Kapitel 9

 

9

 

Als Trenter vor Zeiten Mr. Superbus kennenlernte, war dieser noch Gerichtsvollzieher, ein Mann, der das Eigentum von Leuten, die bei Gericht verurteilt waren, mit Beschlag belegte, der gerichtliche Vorladungen überbrachte, Möbel pfändete und alle diese Dinge vornahm, die mit einer solchen Stellung verknüpft sind. Aber das unerbittliche Gesetz des Fortschrittes, der natürliche Hang, sich zu verbessern, veranlaßte Mr. Superbus, seinen Posten in der Provinz aufzugeben und ein kleines Büro in dem Gebäude des Versicherungstrusts zu beziehen. Man hatte seinen Namen dort auf ein Glasschild an der Tür gemalt. »Erster Auskunftssekretär« war darauf zu lesen. Den Titel Detektiv, den er auf seine Visitenkarte drucken ließ, legte er sich selbst bei. Er hatte auch den Antrag bei seinem Vorgesetzten gestellt, ihn von Amts wegen eine Nickelmarke unter seiner Westenklappe tragen zu lassen, um sich in geeigneten Momenten zu erkennen zu geben. Aber dieses Ansinnen wurde als unerwünscht abgelehnt.

 

Mr. Superbus saß am offenen Fenster seines Wohnzimmers und dachte tief nach. Trotz der kühlen Witterung des Tages war er in Hemdsärmeln, denn er zählte zu jenen heißblütigen Männern, denen das kühlere Klima nichts anhaben kann. Es war ein offenes Geheimnis, daß er einer der abgehärteten Männer war, die im Serpentine-Teich im Hydepark an jedem ersten Weihnachtstag ein Bad nahmen, selbst wenn sie die Eisdecke einschlagen mußten. Mit monotoner Regelmäßigkeit erschien sein Bild an jedem 26. Dezember in den illustrierten Zeitungen.

 

Seine Frau kam zitternd herein. Sie nahm nur warme Bäder.

 

»Du wirst dich noch auf den Tod erkälten, Julius«, sagte sie. »Macht dir denn das Spaß, vom Morgen bis zum Abend dazusitzen und nichts zu tun?«

 

»Ich bin kein Müßiggänger«, erwiderte Julius ruhig. »Ich denke tief nach.«

 

»Das ist es ja gerade, was ich Nichtstun nenne«, meinte sie und deckte den Tisch.

 

Sie hatte eine außerordentliche Achtung vor den Fähigkeiten ihres Mannes und bewunderte ihn heimlich, aber sie fühlte, daß die Harmonie ihrer Ehe gestört werden könne, wenn sie den Irrtum beging, ihm das offen zu zeigen.

 

»Ich möchte nur wissen, was du immer zusammendenkst!«

 

»Das ist reine Verstandesarbeit«, erklärte Julius.

 

»Du hast immer so verrückte Ideen«, sagte sie verzweifelt. »Ich wundere mich nur, warum du nicht zur Bühne gehst.«

 

Es war ihre Überzeugung, daß die Bühne das Reservoir war, in dem jedes Genie eingefangen wurde.

 

»Dieser Doppelgänger gibt einem wirklich Rätsel auf, obgleich ich schon größere Probleme meiner Zeit gelöst habe.«

 

Sie nickte.

 

»Die Art, wie du vorige Woche den Brunnen ausgebessert hast, hat großen Eindruck auf mich gemacht, deshalb glaube ich alles, was du sagst. Wer ist denn dieser Doppelgänger?«

 

»Ein Schwindler, ein Parasit der menschlichen Gesellschaft, ein menschlicher Vampir – aber ich werde ihn schon fassen! Man munkelt in der Verbrecherwelt, daß Mr. Gordon Selsbury sein, nächstes Opfer sein werde.«

 

Nach dem Mittagessen zog er seinen Rock an und machte sich auf den Weg nach Cheynel Gardens. Gordon war ausgegangen, aber Diana empfing ihn.

 

»Ich kenne Sie doch – sind Sie nicht Mr. –?«

 

»Superbus«, sagte Julius im Brustton der Überzeugung.

 

»Ach so, Sie sind der Römer!«

 

Mr. Superbus bekannte sich zu dieser außerordentlichen Eigenschaft. Er hätte auch hinzufügen können: »ultimus Romanorum« – der letzte Römer –, aber er kannte diesen lateinischen Ausdruck leider nicht. Statt dessen setzte er mit nicht geringem Pathos hinzu: »Es gibt nur noch wenige von uns!«

 

»Das glaube ich auch«, meinte Diana. »Nehmen Sie Platz. Wollen Sie eine Tasse Tee haben? Sie sind gekommen, um Mr. Selsbury zu sprechen? Er wird aber erst in einer Stunde zurückkommen.«

 

»Das war wohl meine Absicht – in gewisser Weise war sie es aber nicht«, erwiderte Julius geheimnisvoll. »Ich möchte nur einen gewissen Mann im Auge behalten!«

 

Er sah sie dabei mit seinen etwas glasigen Augen an.

 

»Meinen Sie den Doppelgänger – ich entsinne mich, daß Gordon mir etwas davon erzählt hat. Wer ist das eigentlich, Mr. Superbus?«

 

»Nun ja, Mrs. –«

 

»Miss, bitte!«

 

»Sie sehen nicht so aus«, sagte er galant. »Dieser Doppelgänger ist ein Desperado, er soll aus dem Westen stammen.«

 

»Meinen Sie den Westen Londons?«

 

»Nein, ich meine Amerika. Dort kriegen wir doch all diese Kerle her, und dorthin verschwinden sie auch wieder.«

 

Sie hörte aufmerksam zu, als Mr. Superbus von den Freveltaten dieses Mannes erzählte, der in der Rolle anderer Personen auftrat.

 

»Also, es gibt nichts, was dieser Mensch nicht tun könnte. Er kann sich dick oder dünn machen, er kann einen großen oder kleinen, einen alten oder einen jungen Mann darstellen. Soweit man weiß, war er früher Schauspieler, der alle Rollenfächer spielte.«

 

Er schaute sich vorsichtig im Zimmer um und sprach dann ganz leise.

 

»Voraussichtlich wird Mr. Selsbury sein nächstes Opfer sein.«

 

»Sie wollen damit sagen, daß er der nächste ist, den der Doppelgänger berauben will?«

 

Mr. Superbus nickte ernst.

 

»Ja, dahin gehende Informationen habe ich erhalten.«

 

»Weiß er selbst schon davon?«

 

»Ich habe ihm einen Wink gegeben. Ein Mann wird nervös, wenn er weiß, daß ein Verbrecher hinter ihm her ist, und das hindert dann gewöhnlich die Beamten bei ihren Nachforschungen.« Er schüttelte den Kopf. »Mancher aussichtsreiche Fall konnte deshalb nicht aufgeklärt werden.«

 

»Wenn Mr. Selsbury verreist ist, wird also jemand, der ihm sehr ähnlich sieht, hier ins Haus kommen und irgend etwas stehlen, was er brauchen kann?« fragte Diana besorgt.

 

»Ja. Meistens nimmt der Schurke Schecks oder Geld«, versicherte Julius. »Er arbeitet nur in ganz großem Maßstab, er gibt sich nicht mit Kleinigkeiten ab. Ihr Silberzeug können Sie zum Beispiel ruhig unverschlossen lassen, er wird keinen Teelöffel nehmen. Er ist einer von den ganz Großen. Ich beobachte ihn schon seit Jahren.«

 

»Das sind aber recht aufregende Nachrichten«, meinte Diana nach einem längeren Schweigen.

 

»Das glaube ich auch«, stimmte Julius bei. »Aber wenn der rechte Mann zur Stelle ist, um Sie zu beschützen, wenn er es mit seiner Pflicht genau nimmt und auf der Hut ist, dann ist das alles nicht so schlimm. Der Betreffende muß allerdings äußerst klug und vorsichtig vorgehen und mit den Verbrechern und ihren Methoden aufs beste bekannt sein.«

 

»Damit meinen Sie sich doch selbst?« Diana lächelte schwach. Sie fühlte sich sehr bedrückt.

 

»Damit haben Sie recht – ich meine mich selbst. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, so würde ich Mr. Selsbury einen Wink geben. Vielleicht folgt er einem Rat seiner Tochter mehr als mir.«

 

Er verabschiedete sich, nahm ihre Hand in seine große, rote Tatze, nannte sie Miss Selsbury und bat sie, ihn ihrem Vater zu empfehlen. Als Gordon nach Hause kam, erzählte sie ihm von dem Besuch.

 

»Ach, Superbus war hier?« fragte er in guter Laune. »Er hat sich wohl ein Trinkgeld holen wollen? Aber warum er dich ängstlich gemacht hat, weiß ich wirklich nicht! Ich werde ihm einmal Bescheid sagen, wenn ich ihn treffe.«

 

»Er hat mich durchaus nicht ängstlich gemacht, höchstens als er sagte, ich möchte ihn meinem Vater empfehlen, der sich vielleicht eher von seiner hübschen, jungen Tochter als von ihm beeinflussen ließe –«

 

»Glaubte er, ich sei dein Vater?« Gordon war verstimmt. »Der Kerl hat aber auch keine Augen im Kopf! Wegen des Doppelgängers brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Diana. Er hat zwar den alten Smith hereingelegt, aber der war eben ein verliebter alter Esel. Er ließ sich von der Frau fangen, die mit dem Kerl zusammenarbeitet.«

 

*

 

Der Postdampfer war angekommen, wie Gordon am nächsten Morgen aus der Zeitung ersah. Er mußte also zu Hause bleiben. Sein erster Angestellter brachte ihm das Scheckbuch, und Gordon schrieb einen Scheck über elftausend und einige Pfund aus.

 

»Lassen Sie sich auf der Bank fünfzigtausend Dollar geben. Am besten kaufen Sie sie auf der Bank von England. Nehmen Sie ein Auto und bringen Sie das Geld hierher. Haben Sie den Leuten im Büro gesagt, daß mir Telegramme telefonisch durchgegeben werden sollen? Nun, das ist gut, ich erwarte noch eine Nachricht von Mr. Tilmet.«

 

Lange nachdem die Banknoten in dem Geldschrank deponiert waren, traf die erwartete Nachricht ein.

 

Sie kam aus Paris und besagte, daß Mr. Tilmet in Cherbourg angekommen und am nächsten Sonntag in London sein werde, aber am selben Abend noch nach Holland abreisen wolle. Gordon wünschte den Amerikaner zum Teufel. Am Nachmittag traf er Heloise, die sich unendlich auf die Reise freute. Er konnte es nicht übers Herz bringen, ihr mitzuteilen, daß der Plan aufgegeben werden müsse. Sie wollten einander um Viertel vor elf auf dem Victoria-Bahnhof treffen und Fremde füreinander sein, bis sie Ostende erreichten. Die Überfahrt würde ruhig werden, der Wetterdienst hatte ruhige See und leichte, östliche Winde angesagt.

 

Trenter hatte Gordons großen Koffer gepackt und auch den neuen grauen Anzug mit den roten Tupfen verstaut, der etwas spät in letzter Stunde vom Schneider geliefert worden war. Der Koffer war heimlich zu einem Hotel in der Nähe des Victoria-Bahnhofs gebracht worden, wo Gordon sich umziehen wollte. Nun mußte er noch die Telegramme aufsetzen, die Trenter abschicken sollte. Er konnte das leichten Herzens tun, er hatte jetzt einen guten Entschuldigungsgrund dafür. Wenn in seiner Abwesenheit der Doppelgänger erscheinen sollte – er hielt es allerdings für wenig wahrscheinlich –, dann konnten ihn ja die Telegramme sofort überführen. Es erschien ihm sogar als eine recht verdienstvolle Tat, die Telegramme absenden zu lassen.

 

Das erste sollte in Euston aufgegeben werden. Es lautete: »Reise eben ab, Gordon.« Dann schrieb er eine ganze Reihe von Telegrammen: »Hatte gute Reise, bei bester Gesundheit.« Diese sollten von York, Edinburgh und Inverness abgehen.

 

Kapitel 25

 

25

 

Gordon lag in seinem Bett und lauschte. Eine Kirchturmuhr schlug eins. Vor einer Stunde hatte er gehört, wie Bobby draußen gute Nacht sagte, und er hatte ebenfalls mit gute Nacht geantwortet.

 

»Ich spreche nicht mit Ihnen«, rief Bobby unwirsch.

 

Er war den ganzen Abend fort gewesen, um den Polizeiinspektor Carslake zu sprechen, aber seine Bemühungen waren nicht sehr erfolgreich gewesen. Bobby machte seine Tür zu, auch Diana verschloß ihr Zimmer. Dempsi ging daran vorbei und hielt noch lange Monologe vor dem versperrten Portal ihres Gemaches. Von unten drang das Schnarchen von Julius Superbus herauf.

 

Alle Ausgänge aus dem Hause waren gesichert – mit Ausnahme eines einzigen, der kleinen Öffnung in dem großen Glasfenster des Studierzimmers. Gordon hatte sich vorher genau informiert, denn Diana konnte ja so vorsichtig gewesen sein, es zuzuschrauben. Aber sie hatte es anscheinend vergessen, oder sie traute Mr. Superbus, der im Studierzimmer auf dem Sofa schlief. Gordon war schon zweimal auf Zehenspitzen zu seiner Tür geschlichen und hatte die Klinke niedergedrückt. Er war in dieser Nacht nicht eingeschlossen worden. Da Bobby im Hause war, hatte Diana ihre Wachsamkeit verringert.

 

Es schlug halb zwei, Gordon verließ das Bett und kleidete sich an. Er hatte keinen Pfennig Geld bei sich, aber das Personal in den Hotels kannte ihn ja, und er konnte auf das Hotelpapier einen Scheck schreiben, dann hatte er so viel Geld, wie er nur brauchte. Dann wollte er aber hierher zurückkehren und sich Mr. Dempsi einmal vornehmen. Er hatte sich noch nicht entschieden, welchen Tod dieser Halunke sterben sollte, aber sicher würde ihm ein qualvolles Ende bevorstehen. Er dachte an Heloise … er hoffte für sie nur, daß sie inzwischen verschwunden war.

 

Er löschte das Licht, öffnete die Tür und lauschte. Als er kein Geräusch hörte, schlich er sich leise die Treppe hinunter und ging in das Studierzimmer. Mr. Superbus atmete regelmäßig. Während Gordon noch horchte, stöhnte er und warf sich auf die andere Seite. Das Schnarchen hörte auf, und Julius schlief tiefer als jemals.

 

Nun war die günstige Gelegenheit für Gordon gekommen. Aber er hatte noch keinen Schritt vorwärts getan, als plötzlich ein kreisrunder Lichtschein auf dem Fenster erschien. Er wartete und hielt den Atem an. Ein leises Geräusch folgte, dann öffnete sich der eine Fensterflügel, und eine dunkle Gestalt kam ins Zimmer.

 

Eine Weile war der Eindringling unsichtbar, dann tauchte der helle Kreis wieder auf – diesmal auf dem Geldschrank.

 

Ein Einbrecher! Gordons erster Gedanke war, auf ihn zuzuspringen und ihn dingfest zu machen, aber – dann überlegte er es sich und näherte sich ihm langsamer und vorsichtiger …

 

»Hände hoch, oder ich schieße!«

 

Sofort ging das Licht aus.

 

»Schießen Sie nicht, Sir!«

 

»Schießen Sie nicht, Sie Narr!« zischte Gordon. »Es schläft hier noch ein Mann im Zimmer. Wo ist Ihr Revolver?«

 

»Ich habe keinen bei mir.«

 

»Was machen Sie hier?«

 

»Stellen Sie keine dummen Fragen –«

 

Gordon hatte die Blendlaterne des Mannes gepackt und leuchtete ihm ins Gesicht.

 

»Ich kenne Sie!«

 

Der Mann grinste verlegen.

 

»Sie haben mich gefaßt«, sagte er verstimmt.

 

»Sie sind der Mann, der gestern morgen die Fenster geputzt hat!«

 

Der Einbrecher nickte.

 

»Das ist das erste Mal, daß man mich geschnappt hat – ich heiße Stark. Ich werde keinen Widerstand leisten, und wenn Sie dem Richter sagen, ich hätte einen Revolver bei mir gehabt, dann lügen Sie!«

 

Der Einbrecher hatte etwas lauter gesprochen, und Gordon sah sich ängstlich um. Aber Mr. Superbus schnarchte aufs neue.

 

»Pst, nicht so laut! Haben Sie den Geldschrank schon geöffnet?« Gordon kam plötzlich eine glänzende Idee.

 

»Es wäre geschehen gewesen, wenn Sie einige Minuten später gekommen wären«, sagte der Mann vorwurfsvoll.

 

Gordon nickte.

 

»Sie haben mir die Sache ganz und gar verdorben.«

 

»Öffnen Sie den Schrank.«

 

Stark wollte seinen Ohren nicht trauen.

 

»Was?«

 

»Öffnen Sie den Schrank – ich werde Sie gut bezahlen und Sie außerdem freilassen. Es ist nur ein Schloß daran, und das Schlüsselwort heißt ›Alma‹. Haben Sie verstanden?«

 

»Ist das Ihr Ernst, mein Herr?« fragte Stark ungläubig.

 

»Jawohl, ich habe meinen Schlüssel verloren. Nun gehen Sie schnell an Ihre Arbeit. Können Sie es ohne Licht machen?«

 

»Natürlich – nur dumme Amateure brauchen viel Licht, ein ganz kleiner Lichtschein genügt mir.«

 

Er holte unter seinem Rock ein kurzes Stemmeisen und ein längeres, dünnes Instrument hervor. Seinem Beruf nach war er nur ein armer Fensterputzer, aber als Einbrecher gehörte er zu den hervorragendsten Fachleuten. »Haben Sie schon einmal gesehen, wie ein Geldschrank aufgeknackt wird?« fragte er über die Schulter.

