Kapitel 30

 

30

 

Lew Brady saß trostlos in Lolas Salon, und es war unmöglich, sich eine weniger passende Figur in diesen zarten Rahmen zu denken. Achttägiger Bartwuchs hatte ihn in einen unappetitlich aussehenden Raufbold verwandelt, und die beschmutzten Kleider, die er trug, die zerrissenen Stiefel, die ihre Farbe verloren hatten, das schmierige Hemd, machten ihn im Verein mit seinem unreinlichen Äußeren zu einer abstoßenden Figur.

 

Das dachte auch Lola, die ihn bedrückt ansah.

 

»Ich mache Schluß mit den Fröschen!« brummte Lew, »er zahlt, ja natürlich zahlt er, aber wie lange wird das noch so weitergehen, Lola? Du bist es, die mich in die Patsche gebracht hat!« Er blickte sie finster an.

 

»Ich habe dich in die Patsche gebracht, als du hineingebracht zu werden wünschtest«, sagte sie ruhig. »Du kannst nicht dein ganzes Leben lang von meinen Ersparnissen zehren, und es war höchste Zeit, daß du etwas auf die Seite zu legen anfingst.«

 

Er spielte mit einem silbernen Petschaft, das er zwischen den Fingern hin- und herrollte und hielt die Augen düster gesenkt, von Ahnungen gepeinigt.

 

»Balder ist eingesteckt und der Alte tot«, sagte er. »Und das waren die Großen. Was für Chancen bleiben mir?«

 

»Wie lauten deine Instruktionen?« fragte sie zum zwanzigsten Male an jenem Tag. Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich setze mich keiner Gefahr aus, Lola. Ich vertraue keinem, nicht einmal dir.« Er nahm ein Fläschchen aus seiner Tasche und hielt es prüfend gegen das Licht.

 

»Was ist das?« fragte sie neugierig.

 

»Irgendeine Art von Schlafmittel.«

 

»Gehört das auch zu deinen Instruktionen?« Er nickte.

 

»Wirst du deinen eigenen Namen tragen?«

 

»Nein, das nicht«, sagte er kurz. »Frag mich nicht mehr. Du siehst, daß ich dir nichts verraten will. Der Ausflug soll vierzehn Tage dauern, aber wenn es vorbei ist, dann ist es auch vorbei mit den Fröschen.«

 

»Und der Junge? Geht der mit dir?«

 

»Wie soll ich das wissen? Ich soll irgendwen irgendwo treffen, das ist das Ganze. Das letztemal für die nächsten Tage, daß ich in einem anständigen Salon sitze.« Er nickte ihr kurz zu und ging zur Tür. Es gab eine Dienertreppe, einen Ausgang, den man von der Küche her erreichte, und er ging ihn unbeobachtet hinab und in die Nacht hinaus.

 

Es war von neuem Nacht, als er Barnet erreichte. Die Füße schmerzten ihn, ihm war heiß; und er fühlte sich sehr elend. Er hatte die Schmach erduldet, vom Bürgersteig durch einen Polizisten verjagt zu werden, den er mit einer Hand hätte niederschlagen können. Er verfluchte den Frosch bei jedem Schritt, den er tat. Als er Barnet verließ, lag noch ein langer Weg vor ihm, und die Dorfuhr schlug bereits elf, als er auf eine Gestalt stieß, die am Straßenrand saß. Sie war im blassen Mondlicht gerade noch sichtbar, aber er erkannte sie erst, als der Wartende zu sprechen begann.

 

»Sind Sie das?« fragte eine Stimme.

 

»Ja, ich bin es. Und du bist Carter, nicht wahr?«

 

»Ach, Gott im Himmel«, staunte Ray, als er die Stimme erkannte. »Lew Brady?«

 

»Nichts davon!« knurrte der andere. »Ich heiße Phenan und du bist Carter. Setz dich ein bißchen nieder, ich bin todmüde.«

 

»Was soll jetzt geschehen?« fragte Ray, als sie nebeneinander saßen.

 

»Zum Teufel, woher soll ich das wissen?« fragte der andere wild und zog vorsichtig seine Stiefel aus, um die wunden Füße zu reiben.

 

»Ich hatte keine Ahnung, daß Sie es sind!« sagte Ray.

 

»Ich habe es ganz gut gewußt«, sagte der andere.

 

»Aber wozu man die Aufforderung an uns hat ergehen lassen, einen Ausflug in diese schöne Gegend zu machen, das weiß Gott.«

 

Nach einer Weile war Lew genügend ausgeruht, um den Weg fortzusetzen.

 

»Es gibt da irgendwo eine Scheune, die dem Kaufmann im nächsten Dorf gehört. Er wird uns für ein paar Pence dort schlafen lassen.«

 

»Warum versuchen wir nicht, ein Zimmer zu bekommen?«

 

»Sei kein Idiot!« fiel ihm Lew ins Wort. »Wer wird ein paar Landstreicher aufnehmen? Wir wissen, daß wir sauber sind, aber die nicht. Nein, wir müssen schon den Weg gehen, den Landstreicher nehmen.«

 

»Wohin? Nach Nottingham?«

 

»Ich weiß nicht. Wenn man dir geschrieben hat, daß wir nach Nottingham gehen sollen, so sage ich dir, daß es der letzte Platz auf der ganzen Welt ist, wohin wir gehen sollen. Ich habe ein versiegeltes Kuvert in der Tasche. Wenn wir Baldock erreichen, soll ich es aufmachen.«

 

So verbrachten sie die Nacht in der Scheune, einem zugigen Schuppen, der, wie es schien, von Hühnern und Ratten bevölkert war. Ray hatte eine schlaflose Nacht und dachte sehnsüchtig an sein liebes Bett in Maytree Haus. Merkwürdig genug, sehnte er sich keinen Augenblick nach seiner fürstlichen Wohnung in Knightsbridge zurück. Am nächsten Tag regnete es, und sie erreichten Baldock erst spät am Nachmittag. Unter dem Schutz einer Hecke öffnete Brady den Brief und las ihn, während sein Gefährte ihn erwartungsvoll beobachtete:

 

›Du wirst von Baidock abzweigen und den nächsten Zug nach Bath nehmen. Dann gehst Du auf der Landstraße nach Gloucester. Im Dorfe Laverstock wirst Du Carter mitteilen, daß Du mit Lola Bassano verheiratet bist. Du wirst ihn in den »Roten Löwen« führen und es ihm dort so herausfordernd wie möglich mitteilen, um einen Streit vom Zaun zu brechen. Aber unter keinen Umständen darfst Du ihm erlauben, sich von Dir zu trennen. Ihr geht weiter nach Jbbley Copse. Dort wirst Du einen Landstrich finden, wo drei abgestorbene Bäume stehen. Dort machst Du halt, nimmst das Geständnis, daß Du mit Lola verheiratet bist, zurück und entschuldigst Dich. Du trägst eine Whiskyflasche bei Dir und mußt zu dieser Zeit das Schlafmittel schon mit dem Whisky vermengt haben. Nachdem er eingeschlafen ist, gehst Du weiter nach Gloucester, Hendrystraße Nummer 289, wo Du eine vollkommene Neuausrüstung finden wirst. Hier rasierst Du Dich und kehrst mit dem 2.19-Uhr-Zug in die Stadt zurück.‹

 

Lew las jedes Wort, jede Silbe wieder und wieder, bis er sich den Inhalt eingeprägt hatte. Dann entzündete er ein Streichholz, hielt das Papier daran und sah zu, wie es verbrannte. Den Befehl hatte er fast auswendig gelernt.

 

»Was hast du für Instruktionen?« fragte Ray.

 

»Dieselben wie du, vermute ich. Was hast du damit gemacht?«

 

»Auch verbrannt«, sagte Ray. »Weißt du, wohin wir gehen?«

 

»Wir schlagen die Straße nach Gloucester ein. Das heißt, daß wir über Land gehen müssen, bis wir die Straße nach Bath erreichen. Dort können wir den Zug nach Bath nehmen.«

 

»Gott sei Dank!« sagte Ray inbrünstig. »Ich glaube nicht, daß ich noch einen Schritt machen kann.«

 

Um sieben Uhr abends stiegen zwei Vagabunden auf dem Bahnhof von Bath aus einem Wagen dritter Klasse. Einer, der jüngere, hinkte leicht und setzte sich auf eine Bahnhofsbank.

 

»Komm weiter, hier können wir nicht bleiben«, sagte der andere mürrisch. »Wir müssen in der Stadt ein Bett kriegen. Es gibt hier irgendwo eine Heilsarmeeunterkunft.«

 

»Warte noch«, sagte der Jüngere. »Ich habe vom Sitzen in dem verfluchten Wagen den Krampf bekommen. Ich kann mich kaum rühren.«

 

Der Zug, mit dem sie angekommen waren, fuhr zur selben Zeit wie der Londoner in der Halle ein, und die Passagiere hasteten die Stufen zum unteren Durchgang hinab, während Ray ihnen neidisch nachblickte. Die hatten eine Heimat, wohin sie gehen konnten, reine, bequeme Betten, um darin zu schlafen. Der Gedanke daran verursachte ihm Pein.

 

Plötzlich blieb sein Auge an einer Gestalt in der Menge haften, einem großen, vierschrötigen Mann, und Ray fuhr zurück.

 

Es war sein Vater.

 

John Bennett ging die Stufen hinab, und sein zufälliger Blick erfaßte im Vorüberstreifen die zwei schmutzigen Stromer auf der Bank. Er ließ sich nicht träumen, daß der eine von ihnen sein Sohn war, für dessen Zukunft er gerade Pläne geschmiedet hatte. Er ging in die Stadt, holte seine Kamera in einer Schenke ab, wo er sie zurückgelassen hatte, hob den schweren Kasten auf den Rücken und machte sich mit seiner Reisetasche auf den Weg.

 

Ein Polizeimann sah ihm mißbilligend nach und schien unschlüssig, ob er ihn nicht zurückhalten solle.

 

Die Stärke und Ausdauer des grauhaarigen Mannes waren bemerkenswert.

 

Er erstieg einen Hügel, ohne seinen Schritt zu verlangsamen, erreichte den Gipfel und schritt auf der weißen Straße weiter. Unter ihm erstreckte sich das Wiesengelände von Somerset, weite Felder von Viehherden gesprenkelt und glitzernd im Licht, wo der Fluß sich durch sie hinwand. Der Himmel über ihm war leuchtend blau, hier und da mit weißen Wolken besät. Wie er so dahinging, ward sein Herz leicht. Alles, was schön und glücklich in seinem Leben gewesen war, fiel ihm ein. Er dachte an Ella und an all das, was sie ihm bedeutete, und an Dick Gordon – aber das war ein Gedanke, der ihn schmerzte. Und er flüchtete zu den Zeitungskritiken zurück.

 

Er schritt stetig aus. Man hatte ihm gesagt, daß man in dieser Gegend Dachse zu sehen bekäme. Ein Mann, den er im Zuge gesprochen hatte, hatte ihm ein wahres Paradies für Naturliebhaber genau bezeichnet, und es war dieser schöne Flecken, zu dem Bennett nun mit Hilfe einer Landkarte, die er des Nachts bei einem Papierhändler gekauft hatte, den Weg nahm. Nach einer weiteren Stunde kam er in einen waldbewachsenen Hohlweg, und als er seine Karte befragte, fand er, daß er sein Ziel erreicht hatte.

 

Alles, was sein zufälliger Freund aus dem Zug berichtet hatte, bestätigte sich. Er sah ein Hermelin, das einem erschrockenen Kaninchen nachraste, einen Habicht, der unaufhörlich mit ausgebreiteten Fittichen über ihm kreiste, und plötzlich fand er, wonach er auf der Suche war: den kunstvoll versteckten Eingang zu einem Dachsbau.

