen, den sie sich überlegt hatte.

 

In ihrer Handtasche befand sich eine kleine Nagelfeile. Die Holzbalken, die die Fenster verschlossen, waren mit Schrauben an den Fensterrahmen befestigt, und Lois vermutete, daß sie das Instrument als Schraubenzieher benutzen könnte, wenn sie die Spitze abbräche. Es fiel ihr leicht, das zu tun; als sie aber die Feile in die Kerbe der ersten Schraube einsetzte, merkte sie, daß weder das kleine Werkzeug noch ihre Kraft ausreichten, die Schraube zu bewegen. Sie versuchte es noch an einer anderen Stelle, hatte aber ebensowenig Erfolg und gab schließlich in größter Verzweiflung ihr Vorhaben auf. Sie hätte das Glas eindrücken können, aber die einzelnen Scheiben waren kaum einen Fuß breit. Und dann sah sie unten die Hunde. Sie waren durch das Geräusch, das sie machte, angelockt worden und knurrten und heulten nun vor dem Fenster.

 

Sie wußte nicht, was sie anfangen sollte – sie hatte nichts zu lesen bei sich. Ihre Armbanduhr war stehengeblieben, sie konnte die Zeit nur nach dem Himmel schätzen. Sie ging in dem Zimmer auf und ab, um sich nicht von Furcht übermannen zu lassen. Immer wieder wollte sie die Angst packen, und sie war versucht, laut zu schreien. Aber dann dachte sie nach. Was mochte Lizzy jetzt tun? Wo war Michael Dorn?

 

»Ob ich mich wohl in ihn verliebt habe?« sagte sie laut und lächelte bei dem Gedanken. Sie hätte niemals geglaubt, daß sie sich gerade in ihn verlieben würde. Lizzy nahm natürlich fest an, daß sie ihn schon immer gern gehabt habe.

 

Er würde sie hier finden, dessen war sie sicher. Aber wenn es ihm doch nicht gelänge? Sie seufzte schwer, schraubte die Lampe herunter, stützte die Ellbogen auf das Fensterbrett und starrte in die Dunkelheit hinaus. Irgendwo auf der anderen Seite des Hauses mußte der Mond aufgegangen sein. Sie sah das weiße, gespenstische Licht, das immer heller wurde und die düsteren Gegenstände mit seinem Silberlicht überstrahlte. Plötzlich hörte sie eilige Schritte in der Halle unten, ging schnell zum Tisch zurück und drehte die Lampe wieder hoch. Es wurde aufgeschlossen, und der Doktor kam herein. Aber er war nicht betrunken, sein Gesicht war eingefallen, und er zitterte.

 

»Kommen Sie hier heraus«, rief er und zog sie aus dem Zimmer und die Treppe hinunter in die Halle. »Gehen Sie schnell hinauf und machen Sie das Licht aus«, sagte er zu jemand in der Dunkelheit. Die Frau erschien aus irgendeiner Ecke und eilte hinauf.

 

»Was ist los, Doktor? Ist etwas –«

 

»Wollen Sie wohl ruhig sein!« zischte er. »Haben Sie das Licht ausgemacht?«

 

»Ja«, erwiderte eine verdrießliche Stimme von der Treppe her. »Warum sollten wir uns denn fürchten? Sie waren betrunken und haben geträumt.«

 

»Ich schlage Ihnen den Schädel ein, wenn Sie noch mal so reden«, sagte er ohne Erregung. »Ich sah ein Auto über den Hügel herüberkommen. Es hielt direkt vor dem Haus. Denken Sie denn, ich bin blind? Gehen Sie in mein Zimmer hinauf, da können Sie die Scheinwerfer sehen. Es stieg einer aus und ging die Mauer entlang. Dann konnte ich ihn nicht mehr entdecken.«

 

Lois‘ Herz schlug so wild, daß sie beinahe erstickte.

 

»Wo ist er jetzt?« fragte die Frau.

 

»Mund halten!«

 

Es folgte ein schreckliches, langes Schweigen, das nur von dem entfernten Heulen der Hunde unterbrochen wurde.

 

»Jetzt ist er hinten!«

 

Der Doktor hielt noch immer Lois‘ Arm fest und schüttelte sie leicht.

 

»Wenn Sie brüllen oder sonst etwas tun, schneide ich Ihnen die Kehle durch! Ich tue auch, was ich sage – haben Sie verstanden?«

 

»Warum haben Sie sie denn nicht oben gelassen?« brummte die Frau.

 

»Weil ich sie hier bei mir haben will. Holen Sie mein seidenes Taschentuch, es liegt in meinem Studierzimmer. Bringen Sie mir auch die Eisen – ich will sicher sein.«

 

Die Frau verließ das Zimmer und kam bald wieder zurück. Plötzlich fühlte Lois, wie er ihr einen Knoten des Taschentuchs in den Mund steckte und es hinter ihrem Kopf festband.

 

»Wehren Sie sich nicht, es geschieht Ihnen nichts – nur wenn Sie schreien. Geben Sie mir die Eisen.«

 

»Hier sind sie«, sagte die Frau.