 

Gordon schüttelte den Kopf.

 

»Nein, auf diese Art jedenfalls noch nicht«, gab er zu.

 

»Es dauert Jahre, bis man das lernt. Viel Geld ist auch nicht damit zu machen«, meinte Mr. Stark traurig. »Das ganze Geschäft ist durch die Fremden verdorben worden. Es sind zu viele Leute im Handwerk, zu viele Outsider. Es ist hier genauso wie überall – meistens sind es Amerikaner. Warum sie nicht in ihrem Lande bleiben, weiß ich auch nicht. Sie sind aber tüchtig, das muß man schon sagen, obgleich sie uns unser sauer verdientes Brot vor der Nase wegschnappen. Wir haben aber auch glänzende Vertreter – wenn sie nur ein wenig Aufmunterung hätten, ich meine etwas Kapital.« Die Geldschranktür öffnete sich. »So, sehen Sie, das hätten wir wieder einmal gekonnt!«

 

»Wie – schon offen?« fragte Gordon erstaunt und etwas verärgert. Der Mann, der ihm den Geldschrank verkauft hatte, hatte ihn also tüchtig belogen.

 

»Jawohl.«

 

»Leuchten Sie einmal hinein! Donnerwetter, es sind ja kaum noch Zehntausend da!«

 

Er raffte alles zusammen, was an Banknoten noch im Schrank lag. Plötzlich hob er den Kopf, um zu lauschen, denn es kam jemand die Treppe herunter.

 

»Machen Sie sich schnell aus dem Staub – es kommt jemand – hier, nehmen Sie das!«

 

Er steckte dem Einbrecher ein paar Banknoten in die Hand, und im nächsten Augenblick war Stark durch das Fenster verschwunden. Gordon folgte ihm auf dem Fuße.

 

»Wer ist dort?« fragte eine zitternde Stimme vom Sofa her.

 

Gordon gab ihm aber keine Antwort. Als Mr. Superbus mit überraschendem Mut auf ihn zueilte, sprang er durch das Fenster.

 

»Halt!«

 

Das war Dempsis Stimme.

 

Gordon sprang auf den Hof hinunter, als im Zimmer zwei Schüsse fielen.

 

Ein gellender Schrei ertönte. Es mußte jemand schwer getroffen sein. Diana hörte es, sprang aus dem Bett, warf den Morgenrock über und eilte in das Studierzimmer. In der Mitte des Raumes stand Dempsi, und zu seinen Füßen auf dem Boden wand sich in tausend Schmerzen die Gestalt von Julius Superbus.

 

»Er war ein Opfer seiner Pflicht«, sagte Dempsi ehrerbietig.

 

Und er hatte nicht unrecht. Mit zehn Zehen war Mr. Superbus nach Cheynel Gardens Nr. 61 gekommen, aber das Schicksal hatte bestimmt, daß er dieses Haus nur mit neun Zehen wieder verlassen sollte, denn eine hatte er bei der Schießerei verloren.

 

Kapitel 26

 

26

 

Als Diana das Fazit aus dieser ganzen Affäre zog, war sie froh, daß der Doppelgänger entschlüpft war. Der Rest der Nacht war sehr unruhig gewesen. Ärzte kamen und gingen, und das laute Wehgeschrei von Mr. Superbus schallte durch das Haus. Es tat ihr unendlich leid, daß dieser treue Wächter eine Zehe verloren hatte, obwohl es nur eine kleine Zehe war, die er nicht unbedingt zu seinem Lebensglück notwendig hatte. Aber immerhin war es eine Zehe, die bis dahin, wie er immer wieder zwischen seinen Schmerzensausbrüchen erklärte, ein treuer Begleiter durch sein wechselvolles Leben gewesen war.

 

Ja, er tat ihr wirklich sehr leid, obgleich der Arzt erklärte, daß er jetzt keine Schmerzen mehr habe. Auch hatte der Doktor, der den furchtsamen Charakter von Mr. Superbus nicht kannte, gemeint, Julius sei mehr erschreckt als verletzt worden. Aber sie war froh, daß der Doppelgänger verschwunden war.

 

Die Schießerei hatte ein sehr angenehmes Resultat gehabt – Dempsi war seitdem sehr kleinlaut geworden, er hatte sie kein einziges Mal mehr seinen »von den Sternen herabgestiegenen Engel« oder sonstwie genannt. Er, der Himmel und Erde geplündert hatte, um ihre Schönheit, ihren Charme und ihre sonstigen Vorzüge zu beschreiben, gab sich jetzt mit ganz gewöhnlichen Gemeinplätzen zufrieden.

 

»Der arme Wop hat anscheinend noch nie eine Pistole in der Hand gehabt«, meinte Bobby, »und das verfluchte Ding ging los, bevor er merkte, daß er den Abzug berührt hatte.«

 

»Der arme Wop!« sagte Diana vorwurfsvoll. »Du würdest doch besser den armen Mr. Superbus bedauern!«

 

Sie hatten schon vor einiger Zeit gefrühstückt, und Bobby war schon auf der Bank gewesen. Mr. Dempsi war ausgegangen.

 

»Wie hast du eigentlich geschlafen?« fragte er liebenswürdig.

 

»Schrecklich. Aber Bobby, hast du das Geld bekommen?«

 

»Ja, glücklicherweise ist die Überweisung deiner Gelder noch am Sonnabend kurz vor Geschäftsschluß erfolgt. Der Direktor hat sich riesig entschuldigt. Ich habe das Geld – hier ist es.«

 

Er zog ein dickes Paket amerikanischer Banknoten aus seiner Hüfttasche. Sie sah die Scheine nachdenklich an und preßte die Lippen zusammen.

 

»Ich erhielt eine Telegramm von Gordon aus Inverness.«

 

»Dann ist er also dort angekommen«, sagte er trocken. »Und wie geht es unserem alten Autobus?«

 

»Der arme Kerl.« Sie lachte. »Ich hoffe, daß er sich allmählich an seinen überaus großen Verlust gewöhnt. Im Augenblick ist seine größte Sorge, was seine Frau zu seiner verlorenen Zehe sagen wird. Nach seinen Reden zu urteilen, zählt sie sie jeden Abend nach.«

 

Bobby grinste am Kamin. Es erschien ihm außerordentlich komisch, daß ein Mann eine kleine Zehe verlieren konnte.

 

»Hast du nichts von dem Doppelgänger gehört?« fragte er.

 

»Nein, er scheint verschwunden zu sein. Aus den Spuren an der Mauer geht hervor, daß er hinübergeklettert ist. Nach dem Bericht des Mr. Superbus muß er noch einen Helfershelfer gehabt haben. In einer Beziehung bin ich ganz froh, daß er fort ist.«

 

Bobby sah sie erstaunt an.

 

»Wieso denn?«

 

»Um des armen Mädchens willen.« Diana machte ein ganz trauriges Gesicht. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was sie alles durch ihn hat leiden müssen, Bobby. Es ist doch noch ein guter Kern in Heloise. Natürlich ist sie jetzt vollständig niedergeschlagen, daß sie ihn verloren hat. Aber das ist der Fluch der Frauen – sie geben niemals ihre Hoffnung auf.«

 

»Er muß sich aber sehr schnell aus dem Staub gemacht haben. Ich war unmittelbar nach Dempsi unten, und obgleich ich das ganze Haus und den Hof absuchte, konnte ich von dem Teufel doch nichts mehr finden.«

 

»Wir wollen nicht mehr über ihn sprechen. Aber Dempsi hat sich glänzend benommen. Ich war freudig überrascht – das ist das einzige Mal, daß ich das von ihm sagen kann. Ich hätte kaum gedacht, daß ein Mann von seinem erregbaren Temperament diese Sache so kühl aufnehmen könne. Er ist jetzt ganz still geworden, ich glaube, die Schießerei hat ihn ein wenig nervös gemacht. Er wollte immer wissen, ob ich die Polizei benachrichtigt habe, aber natürlich habe ich das nicht getan – soweit es sich um Mr. Superbus‘ Zehe handelt. Er verläßt heute das Haus.«

 

»Dempsi?«

 

»Er sagt, daß er tausend Jahre auf mich warten will.« Sie seufzte. »Ich sagte ihm, hundert würden auch genügen. Er hat den ganzen Morgen nichts mehr von einer Heirat gesagt. Ich möchte fast sagen, daß er mir dadurch lieb geworden ist.«

 

Der Mann, von dem sie sich unterhielten, kam ein paar Minuten später in das Zimmer. Er sah hager und nach Bobbys Meinung keineswegs anziehend aus.

 

»Guten Morgen, Mr. Selsbury – haben Sie nicht Tante Lizzie gesehen? Ich möchte ihr kondolieren. Es ist doch schrecklich, wenn Leute, die sich gern haben, getrennt werden. Und wie entsetzlich für Sie – sagten Sie nicht, daß er der Doppelgänger war? Es schaudert mich, wenn ich daran denke. Aber die kleine Diana« – er sah sie bewundernd an – »hat sich nicht im mindesten gefürchtet – oh, das war ganz wundervoll! Aber bitte, erzähle mir doch, wer ist denn eigentlich Tante Lizzie!«

 

»Eine Freundin von mir«, sagte Diana kurz.

 

Dempsi schüttelte traurig den Kopf.

 

»Ich werde es mir niemals verzeihen, daß ich Mr. Superbus – in die Zehe geschossen habe«, sagte er bedauernd.

 

Bobby lachte.

 

»Das klingt fast so, als ob es Ihnen leid täte, daß Sie ihn nicht durch den Kopf geschossen haben.«

 

Dempsi schrak vor dieser schrecklichen Verdächtigung zurück.

 

»Das mag der Himmel verhüten – ich bewundere Superbus!«

 

»Er hätte nicht schlafen sollen«, meinte Diana. »Er hatte mir versprochen zu wachen.«

 

Sie eilte zur Tür, denn das Aufstoßen eines Stockes auf dem Parkettboden der Diele kündigte den Invaliden an. Sein rechter Fuß war malerisch mit weißen Bandagen umwunden. Er hatte eine Krücke unter dem einen Arm und bewegte sich nur ruckweise vorwärts. Er lächelte Diana schwach und müde an. Bobby faßte ihn an dem einen, Mr. Dempsi an dem anderen Arm, und so kamen sie unter vielem Stöhnen und Seufzen bei dem Sofa an.

 

»Fühlen Sie sich jetzt besser, Mr. Superbus?«

 

Er schüttelte den Kopf. Er wollte nicht gern in diesem frühen Stadium schon alle Sorgfalt und Pflege vermissen, die ihm seiner Meinung nach jetzt zukamen.

 

»Mittelmäßig, Madam, mittelmäßig, natürlich bin ich ein wenig mitgenommen – das geht mir immer so, wenn ich bei einer Schießerei beteiligt war. Ach, es ist furchtbar. Wenn ich daran denke«, stöhnte er mit zitternden Lippen, »daß gestern meine Zehe noch wohl und lebendig war.«

 

Mr. Dempsi bedeckte die Augen mit seiner langen, dünnen Hand.

 

»Und ich habe es getan«, sagte er mit einem tiefen, verzweifelten Seufzer.

 

»Lassen Sie es sich nicht so sehr zu Herzen gehen«, beruhigte ihn Julius mit der Miene eines christlichen Märtyrers, der selbst noch die Löwen entschuldigt, die ihn zerreißen sollen. »Das hätte jedem anderen auch passieren können. Ich hätte nur gewünscht, daß Sie ihn getroffen hätten, oder sie …«

 

Diana wurde aufmerksam.

 

»Oder sie? War denn die andere Person eine Frau?«

 

»Das ist sehr leicht möglich.« Julius war nicht bereit, sich weiter hierüber zu äußern, da er selbst nicht ganz sicher über diesen Punkt war.

 

»Ob es ein Mann oder eine Frau war, kann ich im Augenblick nicht sagen«, erklärte er düster. »Das wird bei der Untersuchung alles noch herauskommen.«

 

»Was ist denn eigentlich tatsächlich passiert?«

 

Bobby stellte diese Frage. Er hatte nur eine Ahnung von dem, was sich im Dunkeln alles zugetragen hatte. Julius suchte in seiner Tasche und zog ein großes Notizbuch hervor, das er gewichtig öffnete. Nachdem er einige Zeit darin geblättert hatte, fand er die Stelle auch, die er suchte. »Am Fünfzehnten dieses Monats, um zwei Uhr morgens«, las er mit volltönender Stimme vor, »wurde ich in meinem Schlaf von dem unangenehmen Gefühl geweckt, daß sich etwas Unheimliches ereignen würde, daß zum Beispiel Einbrecher oder andere Verbrecher in die Wohnung eingedrungen seien. Ich sprang aus meinem Bett, das zwei Fuß und sechs Zoll vom Fenster entfernt war – ich habe Tante Lizzie gebeten, die Entfernung genau auszumessen. Das Studierzimmer lag in vollkommener Dunkelheit, aber ich sah die Gestalt eines Mannes. Als ich vorwärtsstürzte, um ihn festzuhalten, sprangen anscheinend zu meinen Füßen eine oder mehrere unbekannte Personen auf. Da ich erkannte, daß Gefahr im Verzug war, wurde ich mit ihnen handgemein – ich vermute, Sie hörten das Toben des Kampfes?« fragte er ängstlich.

 

Diana hatte nichts gehört, und Bobby schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich habe nichts davon gehört, aber es ist möglich, daß ich nicht nahe genug war«, meinte er.

 

Mr. Dempsi hatte die Hände auf den Rücken gelegt, hielt den Kopf gesenkt und schaute nicht auf.

 

»Plötzlich«, fuhr Mr. Superbus fort, »ertönte ein Schuß, und ich wußte von nichts mehr.«

 

»Aber Sie sagten, es könne eine Frau gewesen sein?«

 

Diana war fest entschlossen, sich über diesen Punkt Aufklärung zu verschaffen.

 

»Es mag ein Mann oder eine Frau gewesen sein«, entgegnete Julius, »das wird alles ans Tageslicht kommen, wenn ich sozusagen die Geheimgeschichte erzählen werde. Im Augenblick muß es genug sein, wenn ich sage, eine oder mehrere unbekannte Personen – wo ist eigentlich Onkel Artur, ich habe ihn heute noch nicht gesehen?«

 

»Aber als Sie mit der unbekannten Person rangen, Mr. Superbus, müssen Sie doch gemerkt haben, ob es ein Mann oder eine Frau war«, bestand Diana hartnäckig.

 

Julius neigte verschämt den Kopf.

 

»Als ein verheirateter Mann sollte ich es eigentlich wissen«, sagte er diskret.

 

»Aber Sie haben doch mit der Person gerungen!«

 

»In gewisser Weise, ja, aber nur in gewisser Weise. Ich habe den Ausdruck mehr im allgemeinen gebraucht.«

 

»Aber Sie sahen doch –«

 

»Die Person sah wie ein Mann aus … ich werde Ihnen die ganze Wahrheit sagen. Er sah aus wie Onkel Artur. Ich habe mir aber keinen Augenblick eingebildet, daß es wirklich Onkel Artur war. Ich will niemand verdächtigen. Er ist durch die Tür entschlüpft, bevor ich ihn genau erkennen konnte.«

 

»Da müssen Sie sich aber geirrt haben, Mr. Superbus«, sagte Diana.

 

»Er schlüpfte hinter mir vorbei zur Tür hinaus.« Julius zeigte auf den Eingang.

 

»Da irren Sie sich«, erwiderte Diana. »Der Mann ist durch das Fenster entflohen, von dort in den Hof gesprungen und nachher über die Mauer geklettert. Das Fenster stand doch offen.«

 

»Erzählen Sie uns doch einmal, wie es eigentlich kam, daß Sie schliefen, während die Leute den Geldschrank aufbrachen?« fragte Bobby.

 

Mr. Superbus legte die Stirn in Falten und schloß die Augen.

 

»Ich bin betäubt worden – in meinem Kaffee muß ein Schlafmittel gewesen sein. Ich habe sonst einen ganz leichten Schlaf, bei dem geringsten Geräusch wache ich sofort auf!«

 

Bobby nickte.

 

»Aber den Pistolenschuß haben Sie doch gehört?«

 

Kapitel 27

 

27

 

Mr. Superbus war in einem Ambulanzwagen des Roten Kreuzes fortgeschafft worden. Er hätte zwar auch ein gewöhnliches Auto benützen können, aber er hatte nun einmal den Wunsch, in einem Krankenwagen abtransportiert zu werden.

 

»Was ist eigentlich so eine Zehe wert, Bobby? Ich muß dem armen Mann doch irgend etwas schicken. Sind zweihundert Pfund zuwenig?«

 

»Es war ja nur eine kleine Zehe«, meinte Bobby nachdenklich. »Eine große Zehe würde mehr gekostet haben. Versuche es nur einmal mit einer Abfindungssumme von zweihundert.«

 

Diana schrieb sofort. Sie fühlte sich in ausgezeichneter Stimmung, obgleich der Geldschrank beraubt worden war und seine Tür traurig in den Scharnieren hing.

 

Eleanor und die Köchin waren auch wiedergekommen. Sie hatten zwar bis Dienstag Urlaub, aber ihre Neugierde hatte sie schon eher zurückgetrieben.