 

In den Jahren, in denen er seinem Steckenpferd nachging, hatte Bennett so manche Schwierigkeit besiegt und dabei viel gelernt. Und heute wollte er beweisen, daß früheres Mißgeschick ihn die Kunst gelehrt habe, sich zu verbergen. Er brauchte lange Zeit dazu, um seinen Apparat in einem wilden Lorbeerbusch aufzustellen, und war trotzdem darauf gefaßt, daß es nötig sein würde, eine lange Aufnahme zu machen, denn er kannte den Dachs als das scheueste Tier seiner Art. Es waren junge Dachse im Bau. Bennett sah ihre Spuren, und er wußte, daß ein Dachs, der Junge hat, doppelt scheu ist. Bennett hatte den pneumatischen Auslöser durch eine elektrische Erfindung ersetzt, die ihm mit größerer Sicherheit zu arbeiten erlaubte. Er rollte den Draht seiner ganzen Länge nach ab und nahm selbst auf dem Abhang des Hügels, etwa fünfzig Meter entfernt, seinen Posten ein. Dort machte er es sich bequem. Er legte seinen Rock ab, der ihm als Kissen dienen sollte, und nahm seinen Feldstecher zur Hand.

 

Er hatte eine halbe Stunde gewartet, als er eine Bewegung an der Mündung des Baues zu sehen glaubte und langsam sein Glas danach richtete. Er sah eine schwarze Nasenspitze und ergriff den Auslöser. Minuten folgten auf Minuten, fünf – zehn – fünfzehn, aber es kam keine weitere Bewegung in das Dickicht, und fast war John Bennett froh darüber, denn die Wärme des Tages ließ ihn zusammen mit seiner Müdigkeit, wie er so auf dem Gras lag, ein Gefühl körperlicher Erschlaffung verspüren. Tiefer und tiefer wurde dieses wohlige Gefühl der Ermattung, das wie ein Nebel alles Sichtbare und Hörbare verdunkelte.

 

John Bennett schlief ein, und wie er schlief, träumte er von Erfolg und Frieden und Freiheit, von alledem, was sein Herz zerbrochen hatte. Er hörte Stimmen im Traum und einen scharfen Ton, wie einen Schuß. Aber er wußte, daß es kein Schuß war und schauderte. Er kannte diesen Ton und ballte im Schlaf krampfhaft die Hände. Der Auslöser war noch in seiner Hand.

 

An jenem Morgen kamen um neun Uhr zwei hinkende Vagabunden nach Leverstock. Der größere von ihnen blieb an der Tür des ›Roten Löwen‹ stehen, und ein mißtrauischer Wirt beobachtete die neuen Gäste hinter dem Vorhang hervor, der den Stammgästen der Schenke eine halbe Abgeschlossenheit gab.

 

»Komm herein!« brummte Lew Brady.

 

Ray war froh, folgen zu können. Die Gestalt des Wirtes blockierte den Eingang.

 

»Was wollt ihr?« fragte er.

 

»Wir möchten etwas trinken.«

 

»Hier gibt es keine Gratisgetränke«, sagte der Wirt und sah die zweideutigen Kunden von Kopf bis Fuß an.

 

»Was plappern Sie da von gratis?« fauchte Lew. »Mein Geld ist grad so rund wie das von jedem andern.«

 

»Wenn’s ehrlich erworben ist, schon«, sagte der Wirt. »Laß einmal sehen.«

 

Lew zog eine Handvoll Silber heraus, und der Wirt vom ›Roten Löwen‹ trat zurück. »Na, kommt herein«, sagte er. »Aber glaubt nicht etwa, daß ihr da zu Hause seid. Ihr könnt etwas trinken, aber dann trollt euch!«

 

Lew bestellte brummend, der Wirt goß die beiden Gläser ein und brachte sie an den Tisch.

 

»Da ist deiner, Carter«, sagte Lew. Und Ray schluckte das feurige Getränk hinab, an dem er fast erstickte.

 

»Ich werd‘ auch sehr froh sein, wenn ich zurückgehen kann«, sagte Lew mit leiser Stimme. »Euch Junggesellen macht es ja nichts aus, aber uns Verheirateten fällt das Herumvagabundieren schwer. Auch wenn die Frauen grad nicht so sind, wie sie sein sollten.«

 

»Ich habe gar nicht gewußt, daß du verheiratet bist«, sagte Ray mit schwachem Interesse.

 

»Es gibt eine Menge, was du nicht gewußt hast!« höhnte der andere. »Natürlich bin ich verheiratet. Einmal hat man dir’s schon gesagt, aber du hast nicht genug Hirn gehabt, um es zu glauben!«

 

Ray blickte den Mann voll Verblüffung an. »Meinst du vielleicht das, was Gordon gesagt hat?« Lew nickte. »Du willst doch nicht etwas sagen, daß Lola deine Frau ist?«

 

»Ja, natürlich ist sie meine Frau«, sagte Lew kalt. »Ich weiß nicht, wie viele Männer sie schon gehabt hat, aber ich bin ihr gegenwärtiger.«

 

»Du lieber Gott!« flüsterte Ray.

 

»Nun, was ist denn mit dir los? Glotz nicht so dumm drein. Ich habe ja nichts dagegen, daß du in sie verknallt bist. Mich freut’s, wenn ich seh‘, wie man mein Weib bewundert. Sogar bei einem solchen Milchbart wie du.«

 

»Deine Frau?« sagte Ray wieder und konnte es nicht fassen. »Und sag, gehört sie auch zu den Fröschen?«

 

»Warum nicht«, antwortete Brady. »Und kannst du nicht ein bißchen leiser sprechen, was? Der alte Schuft da hinten am Schanktisch hört angestrengt zu. Natürlich ist sie eine Verbrecherin. Wir sind doch alle Verbrecher, du auch! Und so muß man Lola kommen, denn Verbrecher mag sie am liebsten. Vielleicht hast du bei ihr erst die richtigen Aussichten, wenn du ein oder zwei Arbeiten gedeichselt hast –«

 

»Du Bestie!« zischte Ray und schlug den Mann mitten ins Gesicht.

 

Noch bevor Lew Brady wieder auf den Füßen war, stand der Wirt zwischen ihnen: »Hinaus mit euch beiden!« brüllte er. Und zur Tür stürzend, rief er ein halbes Dutzend Männernamen. Er kam zur rechten Zeit zurück, um Brady wieder auf den Beinen zu sehen, der die Faust vor Rays Gesicht schüttelte.

 

»Das wirst du mir büßen, Carter!« sagte er laut. »Mit dir werde ich auch noch eines Tages abrechnen!«

 

»Und bei Gott, ich auch mit dir! Du Hund!« sagte Ray rasend.

 

Aber im gleichen Moment faßte ihn ein muskulöser Hausknecht: am Arm und warf ihn im Schwung auf die Straße hinaus. Er wartete auf Brady, der den gleichen Weg nahm.

 

»Mit dir bin ich fertig«, sagte er. Sein ganzes Gesicht war blaß, und seine Stimme zitterte. »Mit der ganzen verdammten Bande bin ich fertig! Ich fahre nach London zurück.«

 

»Das wirst du nicht tun«, sagte Lew. »Höre doch zu, Junge. Bist du denn ganz verrückt? Wir müssen nach Gloucester kommen und unsere Aufgabe erledigen. Und wenn du nicht mit mir gehen willst, kannst du ja ein bißchen vorausgehen.«

 

»Ich gehe allein!« sagte Ray.

 

»Sei kein Narr!« Lew Brady kam ihm nach und ergriff seine Hand. Eine Sekunde lang schien die Situation gefährlich, aber dann duldete Ray Bennett achselzuckend Bradys Arm um die Schultern.

 

»Höre«, sagte Brady, »ich bin gar nicht mit Lola verheiratet; ich habe vorhin gelogen.«

 

»Ich glaube dir nicht«, sagte Bennett, nachdem sie schon eine halbe Stunde vom ›Roten Löwen‹ entfernt waren. »Warum solltest du vorhin gelogen haben?«

 

»Mir ist deine gute Laune schon zu dumm geworden, das ist die ganze Wahrheit. Ich mußte dir was vorlügen, um dich ein bißchen verrückt zu machen. Sonst wäre ich selber verrückt geworden.«

 

»Aber ist das wahr, das mit Lola?«

 

»Aber natürlich nicht«, sagte Brady verächtlich. »Glaubst du, sie macht sich etwas aus so einem Kerl, wie ich es bin? Nicht das geringste! Lola ist ein braves Mädchen. Vergiß die Dummheiten, die ich gesagt habe, Ray.«

 

»Ich werde sie selber fragen, mich wird sie nicht belügen«, sagte Ray bestimmt.

 

»Natürlich. Dich gewiß nicht«, stimmte Lew bei.

 

Sie näherten sich jetzt dem vorbestimmten Ziel, einem baumbestandenen Einschnitt zwischen den Hügeln, und Bradys Augen suchten nach den drei Baumstümpfen, die der Blitz getroffen hatte. Plötzlich sah er sie.

 

»Komm dort hin, und ich werde dir alles erzählen«, sagte er. »Ich werde heute nicht mehr weitergehen. Meine Füße sind so wund, daß ich kaum einen Schritt mehr machen kann.« Er führte Ray zwischen den Bäumen über einen Teppich von Fichtennadeln hin. »Da setz dich her, Junge«, sagte er. »Jetzt werden wir trinken und rauchen.«

 

Ray setzte sich nieder und verbarg den Kopf in den Händen. Er sah so entsetzlich elend aus, daß jeder andere als Lew Brady Mitleid mit ihm gehabt haben würde.

 

»Die ganze Wahrheit ist«, begann Lew langsam, »daß Lola dich wirklich gern hat, Junge.«

 

»Warum hast du mir denn dann das alles gesagt? Horch!« Ray sah sich um.

 

»Was war das?« fragte Lew.

 

»Ich glaube, ich habe etwas sich bewegen gehört.«

 

»Es ist ein Zweig abgebrochen, es kann ein Kaninchen sein. Es gibt ja Tausende hier«, sagte Lew. »Nein, nein, Lola ist ein braves Mädel.«

 

Er fischte das Fläschchen aus seiner Tasche hervor, zog den Becher vom Boden ab, schraubte den Stöpsel auf und hielt die Flasche gegen das Licht. »Ein braves Mädel!« wiederholte er geistesabwesend.

 

»Und sie soll nie etwas anderes werden.« Er schenkte den Becher voll. »Ich werde auf ihre Gesundheit trinken. Nein, Ray, trink du zuerst!«

 

Ray schüttelte den Kopf. »Ich mag das Zeug nicht«, sagte er.

 

Der andere lachte. »Für einen Kerl, der Nacht für Nacht eingepökelt war, ist das eine lustige Ansicht! Wenn du nicht einmal einen Tropfen Whisky vertragen kannst, sobald wir auf Lolas Gesundheit trinken wollen, dann bist du ein recht armer. . .«

 

»Gib her!« Ray riß ihm den Becher fort, vergoß dabei ein wenig, trank aber den Rest in einem Zug hinunter und warf den Becher seinem Gefährten zu. »Uff! – der Whisky schmeckt mir aber gar nicht. Ich glaube, mir liegt überhaupt an Whisky nichts. Und es ist nichts schwerer, als vorzutäuschen, daß man gerne trinkt, wenn man es in Wirklichkeit so ungern tut wie ich.«

 

»Ich glaube, keiner mag ihn zuerst gern. Er schmeckt so wie Tomaten. Ein sehr feiner Geschmack.« Er beobachtete seinen Gefährten scharf von der Seite her.