 

Er ergriff ihre Handgelenke und drehte sie auf den Rücken. Im nächsten Augenblick war sie gefesselt.

 

»Setzen Sie sich hierher!« Er stieß sie auf einen Stuhl. Dann fühlte er, ob der Knebel richtig saß, und brummte zufrieden.

 

»Hören Sie! Es klopft.«

 

Tap, tap, tap, tap!

 

Geräuschlos gingen die beiden auf den dunklen Hof.

 

»Wer ist da?« rief die Frau.

 

Dann hörte Lois eine Stimme, die sie auffahren ließ.

 

»Ich möchte den Hausherrn sprechen«, sagte Michael Dorn.

 

Kapitel 17

 

17

 

Lois empfand es als eine Liebenswürdigkeit der Gräfin, daß sie ihr den Nachmittag und den Abend freigab.

 

»Meine Liebe, ich werde froh sein, wenn ich Sie los bin«, sagte Lady Moron ganz offen. »Dieser niederträchtige Dorn hat mich wirklich aufgeregt. Aber ich will meine Empörung nicht auf Sie übertragen. Gehen Sie aus und vergessen Sie, daß es dieses Haus gibt. Wenn Sie heute abend gerne noch ins Theater gehen wollen, dann tun Sie es ruhig; ich werde dem Bediensteten, der Nachtdienst hat, den Auftrag geben, auf Sie zu warten. Ich habe eben vom Krankenhaus gehört, daß Braime das Bewußtsein wiedererlangt hat vielleicht wird uns sein Bericht den sonderbaren Vorfall aufklären. Ich habe die Bibliothek durchsuchen lassen, aber man fand nicht das geringste, was in Zusammenhang mit dem Unglücksfall stehen könnte. Ich bezweifle, daß selbst der kluge Mr. Dorn erfolgreicher gewesen wäre«, sagte sie, und ihre Worte hatten einen spöttischen Unterton.

 

Lois freute sich, daß sie gehen konnte, und ihr erster Gedanke war, ihre Freundin aufzusuchen und ihr all ihre Erlebnisse mitzuteilen. Sie machte sich auf den Weg zum Büro in der Bedford Row, und als sie den ihr so vertrauten Hauseingang erreichte, sah sie den alten Fordwagen vor der Tür. Daneben stand Mr. Shaddles, der sich eben die Handschuhe anzog und fortfahren wollte.

 

Er wohnte in Hampstead und benützte jeden Tag als erster und als letzter den ausgedienten Wagen. Er schaute sie unfreundlich an, als sie die Treppe hochkam.

 

»Nun?« fragte er. »Kommen Sie zu uns zurück? Sind Sie mit Ihrer Stellung nicht mehr zufrieden? Ich dachte mir schon, daß Sie sich zur Privatsekretärin nicht recht eignen würden.«

 

»Ich bin nicht unzufrieden mit meiner Beschäftigung, aber ich gehe trotzdem wieder fort«, sagte sie lächelnd.

 

»Junge Leute müssen immer Veränderung haben«, erwiderte Mr. Shaddles vorwurfsvoll. »Das ist nun einmal die unruhige Jugend. Wie lange waren Sie bei mir?«

 

»Ein paar Jahre, Mr. Shaddles.«

 

»Zwei Jahre, neun Monate und sieben Tage«, entgegnete er schnell. »Das scheint Ihnen vermutlich wie eine Ewigkeit, mein kleines Fräulein? Für mich ist es aber«, er schnippte mit den Fingern, »als ob Sie gestern zu mir gekommen wären. Ich habe Sie von Leith geholt – einer meiner Klienten erzählte mir von Ihnen –, und ich gab Ihnen die Möglichkeit, vorwärtszukommen. Wie?«

 

»Das ist richtig«, sagte sie und wunderte sich, warum er sich plötzlich an all das erinnerte.

 

»Ach ja!« Er schaute zum Himmel, als ob er irgendwelche Inspiration oder Zustimmung von dort erwartete. »Also Sie möchten gern wieder Ihre alte Stellung bei mir haben?« Ohne auf ihre Antwort zu warten, fuhr er fort: »Nun gut, Sie können wieder kommen. Ich werde Ihnen drei Pfund wöchentlich geben. Morgen früh um halb neun fangen Sie wieder an.«

 

Er legte auf die letzten Worte besonderen Nachdruck.

 

»Aber Mr. Shaddles«, sagte das verwirrte Mädchen, »es ist sehr liebenswürdig von Ihnen – äußerst liebenswürdig –, ich würde ja gar zu gern wieder bei Ihnen eintreten, aber morgen früh geht es noch nicht.«

 

»Um halb neun Uhr morgen früh sind Sie hier. Halten Sie mich jetzt nicht auf, ich habe es eilig.«

 

Er stieg in den Wagen, und sie sah ihm nach, bis er in dem starken Verkehr der Theobald Street verschwand.

 

Sie war von der Großzügigkeit ihres Chefs so verblüfft, daß sie Lizzy zuerst das erzählte.