 

Heloise hatte von einem Fenster des Obergeschosses aus zugesehen, wie Mr. Superbus fortgebracht wurde. Sie hatte allen Grund, sich darüber zu freuen, daß Mr. Dempsis Schüsse nicht mehr Unheil angerichtet hatten. Den ganzen Morgen über war sie schon sehr nervös und fuhr bei jedem Geräusch auf. Einmal hatte Diana sie sogar gefunden, wie sie sich in dem kleinen rückwärtigen Zimmer versteckte. Man konnte eigentlich keinen anderen Ausdruck dafür finden. Sie war so konfus und verwirrt, daß Diana einen Augenblick argwöhnisch wurde. Aber dann erinnerte sie sich daran, daß das plötzliche Entweichen des Doppelgängers das arme Mädchen über alle Maßen aufgeregt haben mußte.

 

Diana hatte gerade den Brief beendet, als Heloise anscheinend absichtslos in den Raum trat und sich umschaute. Dempsi saß auf dem Sofa, hatte das Gesicht in die Hände gestützt und sah verdrießlich in das Feuer. Bobby saß in seinem Zimmer und hatte eine merkwürdige Beschäftigung: Er schrieb Telegramme an Gordon und bat ihn, sofort zurückzukehren. Er adressierte sie an die verschiedensten Hotels in Paris, wo er seiner Meinung nach hätte absteigen können.

 

Diana schaute lächelnd auf, löschte die Adresse und klebte die Briefmarke auf den Umschlag.

 

»Du mußt dich mit Tante – mit Heloise unterhalten und sie auf bessere Gedanken bringen«, sagte sie zu Dempsi. Er fuhr aus seinen Grübeleien auf.

 

»Du kennst doch Heloise?«

 

In den letzten achtundvierzig Stunden war so viel passiert, daß sie nicht mehr wußte, ob sie die beiden einander vorgestellt hatte oder nicht. Sie wäre nicht im mindesten erstaunt gewesen, wenn Dempsi erklärt hätte, daß er Tante Lizzie niemals gesehen habe.

 

»O ja, wir kennen uns«, sagte er etwas verlegen. »Sind Sie auch durch den Schuß geweckt worden? Ich muß mich noch vielmals bei Ihnen entschuldigen.«

 

»Nein, nein, mich bedrücken Sorgen, von denen ich nicht erzählen kann. Ist Onkel Artur wirklich fort?«

 

Diana nickte.

 

»Er ist fort – ich werde ihn nie wiedersehen!«

 

Dempsi sah sie verständnislos an. Er dachte an ganz andere Dinge.

 

»Sie scheinen sehr traurig zu sein«, sagte er mit milder Stimme. Ihre Blicke wanderten unstet umher, dann sah sie ihn an.

 

»Traurig! O ja, wenn ich an mein altes Heim und meinen lieben Vater in Michigan denke –«

 

»Ich dächte, Sie hätten mir vorher von Connecticut erzählt«, unterbrach sie Diana.

 

Heloise konnte schnell denken.

 

»Meine Mutter wohnt dort«, entgegnete sie liebenswürdig. »Mein Vater ist in Michigan. Sie leben getrennt voneinander.«

 

»Ich verstehe«, sagte Diana. »Dann müssen Sie sich ja eigentlich doppelt glücklich schätzen, nach Amerika zurückkehren zu können, wenn Sie dort ein doppeltes Zuhause finden.«

 

Heloise schaute sie forschend an. Sie war niemals sicher, ob Diana es ernst oder ironisch meinte. Es ging auch anderen Leuten so.

 

»Sie werden in Ihre Heimat zurückkehren?« Dempsi nahm jetzt ein wohlwollendes Interesse an Tante Lizzie.

 

»Ja, ich gehe zurück. Ich werde ein neues Leben anfangen – das verdanke ich Miss Ford«, sagte sie ruhig. »Eines Tages werde ich auf dieses Leben wie auf einen bösen Traum zurückschauen.«

 

Diana verließ das Zimmer.

 

»Gehen Sie wirklich nach Amerika?«

 

»Ja.«

 

»Das ist ein schönes, wunderbares Land«, erwiderte Dempsi. Aber sobald sich die Tür hinter Diana geschlossen hatte, sprang er auf, und seine ganze Haltung änderte sich plötzlich. Er faßte Heloise scharf ins Auge.

 

»Wo ist das Geld?« fragte er rauh.

 

Heloise sah sich vorsichtig nach der Tür um – sie waren beide allein.

 

»Du weißt ganz genau, wo es ist, Elly«, sagte er barsch. »Gib es heraus!«

 

Sie war jetzt durchaus nicht mehr traurig oder elegisch, im Gegenteil, sie war aufgebracht und wütend. Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn energisch an.

 

»Dan, du bist zwar der tüchtigste Imitator, den ich kenne«, ihre Stimme klang schrill –, »ich wäre nicht überrascht, wenn du als ein Floh aus dem Flohzirkus in dieses Zimmer kämst! Aber mich führst du nicht hinters Licht. Wer hat das Geld hier genommen?« Sie zeigte auf den Geldschrank, »Du! Du hast es gestohlen und hast dem armen Kerl geholfen, sich aus dem Staube zu machen. Wahrscheinlich warst du gerade mit dem Geldschrank beschäftigt, als er hier hereinkam.«

 

»Du lügst!« Er war außer sich vor Wut. »Ich kam herein, nachdem du das Geld aus dem Schrank genommen hattest – ich hatte gar nicht die Absicht zu schießen – das war das Verrückteste, was ich jemals machte! Aber ich sah den Kerl durch das Fenster entwischen und dachte mir, was sich zugetragen hatte. Er hatte dir das Geld gegeben, damit du ihn entwischen ließest!«

 

Sie sah ihn zornig an.

 

»Du willst wohl behaupten, daß ich das Geld hier in meiner Tasche habe?«

 

»Natürlich!«

 

»Du wirst noch von den Rechtsanwälten meines Mannes zu hören bekommen. Ich werde dir etwas sagen, du schamloser Hund! Du hast das Geld genommen und hast den armen Kerl angeschossen, als er hereinkam, um zu sehen, wer hier den Geldschrank geknackt hatte. Was tatest du denn hier vollkommen angekleidet? Du wolltest doch mit dem ersten Zug aus London verschwinden – und mich wolltest du hier in der Patsche sitzenlassen! Du gemeiner Lump! Ich habe doch hart genug für dich arbeiten müssen! Habe ich nicht stundenlang gesessen und mich mit dieser Seeleneidechse über meinen verfluchten Innenmenschen unterhalten? Habe ich nicht die ganze Geschichte von Diana aus ihm herausgeholt? Habe ich dir nicht alles bis ins kleinste berichtet? Habe ich ihn nicht ausgepumpt, bis überhaupt nichts mehr aus ihm herauszuholen war? Und du willst es jetzt wagen, mich übers Ohr zu hauen?!«

 

Er wagte gar nichts, und ihr Sieg war vollkommen, als er sich zu entschuldigen begann.

 

»In dem Schrank lagen fünfzigtausend Dollar. Alles, was ich in der Hand habe, ist ein Verrechnungsscheck, der ebenso brauchbar ist wie Konfetti bei einer Beerdigung. Es wird zwei Tage dauern, bevor ich bares Geld bekomme. Selsbury wird heute abend zurückkommen.«

 

»Fünfzigtausend Dollar«, fuhr sie ihn wütend an. »Davon hast du mir gar nichts gesagt. Wahrscheinlich hast du das wieder einmal vergessen. Du sagtest, man könnte etwa tausend Pfund bei der Sache bekommen! Dann hast du mir vorgeschwindelt, daß du froh wärst, wenn deine Auslagen wieder hereinkämen. Was ist das für ein Scheck? Ist es das Geld, das sie Dempsi noch schuldig ist? Zum Donnerwetter, das ist das Geld, das Dempsi ihr vor die Füße geworfen hat. Ich erzählte es dir doch, und dann vergaß ich es!«

 

Sie fuhr mit den Händen wild durch die Haare.

 

»Ich hatte daran überhaupt nicht gedacht, bis ich hierherkam und sie mir erzählte, daß sie mir einen Brief mit einem Scheck geschickt habe. Da mich der Bote verfehlte, gab sie ihn mir später selbst. Ich erfuhr dann aber, daß in dem Schrank noch mehr Geld lag, und wollte auch das noch bekommen. Es schien mir sehr leicht zu sein.«

 

Sie sah ihn böse und zweifelnd an. Sein beleidigendes Auftreten erhöhte nur ihren Verdacht.

 

»Dan, du bist ein wunderbarer Märchenerzähler. Wenn ich jünger wäre, würde ich wahrscheinlich auf deine Fabeln hereinfallen«, sagte sie nüchtern. »Aber du wirst jetzt ein netter Junge sein und der Tante gestehen, daß du das Geld genommen hast. Dann wirst du sagen, liebe Tante, wir werden fünfzig zu fünfzig teilen. Und wenn du das nicht tust, Dan, dann kannst du dich heilig darauf verlassen, daß du in kürzester Zeit vor dem Richter stehst.«

 

Er versuchte es mit Schmeichelei.

 

»Sei doch ehrlich, Elly, du hast das Geld. Wir wollen uns doch nicht weiter streiten …«

 

»Würde ich vielleicht noch hiersein und mich obendrein noch aufregen, was meinem guten Aussehen so sehr schadet, wenn ich es hätte?«

 

Dieser Grund leuchtete ihm ein.

 

»Das ist wahr. Aber wer hat denn den Geldschrank geöffnet, doch nicht etwa Selsbury?«

 

»Es konnte doch kein anderer gewesen sein als du.«

 

»Verdammt noch einmal, ich sagte dir doch, daß ich es nicht getan habe.«

 

Die Tür öffnete sich, und ohne daß sie sich umsahen, wußten sie beide, daß es Diana war. Sie hatte vergessen, einen Scheck in ihren Brief zu legen. Aber die beiden unterhielten sich so gut, daß sie sich nicht um sie kümmerten.

 

»Ich liebe den Landaufenthalt so sehr«, seufzte Heloise. »Die Vögel singen, die Wolken ziehen am Himmel, der erfrischende Wind weht – ach, es gibt wirklich nichts Schöneres, Mr. Dempsi.«

 

Ich habe früher nie gesehen, daß die beiden sich miteinander unterhielten, dachte Diana lächelnd. Das stimmte auch. Sie ging gleich wieder aus dem Zimmer.

 

»Elly, wir wollen uns nicht miteinander streiten. Das Geld im Schrank ist fort, vielleicht hat es Selsbury selbst genommen. Warum bist du eigentlich hierhergekommen?«

 

Diese Frage hatte er schon lange an sie stellen wollen.

 

»Ich kam her, als ich herausfand, daß du die Sache auf eigene Faust durchführen wolltest. Ich kenne dich, Dan, du hast einen sehr schlechten Ruf unter ehrlichen Verbrechern.«

 

Er lachte mißvergnügt.

 

»Ich werde dir das Gegenteil durch die Tat beweisen. Wohin ist Gordon Selsbury gegangen? Hat er dir gesagt, daß er gehen will?«

 

»Nein, wir sind aneinandergeraten, bevor er verschwand. Du sagtest vorhin, daß er zurückkommen werde, und ich fühle, daß du recht hast. Er wird das Geld in der Tasche haben.«

 

»Aber er konnte es doch nicht allein machen. Dein Mann hätte den Geldschrank nicht sachgemäßer aufmachen können.«

 

Sie war auf der Hut und wollte sich durch seine Schmeicheleien unter keinen Umständen fangen lassen.

 

»Laß doch diese Redensarten und halte dich an die Tatsachen«, sagte sie kurz. »Habe ich Selsbury für dich ausgeholt oder nicht?«

 

Er fuhr sie an wie ein bissiger Hund.

 

»Habe ich – habe ich nicht – zum Donnerwetter, warum hast du ihn denn überhaupt zurückkommen lassen?«

 

»Hierher zurückkommen lassen?« fragte sie verächtlich. »Das tat ich mit voller Absicht. Ich wußte, in welcher Rolle du auftreten würdest. Es war mir bekannt, daß Geld hier war, und deswegen wollte ich bleiben. Dan, ich spreche jetzt zum letztenmal im guten zu dir! Ich kenne Polizeiinspektor Carslake sehr wohl. Ich brauche dir nicht zu sagen, daß es eine Kleinigkeit für mich ist, mir eine Belohnung zu holen, die auf deine Ergreifung ausgesetzt ist. Ich würde es nie tun, aber wenn du mich zum äußersten zwingst …«

 

Das wirkte auf Dan – aber er nahm die Situation mit philosophischer Ruhe auf.

 

»Nun gut, dann hilft es nichts«, sagte er seufzend. »Wir wollen teilen unter den alten Bedingungen, aber ich will nichts von fünfzig zu fünfzig hören. Siebzig zu dreißig!«

 

»Du wagst es, mir das anzubieten? Ich wundere mich über deine Kaltblütigkeit. Entweder zahlst du mich fünfzig zu fünfzig aus oder – aber du hast ja gar nichts zu teilen!«

 

Er bequemte sich jetzt dazu, ihr reinen Wein einzuschenken.

 

»Sie wird mich in bar auszahlen – ich habe ihr den Scheck zurückgegeben. Wenn du noch eine halbe Stunde wartest, habe ich das Geld. Bist du nun zufrieden? Sechzig zu vierzig.«

 

»Fünfzig zu fünfzig«, sagte Heloise unerschütterlich. »Du könntest es dir selbst niemals verzeihen, wenn du mir weniger geben würdest.«

 

Sie stritten noch etwa zehn Minuten miteinander, dann hatte sich Heloise durchgesetzt.

 

Eleanor kam eilig herein, um ihre Herrin zu suchen, aber sie fand sie erst in Gordons Zimmer.

 

»Der Geistliche«, sagte sie geheimnisvoll.

 

Dianas Mut sank wieder.

 

»Es ist ein katholischer Priester, ich habe es an seiner Tracht gesehen«, erklärte Eleanor.

 

Diana hatte noch nie darüber nachgedacht, welchem Religionsbekenntnis Dempsi eigentlich angehören könne. Auch hatte sie vorher nicht gewagt, dem Manne gegenüberzutreten, der ihrer Meinung nach von Dempsi gerufen worden war, um sie zu trauen.

 

»Ich werde hinunterkommen«, sagte sie schließlich und nahm die Karte aus Eleanors Hand.

 

Sie las den Namen, las ihn noch einmal und fuhr mit der Hand über ihre Augen. Auf der Karte stand:

 

Pater Giuseppe Dempsi,

Vicar von Banhurst.

 

Im nächsten Augenblick eilte sie die Treppe hinunter. Sie erkannte ihn sofort wieder an seinem glattrasierten Gesicht, seinen dunklen Haaren und dem alten Lächeln in den braunen Augen. Sie hätte ihn auch erkannt, wenn er nicht die schwarze Soutane getragen hätte.

 

»Diana«, sagte er, »nach all diesen Jahren sehen wir uns wieder!«

 

Sie ergriff seine magere Hand.

 

»Ja, das sind Sie. Oh, Sie glauben nicht, wie froh ich bin, Sie zu sehen.«

 

Das war also der richtige Dempsi. Wer war denn aber der andere?

 

»Ich bin schon mehrere Male hiergewesen, um Sie zu besuchen. Ich bin nur noch vierzehn Tage in England. Mein Pfarrbezirk liegt in der Nähe von Melbourne. Ich weiß nicht, ob Sie mir jemals verzeihen können, daß ich Ihnen so viel Unruhe und Verdruß bereitet habe?« Ein schwaches Lächeln huschte über seine feingeschnittenen Züge. »Ich war ein böser Junge. Ja, ich bin damals in den Busch gelaufen, aber ich bin nicht weit gekommen. Unterwegs wurde mir klar, daß ich meinen Idealen untreu wurde und Ihnen ein großes Unrecht tat. Das war entscheidend. Ich ging in das Kapuzinerkollegium und beendete meine Studien. Und ich habe mein Gelübde niemals bereut.«

 

Sie sah ihn ehrfürchtig an.

 

»Sie sehen besser und vorteilhafter aus als jemals, Pater Dempsi. Ich habe auch noch eine Menge Geld von Ihnen.«

 

Er lachte ein wenig verlegen.

 

»Ich war gespannt, ob noch etwas davon vorhanden ist. Aber offen gestanden brauche ich gerade im Augenblick Geld. Ich will nämlich einen Klub junger Männer in meiner Pfarre gründen, und für die neue Kirche brauchen wir eine Orgel …«

 

Sie nickte. Sie war noch ganz bestürzt. Plötzlich riß Bobby erregt die Tür auf.

 

»Diana …!« rief er.

 

Hinter ihm kam Gordon in gemessener, vornehmer Kleidung. Aber er schien sich doch verändert zu haben. Sie eilte auf ihn zu – bevor sie wußte, was sie tat, hatte sie ihm einen Kuß gegeben. Gordon küßte sie wieder, und es fiel ihm gar nicht schwer.

 

»Gordon, darf ich dir Reverend Giuseppe Dempsi vorstellen? Ich habe dir früher viel von ihm erzählt.«

 

Gordon starrte den Priester entsetzt an.

 

»Reverend Giuseppe Dempsi? Ich dachte –« Dann ergriff er die Hand des Geistlichen. »Ich wußte doch, daß es nicht … wie geht es Ihnen?«

 

»Diana und ich sind alte Freunde«, erklärte Dempsi. »Beinahe hätte ich gesagt, ein altes Liebespaar, aber die Liebe war ein wenig einseitig«, fügte er lächelnd hinzu.

 

»Das ist aber ein merkwürdiges Zusammentreffen!«

 

Gordon konnte weiter nichts sagen.

 

»Aber wie ist es möglich, daß du schon zurück bist? Ich bekam doch noch heute morgen ein Telegramm aus Inverness von dir?«

 

»Ich bin mit dem Flugzeug hierhergekommen«, erwiderte Gordon, ohne im geringsten verlegen zu sein. »Ich fühlte, daß hier etwas nicht in Ordnung war und daß du Schwierigkeiten hattest.«

 

»Ach, Gordon, ist das wirklich wahr?« Sie wurde rot. Sie war erstaunt über diese seelische Fernwirkung. »Aber mein lieber Gordon, du hast ja deinen Backenbart abgenommen?«

 

Er nickte ernst.