 

»Und wohin gehen wir von Gloucester aus?«

 

»Von Gloucester nirgendwohin. Wir bleiben dort einen Tag, dann wechseln wir unsere Kleider und fahren nach Haus.«

 

»Ist das eine stupide Idee!« sagte Ray Bennett, riß die Augen auf und gähnte. Er legte sich ins Gras zurück, faltete die Hände unter dem Kopf und gähnte von neuem. »Du, Lew! Wer ist denn eigentlich dieser Frosch?«

 

Lew Brady leerte den restlichen Inhalt des Fläschchens auf das Gras, schraubte den Stöpsel wieder auf und schüttete jeden Tropfen aus dem Becher heraus, bevor er sich erhob, um zu dem schlafenden Jungen hinüberzugehen.

 

»He, du, steh auf!« sagte er.

 

Es kam keine Antwort. »Steh auf!«

 

Mit einem Stöhnen drehte sich Ray um, den Kopf auf dem Arm gebettet, und nun rührte er sich nicht mehr.

 

Ein plötzlicher Verdacht stieg in Lew auf. War er am Ende tot? Lew erbleichte bei diesem Gedanken. Dieser so geschickt eingefädelte Streit würde genügen, ihn zu überführen. Er riß das Fläschchen aus seiner Tasche und ließ es in die Brusttasche des Schläfers gleiten. Da hörte er ein Geräusch. Als er sich umwendete, sah er, daß ein Mann ihn beobachtete. Lew starrte ihn an und öffnete die Lippen, um zu reden, aber da kam es:

 

»Plop!«

 

Er sah den Blitz der Flamme, bevor die Kugel ihn traf. Er versuchte neuerlich die Lippen zu öffnen, um zu reden, und wieder kam es:

 

»Plop!«

 

Lew Brady war tot.

 

Der Mann zog den Schalldämpfer von der Pistole, ging ohne jede Hast zu dem schlafenden Ray hinüber und steckte diesem die Pistole in die schlaffe Hand. Dann kam er zurück, kehrte den Körper des Toten um und sah ihm ins Gesicht. Er entnahm drei Zigarren seiner Westentasche, zündete eine von ihnen an und steckte das Zündhölzchen sorgfältig in die Schachtel zurück. Er hatte eine Vorliebe für gute Zigarren, besonders für die anderer Leute. Dann ging er, immer noch ohne Hast, den Weg zurück, den er gekommen war, stieg zur Hauptstraße empor, nachdem er sich sorgfältig umgesehen hatte, und erreichte das Auto, das auf ihn wartete.

 

Im Auto saß, hinter den mit Vorhängen versehenen Scheiben verborgen, ein junger Mensch, der mit herabhängendem Mund und gläsernen Augen vor sich hinstierte. Er trug einen schlecht passenden Anzug, und ein Kragenende hing unordentlich herab.

 

»Du kennst diesen Ort, Bill?«

 

»Ja, Herr.« Die Stimme klang guttural und heiser. »Jbbley Copse.«

 

»Du hast soeben einen Mann umgebracht. Du hast ihn erschossen, so wie du es in deinem Geständnis ausgesagt hast.«

 

Der halbidiotische Junge nickte.

 

»Ich habe ihn umgebracht, weil ich ihn gehaßt habe«, sagte er gehorsam.

 

Der Frosch nickte und nahm auf dem Führersitz Platz.

 

John Bennett erwachte mit einem Ruck. Er sah mit reuevollem Lächeln auf den Auslöser in seiner Hand herab und begann den Draht aufzuwinden. Dann ging er zu dem Gebüsch, wo er seine Kamera versteckt hatte, und fand zu seiner Enttäuschung, daß der Zähler ihm den Verlust von ungefähr dreihundert Metern anzeigte. Er sah grollend auf das Dachsloch, und wie zum Spott kam dort wieder die Spitze einer schwarzen Nase hervor.

 

Er schüttelte die Faust gegen sie und begann den Abstieg. Unweit vom Pfad sah er zwei Männer im Gras liegen, beide schlafend und beide Landstreicher, wie es schien. Er trug den Kurbelkasten dorthin zurück, wo er seinen Rock gelassen hatte, zog diesen an, hob den Kasten auf den Rücken und machte sich auf den Weg nach dem Dorf Laverstock, von wo er, wenn seine Uhr richtig ging, den Lokalzug erreichen konnte, der ihn bis Bath bringen würde, um dann den Londoner Schnellzug zu benützen. Und während er mit dem schweren Kasten dahinkeuchte, berechnete er seinen Verlust.

 

Kapitel 19

 

19

 

Als sie zur Polizeidirektion zurückfuhren, war Elk noch immer in tiefes Sinnen versunken.

 

»Es ist die größte Unannehmlichkeit für uns, daß die Frösche keine ungesetzliche Verbindung sind«, sagte Dick. »Es wird am Ende noch nötig sein, den Ministerpräsidenten um die Proklamierung der Gesellschaft zu bitten.«

 

»Vielleicht ist der auch ein Frosch!« sagte Elk, hoffnungslos düster. »Lachen Sie mich nicht aus! Hauptmann Gordon, ich sage es Ihnen, es stecken hohe Tiere dahinter. Ich fange schon an, jeden zu verdächtigen.«

 

»Vielleicht beginnen Sie gleich bei mir?« sagte Gordon in seiner befreiten Laune.

 

»Das habe ich schon längst getan«, war die freimütige Antwort.

 

»Und dann ist mir auch noch eingefallen, daß ich als kleiner Junge Nachtwandler war. Vielleicht führe ich ein Doppelleben und bin bei Tag Detektiv und bei Nacht ein Frosch. Das kann man nie wissen! Denn es ist mir ganz klar, daß ein Genie unter den Fröschen sein muß«, fuhr er mit unbewußter Unbescheidenheit fort.

 

»Lola Bassano?« vermutete Dick.

 

»Sie kann nicht organisieren. Sie hat eine Girltruppe geführt, als sie neunzehn Jahre alt war, und die ging an schlechter Organisation zugrunde. Ich glaube, daß man, um die Frösche zu führen, ganz der gleichen Art der Intelligenz bedarf, wie zum Beispiel zur Führung einer Bank. Maitland wäre der Mann! Ich habe den Kreis um ihn noch enger gezogen, nachdem ich mit Johnson über ihn gesprochen habe. Johnson sagt, daß er noch nie das Bankbuch des Alten gesehen hat, und obgleich er sein Privatsekretär ist, kann er über seine Transaktionen nichts aussagen, als daß er Realitäten kauft und verkauft. Das Geld, das der Alte privat verdient, wird auch nicht in den Bankbüchern gebucht, und Johnson war geradezu überrascht, als ich meinte, daß Maitland überhaupt seine Geschäfte außerhalb der Führung der Gesellschaft mache. Ich möchte Sie aber jetzt etwas anderes fragen, Hauptmann Gordon. – Möchten Sie sich nicht ein für allemal davon überzeugen, daß Fräulein Bennett nichts mit alledem zu tun hat?«

 

»Sie glauben doch nicht wirklich, daß das der Fall sein könnte?« fragte Dick, den das Entsetzen von neuem überkam.

 

»Ich bin bereit, alles von allen zu glauben!« sagte Elk. »Die Straße liegt jetzt leer vor uns, wir könnten in einer Stunde in Horsham sein. Ich für meine Person weiß ja ganz gewiß, daß es nicht Fräulein Bennetts Stimme war, aber denken Sie nur daran, daß wir für die Leute da oben Berichte zu schreiben haben (›Die Leute da oben‹ war Elks unveränderlicher Name für seine höchsten Vorgesetzten), und da würde es böse aussehen, wenn wir einfach sagen wollten, daß wir Fräulein Bennetts Stimme im Radio gehört haben und es nicht einmal der Mühe wert fanden, herauszubekommen, wo sie zu dieser Zeit in Wirklichkeit gewesen ist.«

 

»Sie haben recht«, sagte Dick gedankenvoll. Und Elk lehnte sich aus dem Wagen und gab dem Fahrer die neue Fahrtrichtung an. Der Morgen dämmerte schon, als das Auto die verlassene Straße von Horsham durchraste und dann langsam an Maytree Haus entlangfuhr. Das Landhaus zeigte kein Lebenszeichen. Die Vorhänge waren herabgelassen, nirgends brannte Licht.

 

Dick zögerte, als Elk die Hand auf die Türklinke legte. »Ich möchte die Leute nicht gern aufwecken«, gestand er. »Der alte Bennett würde wahrscheinlich glauben, daß wir schlechte Nachrichten über seinen Sohn bringen.«

 

Aber sie brauchten John Bennett nicht erst aus dem Schlaf zu wecken. Elk wurde angerufen, und als er hinaufsah, bemerkte er den geheimnisvollen Mann, der aus dem Fenster lehnte.

 

»Was führt Sie hierher, Herr Inspektor?« fragte er gedämpft.

 

»Nichts Besonderes«, flüsterte Elk hinauf. »Wir haben heute nacht eine Radiobotschaft aufgefangen und uns war, als wäre es die Stimme Ihres Fräulein Tochter gewesen.«

 

John Bennett runzelte die Stirn, und Dick sah, daß er an der Wahrheit dieser Erklärung zweifelte.

 

»Auch ich habe die Stimme gehört, Herr Bennett«, bestätigte er.

 

»Wir haben einer ziemlich wichtigen Nachricht wegen zugehört, und die Umstände machen es uns zur dringenden Notwendigkeit, zu wissen, ob Fräulein Bennett gesprochen hat.«

 

»Das ist eine merkwürdige Geschichte«, sagte Bennett kopfschüttelnd. »Ich werde herunterkommen und Sie einlassen.«

 

Er öffnete, in einen alten Schlafrock gekleidet, die Tür und führte sie in das dunkle Wohnzimmer. »Ich werde Ella wecken, und sie wird wohl imstande sein, Ihnen zu beweisen, daß sie um zehn Uhr im Bett war.«

 

Er ging aus dem Zimmer, nachdem er die Vorhänge zurückgezogen hatte, um das Tageslicht hereinzulassen.

 

Und Dick wartete mit einem freudigen Vorgefühl auf Ellas Erscheinen. Er war nur zu froh gewesen, eine Ausrede für seinen neuerlichen Besuch in Horsham zu haben. Die Tage, die zwischen jedem Wiedersehen mit Ella lagen, schienen sich ihm zu Ewigkeiten zu dehnen.

 

Sie hörten Bennett die Treppe hinaufgehen, aber sogleich kam er wieder, und Entsetzen lag auf seinen Zügen.

 

»Ich kann das nicht verstehen«, murmelte er. »Ella ist nicht in ihrem Zimmer. Sie hat wohl in ihrem Bett geschlafen, aber sie hat sich offenbar wieder angezogen und ist fortgegangen.«

 

Elk kratzte sich das Kinn und vermied es, Dick anzusehen. »Fräulein Ella macht wohl gewöhnlich einen Morgenspaziergang?«

 

John Bennett schüttelte den Kopf. »Sie hat es sonst nie getan. Merkwürdig genug, daß ich sie nicht fortgehen gehört habe, denn ich habe heute nacht sehr wenig geschlafen. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, meine Herren.«

 

Er ging hinaus und kam in ein paar Minuten angekleidet wieder. Es war jetzt schon ganz hell, obgleich die Sonne noch nicht aufgegangen war. John Bennett schien nicht weniger beunruhigt, als Dick es war, in dessen Hirn tausend zweifelnde und entschuldigende Gedanken sich kreuzten.

 

»Sie sind ja im Auto hierhergekommen, haben Sie im Vorüberfahren niemanden gesehen?«

 

Dick schüttelte den Kopf.

 

»Liegt Ihnen etwas daran, wenn wir die Straße weiter nach Shoreham fahren?«

 

»Das wollte ich Ihnen eben vorschlagen«, sagte Dick. »Ist es nicht ziemlich gefährlich für Ihre Tochter, zu dieser Stunde allein spazierenzugehen? Die Straßen sind von Landstreichern bevölkert!« – Der Alte gab keine Antwort, er saß neben dem Chauffeur, und seine Blicke waren ängstlich auf die Straße vor ihnen gerichtet. Das Auto fuhr mit Eilzugsgeschwindigkeit zehn Meilen dahin, dann wendete es und begann die Seitenstraßen abzusuchen. Als sie sich dem Dorf näherten, zeigte Dick auf einen dichten Wald, zu dem ein schmaler Weg führte.