 

»In den beiden letzten Tagen benimmt er sich ganz merkwürdig«, erwiderte Lizzy. »Wenn er nur nicht an Gehirnerweichung leidet. Hat er nicht auch etwas davon gesagt, daß er mein Gehalt erhöhen will? Aber ich würde mich an deiner Stelle nicht soviel darum kümmern. Morgen hat er wahrscheinlich die ganze Sache vergessen. Drei Pfund wöchentlich – der Mann ist ja verrückt. Ich wette, morgen kommt er im Pyjama ins Büro, spielt Trompete und hält sich für Julius Cäsar.«

 

Die männlichen Angestellten waren gegangen, nur Lizzy war noch im Büro. Sie war zurückgeblieben, um einen unendlich langen Vertragsentwurf zu schreiben. Aber nachdem sie Lois‘ Erzählung gehört hatte, schrieb sie ihn an diesem Tage nicht mehr fertig.

 

»Ich denke, Mike hat recht«, sagte sie und bekräftigte ihre Worte mit einem energischen Kopfnicken. »Das ganze Haus steckt voller Tricks. Ich kann mich an den Gedanken, Selwyn zu verlassen, nicht gewöhnen –«

 

»Meinst du Lord Moron?«

 

»Für mich ist er nur Selwyn«, erwiderte Lizzy ruhig. »Ich gehe morgen abend mit ihm ins Kino. Er ist doch ein zu netter Junge. Weißt du, was ihm am meisten fehlt? Die liebende Sorge seiner Mutter. Er hat so etwas nie kennengelernt.«

 

»Ach so – und du willst seine Mutter sein?« Lois mußte lachen, aber dann sagte sie ernst: »Ich kann nicht gleich fort. Du kannst ja tun, was du willst, aber ich versprach Lady Moron, daß ich noch diese Nacht bleiben würde.«

 

Lizzy war unangenehm überrascht.

 

»Ich lasse dich nicht im Stich, aber ich sage dir gerade ins Gesicht, daß ich lieber auf dem Dach einer Leichenhalle in einem Friedhof schlafe, als heute abend am ehester Square. Ich werde mit dir hingehen, aber ich tue es nur deinetwegen – merke es dir genau. Wenn mir jemand anders die Geschichte mit den drei Pfund wöchentlich erzählt hätte, wüßte ich, daß er mich angelogen hätte. Was sagst du dazu, daß wir nun wieder in die Charlotte Street zurückkommen und wieder arme Kirchenmäuse sind?«

 

Lois war sehr froh, daß sie den Abend wieder in ihrer alten Wohnung verbringen konnte. Nichts hätte sie mehr gefreut. Das alte Zimmer mit den einfachen, ja ärmlichen Möbeln, den verblichenen Kattunbezügen, war ihre Heimat, und selbst das laute Geschrei der auf der Straße spielenden Kinder klang Lois heute angenehm. Früher hatte sie das alles nicht bemerkt. Und dann wurde sie auch noch ganz besonders willkommen geheißen. Der alte Mackenzie sah sie ins Haus gehen und kam sofort heraus, um sie zu begrüßen. Er war ganz empört, als er hörte, daß die Mädchen die Nacht nicht im Haus bleiben wollten. Aber er beruhigte sich wieder, als Lizzy ihm ihre weiteren Pläne auseinandersetzte.

 

»Wir wollen ihn zum Abendessen einladen«, sagte Lois, als sie auf dem Küchentisch saß und zusah, wie ihre Freundin mit der Bratpfanne hantierte.

 

Lizzy nickte nur. Sie war mit ihren Gedanken nicht recht bei der Sache.

 

»Wenn ich es mir nur eher überlegt hätte, dann hätte ich Selwyn eingeladen, der wäre sicher gekommen – er hat eine ganz demokratische Gesinnung, er ist absolut nicht hochmütig. Als du gestern abend hinausgingst, um dir ein Taschentuch zu holen, gestand er mir, daß er sich in meiner Gesellschaft sehr wohl fühle und daß ich das erste Mädchen sei, das ihm gefalle. Da gehört doch was dazu, wenn ein wirklicher Lord so etwas sagt. Und dabei weiß er ganz genau, daß ich ein einfaches Schreibmädel mit fünfunddreißig Shilling wöchentlich bin!«

 

Ihre Stimme zitterte ein wenig, und Lois betrachtete sie plötzlich mit ganz anderen Augen. Sie kannte Lizzy doch schon seit einigen Jahren, aber sie war bisher noch nie gefühlvoll gewesen.

 

»Der arme Junge hat noch nie erfahren, wie wohl die Fürsorge einer Mutter tut«, sagte sie wieder bewegt.

 

Lois erwiderte nichts, obgleich dieser arme Junge mindestens achtundzwanzig Jahre zählte.

 

»Dieses Weib hat nicht mehr Mitgefühl mit Selwyn als ich mit ihr. Sie muß ein Herz von Stein haben, sie ist –«

 

»Mr. Mackenzie wird allerdings nur ein schlechter Ersatz für deinen Selwyn sein – aber wollen wir ihn einladen?« fragte Lois wieder.

 

»Ruf ihn herauf«, war die bündige Antwort.