 

»Ich dachte, ich hatte dir gesagt, daß ich beabsichtige, das zu tun – du hast mir doch früher einmal gestanden, daß du ihn nicht leiden kannst – das genügte mir.«

 

Gordon zeigte sich von seiner allerbesten Seite.

 

Eleanor öffnete einem fremden Herrn die Tür.

 

»Ist Miss Ford zu Hause?«

 

»Jawohl, mein Herr, aber sie ist gerade beschäftigt.«

 

Er hatte anscheinend keine Visitenkarten.

 

»Ich bin Polizeiinspektor Carslake von Scotland Yard. Ich würde gern einmal den Geldschrank besichtigen, der in der vorigen Nacht erbrochen wurde. Es ist nicht notwendig, Miss Ford zu stören.«

 

Eleanor riß sofort die Tür weiter auf und führte ihn ins Studierzimmer …

 

»Wir werden mit dem ersten Zug London verlassen«, sagte ›Dempsi‹ gerade. »Das Geld teilen wir auf der Reise.«

 

»Nein, wir teilen, bevor wir abfahren«, erwiderte Heloise fest. Sie schien Angst zu haben, daß noch irgendein Zwischenfall eintreten könne.

 

Er zuckte die Schultern.

 

»Ich würde mich schämen, so etwas zu sagen!«

 

Dann trat der Fremde ein. Heloise erkannte ihn sofort, noch bevor er ihr Gesicht sah. Sie nahm eine Zeitung, die auf dem Tisch lag, entfaltete sie und verbarg ihr Gesicht dahinter. Dann ging sie, scheinbar lesend, langsam aus dem Studierzimmer in den kleinen Bibliotheksraum.

 

»Warum gehst du denn fort?« fragte ›Dempsi‹.

 

Einen Augenblick später sah auch er den Inspektor. Das Erkennen war gegenseitig.

 

»Das Spinngewebe um Ihr Kinn herum ist mir unbekannt«, sagte Carslake, »aber die hochgeschwungenen Augenbrauen und die leuchtenden Augen gehören meinem alten Freund Dan Throgood, mit anderem Namen ›Doppelgänger‹.«

 

»Ich fürchte, Sie irren sich«, erwiderte ›Dempsi‹ etwas hochfahrend.

 

»Sie fürchten vielmehr, daß ich mich nicht täusche«, entgegnete der Polizeiinspektor und sah auf den erbrochenen Geldschrank … »Haben Sie das gemacht?«

 

»Nein, das ist nicht meine Arbeit. Aber es liegt doch gar nichts gegen mich vor, Carslake. Ich wohne hier als ein Gast von Mr. Selsbury.«

 

»Und nun werden Sie als Gast des Königs logieren«, meinte Carslake und nahm ein paar Handschellen aus der Tasche. »Ich muß schon sagen, Dan, Sie verstehen zu leben!«

 

Der Inspektor kam am selben Tag noch einmal nach Cheynel Gardens 61, um eine gewisse Dame namens Chowster zu verhaften. Mit anderem Namen hieß sie Heloise van Oynne.

 

»Kann ich Miss Ford oder Mr. Selsbury sprechen?«

 

Eleanor bat ihn zu warten, ging durch die kleine Bibliothek und lauschte erst an der Tür zum Studierzimmer …

 

»Ich wollte wirklich nach Australien zurück, Gordon.«

 

»Dann gehe ich mit, und wenn es nötig ist, laufe ich auch in den Busch«, hörte sie Gordons Stimme.

 

Dann folgte ein langes Schweigen. Eleanor öffnete vorsichtig die Tür ein ganz klein wenig und schaute hinein. Dann ging sie wieder zu Mr. Carslake zurück.

 

»Mr. Selsbury und Miss Ford haben sich eben verlobt«, sagte sie.

 

Kapitel 3

 

3

 

Cheynel Gardens ist einer der wenigen Plätze, die kein Chauffeur ohne die Hilfe von Leuten finden kann, die dort in der Nähe wohnen. Die Chauffeure haben wohl davon gehört, können sich dunkel darauf besinnen, daß sie schon Fahrten dahin ausgeführt haben, aber wo es eigentlich liegt, ist ihnen unbekannt. Nur die Polizei und die Postboten wissen das.

 

Gordon bewohnte dort ein Eckhaus, zu dem auch ein Garten gehörte, nach dem wahrscheinlich die ganze Straße benannt worden war. Die Fenster vom großen Studierzimmer waren aus buntem Glas und hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit Kirchenfenstern.

 

Dieser Raum nahm aber auch eine besondere Stellung im Hause ein. Niemand durfte ihn ohne die ausdrückliche Erlaubnis Gordons betreten. Die starke Eichenholztür war noch mit einer Stofftür gesichert, um den Schall zu dämpfen, so daß kein Geräusch Gordon stören konnte, wenn er den »Economist« und die »Versicherungsrevue« las. Morgens las er die »Times«, aber abends widmete er sich eingehenden soziologischen Studien. Wenn er davon genug hatte, griff er zu dem Buch »Zur Genealogie der Moral« – Nietzsche war einer seiner Lieblingsautoren.

 

Gordon stieg aus dem Auto, mit dem er nach Hause gefahren war, und gab dem Chauffeur ein Trinkgeld von zehn Prozent, das er zwar aufs genaueste ausgerechnet hatte, wobei er sich aber doch ein klein wenig zu seinen Gunsten irrte. Langsam stieg er die Treppe zur Haustür hinauf und öffnete sie. Es war ein Teil des täglichen feierlichen Rituals. Trenter nahm seinen Hut, seinen Spazierstock, seine Handschuhe, und Gordon fragte wie gewöhnlich:

 

»Sind Briefe gekommen?«

 

Wenn Trenter »Nein« gesagt hätte, so wäre das eine unverzeihliche Unterbrechung der Zeremonie gewesen.

 

»Jawohl, Sir«, antwortete er wie stets. »Und –« er räusperte sich.

 

Er konnte sich eine weitere Erklärung schenken, denn Gordon starrte schon auf vier große Koffer, die fast die ganze Diele einnahmen. Auf dreien las er die Aufschrift »Wird während der Reise nicht gebraucht«, auf dem vierten war ein Schild aufgeklebt: »Kabinengepäck«.

 

»Was soll denn das bedeuten?« fragte Gordon atemlos.

 

»Die junge Dame ist heute nachmittag angekommen, Sir!« Trenter verging fast vor Aufregung.

 

»Die junge Dame ist heute nachmittag angekommen – welche junge Dame?«

 

»Miss Ford, Sir.«

 

Gordon runzelte die Stirn. Er hatte diesen Namen in irgendeinem Zusammenhang schon gehört. Ford – Ford – das klang doch so bekannt!

 

»Miss Diana Ford aus Australien!«

 

Seine Kusine! Mr. Selsbury nickte gnädig. Die Selsburys waren höfliche Menschen, und das Gefühl für Gastfreundschaft war noch nicht ganz in ihm erstickt.

 

»Sagen Sie bitte Miss Ford, daß ich nach Hause gekommen bin und daß ich mich freuen würde, sie in meinem Studierzimmer zu empfangen.«

 

Trenters Gesicht zuckte nervös.

 

»Dort ist sie bereits! Ich sagte ihr sofort, daß niemand hineingehen dürfe, wenn Sie nicht zu Hause seien.«

 

Gordon war verstimmt. Einem Gastgeber ist es stets unangenehm, wenn seine Gastfreundschaft schon vorweggenommen und nicht als ein Geschenk empfunden, sondern als ein Recht beansprucht wird.

 

»So?« sagte er, aber lächelnd. »Nun, Miss Ford kommt aus Australien, und man kann nicht erwarten, daß sie unsere Gewohnheiten kennt. Ich werde zu ihr gehen.«

 

Er klopfte an die Tür, und er hörte, wie eine Stimme »Herein« sagte.

 

»Ich freue mich, dich zu sehen, meine liebe Kusine Diana.« Er sah sich im Zimmer nach ihr um, konnte sie aber nicht entdecken, bis aus seinem eigenen Sessel, in dem er stets am Kamin saß, eine weiße Hand erschien.

 

»Komm doch näher, Gordon!«

 

Sie sprang auf und sah ihn an. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen und es sich bequem gemacht. In ihren Seidenstrümpfen sah sie noch kleiner aus als sonst. Er hielt sie für schön, etwa in dem Sinne, wie er ein nettes Kätzchen für hübsch gehalten hätte. Die ganze Sache kam ihm amüsant vor.

 

»Nun, mein junges Fräulein«, sagte er väterlich und wohlwollend, »hier sind wir also angekommen? Ich hatte niemals erwartet, dich in London zu sehen. Hattest du eine gute Fahrt?«

 

»Bist du verheiratet?« fragte sie gespannt.

 

»Nein, ich bin ein überzeugter alter Junggeselle.«

 

»Ah!« Sie seufzte erleichtert auf. »Ich war während der ganzen Reise besorgt, daß das der Fall sein könne – du hast mir noch gar keinen Kuß gegeben.«

 

Gordon war so wenig auf den Gedanken gekommen, sie zu küssen, als es ihm eingefallen wäre, ihr mit dem Buch auf den Kopf zu klopfen, das er in der Hand hielt. Aber die Selsburys waren von Hause aus sehr höflich, und so neigte er sich und berührte sie flüchtig mit den Lippen.

 

»Setz dich bitte – ich werde Tee für dich bestellen. Es tut mir so leid, daß du auf mich warten mußtest. Wo wohnst du denn?«

 

Sie blitzte ihn mit ihren Augen an.

 

»Hier«, erwiderte sie einfach.

 

Er verstand sie nicht.

 

»Ich meine, in welchem Hotel bist du abgestiegen – wo wirst du die Nacht schlafen?«

 

»Aber das ist doch ganz einfach – hier!« sagte Diana lachend.

 

In kritischen Augenblicken verlor Gordon nie den Kopf.

 

»Du willst damit wohl sagen, daß du kurze Zeit bei mir wohnen willst? Ich würde mich auch sehr freuen, aber leider kann ich dich hier nicht beherbergen, denn ich bin doch ein Junggeselle, und es ist keine Frau im Hause mit Ausnahme der weiblichen Dienstboten.«

 

Er sprach sehr liebenswürdig zu ihr; seine Gründe waren durchaus logisch, und seine Haltung ihr gegenüber war in jeder Beziehung korrekt.

 

»Du brauchst eine Frau hier – es war höchste Zeit, daß ich kam«, sagte sie ebenso unbeirrt wie Gordon.

 

Er unterdrückte einen Seufzer. Die Lage war allerdings recht unangenehm. Andere Männer hätten den Kopf oder ihre Geduld verloren und hätten geschimpft.

 

»Ich werde mich natürlich freuen, wenn du einige Tage hierbleiben willst«, sagte er dann lächelnd. »Telefoniere bitte mit deiner Gesellschafterin und ersuche sie, ihr Gepäck auch herzubringen –«

 

Diana zog ungeniert ihre Schuhe wieder an.

 

»Ich habe eben deine Ruder bewundert. Du hast dich doch damals in Cambridge an dem großen Rennen beteiligt und gewonnen – das finde ich großartig!«

 

»Ja – hm – ja.« Gordon war eigentlich nicht sehr stolz auf seine früheren sportlichen Heldentaten. »Oder soll ich vielleicht telefonieren?«

 

»Mit wem?« fragte sie unschuldig.

 

»Mit deiner Gesellschafterin … die Dame, die mit dir reiste …«

 

»Ach, sei doch nicht so sonderbar! Ich bin doch ganz allein gereist, so allein, wie man nur unter hundertfünfzig Salonpassagieren reisen kann, die sich mit allen möglichen Deckspielen die Zeit vertreiben. Eine gebildete Dame hat ja eigentlich keine gemeinsamen Interessen mit Leuten, die sich an Scheibenwerfen und anderen primitiven Dingen begeistern.«

 

In Gordons Nähe stand ein Stuhl, und er setzte sich. Männer seiner Art bleiben fast immer Herr der Situation, so unangenehm sie auch sein mag. Die Wucht ihrer Persönlichkeit und ihr großes Wissen verleihen ihnen ein solches Übergewicht, daß sie alle Hindernisse aus dem Weg räumen, so schwerwiegend sie auch sein mögen.

 

»Ich spreche jetzt als Vater, als Onkel und als vernünftiger, kluger Vetter zu dir.« Er sah auch wirklich liebenswürdig und väterlich aus. »Du bist ein junges Mädchen, und irgend jemand muß dir einmal sagen, daß du unmöglich allein als Gast in dem Haus eines Junggesellen bleiben kannst.«

 

Sie hatte die Hände auf den Rücken gelegt und stand unbeweglich vor ihm.

 

»Dann muß ich dir erwidern, Gordon, daß das nicht nur möglich ist, sondern daß ich die feste Absicht habe, hier zu wohnen. Ich kann doch nicht dafür verantwortlich gemacht werden, daß du ein Junggeselle bist. Von Rechts wegen müßtest du eben verheiratet sein!«

 

»Diana«, sagte er ernst, »du machst mir Sorge. Es ist ganz ausgeschlossen, daß du hier wohnen kannst. Mein liebes Kind, ich muß doch auf deinen guten Ruf Rücksicht nehmen. Vielleicht wirst du nach Jahren einmal einsehen, wie unschicklich dein Vorschlag war. Ich werde jetzt mit dem Laridge-Hotel telefonieren und dort ein schönes Zimmer reservieren lassen.«

 

Er erhob sich halb, aber sie legte ihre Hände auf seine Schultern und drückte ihn wieder auf seinen Sitz zurück. Er war erstaunt, wie stark sie war.

 

»Wir wollen nicht miteinander streiten. Es gibt nur einen Weg, mich hier aus dem Hause zu bringen – wenn du mich durch einen Polizisten hinauswerfen läßt. Aber ein einzelner Polizist würde nicht viel gegen mich ausrichten. Ich habe einen Revolver in meiner Handtasche … und wenn man mich angreift, zögere ich nicht, sofort zu schießen.«

 

Er sah sie erschrocken an, aber sie erwiderte seinen Blick ruhig und sicher, Sie hatte sich nun einmal in den Kopf gesetzt, hier zu wohnen, und als er es überlegte, erkannte er, daß sie einen von Nietzsches Grundsätzen in die Wirklichkeit umsetzte. Dieser Philosoph sprach allerdings nur von Herrenmenschen.

 

Kapitel 4

 

4

 

Als Diana an einem der nächsten Tage ihre Einkäufe besorgt hatte und nach Hause kam, fand sie im Wohnzimmer eine etwas magere Dame mittleren Alters vor, die es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Sie begrüßte Diana mit einem gleichgültigen Lächeln. Diana hatte den Eindruck, als ob eine Romanfigur früherer Zeit lebendig geworden wäre. Die Fremde trug keinen Hut und strickte an einer feuerroten Wolljacke. Die Nadeln klapperten emsig in ihren Händen und schienen ganz von selbst zu arbeiten.

 

»Guten Tag – Sie sind sicher Miss Ford. Ich bin Miss Staffle – ich hoffe, daß wir gute Freunde werden!«

 

»Das hoffe ich auch!« erwiderte Diana. »Und wir werden noch bessere Freunde werden, wenn ich erst alles verstehe. Sind Sie hierzu Gast?«

 

Hurtig und flink schlugen die Stricknadeln aneinander.

 

Diana sah erstaunt zu – sie hatte noch niemals in ihrem Leben eine Wolljacke oder Strümpfe gestrickt.

 

»Nun ja, Mr. Selsbury dachte, daß Sie sich zu einsam fühlten. Es paßt ja für uns Mädchen nicht, daß wir allein sind, dann brüten wir zuviel.«

 

»Da haben Sie recht – ich brüte in diesem Augenblick auch über etwas nach.« Diana konnte sehr bestimmt auftreten. »Ist es richtig, daß Sie gewissermaßen als meine Anstandsdame engagiert sind?«

 

»Als Ihre Gesellschafterin«, erwiderte Miss Staffle leise.

 

»Nun, dann liegt der Fall ja sehr einfach.« Diana öffnete ihre Handtasche und nahm ein Scheckbuch heraus. »Wie hoch ist Ihr Gehalt?«

 

Miss Staffle nannte den Betrag.

 

»Hier haben Sie Ihr Gehalt für zwei Monate. Es war nicht meine Absicht, eine Gesellschafterin zu engagieren.« Sie klingelte, und die Stricknadeln hörten ganz plötzlich auf zu klappern.

 

»Eleanor, Miss Staffle verläßt das Haus vor dem Tee. Wollen Sie bitte dafür sorgen, daß das Gepäck heruntergebracht wird. Trenter soll ein hübsches Auto besorgen.«

 

»Aber, meine Liebe«, – Miss Staffles Stimme klang erregt und etwas scharf –, »Mr. Selsbury hat mich engagiert, und ich fürchte …«

 

»Mr. Selsbury braucht keine Gesellschaftsdame. Und nun, mein Engel, wollen Sie Spektakel machen oder wollen Sie als ein süßer, zarter Cherub von hier entschweben?«

 

Gordon kam nach Hause und war auf eine stürmische Szene vorbereitet. Er hatte sich aber fest vorgenommen, diesmal hart zu bleiben wie ein Felsen, mochte sie nun leidenschaftlich schelten oder ihn durch Tränen zu erweichen versuchen. Als er eintrat, ließ Diana gerade eine neue Platte auf einem ebenfalls neuen Grammophon spielen und tanzte vergnügt nach den Takten des neuen Schlagers: »Niemand darf mich Liebling nennen!«

 

Er konnte Grammophone im allgemeinen nicht leiden, aber im Augenblick gab es wichtigere Dinge zu besprechen.