 

»Wie heißt dieser Wald?« fragte er.

 

»Es ist der Wald von Elsham, dort wird sie doch wohl nicht hingegangen sein!« Bennett zögerte.

 

»Versuchen wir es immerhin«, sagte Dick, und sie fuhren durch einen Hain von hohen Bäumen, deren verwachsene Wipfel die Straße gänzlich verdüsterten.

 

»Hier sind Autospuren«, sagte Dick plötzlich. Aber Bennett schüttelte den Kopf.

 

»Es kommen viele Leute hierher, um Picknicks abzuhalten«, sagte er.

 

Aber Dick hatte wohl gemerkt, daß diese Spuren frisch waren, und nun stellte er auch fest, daß sie von der Straße abbogen und zwischen den Bäumen hinführten. Von dem Auto selbst war jedoch nichts zu sehen. Die Straße endete nach einer weiteren Meile, und vor ihnen lag eine Lichtung, wo es nichts als Heidekraut und Baumstümpfe gab, denn der Wald war während des Krieges fast gänzlich abgeholzt worden. Mit einiger Schwierigkeit wurde das Auto gewendet und schoß zurück. Sie kamen durch den Hain ins Freie, und da stieß Dick einen Schrei aus.

 

John Bennett hatte seine Tochter schon erblickt. Sie ging in der Mitte der Straße rasch vor ihnen her und wich, als das Auto näher kam, auf den grasbewachsenen Rand zur Seite, ohne sich umzusehen. Dann blickte sie auf, sah ihren Vater und erblaßte. Im Augenblick war er neben ihr.

 

»Aber liebes Kind«, sagte er vorwurfsvoll, »wo bist du denn um diese Zeit gewesen?«

 

Es schien Dick, als sähe sie erschrocken aus. Elks Augen zogen sich prüfend zusammen.

 

»Ich konnte nicht schlafen und bin ein wenig ausgegangen, Vater«, sagte sie und nickte Dick zu. »Wie kommen Sie zu dieser Zeit hierher, Hauptmann Gordon? Das ist wirklich eine Überraschung!«

 

»Ich bin gekommen, um Sie um eine Unterredung zu bitten.«

 

»Mich!« rief Ella, aufrichtig erstaunt.

 

»Hauptmann Gordon hat deine Stimme im Radio mitten in der Nacht gehört und wollte etwas Näheres darüber erfahren. Warst du um Rays willen fort? Ist er hier?« fragte er eifrig.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Vater«, sagte sie ruhig. »Und was das Radiogespräch betrifft, so habe ich noch niemals durchs Radio gesprochen.«

 

»Wir haben auch sogleich gewußt, daß Sie es nicht gewesen sind!« sagte Dick Gordon rasch. »Elk hat sofort erklärt, daß jemand Ihre Stimme imitiert habe.«

 

»Sagen Sie mir nur das eine, Fräulein Bennett«, warf Elk ein, »waren Sie gestern abend in der Stadt?«

 

Ella schwieg.

 

»Meine Tochter ist um zehn Uhr zu Bett gegangen, ich habe es schon gesagt«, sagte John Bennett barsch.

 

»Waren Sie in den Morgenstunden in London, Fräulein Bennett?« beharrte Elk.

 

Und zu Dicks Verblüffung nickte sie.

 

»Waren Sie in Caverley Haus?«

 

»Nein«, antwortete sie sofort.

 

»Aber Ella, was hast du in der Stadt gemacht?« fragte John Bennett. »Hast du Ray besucht?«

 

Nach einem Zögern verneinte sie. – »Warst du allein?«

 

»Nein«, sagte Ella, und ihr Mund zitterte. »Bitte, frage mich nicht weiter. Ich kann in dieser Sache nicht frei reden. – Papa, du hast mir ja immer vertraut, du wirst mir auch jetzt vertrauen, nicht wahr?« sagte sie mit ihrer süßen Stimme.

 

Er nahm ihre Hand und hielt sie mit beiden Händen fest.

 

»Ich werde dir immer vertrauen, Mädel«, sagte er. »Und diese beiden Herren müssen es auch.«

 

Ihr bittender Blick begegnete Gordons Blick, und er nickte.

 

Elk rieb wütend sein Kinn.

 

»Ich bin sicherlich eine besonders vertrauensvoll veranlagte Natur und werde in Ihre Worte so wenig Zweifel setzen wie in meine eigenen, Fräulein Bennett.« Er sah auf die Uhr. »Aber ich denke, wir müssen jetzt wegfahren und den armen alten Balder aus dem Haus der Sünde befreien«, sagte er.

 

»Wollen Sie nicht bleiben und mit uns frühstücken?« lud Bennett ein.

 

Dick sah Elk bittend an, und der Detektiv stimmte zu.

 

»Nun, Balder wird es auf eine Stunde mehr oder weniger nicht ankommen«, sagte er.

 

Während Ella das Frühstück bereitete, spazierten Dick und Elk auf der Straße auf und ab.

 

»Ich habe das absolute Vertrauen in Fräulein Bennetts Wahrhaftigkeit!« sagte Dick begeistert.

 

»Vertrauen ist eine schöne Sache!« murmelte Elk. »Schließlich ist auch Fräulein Bennett nichts anders als eins der kleinen Stückchen, die zu diesem Puzzlespiel gehören, und wird ihren Platz finden, wenn wir nur erst das Stück, das so wie ein Frosch geformt ist, auf die richtige Stelle gelegt haben!«

 

Von dem Platz, auf dem sie nun standen, konnten sie, nach Shorham gewendet, den Anfang der engen Waldstraße von Elsham sehen. »Und das Rätselhafteste ist mir daran«, murmelte Elk, »warum sie auf einmal mitten in der Nacht in den Wald spazieren mußte!«

 

Er hielt an und neigte horchend den Kopf zur Seite.

 

Das Rattern eines Autos kam näher und näher. Langsam ward auch der Kühler eines Autos sichtbar, dem der übrige Körper einer großen Limousine folgte.

 

Der Wagen kam auf sie zu, indem er sein Tempo mehr und mehr beschleunigte.

 

Einen Augenblick später schoß er an ihnen vorbei, und sie sahen den einzigen Insassen.

 

»Aber da soll mich doch der Teufel holen!« sagte Elk, der sehr selten einen Fluch gebrauchte. Und in diesem Augenblick hielt Dick ihn wirklich für gerechtfertigt, denn der Mann in der Limousine, den zu treffen Ella nachts in den Elshamwald gegangen war – war Ezra Maitland.

 

Kapitel 20

 

20

 

Eine halbe Stunde später fuhren sie in tiefem Schweigen an den leerstehenden Villen vorüber, wo Genters Leichnam gefunden worden war. Dick erinnerte sich dessen mit einem kleinen Schauder, daß der Tod Genter ausgerechnet in der Nähe von Horsham ereilt hatte.

 

Und Hagn sollte dafür sterben! Dick war dazu entschlossen. Denn ob er nun ein Frosch war oder nicht, er war an diesem Mord beteiligt gewesen.

 

Als ob Elk Dicks Gedanken lesen konnte, wendete er sich zu ihm und sagte: »Glauben Sie, daß Ihr Beweisverfahren stark genug sein wird, um ihn hängen zu können?«

 

»Unglücklicherweise gibt es keine Indizienbeweise gegen ihn, außer dem Auto, das Sie unter Schloß und Riegel halten, und der Tatsache, daß der Garagenbesitzer Hagn identifizieren kann.«

 

»Mit dem Bart?« kopfschüttelte Elk. »Ich glaube, solange der alte Balder ihn nicht zu einem Geständnis bringt, wird es

 

schwerhalten, die Geschworenen von seiner Schuld zu überzeugen. Was mich betrifft«, fügte er hinzu, »würde ich, wenn ich je dazu verdammt sein sollte, eine ganze Nacht allein mit Balder zu verbringen, die Wahrheit sagen, nur um ihn loszuwerden. Er ist ein pfiffiger Bursche, dieser Balder. Die Leute da oben erkennen ihn nicht genügend an.«

 

Elk gab dem Chauffeur Weisung, geradeaus nach Cannon Row zu fahren. Dicks Geist befaßte sich mit andern Dingen.

 

»Was hatte sie nur, um Gottes willen, mit dem alten Maitland zu tun?« fragte er.

 

Elk schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Natürlich läge es ihr nahe, ihn vielleicht überreden zu wollen, daß er ihren Bruder zurücknimmt. Aber der alte Maitland ist nicht der Abenteurer, der mitten in der Nacht aufsteht, um darüber zu unterhandeln, ob er Ray die Stellung wiedergeben soll. Wenn er ein jüngerer Mann wäre, dann schiene es eher möglich! Aber er ist schon verteufelt bejahrt. Und er ist ein böser alter Mann, der sich nicht einen Pfifferling darum schert, ob Ray an seinem Pult für soundsoviel arbeitet, oder ob er im Zuchthaus zu Dartmoor Steine klopft.«

 

Der Wagen hielt am Eingang des Polizeigebäudes, und die Herren stiegen aus. Der Schreiber stand auf, als sie in das Büro kamen, und sah sie verwundert an.

 

»Wir wollen nur Balder herausholen«, erklärte Elk.

 

»Balder?« sagte der Mann überrascht. »Ich wußte gar nicht, daß er bei uns drinnen ist!«

 

»Ich habe ihn mit Hagn eingesperrt.«

 

Dem Polizeibeamten dämmerte ein Licht. Er blinzelte den Mann an.

 

»Das ist merkwürdig! Ich hatte gar keine Ahnung, daß das Balder war!« sagte er. »Mir hat nur ein anderer Sergeant gesagt, daß man einen Landstreicher zu Hagn hereingelassen hat. Hier ist der Schließer.«

 

Dieser Beamte war ebenso erstaunt wie der Sergeant selbst.

 

»Keine Ahnung gehabt, daß es Balder ist«, sagte er. »Deshalb haben sie so lange getratscht, beinahe bis ein Uhr.«

 

»Nun, und reden sie immer noch?« fragte Elk befriedigt.

 

»Nein, Herr Inspektor, ich habe vor einer Weile hineingeguckt, jetzt schlafen sie. Sie haben mir ja die Order gegeben, sie in Ruhe zu lassen.«

 

Dick und seine Untergebenen folgten dem Schließer auf den langen Gang hinaus, der weiß gekachelt war, und auf den viele schmale, schwarze Türen führten. Sie gingen bis zu der Tür am äußeren Ende. Der Gefängniswärter schloß auf, und Elk trat ein. Er ging zur ersten Schlafbank und zog die Decke herab, die der Schläfer über sein Gesicht gezogen hatte.

 

Da lag Balder auf dem Rücken, um seinen Mund war ein seidener Schal gewunden. Seine Hände waren ebenso wie seine Beine nicht nur mit Handschellen, sondern auch mit Stricken befestigt. Elk stürzte zur zweiten Schlafbank, aber als er die Decke berührte, sank sie leer unter seinen Händen zusammen. Hagn war fort!