 

Mr. Mackenzie war aber doch ein viel unterhaltsamerer Gast, als Lizzy jemals erwartet hätte. Er lauschte gespannt ihrem Bericht über das Haus der Gräfin Moron und das Leben, das sich dort abspielte. Lizzy erzählte alles aus eigener Erfahrung, nur manchmal mußte Lois ihre Worte bestätigen.

 

»Seidene Vorhänge – wirklich?« fragte der alte Mann.

 

»Und Portieren aus Atlas! Überall Silberbeschläge! In den Badezimmern sind die Wände aus rotem Marmor – ist es nicht so, Lois? Und ein silbernes Gitter steht vor dem Kamin in dem Salon.«

 

Mr. Mackenzie seufzte.

 

»Es muß ein großartiges Leben sein in solcher Umgebung. Aber ich will niemand beneiden. Ist die Gräfin eine liebenswürdige Dame?«

 

»So würde ich sie nicht nennen«, meinte Lizzy. »Sie ist soweit ganz nett bis auf – sie ist nämlich eine schlechte Mutter, aber eine gute Aufpasserin und Spionin. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

 

»Hat sie kleine Kinder?« fragte Mackenzie interessiert.

 

»Ihr Sohn ist nicht gerade ganz jung«, erklärte ihm Lizzy eingehend, »aber man könnte sagen, daß er in der ersten Jugend steht. Nein, er geht nicht mehr zur Schule«, antwortete sie fast beleidigt auf seine Frage. »Ein ganz wundervoller Mensch! Selwyn möchte zu gern zum Theater gehen, und ich wundere mich, daß seine Mutter es nicht zuläßt.«

 

»Es ist kein schönes Leben auf der Bühne, das habe ich Ihnen doch schon früher erzählt. Mein Kummer und meine Sorgen kommen nur davon, daß ich früher einmal beim Theater war.« Dann sagte er plötzlich zusammenhanglos: »Sie war ein so schönes Mädchen, und sie hatte ein Gesicht wie eine – wie eine –« »Engel«, schlug Lizzy vor und sah ihn erwartungsvoll mit der aufgerichteten Gabel in der Hand an.

 

»Ich wollte sagen ›Madonna‹. Für mich ist es immer noch ein großes Wunder, daß sie mich überhaupt angesehen hat. Nehmen Sie doch einmal meine einfache Kleidung. Allerdings lebte ich damals in sehr guten Verhältnissen. Einige meiner Operetten wurden aufgeführt, und ich verfügte über beträchtliche Summen. Glücklicherweise hatte ich mein Geld in Häusern festgelegt. Das war gut, denn sie war ein wenig – extravagant. Aber vielleicht war es auch mein Fehler.«

 

Ein langes Schweigen trat ein. Er hing seinen Gedanken nach, hatte den Kopf auf die Brust geneigt und seinen Blick auf das Tischtuch gesenkt.

 

»Ach ja, es ist mein Fehler. Ich sagte es meinem guten Freund Shaddles, als er mir riet, mich scheiden zu lassen.«

 

Lizzy schaute ihn verwundert an.

 

»Shaddles ist doch mein Anwalt – so sind Sie doch überhaupt erst meine Mieter geworden. Sie besinnen sich doch sicher darauf, daß Mr. Shaddles Ihnen die Zimmer in meinem Haus empfahl?«

 

»Shaddles – großer Gott!« sagte Lizzy und schob ihren Teller zurück. »Wenn ich das gewußt hätte, würde ich wahrscheinlich niemals hier in meinem Bett geschlafen haben!«

 

»Er ist ein guter Mensch und ein treuer Freund«, sagte Mr. Mackenzie.

 

»Aber auch ein böser, alter Geizhals.« Lizzy übersah die warnenden Blicke Lois‘.

 

»Er ist ein bißchen sparsam«, gab Mr. Mackenzie zu. »Aber das scheint der Beruf mit sich zu bringen. Ich kenne mehrere Anwälte, die diese Eigenschaften haben. Sein Vater war ebenso.«

 

»Was, Sie kannten auch seinen Vater?« fragte Lizzy. »Hat er denn jemals einen Vater gehabt?«

 

»Sein Vater und sein Großvater waren auch sparsam. Aber die Shaddles‘ sind tüchtige Rechtsanwälte und haben große Vermögen verwaltet. Seit Hunderten von Jahren sind sie die Anwälte der Familie Moron.«

 

»Kennen Sie die Familie Moron?« fragte Lois.

 

Er zögerte.

 

»Ich will nicht behaupten, daß ich sie kenne, aber ich weiß einiges von ihr. Den alten Earl von Moron, den Vater des jetzigen Lord Moron, habe ich einmal gesehen – er lebte lange Jahre im Ausland. Ich will nicht gerade sagen, daß er einen schlechten Charakter hatte, aber er führte ein vergnügtes Leben. Er war ein Lebemann, von dem so manche Skandalgeschichte mit Recht oder Unrecht erzählt wurde. Sein Sohn Willy war ein feiner Junge, aber der starb leider. Selwyn, der Sohn seiner zweiten Frau, ist wohl der, von dem Sie mir erzählt haben.«

 

Selbst auf Lizzy machte seine genaue Kenntnis der Familienverhältnisse der Morons einen gewaltigen Eindruck.