 

Von der trefflichen Miss Staffle war nichts zu sehen.

 

»War jemand hier?« fragte er leichthin.

 

»Niemand, mit Ausnahme einer etwas verrückten alten Jungfer, die leider glaubte, daß ich eine Gesellschafterin brauche.«

 

Gordons Mut sank.

 

»Wo ist sie denn?«

 

»Ich habe mir nicht die Mühe gegeben, ihre Adresse zu notieren. Warum fragst du denn eigentlich? War die Gouvernante etwa für dich bestimmt?«

 

»Du hast sie wieder fortgeschickt?« Diana nickte.

 

»Ja, ihr Fleiß war ganz entsetzlich.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Sie hat die rote Strickweste doch nicht für dich gearbeitet?«

 

»Was, du hast eine – hm, eine Frau, die ich engagierte, fortgeschickt?« fragte er streng. »Wirklich, Diana, das geht etwas zu weit!«

 

Diana wechselte sofort das Thema der Unterhaltung.

 

»In zehn Minuten wird der Tee serviert sein. Mein lieber Gordon, deine Schuhe sind so schmutzig, geh schnell nach oben und zieh andere an.«

 

Der Widerspruchsgeist in ihm regte sich, sein Gesicht war rot vor Ärger.

 

»Ich werde nichts Derartiges tun!« sagte er scharf. »Ich will mich nicht in meinem eigenen Hause kommandieren lassen! Diana, die unerträgliche Situation muß jetzt ein Ende haben.« Er schlug mit der Hand schwer auf die Stuhllehne. »Einer von uns beiden verläßt heute abend das Haus. Ich habe genug! Die Dienstboten sprechen schon darüber. Ich sah, wie Trenter lächelte, als du heute morgen im Negligé zum Frühstück herunterkamst. Ich habe eine Stellung, einen guten Ruf und einen Namen in der City. Ich muß meine Interessen gegen die Gedankenlosigkeit selbstsüchtiger, rücksichtsloser Backfische wahren!«

 

»Aber wie kannst du mir einen solchen Namen geben?« fragte sie vorwurfsvoll.

 

»Ich gestatte unter keinen Umständen, daß eine so ernste Situation sich in einen Scherz oder Witz auflöst. Und ich säge noch einmal: Einer von uns beiden verläßt Cheynel Gardens.«

 

Sie dachte einen Augenblick nach, dann ging sie aus dem Zimmer. Gordon hörte, wie sie in der Diele telefonierte, und lächelte. Er hatte gesiegt. Man mußte nur fest auftreten und sich nicht einschüchtern lassen. Mehr war nicht notwendig –

 

»Ist dort die Redaktion des ›Morning Telegram‹? Hier ist Miss Diana Ford. Senden Sie doch bitte einen Reporter nach Cheynel Gardens Nr. 61.«

 

In zwei Sekunden war Gordon neben ihr in der Diele und hielt die Sprechmuschel zu. »Was machst du da?« fragte er erregt.

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»Ein Leben ohne dich ist einfach unerträglich, Gordon«, sagte sie, scheinbar ganz gebrochen. »Wenn du mich aus der Wohnung weist, muß ich ins Wasser gehen.«

 

»Du bist verrückt!« stöhnte er.

 

»Der Leichenbeschauer wird vielleicht auch eine solche Ansicht äußern, wie ich hoffe – unterbrich mich nicht, Gordon. Die Leute der Redaktion wollen mich sprechen.«

 

Nur mit der größten Anstrengung gelang es ihm, sie von dein Apparat zu entfernen. Mit Gewalt nahm er ihr den Hörer aus der Hand.

 

»Machen Sie sich keine Mühe, jemand zu schicken … die Dame befindet sich sehr wohl. Sie ist am Leben – ich meine, es ist kein Selbstmord zu fürchten …«

 

Außer Atem ging er in sein Studierzimmer zurück.

 

»Dein Benehmen ist wirklich schändlich, direkt schamlos! Jetzt verstehe ich auch, warum dieser niederträchtige Dempsi vor dir Reißaus genommen hat und lieber draußen in der Wildnis sterben als länger bei einem so schrecklichen Zankteufel sein wollte!«

 

Gordon war an der Grenze seiner Geduld angekommen. Er war wild und grausam und wußte schon, bevor er zu Ende gesprochen hatte; daß sein Betragen unverzeihlich war.

 

»Es tut mir leid«, sagte er leise.

 

Ihre Gesichtszüge waren verschlossen, ihr Blick undurchdringlich. Er konnte ihre Gedanken nicht erraten.

 

»Es tut mir unendlich leid, das hätte ich nicht sagen dürfen bitte verzeih mir.«

 

Sie sprach noch nicht. Sie sah fast tragisch aus, wie sie hochaufgerichtet vor ihm stand.

 

Gordon schlich sich leise aus dem Zimmer. Dann sprach sie ihre Gedanken laut aus.

 

»Es ist doch einfach Unsinn, daß das Telefon nicht hier im Zimmer ist. Ich werde noch heute abend an das Postamt schreiben, daß das geändert wird.«

 

Das Abendessen verlief sehr schweigsam. Später ging Gordon aus.

 

»Ich habe mich mit einem Freund heute abend zum Theater verabredet«, sagte er.

 

»Ich habe auch seit Jahren kein Schauspiel mehr gesehen«, seufzte sie.

 

»Aber das wird dich nicht interessieren – es ist ein russisches Stück, das soziale Probleme behandelt.«

 

Sie seufzte aufs neue.

 

»Aber ich liebe doch das russische Theater so sehr! Die Haupthelden sterben so schön auf der Bühne, und man kann der Handlung so gut folgen. In einer Oper oder Operette weiß man nie genau, wen die Leute eigentlich darstellen, besonders wenn man den Text nicht genau versteht.«

 

»Dies ist aber kein Stück für junge Damen«, erwiderte er.

 

Aber sie ließ sich nicht überzeugen.

 

»Wenn du mich mitnehmen willst, ich bin in fünf Minuten umgezogen. Ich weiß sowieso nicht, was ich heute abend anfangen soll.«

 

»Du kannst dir doch überlegen, was es morgen zum Frühstück geben soll«, sagte er ärgerlich.

 

Als sie nun allein war, teilte sich ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Grammophon und ihren Grübeleien. Sie mußte zuweilen an Dempsi denken, aber der Gedanke war ihr etwas unbehaglich. Nicht, daß sie diesen etwas merkwürdigen Menschen, den Sohn Michael Dempsis und Marie Stezzagannis, geliebt hätte. Dempsi brach in ihr Leben ein wie ein Erdbeben über das Haus eines kalifornischen Farmers. Er hatte alle ihre Lebensanschauungen umgestoßen und sie furchtbar erschüttert. Aber jetzt erinnerte sie sich nur noch schwach an seine schmächtige, sehnige Gestalt und an seine vielen Reden. Er hatte sich ihr damals zu Füßen geworfen, hatte gedroht, sie zu erschießen, dann hatte er wieder erklärt, daß er sie anbete und ihretwegen seine geistliche Laufbahn aufgeben wolle. An einem heißen Februarmorgen – sie besann sich noch darauf, wie reich die Rosen in dem Garten blühten – hatte er sein ganzes Vermögen vor sie hingeschleudert und einen tränenreichen Abschied von ihr genommen. Dann war er in die Wildnis gelaufen, um niemals wieder zurückzukommen.

 

Tatsächlich war die nächste Wildnis etwa hundert Meilen entfernt, aber er hatte gesagt, daß er in die Wildnis gehen und seinem Leben ein Ende machen wolle, das schon über die Grenzen menschlichen Duldens hinaus durch Kummer und Qualen bedrückt sei. Er wolle dort vergessen und Erlösung von seinen Leiden finden. Wahrscheinlich hatte er auch sein Versprechen erfüllt, soweit es sich um den Weg in die Wildnis handelte. Diana beklagte oder betrauerte ihn nicht. Sie war nur neugierig, unter welchen Umständen er wieder erscheinen und die achttausend Pfund von ihr zurückfordern würde, die er ihr damals wohlverpackt und zusammengeschnürt in einer so großartigen dramatischen Szene vor die Füße geworfen hatte. Er hatte allerdings in der Aufregung sein Ziel verfehlt. Das Bündel Banknoten war in weitem Bogen über ihre Füße hinweggeflogen und hatte die Katze getroffen, die gerade Junge hatte und auf Dempsi losstürzte. So wurde seine wilde Flucht noch beschleunigt.

 

Als die Jahre vergingen, wurde ihr der Besitz des Geldes immer unangenehmer, und sie machte einen schwachen Versuch, seine Verwandten zu entdecken, obwohl sie wußte, daß er nicht einmal einen Vetter hatte. Aber dann geriet das Andenken an Dempsi allmählich in Vergessenheit. Ein romantischer Farmer machte ihr den Hof. Dieses Abenteuer endete jedoch etwas plötzlich, als die sehr unromantische Frau dieses Mannes in einem Auto auf der Bildfläche erschien und ihn wieder mit sich fortnahm.

 

Diana dachte an diesem Abend auch nur fünf Minuten an Dempsi, dann probierte sie einen neuen Walzerschritt aus, den man eventuell auch nach Jazzmelodien tanzen konnte.

 

»Ich verstehe nur nicht«, sagte Trenter, »daß unser gnädiger Herr so etwas erlaubt. Es schickt sich doch nicht, daß eine junge Dame im Hause eines Junggesellen wohnt. Das erinnert mich an einen Fall, den der alte Superbus erzählt hat. Er ist ein Gerichtsvollzieher und sieht immer nur die Schattenseiten des Lebens.«

 

»Ich würde mich schämen, einen Gerichtsvollzieher zum Freund zu haben, selbst wenn man mir eine Million dafür bezahlte«, erwiderte Eleanor, die in dürftigsten und ärmlichsten Verhältnissen groß geworden war. »Eher würde ich mir noch einen Bettler zum Freunde nehmen. Und sorgen Sie sich nur nicht um unsere Miss Diana, Arthur, es ist sehr gut, daß sie da ist. Besonders ich bin sehr froh darüber. Denken Sie denn nicht an mich? Habe ich denn nicht auch eine Moral? Haben die Köchin und ich nicht seit Jahren in demselben Haus mit einem Junggesellen gelebt?«

 

»Mit euch ist das doch etwas ganz anderes Das Haus ist lange nicht mehr das, was es war«, klagte er.

 

Aber seine Trauer hatte einen tieferen Grund, den die beiden nicht kannten. So methodisch Gordon sonst auch war, so zählte er doch niemals seine Zigarren. Diana aber hatte ein gutes Schätzungsvermögen und paßte auf alles auf. Eines Tages fragte sie Trenter so nebenbei, ob Mäuse im Hause seien, und als er das bejahte, meinte sie, es sei doch sonderbar, daß Mäuse Havannazigarren auffräßen.

 

»Es wird noch ein großer Umschwung kommen, ein schrecklicher Wechsel, das fühle ich schon«, sagte er. »Ich weiß es ganz bestimmt. Ich habe immer das zweite Gesicht gehabt, schon als ich noch ein Junge war.«

 

»Dann sollten Sie eine Brille tragen«, erwiderte Eleanor.

 

Kapitel 5

 

5

 

An einem Spätsommernachmittag schaute Heloise van Oynne über den dunklen Fluß und schien in den Anblick eines farbenfreudig gestrichenen Hausbootes versunken zu sein, das am Ufer befestigt war.

 

»Erzählen Sie mir doch noch etwas mehr von Diana, sie muß wirklich faszinierend sein«, sagte sie plötzlich.

 

Gordon wurde unruhig. Er hatte schon viel mehr über Diana erzählt, als er eigentlich wollte und ihm lieb war.

 

»Nun … Sie wissen doch schon alles über sie, ich hoffe, daß Sie sie kennenlernen werden … eines Tages.«

 

Die kleine Pause, die er vor den letzten Worten machte, hatte für eine sensitive Frau eine ganz besondere Bedeutung, und Heloise war sehr hellhörig, denn das gehörte zur Durchführung ihrer Absichten. Heute schien sie wieder unglaublich ätherisch zu sein.

 

Sie war schön, schlank – Diana hätte sie wahrscheinlich mager genannt – und geistreich.

 

In ihren tiefen schwarzen Augen verbärgen sich Geheimnisse und unergründliche Rätsel. Manchmal fürchtete er sich fast vor ihr.

 

Gordon Selsbury war nicht verliebt. Er gehörte nicht zu den Leuten, die leicht ihr Herz verloren. Aber es schmeichelte ihm, daß er ein Geheimnis hatte. Früher hatte einmal jemand von ihm gesagt, daß er etwas Sphinxhaftes an sich habe.

 

Wenn Diana älter und vor allem nicht seine Kusine gewesen wäre, wenn sie sich nicht in dieser meisterlichen Art ganz gegen jedes Herkommen und gegen jede Sitte in seinem Hause festgesetzt hätte und nicht so verteufelt sarkastisch und selbstbewußt gewesen wäre – dann hätte er ihr gegenüber wahrscheinlich so etwas wie Zuneigung, vielleicht auch Liebe, gefühlt.

 

Er dachte an Diana und schaute auf seine Armbanduhr. Er hatte versprochen, zum Abendessen zu Hause zu sein. Heloise hatte die kurze Bewegung gesehen und innerlich gelächelt.

 

»War eigentlich die erste Liebesaffäre Dianas sehr ernster Natur?«

 

Gordon hustete.

 

Heloise konnte ihn in letzter Zeit überhaupt nicht mehr sehen, ohne dauernd über Dianas frühere Liebe zu sprechen. Das war doch ein merkwürdig weiblicher Zug, den er nicht bei ihr vermutet hatte. Er wurde einer Antwort enthoben, denn sie stellte plötzlich eine andere Frage an ihn.

 

»Wer ist dieser Mann, Gordon?«

 

Eine merkwürdige Gestalt war schon zweimal an der Hotelterrasse vorübergerudert, wo sie beim Nachmittagstee saßen, und zweimal hatte der dicke Mann mit dem roten Gesicht zu ihnen heraufgeschaut.

 

»Ich weiß es wirklich nicht – sollen wir nicht besser gehen?«

 

Sie machte keinen Versuch, sich zu erheben.

 

»Wann werde ich Sie wiedersehen, Gordon? Das Leben ist so leer und öde ohne Sie. Hat denn Diana ein Monopol auf Sie? Die Leute würden uns beide nicht verstehen. Ich liebe Sie nicht, und Sie lieben mich nicht; wenn Sie dächten, daß ich Sie etwa liebte, würden Sie mich nicht wiedersehen wollen.« Sie lachte ruhig vor sich hin. »Es ist nur Ihre Seele und Ihr Geist« – sie sprach sehr leise – »nur das vollkommene Verstehen, das uns eint. Liebe oder Ehe bringen das nicht zustande.«

 

»Es ist wundervoll«, sagte er und nickte. »Nein, die böse Welt würde uns nie verstehen.«

 

»Ich sehne mich so sehr nach dem einen Tag.« Sie schaute zu dem Fluß hinüber. »Aber ich wage nicht zu hoffen, daß er jemals kommen wird, dieser Tag meiner Träume.«

 

Auch Gordon Selsbury glaubte nicht daran und hatte schon den ganzen Nachmittag darüber nachgedacht, wie er ihr seine Zweifel sagen könne.

 

»Ich habe mir den Plan unserer Reise nach Ostende genau überlegt, Heloise. Es würde natürlich etwas Wunderbares sein, wenn wir einander den ganzen Tag sehen könnten und miteinander, wenn auch nicht unter demselben Dach, so doch in derselben Umgebung, leben könnten. Die ungestörte Verbindung unserer Seelen – das ist ein zu glücklicher Gedanke. Aber glauben Sie, daß es klug ist, nach Ostende zu gehen? Ich spreche natürlich von Ihrem Standpunkt aus, denn Skandal und Klatsch berühren einen Mann kaum.«

 

Sie wandte ihm ihre sehnsüchtig strahlenden Augen zu.

 

»Was könnten uns die Leute anhaben? Was wollen sie denn von uns sagen? Lassen Sie sie doch klatschen!« sagte sie verächtlich. Er schüttelte den Kopf.

 

»Ihr Ruf ist mir heilig«, erwiderte er bewegt. »Er ist mir teuer und kostbar und darf nicht irgendwie in den Schmutz getreten werden. Die Saison in Ostende ist zwar vorüber, die meisten Hotels sind geschlossen, und viele Kurgäste sind abgefahren, aber trotzdem besteht die Möglichkeit – allerdings nur die Möglichkeit, daß wir einen Bekannten treffen, der womöglich gleich das Schlimmste über unsere unschuldige Seelenfreundschaft dächte. Es ist außerordentlich gefährlich.«

 

Sie lachte hart, als er sich erhob.

 

»Ich sehe, daß Sie sich doch innerlich noch nicht befreien können, Gordon. Es war ein verrückter Gedanke, wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Es tut mir weh.« Er zahlte schweigend, und schweigend folgte er ihr zu seinem Auto. Er war etwas gekränkt. Niemand hatte ihm bis jetzt gesagt, daß er innerlich gebunden sei.

 

»Wir werden nach Ostende fahren. Ich werde Sie treffen, wie wir es schon seit langem verabredet haben«, sagte er, als sie halbwegs zum Richmond-Park gefahren waren.

 

Sie antwortete ihm nicht, aber sie drückte seinen Arm innig.

 

Sie saßen schweigend nebeneinander und träumten.