 

Als sie Balder in Elks Büro gebracht und mit Branntwein gelabt hatten, erzählte er seine Geschichte: »Es war so um zwei Uhr herum, glaube ich, als das geschehen ist. Ich hab‘ den ganzen Abend mit Hagn geredet, aber es ist mir gleich klar gewesen, daß er mich von dem Moment an als Polizisten erkannt hat, als ich hereingekommen bin. Er hat mich den ganzen Abend zum besten gehalten. Aber ich bin standhaft geblieben, Herr Inspektor! Ich hab‘ schon gedacht, daß er seinen Verdacht überwunden hat, weil er plötzlich von den Fröschen zu reden angefangen hat. Er hat mir erzählt, daß diese Nacht, das heißt letzte Nacht, eine Radiobotschaft an alle Häuptlinge kommen wird. Dann hat er mich gefragt, warum Mills umgebracht worden ist, aber ich bin überzeugt, daß der Schurke ganz genau Bescheid gewußt hat. Nach ein Uhr haben wir nicht mehr sehr viel gequasselt, und um Viertel zwei habe ich mich niedergelegt und bin sicher gleich eingeschlafen. Dann bin ich aufgewacht, und da hat man mir schon einen Knebel in den Mund gesteckt gehabt, ich hab‘ versucht mich zu wehren, aber sie haben mich gehalten.«

 

»Sie?« fragte Elk. »Wie viele waren es denn?«

 

»Es müssen sicher zwei oder drei gewesen sein, ich weiß es nicht genau«, sagte Balder. »Mit zweien wäre ich ja wohl fertig geworden, denn ich bin nicht der Schwächsten einer – ah, es müssen schon mehr gewesen sein! Außer Hagn habe ich bestimmt noch zwei gesehen.«

 

»War die Zellentür offen?« erkundigte sich Elk gespannt.

 

»Ja, sie stand weit offen«, sagte Balder, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte.

 

»Wie haben sie ausgesehen?«

 

»Sie haben ganz lange, schwarze Überröcke angehabt, und sie haben gar keinen Versuch gemacht, die Gesichter zu verstecken. Ich würde sie sofort wiedererkennen. Es waren noch junge Leute, wenigstens der eine. Was dann noch geschehen ist, weiß ich nicht mehr. Sie haben meine Beine umschnürt und haben die Decke über mich gezogen, ich habe nichts mehr gesehen oder gehört. Ich habe die ganze Nacht verlassen dagelegen und habe an meine liebe arme Frau und meine lieben armen Kinder gedacht …«

 

Elk ließ ihn mitten in seiner Jeremiade zurück und ging hinüber, um eine sorgfältige Durchsuchung der Zelle vorzunehmen. Auf dem gleichen Korridor hatte ein Wächter in einem kleinen, mit Glaswänden umgebenen Loch, wo die Zellenindikatoren sich befanden, seinen Platz. Jede Zelle war für den Fall einer Erkrankung mit einer Glocke ausgestattet, die Signale wurden in diesem kleinen Büro an Tafeln sichtbar.

 

Darüber befragt, gab der Wärter an, daß er zweimal während seines Nachtdienstes für wenige Minuten in das Übernahmebüro gerufen worden war. Einmal, als ein wegen Trunkenheit Arretierter nach dem Doktor verlangte, und das andere Mal um halb zwei morgens, als er einen Einbrecher übernehmen sollte, der im Laufe der Nacht gefangengenommen worden war.

 

»Natürlich sind die Leute während dieser Zeit davongegangen«, sagte Elk.

 

Die Tür von Hagns Zelle war beiderseitig zu öffnen. In dieser Beziehung unterschied sie sich von den Türen aller anderen Zellen des Gefängnisses, da man ein Schloß gewählt hatte, das den Polizeioffizieren die Möglichkeit gab, den Gefangenen nach dem Verhör zu verlassen, ohne erst den Schließer herbeiläuten zu müssen. Das Schloß war nicht aufgebrochen worden, ebensowenig wie das der zum Hof führenden Tür. Elk ließ sofort die Polizeileute rufen, die bei den Ausgängen von Scotland Yard Dienst gehabt hatten. Der wachhabende Beamte am Embankment hatte niemanden bemerkt.

 

Der Mann beim Whitehall-Ausgang entsann sich, daß er um halb drei Uhr einen Polizeiinspektor hatte hinausgehen sehen. Er war vollkommen sicher, daß der Beamte ein Inspektor gewesen war, denn jener hatte einen langen Säbel getragen, und der Wachhabende hatte auch den Stern auf seiner Schulter bemerkt. Er hatte den Vorgesetzten gegrüßt, wofür dieser gedankt hatte.

 

»Das kann einer von ihnen gewesen sein«, sagte Elk, »aber was ist dann mit den beiden andern geschehen?«

 

Hier fehlte jede Spur. Die beiden Befreier waren verschwunden, als ob sie sich in Luft aufgelöst hätten.

 

»Dafür werden wir wohl eine Nase bekommen, Hauptmann Gordon«, sagte Elk. »Und wenn es dabei glimpflich abgeht, so können wir uns noch freuen. Sie sollten lieber nach Hause gehen und sich schlafen legen, Hauptmann. Ich habe heute nacht wenigstens ein bißchen geschlafen. Wenn Sie ein wenig warten wollen, bis ich meinen armen Balder zu seinem Weib und zu seinen Kindern zurückschicke, die ich schon übrigens alle mit Namen kenne, dann will ich auch mit Ihnen gehen.«

 

Dick wartete am Whitehall-Ausgang, bis Elk kam.

 

»Ja, es wird wohl eine Nachfrage vom Department geben, da kann man nichts machen«, sagte er. »Was mich besonders kränkt, ist, daß wir den armen alten Balder in ein schlechtes Licht gestellt haben, und ich wollte ihm doch gerade etwas Gutes tun. Es ist eine alte Erfahrung, daß man dem Mann den schlechtesten Dienst erweist, dem man versucht, einen guten Dienst zu leisten.«

 

Es war jetzt beinahe zehn Uhr vormittags, und Dick war schwach von Hunger und Mangel an Schlaf. Ein- oder zweimal, während sie den Weg nach Harley Terrace zurücklegten, sah Elk sich um.

 

»Erwarten Sie jemanden?« fragte Dick, dem die Möglichkeit einer Gefahr aufdämmerte. »Ich habe gerade einen Mann gesehen, der uns nachgegangen sein kann, einer in einem braunen Überrock.«

 

»Ach nein«, sagte Elk gleichgültig. »Das- ist einer von meinen Leuten. Aber haben Sie etwas dagegen, wenn wir hinübergehen?« Und ohne die Antwort abzuwarten, faßte er Gordons Arm und führte ihn über die breite Straße. »Das dachte ich mir!«

 

Ein kleiner Fordwagen, der in Riesenlettern den Namen einer Wäscherei trug und bis jetzt nur langsam hinter ihnen hergefahren war, überholte sie nun mit größter Geschwindigkeit. Elk folgte dem Auto mit den Blicken, bis es Traf algar Square an der Ecke Whitehall erreichte. Aber statt nun nach links gegen Pall Mall oder rechts nach dem Strand abzubiegen, machte der Wagen einen Halbkreis und kam ihnen entgegen. Elk drehte sich um und gab ein Zeichen.

 

Der Detektiv im braunen Mantel, der ihnen gefolgt war, sprang sogleich auf das Trittbrett des Autos. Eine heftige Unterredung zwischen ihm und dem Chauffeur entspann sich, und endlich fuhren sie zusammen weiter.

 

»Erwischt!« sagte Elk lakonisch. »Jetzt führt er ihn auf die Direktion und hält ihn dort wegen irgendeiner Anschuldigung fest. Es ist nämlich die leichteste Art, jemand zu verfolgen, wenn man ein Geschäftsauto benützt«, sagte Elk. »Ein Geschäftswagen kann nämlich machen, was er will, und niemand nimmt davon die geringste Notiz. Wäre uns eine Limousine nachgefahren, so hätte sie die Aufmerksamkeit jedes einzelnen Schutzmanns erregt. Es war nichts anderes als ein Aufpasser. Aber mir schien es plötzlich«, sagte er mit einem Schaudern, »als wäre es der Tod selber.«

 

»Nehmen wir ein Auto«, sagte Dick, und seine Vorsicht war so groß, daß er drei leere Taxis abwartete, ehe er das vierte anrief.

 

»Kommen Sie mit«, sagte Dick. »Ich möchte Sie jetzt nicht gleich allein lassen. Ich habe ein leeres Zimmer, wenn Sie schlafen wollen.«

 

Elk begleitete Gordon nach Harley Terrace. Der Diener, der ihnen die Tür öffnete, sagte: »Ein Herr ist da, der auf Sie wartet. Er ist schon seit einer halben Stunde hier.«

 

»Wie heißt er?«

 

»Johnson.«

 

Tatsächlich war es der Philosoph, der sich aus dem Sessel erhob, obgleich Herrn Johnson in diesem Augenblick jeder Beweis für das Gleichgewicht der Seele, das die hauptsächlichste Eigenschaft aller Philosophen zu sein pflegt, mangelte. Der dicke Mann war ganz außer sich. Er saß verstört und unbequem auf dem äußersten Ende seines Sessels, so wie Dick ihn damals im Herons-Klub sitzen gesehen hatte.

 

»Hoffentlich werden Sie mir verzeihen, daß ich hierhergekommen bin, Hauptmann Gordon«, sagte er. »Ich habe ja vielleicht wirklich kein Recht, meine Sorgen zu Ihnen zu tragen.«

 

»Es freut mich, daß Sie in mir Ihren Freund sehen«, sagte Dick, indem er ihm die Hand schüttelte. »Kennen Sie Herrn Elk?«

 

»Wir sind ja alte Bekannte!« sagte Johnson, und für einen Moment kehrte all seine Freundlichkeit zurück.

 

»Ich muß unbedingt frühstücken«, sagte Dick, »wollen Sie nicht mein Gast sein?«

 

»Mit Vergnügen. Ich habe heute morgen noch nichts gegessen. Die Sache steht nämlich so, Hauptmann Gordon, daß er mich hinausgeworfen hat.«

 

Dick sah ihn verblüfft an. »Was? Maitland hat Sie entlassen?« Johnson nickte. »Und zu denken, daß ich dem alten Teufel so viele Jahre für dieses winzige Gehalt gedient habe! Und nie habe ich ihm Anlaß zu irgendeiner Klage gegeben! Hunderte und Tausende Pfund sind durch meine Hände gegangen, ja, auch Millionen. Bei mir hat immer alles auf den Penny gestimmt. Natürlich, denn wenn das nicht der Fall gewesen wäre, so hätte er es ja sofort entdeckt. Er ist der größte Mathematiker, dem ich je begegnet bin. Und er kann doppelt so schnell rechnen und schreiben als sonst irgendein Mensch«, fügte er mit widerstrebender Bewunderung hinzu.

 

»Es ist eigentlich merkwürdig, daß ein Mensch von so ungeschlachtem Benehmen und so roher Sprache solche Talente hat«, sagte Dick.

 

»Für mich ist er ein Wunder gewesen, seit ich ihn kenne«, gestand Johnson. »Wenn man ihn reden hört, so könnte man glauben, er wäre ein Straßenkehrer. Und doch ist er ein sehr belesener Mann von großer Bildung.«

 

»Kann er sich vielleicht auch Jahreszahlen merken?!« fragte Elk.

 

»Natürlich kann er das!« antwortete Johnson ernst. »Er ist ein merkwürdiger Mensch, wenn er auch in mancher Beziehung ein unangenehmer alter Herr ist. Ich sage das nicht, weil er mich jetzt entlassen hat, ich war immer dieser Ansicht. Aber er hat nicht den geringsten Funken von Güte. Ich glaube, das einzig Menschliche an ihm ist seine Liebe zu dem kleinen Jungen.«

 

»Was für ein kleiner Junge?« fragte Elk höchst interessiert.

 

»Ich habe ihn selbst nie gesehen«, sagte Johnson. »Das Kind ist noch nie ins Büro gebracht worden. Ich weiß nicht, wessen Kind es ist, aber möglicherweise ist es ein Enkel von Maitland.«

 

Es folgte eine Pause.

 

»Ich verstehe jetzt!« sagte Dick leise, und er hatte wohl das Recht dies zu sagen, denn in jenem Augenblick dämmerte ihm das Verständnis für den Frosch und für das Geheimnis des Frosches auf.

 

»Warum hat er Sie entlassen?« fragte Dick.