 

»Es ist für die Familie von großem Wert, daß ein so guter Sohn wie Selwyn da ist. Wenn die Gräfin nur eine Tochter hätte, würde diese den Titel erben, denn die Morons gehören zu den wenigen Familien, bei denen die Tochter den Titel erhält, wenn direkte männliche Erben fehlen.«

 

Als der Tisch abgeräumt war, holte er seine Violine herauf und spielte ihnen vor. Lizzys Musikverständnis war anscheinend größer geworden, denn sie ertrug sein Spiel mit bewunderungswürdiger Ruhe, ohne etwas zu sagen.

 

Der Abend ging nur zu schnell vorüber. Um zehn Uhr sah Lois auf ihre Uhr und schaute ihre Freundin an. Lizzy erhob sich mit einem Frösteln.

 

»Also zurück zu dem Haus des Schicksals«, sagte sie mit Pathos. »Gott sei Dank, es ist die letzte Nacht, die wir dort schlafen!«

 

Aber weder sie noch Lois Reddle ahnten, daß sie dieses Haus des Schicksals nicht wieder betreten würden.

 

Kapitel 18

 

18

 

Um fünf Uhr nachmittags drehten sich die Schlüssel in den Schlössern, die Türen dröhnten im Gefängnis von Telsbury, die Stunde der Abendmahlzeit war vorüber, und die Wärterin hatte ihre letzte Runde beendet. Die Waschhäuser, die großen Küchen und die Arbeitssäle waren von den verantwortlichen Beamtinnen verschlossen worden, die fünf großen Hallen, die sternförmig von einem Mittelpunkt ausstrahlten, lagen verlassen da. Nur die Wärterin vom Dienst saß an ihrem Pult und las die Post durch, die den Gefangenen am nächsten Morgen ausgehändigt werden sollte. Sie arbeitete mit der Sicherheit jahrelanger Erfahrung. Während sie damit beschäftigt war, hörte sie plötzlich das Klingeln einer Glocke. Sie schaute sich um und sah, daß eine der vielen Klappen an der Tafel heruntergefallen war. Sie legte ihren Blaustift hin, ging die Halle entlang und machte vor einer Zelle halt. Sie schloß auf und öffnete die Tür.

 

Die Frau, die sich von ihrem Bett erhob, trug keine Gefangenenkleidung. Sie hatte ein dunkelblaues Kostüm an, auf dem Bett lagen Hut und Mantel und ein Paar neue Handschuhe. In einer Ecke der Zelle standen eine kleine Handtasche und ein Schirm.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie belästigt habe«, sagte die Gefangene nervös, »aber ich dachte, man hätte mich vergessen. –« Ihre Stimme versagte, und es wurde ihr schwer, weiterzusprechen.

 

»Sie sind nicht vergessen worden, Mrs. Pinder«, erwiderte die Wärterin ruhig. »Man hätte Ihre Zelle nicht zuschließen sollen.« Sie öffnete die Tür weit. »Wenn Sie sich allein fühlen, kommen Sie nur zu mir heraus.«

 

»Das ist sehr lieb von Ihnen«, sagte die Frau dankbar, und die Beamtin sah, daß ihr die Tränen nahe waren. »Wissen Sie, es ist nur deswegen – der Direktor sagte mir, daß er meinen Freunden telegrafiert hat. Ist noch keine Antwort gekommen?«

 

»Es wird auch wahrscheinlich keine Antwort eintreffen«, sagte die Wärterin taktvoll. »Ihre Freunde werden bald hierherkommen. Möglicherweise denken sie auch, daß Sie noch bis morgen warten wollen.« Sie lächelte. »Gewöhnlich werden Gefangene ja auch des Morgens entlassen. Aber das Justizministerium hat dem Direktor die Erlaubnis gegeben, Sie schon heute nacht in Freiheit zu setzen. Ich würde mich nicht aufregen, Mrs. Pinder.«

 

Sie wartete an der Tür.

 

»Kommen Sie doch heraus, wenn Sie mögen«, meinte sie gutmütig. »Sie können in der ganzen Halle umhergehen. Die anderen Frauen sehen Sie nicht, es ist schon alles abgeschlossen.«

 

Mary Pinder ging langsam in die weite Halle und blickte auf die ihr so vertrauten schmalen, schwarzen Türen, als sie an den langen Reihen vorbeikam. Schließlich trat sie an das große Fenster am Ende des Ganges. Das rosige Licht der untergehenden Sonne schien herein. Zum erstenmal seit zwanzig Jahren waren die Beschränkungen für sie gefallen, durfte sie unbeobachtet umhergehen, und bald würde sie durch die schwere, eiserne Gittertür wieder in Gottes freie Welt hinaustreten.

 

Sie unterdrückte einen traurigen Seufzer, legte die Hände zusammen und stand versunken und nachdenklich da. Ihre Gedanken wanderten. Sie wagte nicht, die Geschichte zu glauben, die man ihr erzählt hatte, und sie durfte noch nicht an das Glück denken, das jenseits der eisernen Tür auf sie wartete.