 

»Es liegt etwas Unendliches in unserer Freundschaft. Ach, Gordon, es ist doch zu wundervoll …«

 

Diana las ein Magazin im Studierzimmer, als Gordon eintrat. Sie ließ das Heft sofort sinken und sprang von ihrem Stuhl auf. Wenn sie las, saß sie an seinem Schreibtisch, der sich gewöhnlich bei seiner Rückkehr abends in einem chaotischen Zustand befand, obwohl er ihn morgens nett und ordentlich zurückgelassen hatte.

 

»Das Essen ist schon lange fertig«, sagte sie kurz. »Du kommst verteufelt spät, mein lieber Gord.«

 

Mr. Selsbury fühlte sich bedrückt.

 

»Ich wünschte, du würdest mich nicht Gord nennen, Diana«, sagte er vorwurfsvoll. »Es klingt – es klingt fast wie Hohn.«

 

»Aber es paßt doch so gut zu dir. Du weißt gar nicht, wie dir dieser Name steht.«

 

Gordon zuckte die Schultern.

 

»Jedenfalls nimmt eine Dame nicht das Wort ›verteufelt‹ in den Mund.«

 

»Wo bist du eigentlich gewesen?« fragte sie mit herausfordernder Offenheit, die ihr besonders eigen war.

 

»Ich bin aufgehalten worden –«

 

»Aber doch nicht in deinem Büro«, erwiderte Diana prompt, als sie sich zu Tisch setzten. »Seit dem Mittagessen bist du nicht dort gewesen.« Mr. Selsbury sah verzweifelt zur Decke.

 

»Ich bin in einer reinen Privatsache aufgehalten worden«, sagte er steif.

 

»Aha!« Diana schien von seinen Worten in keiner Weise beeindruckt zu sein. Sie hatte, wie sie selbst sagte, das Alter längst hinter sich, in dem man sich durch andere Leute imponieren läßt.

 

Gordon hatte sich eingestanden, daß sie sehr hübsch sei: In gewisser Weise war sie sogar eine Schönheit. Sie hatte tiefe, graublaue Augen und eine seidenweiche Haut. Auch gab er zu, daß ihre Figur sehr anmutig und graziös war. Wenn sie älter oder jünger gewesen wäre – wenn sie keinen Bubikopf trüge, wenn sie ein wenig mehr Respekt vor wahrer Bildung und Kenntnissen hätte, wenn sie die Gedankenarbeit mehr schätzte und wenn sie weniger selbstsicher wäre!

 

Er trat nachdenklich ans Fenster und schaute in die Dunkelheit. Diana war für ihn ein ungelöstes Problem.

 

Der Butler erschien in diesem Augenblick im Zimmer.

 

»Trenter!«

 

»Jawohl, Sir?«

 

»Sehen Sie den Herrn dort auf der anderen Seite der Straße den Mann mit dem roten Gesicht?«

 

Es war wieder der Fremde, der am Nachmittag an ihnen vorbeigefahren war. Gordon hatte ihn sofort wiedererkannt.

 

»Ich habe ihn heute schon einmal gesehen – es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen.«

 

»Das ist Mr. Julius Superbus.«

 

Gordon schaute Trenter erstaunt an.

 

»Julius Superbus – was zum Teufel wollen Sie denn damit sagen?«

 

»Welch eine Sprache in Gegenwart einer Dame«, tönte eine Stimme aus dem Hintergrund. Das sah Diana wieder ganz ähnlich.

 

»Was meinen Sie denn – das ist doch ein lateinischer Name.«

 

Trenter lächelte verschmitzt.

 

»Jawohl, Sir, Mr. Superbus ist ein Römer, der letzte Römer in England. Er stammt aus dem Ort Caesaromagnus, das ist ein kleines Dorf bei Cambridge. Ich bin dort in der Nähe in Stellung gewesen, daher weiß ich das.«

 

Gordon runzelte die Stirn.

 

Welch ein merkwürdiger Zufall führte ihm diesen seltsamen Menschen zweimal am Tage in den Weg – einmal in Hampton, wo er mit größter Anstrengung in einem Boot an ihm vorbeiruderte, und dann in Cheynel Gardens, wo er scheinbar in den Anblick eines Laternenpfahls versunken war?

 

»Was ist er denn – ich meine von Beruf?«

 

»Detektiv, Sir«, sagte Trenter.

 

Gordon wurde plötzlich blaß.

 

Kapitel 23

 

23

 

Er hatte die schreckliche Vision, daß sich diese entsetzliche Tragödie tatsächlich abspielte. Im Vordergrund lag er selbst, zu Tode getroffen.

 

»Aber Sie sollen nicht ungerächt sterben, mein Superbus!«

 

Dempsi hatte ihn liebevoll am Arm gefaßt. Julius ging jetzt vom Feuer weg, es war ihm plötzlich zu heiß geworden.

 

»Wissen Sie bestimmt, daß er einen Revolver bei sich hat?«

 

Dempsi nickte.

 

»Eine geladene Pistole? Das ist aber doch ganz gegen das Gesetz. Ein Mann kann deswegen verurteilt werden!«

 

Mr. Dempsi faßte die Sache nicht so ernst auf. In Julius‘ Augen war seine Gleichgültigkeit beinahe schon ein Verbrechen.

 

»Natürlich hat er eine Schußwaffe. Ich habe bis jetzt noch keinen Verbrecher gesehen – ich bin schon einigen begegnet –, der nicht einen geladenen Revolver bei sich gehabt hätte. Und gewöhnlich benützen diese Menschen Dum-Dum-Geschosse und sind sichere Schützen.«

 

Er schien fast darauf stolz zu sein. Julius betrachtete ihn von der Seite und sah nicht sehr geistreich aus.

 

»Ja, das glaube ich auch«, sagte er heiser. »Natürlich wird meine Frau –«

 

Dempsi ließ ihn nicht ausreden. Er wurde plötzlich ernst, als ob ihm die Schwere der Situation zum Bewußtsein käme.

 

»Ihre Frau? Fürchten Sie sich nicht, Superbus!« sagte er ruhig. »Sie soll keinen Mangel leiden. Ich werde für sie sorgen. Und Ihre Tat soll dem Gedächtnis der Nachwelt überliefert werden. Ich sehe schon in meinem Geiste einen großen, schwarzen Marmorblock, einfach und schlicht, aber von erhabener Größe. Kein reicher Schmuck wird ihn zieren, aber in großen, goldenen, flammenden Buchstaben werden die Worte darauf stehen:

 

Seine Stimme zitterte, als er sprach. Er stand in Gedanken schon vor diesem erhabenen Monument und weinte.

 

Julius wischte sich den Schweiß von der Stirn.

 

»Ach ja, das muß sehr schön sein«, brachte er heiser hervor. »Meiner lieben Frau wird das sehr gefallen. Sie hatte schon immer eine gute Meinung von mir, obgleich sie nie darüber sprach. Aber obwohl ich Ihnen sehr zu Dank verbunden bin und niemand liebenswürdiger zu mir sein könnte –«

 

»Können Sie nicht schon jetzt im Geiste sehen, wie sie vor Ihrem Grabstein steht und die Inschrift liest?« fragte Dempsi erregt. »Können Sie sich vorstellen, wie sie tränenden Auges auf diese Marmortafel schaut, die in einer großen Kirche aufgestellt ist, vielleicht unter einem bunten Glasfenster? Wie sie mit stolzen, leuchtenden Augen den Kindern an ihrer Seite erzählt –«

 

»Aber ich habe ja gar keine Kinder«, unterbrach ihn Julius laut.

 

Dempsi machte eine abwehrende Handbewegung.

 

»Sie kann doch wieder heiraten«, sagte er unbewegt. »Sie ist wahrscheinlich noch in der Blüte ihres Lebens und findet noch ein neues Glück.«

 

Mr. Superbus setzte sich ganz verstört.

 

»Sie erschrecken mich furchtbar«, rief er vorwurfsvoll.

 

Dempsi beugte sich über ihn und sprach beruhigend auf ihn ein.

 

»Heute abend schlafe ich in Erwartung, Ihre Stimme zu hören. Zögern Sie nicht, sofort zu rufen. Vielleicht komme ich noch zeitig genug, um Sie zu retten. Ich bete, daß mir das gelingen wird, denn ich liebe Sie. Wir sind vielleicht sogar Blutsverwandte. Wer Sie schlägt, schlägt auch mich – Giuseppe Dempsi!«

 

Mr. Superbus stand auf. Seine Knie zitterten, die Zunge klebte in seinem Munde.

 

»Wenn Sie hier schlafen und Mr. Bobby hier schläft, ist meine Hilfe doch eigentlich nicht mehr notwendig. Es macht mir natürlich nichts aus. Weit davon entfernt. Superbus war stets da zu finden, wo die Gefahr am größten war. Es ist nur meine Frau, an die ich denke. Ich soll in diesem Zimmer schlafen. Das ist doch eigentlich Unsinn.«

 

»Ich werde zur Stelle sein.« Mr. Dempsi betrachtete einen Revolver, den er aus seiner Hüfttasche genommen hatte. Julius wäre beinahe ohnmächtig geworden.

 

Kapitel 24

 

24

 

Die Atmosphäre in einer Küche, so peinlich, sauber und nett sie auch sein mag, langweilt einen intellektuellen Mann. Es bedurfte der epikuräischen Gesinnung eines Materialisten wie etwa des Gatten von Heloise, um sich in einem Raum wohl zu fühlen, in dem der Duft gebackener Pasteten und leckerer Speisen schwebte, der dem Herd und seinen Kochtöpfen seit Jahren entströmte und alle Möbel und Wände durchdrungen hatte.

 

Gordon hatte alles gelesen, was irgendwie lesbar war, er hatte in zwei guten Kochbüchern herumgeschmökert und hatte die alten Zeitungen vorgenommen, die in der Küche aufbewahrt wurden.

 

Glücklicherweise hatte er wenig von Heloise und noch weniger von Diana zu sehen bekommen. Wie außerordentlich begabt sie doch war! Diese Erkenntnis arbeitete sich sogar durch seine ungeheure Erbitterung und Empörung durch. Und wie liebenswert sie war! Er hatte sie väterlich behandeln wollen, er wurde rot, als er daran dachte. Aber wenn er sich nicht in dieses wahnsinnige Abenteuer eingelassen hätte, würde er jemals alle ihre Fähigkeiten erkannt haben? Er bezweifelte es. Er war so am Ende seiner Kräfte, und seine Nerven waren so angespannt, daß er jeden Zug an ihr zergliederte und wertete. Sie handelte ja in seinem eigenen Interesse! Dieser Gedanke machte ihn froh. Aber Dempsi … sein Herz wurde wieder kalt.

 

Die Tür öffnete sich langsam, und er schaute auf. Er hoffte Diana zu sehen. Aber es war eine Enttäuschung, denn Heloise kam herein.

 

»Sie haben mich in eine schöne Lage gebracht«, sagte er ohne Erregung.

 

Sie sah ihn von der Seite an.

 

»Ich habe Sie in eine schöne Lage gebracht?« wiederholte sie ironisch. »Das klingt gut; aber immerhin brauchen Sie noch nicht verrückt zu werden, mein Liebling.«

 

Ein kalter Schauer befiel ihn, als er diese familiäre Anrede hörte.

 

»Ich wünschte, Sie würden mich nicht ›mein Liebling‹ nennen. Das gehört zu Bubiköpfen, Stilkleidern, Kunstseide … und Seelen.«

 

Sie lachte ruhig, sie hatte lange nicht mehr gelacht.

 

»Sie pflegten es gern zu hören, wenn ich Sie so nannte – in den Tagen unserer geistigen Freundschaft. Als Seele noch zu Seele sprach – ach, ich vergaß den ganzen Unsinn! Und vor zwei Tagen wußte ich doch noch alles.«

 

Gordon schaute sie verwirrt an.

 

»Ich verstehe nicht … was meinen Sie denn?«

 

»Ich meine all den Unsinn, über den wir sprachen! Über unsere Seelenverwandtschaft. Jetzt sind Sie ganz anders – so gefallen Sie mir besser! Ich bin immer für gewöhnliche Vernunft gewesen, mein Junge! Ich habe Sie ja erst aufgeweckt!«

 

»Sie haben mich ruiniert, wollen Sie wohl sagen«, keuchte er. »Wenn Sie nicht hierhergekommen wären, hätte ich Diana – Miss Ford – alles erklärt.«

 

»Diana klingt besser«, erwiderte sie. »Wenn ich nicht gekommen wäre!« Sie warf den Kopf spöttisch zurück.

 

»Warum taten Sie es?« fragte er. Selbst jetzt glaubte er die Geschichte noch halb, die sie ihm erzählt hatte.

 

»Weil mich mein Mann betrog«, sagte sie kalt.

 

Gordon wollte seinen Ohren nicht trauen.

 

»Ihr Mann? Sie meinen Ihren Gatten?«

 

Heloise warf die Zigarette weg, stand auf und legte die Hände hinter den Kopf.

 

»Nein, mein Mann ist der aufrichtigste Mensch auf der Welt. Ich spreche von dem – Doppelgänger, wie Sie ihn nennen.«

 

»Sie arbeiten – mit – dem Doppelgänger?« fragte er atemlos.

 

Sie lächelte mitleidig.

 

»Natürlich! Hatten Sie sich etwa eingebildet, daß ich so verrückt wäre, mich wirklich in Sie zu verlieben? Seien Sie doch einmal ehrlich gegen sich selbst und sagen Sie mir, was eine Frau denn an Ihnen bewundern könnte?«

 

»Ich habe doch gar nicht von Liebe zu Ihnen gesprochen«, stammelte Gordon. »Wir haben uns über philosophische Fragen unterhalten – Sie und ich … über seelische Regungen, über Dinge des guten Geschmacks …«

 

»Wenn Sie so viel Erfahrung hätten wie ich, wäre Ihnen bekannt, daß das eben Liebe ist. Vielleicht haben Sie es wirklich nicht gewußt – dann sind Sie wenigstens jetzt aufgeklärt.«

 

Gordon wurde wütend.

 

»An so gemeine Dinge habe ich niemals gedacht«, sagte er scharf. »Wir sprachen von … unwägbaren Dingen. Jede … Liebkosung lag mir fern – ich habe ja kaum Ihre Hand gehalten. Wollen Sie vielleicht behaupten, daß sich irgend etwas anderes hinter unseren Gesprächen über prähistorische Dinge oder hinter unserem Gedankenaustausch über das unterbewußte Ich verbarg?«

 

Zu seinem nicht geringen Schrecken nickte sie.

 

»Natürlich, in dieser Art äußert sich eben bei Hochintellektuellen die Liebe! Wenn diese Leute anfangen, mir von ihrer Wissenschaft, vom Steinzeitalter und all solchen Dingen zu erzählen, dann weiß ich, daß sie einen Narren an mir gefressen haben.«

 

»Sie haben also die ganze Sache nur angezettelt, um mich wegzulocken?«

 

»Begreifen Sie denn das immer noch nicht?« fragte sie ehrlich erstaunt. »Sie haben wirklich eine lange Leitung, Ihre Denkmaschine arbeitet etwas zu langsam! Aber nun haben Sie das Richtige entdeckt. Es war meine Aufgabe, Sie fortzubringen, während der Doppelgänger –«

 

Er sah jetzt alles vollkommen klar, nun gab es keine Geheimnisse mehr für ihn. Nun brauchte er nicht mehr nachzugrübeln, er durchschaute die ganze List. Ihre Gesichtszüge waren finster, sie schien von düsteren Gedanken gequält zu sein.

 

»In meiner Maske hierherkam.«

 

»Er hat mich hintergangen – dieser Mann kann nicht einmal gerade und aufrichtig sein, wenn er eine Röhre entlanggleitet. Und ich bin mit offenen Augen in die Falle gegangen! Ein paar Leute, die mit ihm zusammen gearbeitet haben, sagten es mir. Und es ist auch wirklich so gekommen. Gestern morgen, bevor ich Sie nach Ostende lotsen wollte, ging ich zu ihm, damit er das Geld aus der Smith-Sache mit mir teilen sollte – nein, an der Geschichte selbst war ich nicht beteiligt, meine Freundin machte den alten Esel so verrückt, daß er sie heiraten wollte. Sie mußte aber unerwarteterweise nach Hause zurück, weil ihr ältester Junge krank war, und ich streckte ihr ihren Anteil vor. Sie arbeitete wie ich mit ihm auf der Basis von vierzig bis sechzig Prozent. So habe ich sie auch ausgezahlt. Sie hat ihr Geld redlich verdient, sie hat sich die größte Mühe mit dieser alten Vogelscheuche gegeben. Das einzige Interesse, das er überhaupt hatte, waren Briefmarken, und sie mußte diese ganz verdrehte Sache eingehend studieren. Dan hatte früher versprochen, ehrlich zu teilen – obendrein bin ich noch seine Freundin!«

 

Gordon rieb sich die Stirn.

 

»Ist er nicht Ihr – Ihr Mann?«

 

Sie wurde zornig.

 

»Was, das soll mein Mann sein?« fuhr sie ihn an. »Nun hören Sie aber mal zu. Ich bin eine anständige, verheiratete Frau, denken Sie stets daran, mein Junge! Ich bin schon seit zehn Jahren verheiratet. Ich habe eine hübsche, kleine Wohnung in New York und einen wirklich netten und lieben Mann.«

 

»In New York?« fragte er erstaunt.

 

Sie zögerte.