 

Johnson zuckte die Achseln. »Einer ganz törichten Sache wegen. Heute morgen, als ich kam, war er schon zugegen, ein ganz ungewöhnlicher Vorfall, denn er kommt gewöhnlich erst eine Stunde später als wir ins Büro. – ›Johnson‹, sagte er, ›Sie kennen Fräulein Bennett?‹ Ich antwortete, daß ich dieses Vergnügen hätte. ›Und wie ich höre‹, fuhr er fort, ›sind Sie einmal oder zweimal dort zum Essen geladen gewesen‹ – ›Das ist vollkommen wahr, Herr Maitland‹, antwortete ich. ›Sehr schön, Johnson‹, sagte Maitland, ›Sie sind entlassen‹«

 

»Das war alles?« fragte Dick verblüfft.

 

»Ja, das war alles«, sagte Johnson verzweifelt. »Können Sie das begreifen?«

 

Dick antwortete nicht. Der neugierige Elk, der leidenschaftlich danach strebte, mehr über Maitland zu erfahren, stellte noch eine Frage.

 

»Herr Johnson, Sie sind doch jahrelang mit diesem Mann beisammen gewesen, haben Sie nicht irgend etwas an ihm bemerkt, was Ihnen besonders verdächtig vorgekommen ist? Hat er nicht geheime Besuche empfangen? Haben Sie nicht zum Beispiel gewußt, daß er etwas mit den Fröschen zu tun gehabt hat?«

 

»Mit den Fröschen?« Johnson riß die Augen auf, und seine Stimme verstärkte noch den Eindruck seines Unglaubens. »Gott behüte! Nein! Ich kann mir nicht einmal denken, daß er etwas über diese Leute weiß. Nein, Herr Elk, nie habe ich etwas gehört, gesehen oder gelesen, das diesen Eindruck erweckt hätte.«

 

»Sie haben doch die Berichte über die meisten seiner geschäftlichen Transaktionen gesehen, gibt es etwas, das Sie vermuten läßt, Maitland hätte – sagen wir durch den Tod des Herrn Maclean in Dundee oder durch den Überfall, der auf den Wollhändler in Durby gemacht wurde, profitiert? Zum Beispiel, wissen Sie, ob er nicht an dem Einkauf oder Verkauf von französischen Likören und Parfüms interessiert war?«

 

Johnson schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Inspektor, er handelte einzig nur mit Realitäten. Er hat Bodenbesitz in England, in Südfrankreich und in Amerika. Er hat auch ein bißchen auf der Börse gespielt, ja, ja, wir haben sogar ein ziemlich großes Börsengeschäft gehabt, ehe die Mark fiel.«

 

»Was gedenken Sie jetzt zu tun, Herr Johnson?« fragte Dick.

 

Johnson machte eine hilflose Handbewegung. »Was kann ich denn anfangen, Herr«, sagte er. »Ich bin beinahe fünfzig Jahre alt – ich habe den größten Teil meines Lebens in einer Stellung verbracht, und es ist sehr unwahrscheinlich, daß ich noch eine zweite bekommen werde. Glücklicherweise habe ich mir nicht nur Geld erspart, sondern auch ein oder zwei gute Käufe gemacht, für die ich dem Alten dankbar sein muß. Ich glaube ja zwar nicht, daß er sich besonders gefreut hat, als er sah, daß ich seinem Beispiel gefolgt war, aber das gehört jetzt nicht zur Sache. Das verdanke ich ihm jedenfalls. Ich habe gerade genug Geld, um für den Rest meiner Tage, wenn ich keine außerordentlichen Spekulationen anfange und sehr, sehr bescheiden bin, leben zu können. Aber ich kam eigentlich hierher, um mich an Sie zu wenden und Sie zu fragen, ob Sie nicht vielleicht eine Stellung für mich wüßten? Ich würde doch gerne ein bißchen arbeiten und am allerliebsten mit Ihnen.«

 

Dick war ein wenig verlegen, denn für Herrn Johnson gab es, wohin er auch sah, keine Anstellungsmöglichkeit. Nichtsdestoweniger wollte er ihm doch nicht absagen.

 

»Lassen Sie mich die Sache ein paar Tage überdenken«, sagte er. »Wissen Sie eigentlich, wer jetzt Sekretär des Herrn Maitland ist?«

 

»Ich weiß es nicht. Das ist ja meine größte Kränkung. Ich habe einen Brief auf seinem Pult liegen sehen, der an Fräulein Bennett adressiert war. Und da ist mir der Gedanke gekommen, daß er vielleicht ihr meine Stellung anbieten will.«

 

Dick vermochte kaum seinen Ohren zu trauen. »Was veranlaßt Sie, das zu denken?«

 

»Ich weiß nicht, aber ein paarmal hat sich der Alte bei mir nach Rays Schwester erkundigt. Es war ebenso verwunderlich wie alles, was er sonst gemacht hat.«

 

Johnson tat Elk von Herzen leid. Er schien so absolut ungeeignet für den rauhen Konkurrenzkampf, und die Möglichkeiten, die einen Mann von fünfzig Jahren erwarteten, der immer in einer Stellung gewesen war, schienen praktisch genommen gleich Null. »Ich glaube nicht, daß Fräulein Bennett dieses Anerbieten annehmen wird, wenn Herr Maitland es ihr machen sollte. Bitte, geben Sie mir Ihre Adresse für den Fall, daß ich Ihnen etwas mitzuteilen habe.«

 

»Fitzroy Square Nummer 431«, sagte Johnson und murmelte eine Entschuldigung der etwas schmutzigen Visitenkarte wegen, die er überreichte. Er ging zur Tür, aber noch mit der Hand auf der Klinke zögerte er.

 

»Ich … ich habe Fräulein Bennett sehr gerne«, sagte er stockend. »Und ich möchte gerne, daß sie erfährt, daß Herr Maitland gar nicht so schlecht ist, wie er aussieht. Ich möchte mich nicht unanständig gegen ihn betragen.«

 

»Armer Teufel!« sagte Elk und sah dem Mann nach, der niedergeschlagen Harley Terrace entlangging. »Das ist ein Schlag für ihn. Sie hätten ihm fast ausgeplaudert, daß Sie Maitland heute morgen gesehen haben. Ich habe es gemerkt und war schon bereit, Sie zu unterbrechen. Denn es ist das Geheimnis der jungen Dame«, fügte Elk vorwurfsvoll hinzu.

 

»Wollte Gott, dem wäre nicht so«, seufzte Dick. Und nun erst fiel es ihm wieder ein, daß er ja eigentlich Herrn Johnson zum Frühstück eingeladen hatte.

 

Kapitel 3

 

3

 

Es dunkelte bereits, als zwei Landstreicher, die das Dorf Morby umgangen hatten, wieder auf die Poststraße kamen. Die Umgehung des Ortes war für sie ein mühevolles und anstrengendes Unternehmen gewesen, denn der Regen, der den ganzen Tag hindurch gefallen war, hatte die gepflügten Felder in zähe braune Moorstrecken verwandelt, wodurch die Fußwanderung zu einer Geduldsprobe wurde.

 

Der eine der Landstreicher war groß, unrasiert, schäbig. Er trug den verschossenen braunen Rock bis zum Kinn zugeknöpft, den niederhängenden, eingedrückten Hut auf den Hinterkopf zurückgeschoben. Mit ihm verglichen, schien sein Gefährte nur von kleinem Wuchs, obgleich er übermittelgroß und ein wohlgewachsener breitschultriger Mann war. Während sie so auf der lehmigen Landstraße dahinstapften, sprachen sie kein Wort. Der kleinere Mann blieb zweimal stehen und sah in der zunehmenden Dunkelheit umher, als ob er nach einem Verfolger ausspähe. Und einmal ergriff er des großen Mannes Arm und zog ihn hinter die Büsche, die die Landstraße begrenzten. Dies geschah, als unter Getöse und Aufspritzen des nassen Schlammes ein Auto an ihnen vorbeiraste. Nach einer Weile bogen sie von der Straße ab, überquerten ein Feld und kamen an den Rand eines unbebauten Landstrichs, über den eine alte Wagenspur hinführte.

 

»Jetzt sind wir gleich da«, brummte der kleinere Mann, und der andere grunzte seine Zustimmung. Trotz all seiner anscheinenden Gleichgültigkeit nahmen seine Augen jede Einzelheit der Szenerie auf: Ein einsames Gebäude am Horizont, das wie eine Scheune aussah … Grafschaft Essex … wie er nach der Nummerbezeichnung des Autos vermuten mußte, die er vermerkt hatte, als der Wagen an ihm vorbeisauste. Unbebautes Land … wahrscheinlich zu einer nicht mehr in Betrieb stehenden Lehmgrube führend …oder war es ein Steinbruch? Nahe dem Tor, durch das die Wagenspur lief, war an einem wackligen Pfosten ein altes Ankündigungsbrett befestigt. Es war zu finster, um die verwischte Inschrift zu lesen, aber er erkannte das Wort: »Kalk«. »Kalkstein?« Es würde ein leichtes sein, dies später zu ergründen. Die einzige Gefahr für ihn bestand nur in der möglichen Überzahl der Frösche. Unter dem Schutz seines Überrockes fühlte er nach dem Browning und ließ ihn in seine äußere Tasche gleiten. Hilfe gab es nicht, und er erwartete sie auch nicht. Carlo hatte ihn im Weichbild der City in sein elendes Auto aufgenommen und hatte ihn kreuz und quer durch den Regen gefahren, indem er Nebenstraßen folgte und Städte und Dörfer vermied, so daß Genter, wäre sein Platz auch an der Seite des Fahrers gewesen, sich nicht hätte zurechtfinden können. Aber er war in die Finsternis des kleinen Wagens gesetzt worden und hatte nichts gesehen. Wellingdale und dessen Beobachter, die ihn bewacht hatten, waren auf das Auto nicht vorbereitet gewesen. Ein Vagabund mit einem Auto war eine Ungeheuerlichkeit. Er selbst, Genter, war zurückgezuckt, als der Wagen beim Gehsteig anhielt, wo er wartend gestanden hatte, und Carlos Stimme zischelte: »Steig ein!« Unter sich sah Genter verrostete Eisenkarren, durcheinandergeworfene Eisenbahnschienen, dazwischen tiefe, regengefüllte Sprenglöcher. Jenseits, auf der scharfen Linie des Steinbruchrandes, stand eine winzige Holzhütte. Und zu dieser lenkte Carlo seine Schritte.

 

»Nervös, was?« fragte er, und es klang wie Spott in seiner Stimme.

 

»Nicht sehr«, sagte der andere kühl. »Vermutlich sind die Frösche in der Bude da drunten?« Carlo lachte leise.

 

»Es sind keine da«, sagte er. »Nur der Frosch allein. Er kommt vom Steinbruch herauf. Es ist da eine Treppe unter der Hütte. Guter Einfall, was? Die Hütte hängt gerade über dem Abgrund, und die Stufen kann man nicht einmal sehen, wenn man sich auf dem Bauch vorschiebt und über den Rand hinunterschaut. Ich habe es einmal versucht. Die werden ihn nie fangen, nicht, wenn sie Millionen von Spitzeln schicken!«

 

»Nun, und wenn sie den Steinbruch umstellen würden?«

 

»Du glaubst doch nicht, daß er es nicht weiß, wenn er gefangen werden soll? Er weiß alles, der Frosch.« Er sah auf des anderen Mannes Hand herab. »Weh wird’s nicht sehr tun«, sagte er. »Und es lohnt sich. Du wirst nie mehr ohne Kollegen sein, Harry. Wenn du in eine Patsche kommst, zieht dich der beste Advokat ‚raus. Wir suchen solche Burschen wie du einer bist, es gibt so massenhaft kleine Halunken, die wegen so ganz kleiner Sachen sich schon einbilden, daß sie zu uns gehören. Aber du wirst große Arbeit machen, und wenn du für ihn etwas Besonderes zu tun hast, setzt er Hunderte und Hunderte von Pfunden für dich. Wenn du krank wirst, oder du bist hungrig oder so, so werden die Frösche zu dir kommen und dir helfen.«

 

Genter schwieg. Sie waren jetzt etwa zwölf Schritte von der Hütte entfernt, einem starken Gebäude, aus kräftigem Bauholz gezimmert, mit einer Tür und einem geschlossenen Fensterladen. Der Mann, der sich Carlo nannte, machte Genter ein Zeichen, zu verweilen. Er selber ging vorwärts und klopfte an die Tür. Genter sah, wie der Mann zum Fenster trat und dessen Laden um eines Zolles Breite sich öffnete. Es schien ein Gespräch im Flüsterton zu folgen, dann kam Carlo zurück.