 

Die Wärterin war zu ihrem Pult und zu ihrer Beschäftigung zurückgekehrt. Mrs. Pinder betrachtete sie gedankenvoll. Die Frau kam täglich mit der Außenwelt in Berührung – vielleicht war sie verheiratet und hatte Kinder, die außerhalb dieser roten Mauern aufwuchsen. Mary Pinder war vom Leben und der menschlichen Gesellschaft nun schon zwanzig Jahre lang abgeschnitten. Draußen war die Welt ihren alten Gang weitergegangen. Neue Männer waren zur Macht gekommen und wieder von anderen ersetzt worden, nationale Erhebungen waren vorübergerauscht, Kriege hatten sich ausgetobt, aber hier in diesem düsteren Schatten blieb das Leben grau und ohne Trost, und selbst der Schmerz wurde monoton.

 

Sie ging furchtsam auf die Beamtin zu und setzte sich auf einen Stuhl in ihrer Nähe. Die Wärterin hielt in ihrer Arbeit inne und schaute sie mit einem ermutigenden Lächeln an. Nach einer Weile legte sie ihren blauen Stift wieder hin.

 

»Hoffentlich vergessen Sie diesen Ort bald ganz, Mrs. Pinder.«

 

Die schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube, es ist unmöglich – das zu vergessen. Das war mein Leben – der größte Teil meines Lebens, auf den ich mich besinnen kann. Ich war achtzehn Jahre alt, als ich zuerst hierherkam, und dreiundzwanzig, als man mich in das Gefängnis in Aylesbury brachte, und dreißig, als ich wieder hierher zurückkam. Ich kann mich nicht an viel mehr erinnern«, sagte sie schlicht.

 

Die Wärterin sah sie interessiert an.

 

»Sie sind die einzige Gefangene, zu der ich Zutrauen hatte und an die ich in gewisser Weise glaubte, Mrs. Pinder!«

 

Mary Pinder neigte sich eifrig zu ihr.

 

»Waren Sie von meiner Unschuld überzeugt?«

 

Die Wärterin nickte.

 

»Ich danke Ihnen. Ich – wünschte, ich hätte früher gewußt, daß jemand an mich glaubte.«

 

»Dann wollte ich, daß ich es Ihnen eher gesagt hätte«, erwiderte die Beamtin kurz. »Hier kommt noch jemand, der auch von Ihrer Unschuld überzeugt ist.« Die Wärterin ging dem Gefängnisdirektor entgegen.

 

»Haben Sie sich schon angezogen und sind Sie fertig?« fragte er liebenswürdig. »Sie sind eine glückliche Frau! Ich muß hier an diesem schrecklichen Platz aushalten. Auch ich bin eine Art Gefangener, aber ich muß hier auf meinem Posten bleiben, bis ich sterbe!«

 

Das war eine stehende Redensart von ihm, und Mrs. Pinder lächelte, als er mit ihr die Halle entlangging.

 

»Ihre Freunde werden nicht vor zehn Uhr kommen – eben traf ein Telegramm ein. Sie glaubten, daß Sie erst nach Einbruch der Dunkelheit das Gefängnis verlassen wollten. Wissen Sie, wo Sie von hier aus hingehen?«

 

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. Dann änderte sich ihr Ton. »Es ist wie ein Traum, was Sie mir erzählten über – über –«

 

»Über das junge Mädchen, das Sie gesehen hat? Es ist doch ein merkwürdiger Zufall. Ich hätte es eigentlich merken müssen, als ich sah, wie die Erwähnung der Brandwunde am Arm sie aufregte.«

 

»Meine Tochter!« sagte sie atemlos. »Ach Gott, wie wundervoll!«

 

»Man hat es Ihnen nicht mitgeteilt – Ihre Freunde glaubten, die freudige Überraschung würde zu groß sein. Sie ist ein hübsches Mädchen geworden.«

 

»Ja, ist sie schön? Weiß sie es schon?«

 

Er nickte.

 

»Sie erfuhr es, als sie damals in meinem Zimmer war und als ich ihr den Namen Lois Margeritta nannte. Wenn noch irgendein Zweifel darüber bestehen könnte, so ist der Brief, den ich vom Unterstaatssekretär erhielt, der beste Gegenbeweis. Sie hat ihn aufgesucht, um noch mehr Einzelheiten über die Gerichtsverhandlung und das Verbrechen zu erfahren, dessen man Sie beschuldigt hatte. Mrs. Pinder, wollen Sie mir eine Frage beantworten?« Er ließ ihren Arm los und sah sie an. »Ich bin ein alter Mann und habe nicht mehr lange zu leben. Ich habe fast allen Glauben an die Menschheit verloren – waren Sie unschuldig?« Er machte eine Pause. »Waren Sie unschuldig oder schuldig?«

 

»Ich war unschuldig.« Sie schaute ihm furchtlos in die Augen. »Ich sage Ihnen die reine Wahrheit. Ich bin damals nur aus dem Haus gegangen, um mir Arbeit zu suchen, und als ich zurückkam, wurde ich verhaftet.«

 

»Aber wer war denn Ihr Mann, und wo war er?«

 

»Er war tot«, sagte sie schlicht. »Ich wußte es damals nicht – aber ich habe es inzwischen erfahren. Glauben Sie mir?«

 

Er nickte schweigend.