 

»Nun, er ist augenblicklich gerade nicht in New York – er ist im Zuchthaus. Aber er ist vollkommen unschuldig, das weiß der Himmel. John konnte beweisen, daß er ein Schlafwandler ist, jawohl. Er ist es schon seit Jahren. Als ihn die Polizisten in Attonsmiths Juwelierladen faßten, wußte er überhaupt nicht, wie er dort hingekommen war. Er ist einer der besten Sänger im Männerchor des Sing-Sing-Gefängnisses, aber in einem Monat kommt er heraus. Dann gehe ich natürlich nach Hause zurück, um ihn zu begrüßen.«

 

»Aber er ist doch ein ganz gemeiner Dieb«, sagte Gordon.

 

Heloisens klassisch schönes Gesicht wurde dunkelrot.

 

»Sagen Sie einmal, woher haben Sie denn eigentlich den Mut, andere Leute so zu beleidigen? Ein Dieb! John ist kein Dieb! Er hatte nur furchtbares Pech bei seiner Arbeit. Und dann vergessen Sie nicht, er ist ein Schlafwandler! Wenn er wach ist und seine Gedanken beisammen hat, nimmt er nicht das geringste ohne Quittung. Nur manchmal in der Nacht kommt es über ihn. Nein, John ist ein Gentleman – obgleich er im Polizeipräsidium auf der Liste der besten Geldschrankknacker steht.«

 

»Dann ist er also ein Bankräuber?« sagte er verstehend. »Wie interessant! Und natürlich besucht er nur Banken, bei denen er kein Depot hat!«

 

»Selbstverständlich – das ist sein Beruf. Ich habe ihn früher begleitet, aber er fühlte sich beunruhigt und nervös, wenn ich dabei war. Deshalb habe ich dann auf eigene Faust gearbeitet, und so bin ich auch mit dem Doppelgänger zusammengekommen. Er ist zwar nicht gerade sehr ehrlich, aber er kann etwas. Das muß man ihm lassen. In seinem Fach ist er ungewöhnlich tüchtig. Er behandelt seine Partnerin stets wie eine Dame. Das ist aber auch das einzig Anziehende an ihm.«

 

Sie sprach von ihm, wie eine Schauspielerin etwa von einem Kollegen gesprochen hätte – ohne Ärger, ohne Neid.

 

Gordon hörte nun auf, mit den Fingern auf den Küchentisch zu trommeln und kehrte wieder zur Wirklichkeit zurück.

 

»Kommt denn nun der Doppelgänger hierher? In meiner Verkleidung? Läuft die ganze Sache darauf hinaus? Welch ein Idiot war ich doch! Und Sie waren der Lockvogel … und alle unsere Unterhaltungen über seelische Probleme waren …«

 

»Unsinn!« fiel sie ihm ins Wort. »Es wäre schon an und für sich Unsinn gewesen. Alles derartige Gerede und Gewäsch ist Blech!«

 

»Aber – warum sind Sie denn überhaupt hierher ins Haus gekommen?«

 

»Weil ich mein Geld zurückhaben will – das Geld, das ich meiner Freundin vorgestreckt habe. Er wollte es mir nicht geben. Er log mir vor, daß er das Geld für den Scheck von Smith noch nicht habe. Er sagte, daß er selbst nichts habe, und dabei schwimmt er doch im Überfluß. Er war so auswattiert mit Banknoten, daß man ihn nicht anfassen konnte, ohne daß es raschelte. Als ich ihm sagte, daß ich nicht weiterarbeiten würde, bis er die alte Rechnung beglichen habe, sagte er, ich solle zum Teufel gehen, ich hätte kein Recht gehabt, meine Freundin auszuzahlen, und er würde die Sache auch ohne mich zu Ende bringen. Aber das wird ihm nicht gelingen!«

 

Gordon sah sie düster an.

 

»Warum sagen Sie mir denn das alles? Ist Ihnen nicht klar, daß Sie sich dadurch vollständig in meine Hand gegeben haben? Ich brauche nur die Polizei anzurufen, dann sitzen Sie fest!«

 

Sie war nicht im mindesten verwirrt.

 

»Mein Junge, Sie haben wirklich einen Verstand wie eine Fledermaus! Vergessen Sie alles, Onkel Artur!«

 

Ihre Worte trafen ihn wie Schläge. Onkel Artur! Es war ja alles hoffnungslos!

 

»Wie kann ich denn diesen Doppelgänger erkennen – wenn er kommt? Wann erwarten Sie ihn denn?«

 

Was sich auch immer ereignen sollte, er war fest entschlossen, den Plan des Doppelgängers zum Scheitern zu bringen.

 

»Warum wollen Sie denn das wissen? Dan wird auf einmal dasein, ganz natürlich! Er ist der schlaueste und tüchtigste Kerl in seinem Fach. Unser gespanntes Verhältnis veranlaßt mich nicht dazu, ihn ungerecht zu beurteilen. Er ist einer von den ganz Großen. Er hat zwar keine Begabung für einfache Division, aber wir sind eben nicht alle als Mathematiker geboren. Wenn der kommt, werden Sie es nicht wissen. Er kommt auch nicht immer in der Rolle seines Opfers. Manchmal spielt er auch sehr geschickt einen Butler.«

 

Gordon erschrak und dachte an Superbus. Aber es erschien ihm doch unmöglich, daß der Mann sich soweit erniedrigen sollte, eine solche Rolle zu spielen.

 

»Glauben Sie, daß der Detektiv –?«

 

»Ich habe es früher schon erlebt, daß Dan als der Detektiv aufgetreten ist, der seine Opfer bewachen sollte. Das ist sogar eine seiner Lieblingsverkleidungen. Er ist unerschöpflich in seinen Erfindungen. Aber, mein Junge, ich gebe Ihnen hier Aufschlüsse, die mehr als eine Million Dollar wert sind. Sie sollten mir auf den Knien danken. Aber Sie sind natürlich ein undankbares Geschöpf. Wissen Sie, seine beste Rolle ist eigentlich, wenn er den Geistlichen spielt, der auf Besuch kommt. Darin ist er einfach unübertrefflich. Er hat mir erzählt, daß er einmal eine Viertelmillion Dollar auf diese Weise aus der Kirche herausgeholt hat.«

 

»Ein Pfarrer – heute war doch einer hier?« sagte Gordon nachdenklich. »Aber warum machen Sie sich denn nicht den Gesetzesparagraphen zunutze, nach dem Sie frei ausgehen, wenn Sie gegen ihn als Zeugin auftreten?«

 

»Sind Sie denn ganz verrückt? Sie beleidigen mich, wenn Sie mir so etwas zumuten! Die ganze Sache ist eine reine Privatangelegenheit zwischen Dan und H. C. Ich heiße nämlich Chowster. Mein Vater war der Pastor Chowster in Minneapolis. Ich habe eine höhere Schule besucht und bin zu sehr Dame, als daß ich jemand bei der Polizei verpfeifen würde. Abstammung und Erziehung lassen sich nicht so leicht vergessen!«

 

Er bedeckte das Gesicht mit den Händen.

 

»Was bin ich doch für ein Esel gewesen, es ist unglaublich!«

 

Heloise betrachtete ihn. In dieser Haltung war er ihr interessanter.

 

»Ich werde es nicht dulden! Was sich auch ereignen mag, ich werde ihm einen Knüppel zwischen die Beine werfen!«

 

»Was meinen Sie?« fragte sie ironisch.

 

»Soll ich vielleicht ruhig zusehen, wie ein Verbrecher …«

 

»Gebrauchen Sie nicht solche Ausdrücke!« protestierte sie.

 

»… ungestraft die menschliche Gesellschaft ausplündert?«

 

»Mein John sagt, daß er einen Geldschrank sogar mit einer Haarnadel öffnen könne –«

 

»Ich werde es der Polizei berichten«, sagte Gordon entschieden. »Es war töricht von mir, daß ich es nicht gleich tat. Vielleicht werde ich dadurch bloßgestellt, es mag meinen gesellschaftlichen Ruin bedeuten … aber ich werde dafür sorgen, daß Sie beide hinter Schloß und Riegel kommen – Sie alle beide!«

 

Sein Wutausbruch machte aber keinen Eindruck auf sie.

 

»Mein honigsüßer Liebling!« girrte sie. »Werde doch nicht verrückt, mein Baby.«

 

Er fuhr zornig auf sie los.

 

»Nur Sie sind daran schuld, daß Miss Ford glaubt, zwischen uns bestehe irgendein Verhältnis. Ich könnte Ihnen alles verzeihen, aber das nicht!«

 

»Ach, haben Sie mich nie geliebt?« verspottete sie ihn. »Oh, mein lieber Junge, lache doch, mein Liebling, mein reizendes Baby, zeige doch einmal deine reizenden kleinen Zähnchen!«

 

Diana war in die Küche getreten und hatte die paar letzten Worte gehört.

 

»Wollen Sie so freundlich sein, Ihre Liebeserklärungen für eine Zeit aufzuheben, wenn Sie wieder aus dem Hause sind?« fragte sie böse. Gordon erschrak, als er ihre Stimme vernahm.

 

»Aber warum denn?« fragte Heloise und lachte Diana unverschämt an. »Hat denn ein Verbrecher nicht auch das Recht auf ein bißchen Liebe? Ich will ja gern zugeben, daß Onkel Artur nicht so hübsch und süß ist wie Ihr lieber Wopsy, aber er ist in Tante Lizzies Augen wirklich ein netter Junge.«

 

Gordon wäre dazwischengefahren, wenn er nicht vollständig gebrochen gewesen wäre. Er ging in die Aufwaschküche und ließ seinen schmerzenden Kopf auf die Messerputzmaschine sinken.

 

Diana fühlte, daß es absurd war, sich einer solchen Frau gegenüber zu antworten. Aber sie tat es dennoch.

 

»Mr. Dempsi ist – ein lieber Freund von mir. Wie können Sie ihn mit Ihrem Komplicen vergleichen?« Es war ihr elend zumute, denn sie erkannte plötzlich bestürzt, daß der Doppelgänger entschieden der Begehrenswertere von beiden Männern war. Heloise hatte sie gespannt beobachtet.

 

»Ach, die letzten Ereignisse haben mir einen Stoß versetzt. Es ist wirklich keine Beschäftigung für mich«, seufzte Heloise.

 

Ihre Worte machten Eindruck. Dianas Gesicht hellte sich auf und nahm einen freundlichen Ausdruck an.

 

»Es tut mir manchmal wirklich leid um Sie.«

 

Heloise senkte den Kopf.

 

»Ich bin fast immer traurig. Wenn Sie wüßten – es ist ein Höllenleben«, sagte sie bitter.

 

Diana fühlte Mitleid mit ihr. Die Verlassenheit und das tragische Geschick dieser Frau riefen nach Hilfe.

 

»Daran hätte ich eben denken sollen«, sagte Diana gütig. »Es tut mir leid, daß ich eben so hart zu Ihnen war.«

 

Der größte Stratege zeichnet sich dadurch aus, daß er den Augenblick erkennt, in dem der Feind zu schwanken beginnt. Heloise brachte jetzt ihr schweres Geschütz in Front.

 

»Ich war gut, bevor ich ihm begegnete!« Sie schluchzte unterdrückt.

 

Gordon hörte zu seinem Entsetzen diese Worte und kam eilig in die Küche zurück.

 

»Diese Heuchelei –«

 

»Seien Sie sofort ruhig!«

 

Der Mut verließ ihn wieder, als Diana ihn zornig anblitzte.

 

»Er hat mich erst schlecht gemacht, er hat mich in den Abgrund gezogen –«

 

Heloise kämpfte um ihre Sicherheit und Freiheit. Sie war eine ausgezeichnete Schauspielerin.

 

Dianas Stimme zitterte, als sie sich an den bestürzten Mann wandte.

 

»Sie gemeiner, brutaler Mensch! Daß es überhaupt möglich ist, solch einen Verbrecher auf die Menschheit loszulassen! Ich habe das schon geahnt. Sie sind ein Tiger, ein Vampir in Menschengestalt! Warum verlassen Sie ihn denn nicht, Heloise?« fragte sie liebevoll.

 

Heloise wischte sich die Augen und schluchzte.

 

»Er hat mich vollständig in der Hand. Diese Männer lassen eine Frau nicht wieder los. Ich bin ihm verfallen bis zum Ende!«

 

Gordon sprang auf. Sie wich angstvoll vor ihm zurück.

 

»Lassen Sie nicht zu, daß er mich anrührt!« rief sie erschrocken.

 

In der nächsten Sekunde hatte Diana den Arm um sie gelegt.

 

»Zurück!« donnerte sie Gordon an. »Schlägt er Sie auch?«

 

Heloise nickte mit jener zögernden Schüchternheit, die so überzeugend wirkt.

 

»Ich bin manchmal am ganzen Körper schwarz und braun und blau«, weinte sie. »Er wird mich sicher deshalb wieder furchtbar schlagen. Aber kümmern Sie sich nicht um mich, Miss Ford, ich bin es nicht wert. Ich muß bei ihm bleiben bis zum bitteren Ende – der Himmel mag mir helfen!«

 

»Sie gemeiner Schuft!«

 

Heloise weinte. Gordon war so entsetzt, daß er auch hätte weinen mögen.

 

»Warum können Sie ihn denn nicht verlassen? Sind Sie mit ihm verheiratet?«

 

Heloise hatte sich wieder etwas beruhigt. Sie lächelte jetzt unendlich traurig, und ihre müden, abgespannten Gesichtszüge schienen eine Geschichte von maßloser Qual und Erniedrigung zu erzählen.

 

»Diese Art Männer heiraten nicht«, sagte sie leise.

 

Diana schaute Gordon mit Basiliskenaugen an.

 

»Aber er wird Sie jetzt heiraten«, erwiderte Diana.

 

Heloise warf sich Gordon zu Füßen. Er machte nicht einmal den Versuch, seine Hand fortzuziehen, als sie sie umklammerte. Dieser entsetzliche Traum mußte doch einmal zu Ende sein! So ungeheuerliche Dinge konnten sich doch in einer wohlgeordneten Welt nicht zutragen! Er brauchte sich ja nur ruhig zu verhalten – gleich würde ihn Trenters Stimme wecken: »Es ist acht Uhr, mein Herr. Ich fürchte, es regnet heute.« Trenter entschuldigte sich immer wegen des schlechten Wetters. Und dann würde er die Augen öffnen …

 

Aber Heloisens seufzende Stimme weckte ihn.

 

»Du hast gehört, was die liebe junge Dame eben gesagt hat – heirate mich, Dan! Ach bitte, heirate mich!«

 

Gordon lächelte wie ein Narr. Diana hielt das für ein höhnisches, sarkastisches Grinsen.

 

»Mach mich doch wieder so gut, wie ich war, als du mich von Connecticut fortlocktest«, bat Heloise.

 

Sie hatte zum Schluß nur noch ganz leise gesprochen, und nun erstickten ihre Worte in einem Schluchzen. Für einen Augenblick erlangte Gordon seine Selbstbeherrschung wieder.

 

»Was soll denn dieses ganze Geplärr bedeuten?« fuhr er sie an und versuchte, seine Hand frei zu machen.

 

»Mann!« rief Diana wütend. »Sehen Sie sich jetzt vor!«

 

»Ich sage Ihnen –«

 

»Sie werden das Mädchen heiraten!«

 

»Ich – ich kann nicht – und ich will auch nicht! Schert euch doch alle zum Teufel!«

 

Heloise brach unter diesem Schicksalsschlag vollkommen zusammen.

 

»Aber du hast es mir doch versprochen – denke doch an deine heiligen Eide! Du wirst dich doch noch an dein Wort halten! Sage doch, daß es nicht wahr ist, Dan!«

 

Diana empfand das tiefe Leid dieser Frau.

 

»Du meinst es doch nicht so, Dan – du hast doch eben nur einen Scherz gemacht!«

 

Gordon zeigte seine Zähne und schnitt eine Grimasse.

 

»Oh, ich sehe, du lächelst wieder – du siehst mich wieder gütig an! Wir werden in Zukunft dieses elende Handwerk lassen – diese liebe junge Dame hat recht. Wir wollen ein anderes Leben beginnen. Nicht wahr, Dan, du versprichst es mir? Ich werde dann wieder deine liebe, kleine Frau sein, die auf der Veranda sitzt, während du die Hühner im Garten fütterst!«

 

»Das verdammte Hühnerfutter!« rief Gordon außer sich vor Wut. »Ich wünsche Sie und Ihre ganze Veranda zum Kuckuck! Heiraten soll ich Sie auch noch? Diana, kannst du denn dieses ganze Theater nicht durchschauen? Sie spielt dir etwas vor! Zwischen uns besteht keine Beziehung!«

 

»Er verhöhnt mich auch noch!« stöhnte Heloise und warf sich auf den Boden. Diana war sofort an ihrer Seite und hob sie wieder auf.

 

»Kommen Sie mit mir, mein Liebling, alle Bitten an diesen steinharten Wüstling sind doch nur umsonst und verschwendet und Sie können obendrein noch lachen!«

 

»Ich lache nicht«, sagte Gordon beleidigt. »Was zum Teufel sollte ich denn über diese Gemeinheit auch noch lachen! Wenn es überhaupt etwas zu lachen gäbe, dann könnte man über Sie lachen, die sich von einer solchen Gaunerin hereinlegen läßt!«

 

Diana sah ihn verächtlich an und wandte sich dann ganz dem Mädchen zu.

 

»Wenn ich Ihnen nun das Geld zur Rückreise schenkte, würden Sie dann nach Hause fahren?«

 

Heloise nickte schwach.

 

»Ich werde es Ihnen morgen geben. Kommen Sie jetzt.«

 

Heloise befreite sich sanft aus ihren Armen.

 

»Nein – ich will hierbleiben«, sagte sie ganz gebrochen. »Ich muß Dan etwas sagen – etwas, das keine andere Frau hören soll.«

 

Diana wurde bleich.

 

»Oh, ich verstehe«, sagte sie freundlich und ging hinaus.