 

»Er hat gesagt, daß er Arbeit für dich hat, die dir Tausende einbringen kann. Du hast wirklich Glück! Kennst du Roche-More?«

 

Genter nickte. Er kannte diese Vorstadt der Aristokraten.

 

»Es wohnt ein Mann dort, der um die Ecke gebracht werden soll. Er kommt jede Nacht mit dem 11.50-Zug aus seinem Klub und geht zu Fuß nach Hause. Es steigt eine dunkle Straße an, und mit einem Knüttel kann man ihn ganz ohne Mühe erwischen. Bloß ein Schlag, und es ist aus mit ihm. Das heißt noch nicht töten, verstehst du?«

 

»Warum will er, daß ich das tu‘?«

 

»Alle Neuen müssen etwas tun, um ihren Mut zu beweisen. Also, was meinst du dazu?«

 

Genter hatte nicht gezögert. »Wird besorgt!« sagte er.

 

Carlo kehrte zum Fenster zurück und hieß seinen Gefährten folgen.

 

»Bleib hier stehen und streck den linken Arm durchs Fenster!«

 

Genter streifte die Manschetten eines durchnäßten Ärmels zurück und streckte seinen nackten Arm durch die Spalte. Seine Hand wurde mit festem Griff erfaßt, und sogleich fühlte er, wie etwas Weiches und Nasses sich gegen sein Handgelenk preßte. – Ein Gummistempel, dachte er und wappnete sich gegen den Schmerz, der nun folgen mußte. Er kam wie das schnelle prickelnde Stechen von tausend Nadeln. Dann ließ der Griff nach, Genter riß seine Hand zurück und starrte verwundert auf die verwischte Zeichnung von Tinte und Blut, die der Tätowierende auf seiner Hand zurückgelassen hatte.

 

»Wisch es nicht ab!« sagte eine erstickte Stimme aus der Finsternis der Hütte her. »Und jetzt kannst du hereinkommen.«

 

Der Fensterladen schloß sich und wurde von innen verriegelt, dann kam das Knarren eines Schlüssels, der sich im Schloß drehte, und die Tür öffnete sich. Genter trat in die pechschwarze Finsternis ein und vernahm, daß die Tür der Hütte von dem unsichtbaren Insassen verriegelt wurde.

 

»Deine Nummer ist K 971«, sagte die hohle Stimme, »und wenn du sie in den Personalnachrichten der Times siehst, so berichtest du hierher, wo immer du auch bist. Nimm das…«

 

Genter streckte seine Hand aus, und ein Briefumschlag wurde in sie gelegt. Es war, als ob der geheimnisvolle Frosch selbst in dieser Finsternis zu sehen vermöchte.

 

»Das ist dein Reisegeld und eine Landkarte der Gegend. Wenn du das Geld für dich verbrauchst oder nicht dorthin kommst, wo man deiner bedarf, wird man dich töten. Hast du mich verstanden?«

 

»Jawohl.«

 

»Du wirst weiteres Geld erhalten, das du für deine Ausgaben verwenden kannst. Hör mich jetzt an. In Roche-More, Nr. 7, Park Avenue, wohnt Hallwell Jones, der Bankier –« Er mochte gefühlt haben, daß der Neuling überrascht zusammenfuhr. »Du kennst ihn?«

 

»Ja, ich habe vor Jahren für ihn gearbeitet«, sagte Genter. Er zog seinen Browning hervor und entsicherte ihn mit dem Daumen.

 

»Zwischen heute und Freitag muß er niedergeschlagen werden. Du brauchst ihn aber nicht zu töten. Wenn es geschieht, so macht es nichts aus. Aber ich vermute, daß sein Schädel zu hart sein …«

 

Genter hatte nun festgestellt, wo der Mann stand, da seine Augen sich an das Dunkel zu gewöhnen begannen. Seine Hand griff plötzlich zu und erfaßte den Arm des Frosches.

 

»Ich habe eine Pistole«, sagte er zwischen den Zähnen. »Ich bin Inspektor Genter von der Polizeidirektion, und wenn du dich zur Wehr setzt, so töte ich dich.«

 

Eine Sekunde lang herrschte Totenstille. Dann fühlte Genter, wie die Hand, die die Pistole hielt, mit schraubengleichem Griff umfaßt wurde. Er schlug mit der anderen Faust zu, aber der Mann bückte sich, und der Schlag fuhr in die Luft. Dann wurde die Pistole mit unerträglicher Drehung aus Genters Hand gewunden, und er kam mit seinem Gefangenen in ein Handgemenge. Dabei berührte sein Gesicht das des Frosches. War es eine Maske, die jener trug? Er spürte die kalten Glimmerbrillengläser auf seiner Wange. Dies erklärte die erstickte Stimme. So kräftig Genter auch war, er konnte sich aus den ihn umklammernden Armen doch nicht befreien, und sie schwankten in der furchtbaren Finsternis hin und her. Plötzlich hob der Frosch den Fuß, und um dem vorausgesehenen Stoß zu entgehen, machte Genter eine heftige Wendung. Das Splittern von gebrochenem Glas ward hörbar und ein scharfer, kalter, durchdringender Geruch drang auf den Detektiv ein. Er versuchte tief zu atmen, aber er meinte zu ersticken, und seine Arme fielen schlaff und machtlos herab.

 

Der Frosch hielt die gebeugte Gestalt eine Minute lang, dann ließ er sie zu Boden fallen.

 

Am Morgen fand die Londoner Polizeipatrouille Inspektor Genter im Garten eines leeren Hauses liegend und rief die Rettungsgesellschaft an.

 

Aber ein Mann, der mit konzentrierten Blausäuredämpfen vergiftet worden ist, stirbt schnell. Zehn Minuten, nachdem der Frosch den Glaszylinder, den er für ähnliche Notfälle in der Hütte vorbereitet hielt, zerbrochen hatte, war Genter eine Leiche.

 

Kapitel 21

 

21

 

Elk wurde um die Mittagsstunde dringend nach Fitzroy Square Nummer 431 gerufen.

 

Es hatte ein Einbruch in Herrn Johnsons Wohnung stattgefunden, und als der Philosoph den Eindringling überraschte, war er mit einem schweren Gegenstand über den Kopf geschlagen worden, so daß er bewußtlos zusammengesunken war.

 

Als Elk ankam, war der Philosoph schon verbunden und saß bleich und zitternd auf seinem Sofa.

 

Das Haus wimmelte von Polizisten, und auf der Straße hatte sich eine erregte Menschenmenge angesammelt.

 

»Er hat Ihnen einen ganz schönen Hieb versetzt«, sagte Elk anerkennend. »Aber ich zweifle daran, daß es der Frosch selbst gewesen ist, obgleich Sie sagen, daß er sich dafür ausgegeben hat. Denn der Frosch hat, soweit ich mich erinnern kann, niemals irgendeinen Überfall selbst ausgeführt.«

 

Elk untersuchte die Wohnung auf das genaueste, und als er in das Schlafzimmer kam, fand er in der Nähe des offenen Fensters einen Gepäckschein. Es war ein grüner Zettel, der die Aufbewahrung einer Handtasche bestätigte. Und er war von der Endstation der Nordbahn ausgestellt.

 

Elk hielt das Papier ans Licht und prüfte den Datumsstempel.

 

Das Gepäckstück war vor vierzehn Tagen hinterlegt worden. Elk legte den Schein vorsichtig und zärtlich in seine Brieftasche.

 

Was den Überfall für Elk bemerkenswert machte, war, daß der Mann, der ihn ausgeführt hatte, sich für den Frosch ausgegeben haben sollte.

 

Elk begriff die Organisation gut genug, um zu wissen, daß keiner der untergeordneten Sklaven des Frosches es gewagt haben würde, dessen Namen zu mißbrauchen.

 

Elk begriff nicht, warum der Frosch gerade Johnson seiner persönlichen Anwesenheit für würdig gehalten haben sollte.

 

»Und Sie meinen, daß es der Frosch selber gewesen ist?« fragte er skeptisch.

 

»Es war entweder der Frosch selbst oder einer seiner vertrauten Gesandten«, sagte Johnson. »Sehen Sie her.«

 

In der Mitte eines rosafarbenen Löschblattes sah Elk das gestempelte Zeichen des unausbleiblichen Frosches.

 

Es erschien auch auf dem Türpaneel.

 

»Das war als Warnung gemeint, nicht wahr?« sagte Johnson. »Nun, ich hatte Zeit, mich an diese Warnung zu gewöhnen, bevor ich meinen Teil bekam.«

 

»Es gibt ärgere Dinge als den Knüppel«, sagte Elk fröhlich. »Vermissen Sie irgend etwas?«

 

Johnson schüttelte den Kopf. »Nein, nichts!«

 

»Haben Sie vielleicht irgendwelche Privatpapiere von Maitland hierhergebracht, die Sie ihm wiederzugeben vergaßen?« fragte Elk nachdenklich.

 

»Die Formulierung Ihrer Frage ist sehr liebenswürdig«, sagte Johnson lächelnd und mit seinen Augen zwinkernd. »Es gibt hier nicht ein einziges Dokument von geringstem Wert. Ich war allerdings früher daran gewöhnt, mir Arbeit von Maitlands Büro nach Hause zu nehmen und habe oft bis Mitternacht darüber gesessen. Das ist auch der Grund, warum meine Verabschiedung mir als ein solcher Beweis von Undankbarkeit erscheint. Aber wenn Sie wollen, können Sie den Inhalt meiner sämtlichen Schränke, Schubladen und Kasten durchsuchen, ich kann Ihnen versichern, daß ich ein reichlich pedantischer Mann bin und tatsächlich jedes Papier kenne, das sich bei mir befindet.«

 

Auf dem Nachhauseweg überdachte Elk die ganze Angelegenheit in allen ihren überraschenden Erscheinungen. Er war in Wahrheit froh, daß ein neues Problem ihn von dem Gedanken an die ihm bevorstehende Untersuchung ablenkte.

 

Hauptmann Gordon würde sicherlich alle Verantwortung dem Präsidium gegenüber auf sich nehmen, aber dem Kriminalpolizisten kamen »die Leute dort oben« ebenso furchtbar vor wie der Frosch selber.

 

Elk beabsichtigte, den Bahnhof von Kings Gross zeitig zu besuchen, um den Inhalt der deponierten Reisetasche zu prüfen, aber als er am nächsten Morgen erwachte, war er einzig von der kommenden Untersuchung erfüllt.

 

Obgleich er den Einbruch bei Johnson sorgfältig in sein Rapportbuch eintrug und den grünen Gepäckschein in seinen Safe versperrte, war er viel zu beschäftigt, um sofortige Nachforschungen anzustellen. Dick stellte sich zur Untersuchung ein, und Elk gab ihm eine kurze Skizze von dem Einbruch in Fitzroy Square. Und dann holte Elk den grünen Schein heraus.