 

»Sie haben mich stets so gut behandelt«, sagte sie. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen für Ihre Güte danken.«

 

»Das können Sie«, erwiderte er in seiner rauhen Art. »Wenn Sie wieder in die Welt kommen und andere Frauen treffen, die Ihnen raten, Ihr Haar rot zu färben – dann tun Sie es bitte nicht!«

 

Er war froh, daß er sie nicht zum Lachen gebracht hatte.

 

»Und nun kommen Sie mit und essen Sie mit mir und meiner Frau zu Abend.«

 

+++

 

Fünf Minuten nach zehn hielt ein kleines, elegantes Auto vor den Toren des Gefängnisses. Der Chauffeur stieg aus und klingelte. Der Pförtner fragte durch das Schiebefenster nach seinem Wunsch.

 

»Ich bin hergekommen, um Mrs. Pinder abzuholen«, sagte er.

 

»Bitte, kommen Sie herein und sprechen Sie selbst mit dem Direktor.«

 

»Ich bleibe lieber hier.«

 

Der Chauffeur zündete sich eine Zigarette an und ging auf und ab, um sich die Zeit zu vertreiben, aber er brauchte nicht lange zu warten. Einige Minuten später sprang eine kleine Tür auf, und eine Frau trat heraus.

 

»Sind Sie Mrs. Pinder?« fragte der Mann leise, fast flüsternd.

 

»Ja.«

 

»Geben Sie mir Ihr Gepäck.«

 

Er öffnete die Tür, stellte den kleinen Koffer hinein und half ihr beim Einsteigen. Dann setzte er sich ans Steuer und fuhr in der Richtung nach London davon. Im Schatten des Gefängnistores beobachtete der Direktor die Abfahrt, dann ging er mit einem Seufzer in sein Büro zurück.

 

Das Gefängnis hatte in dem Augenblick für ihn an Interesse verloren, als die Frau es verließ, die in allen Zeitungen als die Hereford-Mörderin geschildert worden war.

 

Kapitel 19

 

19

 

Lois Reddle war nicht gerade froh gestimmt, als sie an die Rückkehr in das Palais am Chester Square dachte. Aber noch weniger wollte sie ihr Wort brechen, das sie der Gräfin gegeben hatte, obwohl sie diese Frau jetzt zu hassen begann. Sie unterhielt sich darüber mit Lizzy, als sie vor ihrer Haustür in der Charlotte Street standen.

 

»Wir wollen lieber hier bleiben«, drängte Lizzy. »Auf keinen Fall gehen wir jetzt schon zurück. Selwyn bekommen wir doch nicht zu sehen – und dann denke doch an das, was Mike dir sagte.«

 

»Was Mr. Dorn sagt, ist mir gleichgültig«, erwiderte Lois ruhig. »Wir müssen zurückgehen, Lizzy – ich habe es versprochen.«

 

Lizzy murrte.

 

»Ach, du mit deiner Ehrbarkeit und deinem Worthalten – ich bekomme Kopfschmerzen davon! Aber wir wollen doch wenigstens jetzt noch nicht gehen. Die Frau hat dir doch ausdrücklich gesagt, daß du ausbleiben und sogar ins Theater gehen könntest. Warum beeilst du dich denn so?

 

Lois zögerte.

 

»Wir gehen jetzt zurück«, sagte sie dann bestimmt.

 

Sie schaute über die Straße. Ein Müßiggänger stand mit dem Rücken gegen ein Schaufenstergitter gelehnt, aber sie sah sofort, daß es nicht Dorn sein konnte. Sobald sie der Oxford Street zugingen, kam Leben in den Mann. Er folgte den beiden langsam im Schatten der Häuser, und als Lois sich umsah, entdeckte sie, daß er hinter ihnen herkam.

 

»Wir wollen auf die rechte Seite hinübergehen«, sagte sie. »Ich glaube, wir werden beobachtet.«

 

»Wir wollen uns lieber an die Hauptstraße halten«, meinte die kluge Lizzy. »Wenn schon jemand hinter uns herkommt, ist es besser, daß wir dort gehen.«

 

Sie kamen zur Oxford Street und gingen quer über die Straße, aber der Schatten folgte ihnen in gewisser Entfernung.

 

»Wir versuchen es in der Regent’s Street«, schlug Lizzy vor. »Wenn wir ein Stück entlanggegangen sind, kreuzen wir die Straße und gehen wieder auf die andere Seite. Wenn er uns dann noch folgt, wissen wir sicher, daß er es auf uns abgesehen hat.«

 

Als sie ihren Plan durchgeführt hatten, stand es außer jedem Zweifel, daß man ihnen folgte. Sie stiegen deshalb in einen Autobus, der nach dem Westen fuhr. Lois sah, daß der Mann eine Taxe anrief, die neben dem Autobus herfuhr.