 

Heloise wartete, schlich sich zur Tür, lauschte eine Weile, dann drehte sie sich plötzlich in ausgelassenster Freude um.

 

»Holla!« sie tanzte wild in der Küche umher. »Mein Junge, das ist eine Frau! Heloise, dein Gehalt ist erhöht, wie stehst du nun da?«

 

»Sie – Sie verruchtes Frauenzimmer!« rief Gordon atemlos. »Wie dürfen Sie – das ist doch die äußerste Schamlosigkeit!«

 

»Ach, sehen Sie einmal an!« Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn von unten herauf an. »Ich muß mir doch auch etwas auf die Seite legen, seien Sie doch vernünftig, Mann! Ich habe zur Zeit kein Geld, man könnte keine zwei Dollar aus mir herauspressen. Wenn Dan nun keinen Erfolg hat, wo soll ich denn mein Reisegeld herbekommen? Seien Sie doch vernünftig, mein Liebling!«

 

»Sie haben Miss Ford hintergangen!«

 

»Aber nun schlägt es dreizehn! Heiliger Michael! Haben Sie sie vielleicht nicht hintergangen? Sie sind ein dummer Esel, daß Sie dieses hübsche Mädel gar nicht verdienen. Glauben Sie nur nicht, daß ich sie verachte, weil man leicht mit ihr fertig werden kann! Diana ist wirklich gut. Sie haben mich belogen, als Sie sagten, Sie seien verheiratet. Vielleicht sind Sie tatsächlich verheiratet, aber nicht mit Diana! Die ist viel zu vernünftig, um einen solchen Einfaltspinsel zu nehmen!«

 

Er ging in der Küche wütend auf und ab, sprach zu sich selbst, dann blieb er plötzlich vor ihr stehen.

 

»Sie haben mich der schändlichsten Gemeinheiten angeklagt, Sie haben mir meinen guten Ruf genommen – in ihren Augen bin ich jetzt der Doppelgänger!«

 

Heloise steckte sich wieder eine Zigarette an, setzte sich auf die Tischkante und baumelte mit den Beinen.

 

»Na, mein Junge, Sie haben aber wenig Sinn für Humor!« sagte sie vergnügt. »Diana kann sich gut kleiden – Donnerwetter, das Kleid, das sie heute nachmittag trug, war fabelhaft, dagegen sehe ich alt aus.«

 

Er beruhigte sich etwas, sah die Nutzlosigkeit ein, mit ihr zu streiten. »Ich werde noch in einem Irrenhaus enden! Aber ebenso sicher wird der Doppelgänger ins Zuchthaus kommen!«

 

»Kümmern Sie sich bloß nicht um anderer Leute Angelegenheiten! Dieses kleine Spiel hier geht sehr bald seinem Ende zu. Ich habe meine Aufgabe glänzend gelöst. In einigen Wochen kommt mein John nach Hause, und mit dem Doppelgänger werde ich auch noch fertig werden.«

 

»Meinen Sie, daß er doch noch kommt? Werden wir ihn sehen?« fragte Gordon gespannt.

 

»Wir werden uns sehen, und er wird fortgehen«, erwiderte sie geheimnisvoll. »Und er muß diesmal ehrlich mit mir teilen. Wenn er glaubt, daß ich mich diesmal mit zwanzig zu achtzig zufriedengebe, täuscht er sich. Ich kenne es von Hause aus nicht anders, als daß fünfzig zu fünfzig geteilt wird.«

 

»Jetzt warne ich Sie aber. Die Sache ist schon zu weit gediehen«, sagte Gordon nachdrücklich. »Im Geldschrank sind fünfzigtausend Dollar eingeschlossen, und deswegen wird er wohl hierherkommen wollen. Aber woher er das wissen konnte –«

 

»Fünfzigtausend?« fragte sie atemlos. »Das erklärt alles. Sie haben mir in vertraulichen Gesprächen einmal gesagt, daß Sie höchstens tausend Pfund zu Hause hätten, aber nicht –«

 

»Das Geld ist auch nur ausnahmsweise hier, um einen Amerikaner auszuzahlen«, erwiderte er ungeduldig. »Außerdem habe ich gar keinen Grund, Ihnen zu erklären, warum ich Geld in meinem Hause habe. Es liegt in meinem Geldschrank – das genügt doch!« Heloise war nachdenklich geworden.

 

»Er wußte es also – dieser gemeine Mensch, dieser Heuchler! Kann man da nicht alle Lust verlieren? Fünfzigtausend Dollar! Und das wollte er alles so mir nichts, dir nichts allein schlucken?«

 

Sie schien Gordons Gegenwart vergessen zu haben. Die Ungeheuerlichkeit dieses Verrats war zu groß.

 

»Deshalb wollte er also allein arbeiten! ›Gehe nach Ostende‹, sagte er, ›und überlasse mir das übrige.‹ Und das waren fünfzigtausend Dollar. Mir erzählte er, daß er tausend Pfund hier zu finden hoffte! Eine solche Gemeinheit ist doch noch nie in unseren Kreisen vorgekommen.«

 

»Was Sie da alles erzählen, interessiert mich nicht im mindesten«, sagte Gordon mürrisch.

 

»Aber er wird diesmal anständig mit mir teilen«, fuhr Heloise grimmig fort. »Er wird sich ordentlich benehmen, selbst wenn es ihm schwerfällt. Ja, mein Herr, zwischen Dan und Heloise Chowster muß es anständig zugehen! Dieser schamlose Mensch, dieser verdammte Affenpinscher!«

 

Die Hinterlist dieses Mannes änderte plötzlich ihre ganze Lebensanschauung. All ihre Ideale wankten.

 

»Es wird überhaupt nichts geteilt hier, verstehen Sie?! Ich werde mich doch nicht ausplündern lassen – denken Sie denn, ich bin ein Narr?«

 

Sie sah ihn an, als ob sie in seinem Gesicht das Gegenteil lesen wollte. Aber plötzlich änderte sich ihr ganzes Wesen wieder, als sie Dianas Schritte auf der Treppe hörte.

 

»Ich bitte dich um nichts mehr, Dan, du bist ja doch hart wie Stein. Ich wünsche dir alles Gute. Willst du mir nicht noch ein letztes Mal deine Hand geben?«

 

Gordon starrte sie entsetzt an, dann fielen seine Blicke auf Diana, und er verstand.

 

»Wir wollen doch nicht so voneinander scheiden, Dan! Ich verzeihe dir alles, was du mir angetan hast. Lebe wohl!«

 

Sie streckte zaghaft die Hand aus. Gordon hätte sie am liebsten links und rechts geohrfeigt.

 

»Guten Abend!«

 

»Sie niederträchtiger Halunke, wollen Sie ihr wohl sofort die Hand geben?« fuhr ihn Diana an.

 

Er gehorchte widerwillig. »All right – Guten Abend!«

 

Diana wußte zwar, daß Verbrecher abgestumpft und gefühllos waren, aber wie gemein und brutal sie sein konnten, hatte sie sich nie träumen lassen.

 

»Kommen Sie mit mir, meine Liebe. Sie sollen ihn nicht wiedersehen.«

 

»Danke vielmals«, sagte Gordon. »Das sind die ersten angenehmen Worte, die ich von Ihnen höre.«

 

Diana behandelte ihn mit der Verachtung, die er ihrer Meinung nach verdiente.

 

»Miss Ford, darf ich Sie um etwas bitten?« Heloise sah nachdenklich auf ihre Wohltäterin.

 

»Aber sicherlich.«

 

»Diese Kleider passen nicht recht zu meiner Gemütsverfassung. Sie denken natürlich, ich sei verrückt. Aber Kleider bedeuten sehr viel, selbst für eine Frau meiner Art. Und sie sind etwas zu bunt und schreiend für ein Mädchen mit gebrochenem Herzen. Wenn Sie ein etwas ruhigeres und ernsteres Kleid hätten, das mehr zu meiner Trauer paßte …«

 

Diana lächelte. Wie gut sie das verstehen konnte!

 

»Ich kann Ihnen das sehr gut nachfühlen. Kommen Sie in mein Zimmer, Heloise. Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Ich werde Superbus schicken, damit er auf diesen Mann hier aufpaßt!«

 

Kapitel 16

 

16

 

Diana fühlte sich unsäglich erschöpft. Im allgemeinen war sie unermüdlich, aber die vielen Anforderungen, die augenblicklich an ihre Energie und Nervenkraft gestellt wurden, überstiegen doch ihre Kräfte.

 

Als Dempsi gegen Abend unruhig wurde, weil er Hunger hatte, fiel es ihr ein, daß sie ganz vergessen hatte, sich um das Abendessen zu kümmern. Obendrein kam noch ein Mann, der ärmlich gekleidet war und nicht sehr sauber aussah. Sein hageres, gelbes Gesicht war unrasiert, und er hielt den Kopf etwas schief. Bei dem Anblick Dianas wich er sichtlich zurück.

 

»Guten Abend, Miss«, sagte er und langte an seine Mütze. »Ich bin wegen des Geldes gekommen.«

 

»Wegen des Geldes?« fragte sie überrascht.

 

»Ich will mir mein Geld holen – ich habe gestern die Fenster geputzt.

 

Nun erinnerte sie sich an ihn. Eleanor hatte sich gestern über ihn beschwert, daß er im Studierzimmer überall herumspionierte, und hatte Zweifel an seiner Ehrlichkeit geäußert.

 

»Ich heiße Stark«, sagte er ermutigend.

 

»Ja, ich kann mich jetzt besinnen.« Sie ging, um ihre Handtasche zu holen. Als sie wieder zurückkam, betrachtete er das Türschloß mit mehr als gewöhnlichem Interesse. Um seine Neugierde zu entschuldigen, sagte er, daß er früher Schlosser gewesen sei.

 

»Mr. Selsbury ist nicht zu Hause?«

 

»Nein.«

 

»Und Mr. Trenter ist auch nicht da?«

 

»Nein.«

 

Seine Augen glänzten.

 

»Wird Mr. Selsbury lange fortbleiben? Ich wollte wegen einer Anstellung mit ihm sprechen.«

 

»Ich weiß nicht, wann er wieder zurückkommt. Aber es sind verschiedene Männer hier im Hause – wollen Sie einige von ihnen sehen?«

 

Er machte ein langes Gesicht.

 

»Nein, ich danke Ihnen, Miss.«

 

Sie schloß die Tür hinter ihm zu und war neugierig, wann der Detektiv endlich kommen würde. Es lag doch noch eine ziemliche Geldsumme im Schrank, und Leute, die nichts von ihrer Verpflichtung gegenüber Dempsi wußten, konnten denken, daß noch mehr da sei.

 

Dempsi war nicht im Studierzimmer, als sie jetzt hereinkam. Schnell ging sie zu dem Geldschrank. Es war eines dieser altmodischen Exemplare, die außer der Vorrichtung zur Buchstabeneinteilung noch ein besonderes Schloß hatten. Gordon hatte ihr gesagt, daß er den Schlüssel dazu überhaupt nicht mehr benützte. Er hatte ihn einmal verlegt und einen Schlosser rufen lassen müssen, um die Tür zu öffnen. Sie durchsuchte den ganzen Schreibtisch, zog alle Schubladen auf und fand schließlich auch einen kleinen Briefumschlag, auf dem obendrein noch »Schlüssel« stand.

 

»Gott sei Dank!« sagte sie. Schnell schloß sie den Geldschrank ab. Nun war er gegen alle gesichert, die durch List oder Anwendung von Gewalt vielleicht das Schlüsselwort erfahren hatten.

 

*

 

Mr. Julius Superbus kam gewichtig daher. Er stieg aus einem Auto, stellte sein ganzes Gepäck zunächst auf den Gehsteig und bezahlte den Chauffeur. Er gab ihm einen halben Schilling Trinkgeld, denn Diana hatte ihn angewiesen, »keine Ausgaben zu sparen«.

 

Dann nahm er seine Habseligkeiten unter die Arme, stieg die Treppe zur Haustür empor, beugte sich und drückte die Klingel mit seiner Nasenspitze. Das war eine Methode, die er sich selbst ausgedacht hatte und die seine Persönlichkeit gut illustrierte.

 

Diana öffnete die Tür persönlich.

 

»Sie haben mich gerufen – ich bin nun gekommen.«

 

Sie war offensichtlich sehr erleichtert, als sie ihn sah, und führte ihn ins Speisezimmer.

 

»Mr. Superbus, ich stelle große Anforderungen an Sie, aber ich bin sicher, daß ich mich nicht vergeblich an Sie wende. Ich bin in großer Bedrängnis.« Er neigte den Kopf.

 

»Haben Sie alle Taschen Ihrer Kleider durchsucht?« fragte er ruhig. »Sie haben etwas verloren. Ich weiß das sozusagen aus mir selbst heraus. Es ist natürlich das einfachste von der Welt, zunächst die Dienstboten zu verdächtigen. Aber haben sie es auch getan? Meistens sind die Leute unschuldig –«

 

»Ich habe nichts verloren, Mr. Superbus. Mein Onkel ist hier –«

 

Sie wußte nicht recht, wie sie ihm die ganze Sache beibringen konnte. Sollte sie sich ihm ganz anvertrauen? Das war eine kühne Idee, aber sie hatte vielleicht ihre Vorteile.

 

»Verwandte halten sich besser voneinander getrennt«, sagte der Römer mit Nachdruck. »Sie kommen nur, um Geld zu borgen, essen Sie vollständig arm, und wenn sie gehen, haben sie nicht einmal ein gutes Wort für Sie. Besonders die Onkels machen es so. Aber überlassen Sie ihn nur mir. Ich werde ihm schon von Mann zu Mann den Fall erklären. Er wird dieses Haus« – er sah auf die Uhr – »in fünf Minuten verlassen haben.«

 

Sie klärte ihn kurz auf: Ihr Onkel war hier ein willkommener Besuch. Er war ein liebenswürdiger Herr, sah Mr. Selsbury äußerlich sehr ähnlich, war noch jung, nur … sie zeigte mit dem Finger auf die Stirn. Mr. Superbus war sofort im Bilde.

 

»Ja, da kann man nur mit Takt etwas erreichen – mit Takt und mit Humor. Man muß ihm die Überzeugung beibringen, daß er alles nach seinem eigenen Kopf tut. Und dann natürlich: eiserne Hand im Sammethandschuh. Das ist ein Ausdruck, den ich selbst geprägt habe«, fügte er bescheiden hinzu. »Überlassen Sie den Mann nur mir. Sie hätten überhaupt keinen Besseren als mich finden können. Wir haben nämlich auch verschiedene Verrückte in unserer Familie.«

 

Diana trat einen Schritt zurück.

 

»Und seine gute Frau ist auch hier?«

 

»Ja, Tante Lizzie.«

 

»Das macht die Sache ein wenig peinlich«, entgegnete Mr. Superbus bedauernd. »Man kann ihn dann nicht gut beobachten, wenn er schläft, es sei denn, daß Tante Lizzie nichts dagegen hätte. Ich bin ja auch ein verheirateter Mann.«

 

»Das würde ihr sicher nicht passen. Ich glaube auch nicht, daß das notwendig ist. Es genügt, wenn Sie tagsüber auf ihn aufpassen. Vor allem darf er unter keinen Umständen das Haus verlassen.«

 

Mr. Superbus lächelte.

 

»Darüber brauchen Sie sich nicht die geringsten Sorgen zu machen, Madam.«

 

Diana gab ihm noch weitere Instruktionen. Dann eilte sie in das Studierzimmer, um den aufgeregten Dempsi zu beruhigen, dessen dringende Rufe sie schon zweimal gezwungen hatten, ihre Unterhaltung mit dem Detektiv zu unterbrechen.

 

Mr. Superbus ging in tiefen Gedanken zur Küche. Er konnte keine Ähnlichkeit zwischen Gordon Selsbury und ihrem Onkel entdecken. Aber er sah, daß Tante Lizzie sich anscheinend hier nicht wohl fühlte.

 

»Guten Tag«, sagte er. »Mein Name ist Smith.«

 

Gordon zeigte auf die Tür.

 

»Machen Sie, daß Sie hinauskommen, und schaffen Sie sich einen anderen Namen an!«

 

Mr. Superbus war belustigt.

 

»Ich dachte, ich wollte einmal herkommen und nach Ihnen sehen, Onkel Artur«, sagte er und machte eine Verbeugung vor der Dame. »Und auch nach Tante Lizzie.«

 

Seine Augen leuchteten vor Mitgefühl.

 

»Scheren Sie sich fort!« brüllte Gordon, rot vor Wut. »Gehen Sie zurück zu der Dame, die Sie angestellt hat, und sagen Sie ihr, daß ich ihr zehn Minuten Zeit lasse, mir meinen Schlüssel wiederzugeben und diesen verteufelten Dempsi aus dem Hause zu werfen!«

 

»Was hat denn das nun alles für einen Zweck?« fragte Heloise. »Wenn du irgendwelchen Spektakel machst, kommst du am Montag vor den Richter.«

 

»Das ist mir ganz gleich!« Gordon war an der Grenze seiner Geduld angekommen. »Das ist mir wirklich ganz gleich«, schrie er. »Ich bin hier Herr im Hause, ich kann tun, was ich will!«

 

»Und was bin ich denn eigentlich hier? Vielleicht eine Statistin? Habe ich hier nicht auch noch ein Wörtchen mitzusprechen? Um mich kümmerst du dich überhaupt nicht mehr! Nun ja, ich bin ja schließlich froh, daß du dich hier so benimmst. Es ist einfach großartig – verteufelt, daß ich mich von einem solchen weiblichen Seepolypen fangen ließ, aber ich werde schon wieder aus dieser Hundehütte herauskommen! Gordon, das einzige Vernünftige ist in diesem Augenblick, sich ruhig zu verhalten!«