 

»Wenn ich wüßte, daß es Mike ist, würde ich zurückgehen und ihm einmal ganz gehörig die Meinung sagen«, grollte Lizzy.

 

»Er ist es gewiß nicht«, beschwichtigte sie Lois. »Mr. Dorn ist nicht so groß und sieht auch besser aus.«

 

Sie verließen den Autobus in der Nähe der Victoria Street, und als sie über die Straße eilten, sahen sie, daß auch das Mietauto anhielt und der Mann ausstieg. Er machte nie den Versuch, sie zu überholen, und zeigte auch nicht die leiseste Neigung, sich ihnen zu nähern. Wenn sie langsam gingen, tat er dasselbe, wenn sie sich beeilten, beschleunigte er ebenfalls seine Schritte.

 

Plötzlich sah Lois Michael Dorn vor sich. Er stand mitten auf dem Gehsteig, und es war unmöglich, an ihm vorüberzugehen.

 

»Ich muß mit Ihnen sprechen, Miss Reddle. Sie gehen doch nicht zu Lady Moron zurück?«

 

»Ich bin eben dabei, das zu tun«, sagte Lois ruhig.

 

»Sie werden es nicht tun«, erwiderte er entschieden. »Miss Reddle, ich habe Ihnen so manchen Dienst erwiesen, ich würde es gern sehen, wenn Sie auch einmal etwas für mich täten.« Er schien um Worte verlegen zu sein. »Ich habe ein persönliches Interesse daran. Ich vermute zwar, daß Sie mich nicht leiden können – aber immerhin, ich habe Sie gern.«

 

»Danke schön«, entgegnete sie kurz.

 

»Sie können ruhig sarkastisch sein – ich kümmere mich nicht darum. Ich sage Ihnen einfach die nackte Wahrheit. Ich verehre Sie, wie nur irgendein anständiger Mann ein Mädchen von Ihrem Charakter und Ihrer –«

 

»Schönheit«, ergänzte Lizzy, die interessiert zuhörte.

 

»Anmut – das ist das richtige Wort«, sagte Dorn und lächelte schwach.

 

»Und gerade weil ich mich persönlich so für Sie interessiere und Sie gern habe – ich fühle, daß meine Ausdrücke nicht richtig sind und meine Worte Sie nicht überzeugen, aber ich bin Damen gegenüber immer verlegen –, jedenfalls will ich, daß Sie in die Charlotte Street zurückgehen.«

 

Lois schüttelte den Kopf.

 

»Wohin ich gehe, kann Ihnen sehr gleichgültig sein!«

 

»Ich habe das größte Interesse daran, daß Sie in Ihre Wohnung in die Charlotte Street zurückkehren!«

 

»Obwohl oder gerade weil Sie es gesagt haben, werde ich diese Nacht im Haus der Lady Moron bleiben. Morgen werden Miss Smith und ich wieder in die Charlotte Street gehen.«

 

»Sie gehen heute abend noch zurück!« sagte er fast schroff.

 

Sie reckte sich empört auf.

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte sie kühl.

 

»Ich meine genau das, was ich eben gesagt habe. Ich will nicht, daß Sie noch eine Nacht in diesem schrecklichen Haus zubringen. Lassen Sie sich doch davon überzeugen, Miss Reddle«, fuhr er sanfter fort. »Sie müssen sich nicht einbilden, daß es eine Laune von mir wäre oder daß ich irgendein ungerechtes Vorurteil gegen Lady Moron oder ihren Sohn hätte. Ich bitte Sie nur, heute abend nicht zum ehester Square zu gehen.«

 

»Können Sie mir irgendeinen Grund dafür angeben?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Sie müssen mir vertrauen und glauben, daß ich sehr triftige Gründe habe, wenn ich sie Ihnen im Augenblick auch nicht sagen kann. Sehen Sie denn das nicht selbst ein?«

 

»Nein«, erwiderte sie. »Es sind mehrere Unglücksfälle vorgekommen – meinen Sie etwa, daß Lady Moron daran schuld ist?«

 

»Ich meine gar nichts.«

 

»Dann gute Nacht.« Sie wollte weitergehen, aber er vertrat ihr den Weg. Er mußte der dunklen Gestalt im Hintergrund ein Zeichen gegeben haben, denn plötzlich kam der große Mann auf sie zu.

 

»Dies ist Sergeant Lighton von der Kriminalpolizei«, sagte er kurz. Dann zeigte er auf das Mädchen. »Dies ist Lois Reddle – ich beschuldige sie des versuchten Mordes an John Braime!«

 

Das Mädchen hörte die Worte und war wie vom Donner getroffen.

 

»Wessen beschuldigen Sie mich?« fragte sie erschrocken. »Aber Mr. Dorn –«

 

Der Detektiv winkte stumm, und der große Mann nahm Lois höflich am Arm. Eine halbe Stunde nachdem sich das Gefängnistor vor Mrs. Pinder geöffnet hatte, schloß sich die Tür einer Polizeizelle hinter ihrer Tochter.