 

»Der Schein ist an irgend etwas anderes angeheftet gewesen«, sagte Dick, der den Zettel gegen das Fenster gehalten hatte. »Hier ist der ganz frische Abdruck einer Papierklammer. Vielleicht kann das irgendwie zur Information beitragen.«

 

»Ach, ich fürchte, daß die Leute da oben uns jetzt die Hölle heiß machen werden«, sagte Elk seufzend.

 

»Machen Sie sich keine Sorgen darüber«, tröstete Dick. »Unsere Freunde dort oben sind so froh über die Auffindung des Vertrages, daß sie uns nicht allzusehr mit Hagn quälen werden.«

 

Es war dies eine bemerkenswerte Prophezeiung, die sich in ebenso bemerkenswerter Weise erfüllte.

 

Als Elk zu den Großen hereingerufen wurde, zu all diesen Polizeichefs und Räten, die um den grünen Untersuchungstisch herumsaßen, fand er zu seiner freudigen Überraschung, daß die Haltung seiner Vorgesetzten eher freundliches Interesse als kalte Mißbilligung verriet.

 

»Unter gewöhnlichen Umständen wäre das Entweichen Hagns der Anlaß gewesen, strenge Maßregeln gegen die verantwortlichen Stellen zu erlassen«, sagte der Polizeipräsident. »Aber in diesem besonderen Fall möchte ich keinen Tadel aussprechen. Die Wahrheit ist, daß die Frösche ungeheuer mächtig sind.«

 

Nicht alle Mitglieder der Untersuchungskommission waren so freundlich gesinnt wie der Polizeipräsident.

 

»Es ist Tatsache«, sagte ein weißhaariger Polizeirat, »daß im Zeitraum einer einzigen Woche zwei Gefangene unter den Augen der Polizei getötet würden und – ebenfalls vor den Augen der Polizei – ein Gefangener aus dem Gewahrsam entfloh! Das ist sehr schlimm, Hauptmann Gordon! Sehr schlimm!« Er schüttelte den Kopf.

 

»Vielleicht würden Sie, Herr Polizeirat, selber sich mit der Untersuchung befassen wollen«, sagte Dick. »Es handelt sich hier nicht um einen gewöhnlichen, unscheinbaren Verbrechertyp, und das hohe Präsidium wird wohl in diesem Falle eine, das gewöhnliche Maß übersteigende Geduld üben müssen. Aber ich kenne jetzt den Frosch«, sagte er einfach.

 

»Sie kennen ihn? Wer ist es?« fragte der Präsident ungläubig.

 

»Obgleich es ganz leicht für mich wäre, noch heute morgen einen Haftbefehl gegen ihn zu erlassen, so ist es doch keine so leichte Sache, einen überzeugenden Schuldbeweis zu scharfen. Ich muß noch um eine Spanne Zeit bitten!«

 

Als Gordon und Elk in ihr Büro zurückgekehrt waren, sagte Elk geheimnisvoll flüsternd: »Wenn das ein Bluff gewesen ist, so war es 4er schönste, den ich je gehört habe!«

 

»Es war kein Bluff«, sagte Dick ruhig.

 

»Also wer, um Himmels willen, wer ist es?«

 

Dick schüttelte den Kopf. »Ich möchte Sie bitten, sich jetzt über den Gepäckschein zu informieren«, sagte er mit Würde.

 

Elk hastete verstört nach dem Bahnhof. Er wies den grünen Schein vor, bezahlte die Extragebühr für die abgelaufene Aufbewahrungsfrist, und es wurde ihm eine braune Ledertasche durch den Beamten ausgehändigt.

 

»Nun, mein Sohn«, sagte Elk, indem er sich zu erkennen gab, »vielleicht können Sie mir jetzt sagen, ob Sie sich erinnern können, wer diese Handtasche gebracht hat?«

 

Der Beamte grinste. »So ein gutes Gedächtnis habe ich leider nicht«, sagte er.

 

»Da sympathisiere ich ganz mit Ihnen«, sagte Elk. »Aber wenn Sie versuchen würden, sich daran zu erinnern, könnten Sie vielleicht doch einige wichtige Aussagen machen. Gesichter sind doch schließlich keine Jahreszahlen.«

 

Der Beamte blätterte in seinem Buch.

 

»Stimmt, an dem Tage hatte ich Dienst. Aber wir bekommen so viel Gepäck herein, daß es mir unmöglich ist, mich an eine bestimmte Person zu erinnern. Ich weiß nur eins, daß ich mich erinnern würde, wenn diese Person etwas Merkwürdiges an sich gehabt hätte.«

 

»So. Sie glauben also, daß der, der das abgegeben hat, ganz gewöhnlich aussah? – War es vielleicht ein Amerikaner?«

 

Der Beamte dachte wieder nach. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte er. »Wir haben schon seit Wochen keine Amerikaner hier gehabt.«

 

Elk trug die Handtasche in das Amt des Bahnhofspolizeiinspektors und öffnete sie mit Hilfe eines Dietrichs.

 

Der Inhalt war ganz ungewöhnlich. Ein kompletter Anzug, Hemd, Kragen und Krawatte. Ein funkelnagelneues Rasierzeug. Eine kleine Flasche Annatto – ein Färbemittel. Ein Paß auf den Namen »John Henry Smith« lautend, aber ohne Fotografie, eine Browningpistole mit gefülltem Magazin, ein Kuvert mit fünftausend Franc und fünf Einhundert-Dollar-Scheinen. Die Kleider trugen keine Marke, der Browning war belgisches Fabrikat, und der Paß mochte falsch sein, aber zumindest das Formular, auf dem er ausgestellt war, war zweifellos echt. Eine spätere Nachfrage beim Auswärtigen Amt ergab, daß er nicht amtlich ausgestellt war.

 

Elk beschaute die Gegenstände, die auf dem Schreibtisch des Inspektors in langer Reihe ausgebreitet waren.

 

»Das ist die wunderschönste Reiseausstattung, die ich je gesehen habe«, meinte der Bahnhofsinspektor. »Die schönste Ausstattung, um durchzubrennen.«

 

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Elk. »Und wissen Sie, ich möchte wetten, daß eine gleiche Handtasche auf jeder Endstation von London zu finden ist. Ich werde die Sachen auf die Polizeidirektion bringen. Vielleicht wird der Mann zu Ihnen kommen, um nach der Tasche zu fragen, aber ich halte das für höchst unwahrscheinlich.«

 

Elk trat aus dem Büro des Inspektors.

 

Einer der Nordexpreßzüge war gerade mit zweistündiger Verspätung eingetroffen. Elk stand zerstreut und müßig da und beobachtete die Reisenden, die sich vor den Schranken stauten.

 

Und als er eine Weile so dagestanden hatte, bemerkte er ein bekanntes Gesicht. Da er aber völlig in andere Gedanken versunken war, erkannte er den Betreffenden erst, als dieser schon den Ausgang erreicht hatte.

 

Es war John Bennett. ELk schlenderte durch die Schranken zu dem Stationsbeamten.

 

»Woher kommt der Zug?«

 

»Aus Aberdeen, Herr.«

 

»Letzter Aufenthalt?« fragte Elk.

 

»Letzter Aufenthalt in Doncaster«, antwortete der Beamte.

 

Während sie sprachen, sah Elk zu seinem Erstaunen Bennett zurückkehren. Er arbeitete sich eilig durch den entgegendrängenden Strom der Reisenden durch, die eben die Schranken passiert hatten. Augenscheinlich hatte er etwas vergessen.

 

Als Bennett wieder erschien, trug er den gewohnten, schweren braunen Kasten, und Elk erkannte die Filmkamera, das Steckenpferd des seltsamen Mannes, durch das er seinen Verdienst zu erwerben suchte.

 

»Sonderbarer Kauz!« sagte Elk zu sich selber, rief einen Wagen an und brachte seinen Fund in die Polizeidirektion. Er schickte nach zweien seiner besten Leute.

 

»Die Aufbewahrungsräume jedes Bahnhofs in London sollen nach Handgepäck von dieser Art untersucht werden«, sagte er, indem er die Tasche vorwies. »Alle Stücke sind wahrscheinlich schon wochenlang eingelagert. Stellen Sie die gewöhnlichen Fragen nach dem Mann, der die Sachen hinterlegt hat und, um ganz sicher zu gehen, öffnen Sie auf der Stelle jede der Taschen. Wenn Sie ein vollständiges Rasierzeug, einen Paß und Geld vorfinden, so bringen Sie sie nach Scotland Yard.«

 

Dick bewunderte die Organisation, als Elk ihm seinen Fund zeigte.

 

»Er hat dafür gesorgt, sich zu jeder Tages- und Nachtzeit in Sicherheit bringen zu können«, sagte Elk. »Bei jeder Endstation hätte er Geld, andere Kleider, den nötigen Paß, um ins Ausland zu fahren, Annatto, um Gesicht und Hände zu färben, gefunden, und brauchte nur seine eigene Fotografie mitzuhaben. – Übrigens, wissen Sie, daß ich John Bennett getroffen habe?«

 

»Wo? Auf dem Bahnhof?« fragte Dick.

 

Elk nickte. »Er kam aus dem Norden, aus einer der fünf Städte – Aberdeen, Arbroarth, Edinburgh, York oder Doncaster. Er hat mich nicht gesehen, und ich habe mich auch nicht vorgedrängt. Geben Sie mir Antwort, Herr Hauptmann, was halten Sie von dem Mann? Ist er vielleicht Ihr Frosch?« forderte ihn Elk heraus.

 

Aber Dick Gordon lächelte nur. »Sie können sich eine Menge Arbeit ersparen, wenn Sie sich den Gedanken aus dem Kopf schlagen wollten.«

 

»Das weiß ich ohnehin«, murmelte Elk. »Dieser John Bennett ist mir ein Rätsel. Wenn er wirklich der Frosch ist, so hat er doch gestern abend nicht in Johnsons Wohnzimmer sein können.«

 

»Außer, falls er mit einem Motorrad nach Doncaster gefahren wäre, um sich ein Alibi zu verschärfen«, sagte Dick lächelnd, und nach einer Pause fuhr er fort: »Ich bin wirklich neugierig, ob die Polizei von Doncaster unsere Direktion anrufen wird, oder ob sie sich auf ihr eigenes Nachrichtendepartement verläßt?«

 

»Nachrichten? Worüber denn?« fragte Elk überrascht.

 

»Mabberley Hall, das außerhalb Doncaster liegt, wurde ge stern von Einbrechern ausgeraubt«, sagte Dick, »und Lady Fitz Hermans Brillantendiadem wurde gestohlen. Das unterstützt Ihre Theorie wohl so ziemlich, Elk, was?«

 

Kapitel 14

 

14

 

Elk ging auf die Straße hinunter, um den Amerikaner zu begrüßen. Herr Broad war im Frack, und die Scheinwerfer seines Autos erhellten die schmutzige Straße.

 

»Sie haben wirklich eine gute Spürnase«, meinte Elk respektvoll.

 

»Als ich zwanzig Schutzleute aus dem Herons-Klub stürzen und in rasendem Tempo fortfahren sah, durfte ich wohl vermuten, daß ihre Eile nicht dem Bestreben galt, noch vor zwei Uhr ins Bettchen zu kommen«, sagte Broad. »Ich besuche den Klub gewöhnlich in den Morgenstunden. Seine Mitglieder sind ja vielleicht eine noch minder wünschenswerte Bekanntschaft als die übrige Rasse der Frösche. Aber sie amüsieren mich. – Ich wiederhole meine Frage: Haben Sie das liebe kleine Kindchen schon gesehen, das das Wort M-A-U-S buchstabieren lernt?«

 

Elk hatte das Gefühl, daß der liebenswürdige Amerikaner ihn verspottete. »Kommen Sie lieber herein und sprechen Sie mit dem Chef.«

 

Broad folgte dem Inspektor in das Schlafzimmer von Maitlands Wirtschafterin, wo Dick die bei dem eiligen Aufbruch von Nummer Sieben zurückgelassenen Papiere prüfte.

 

Außer der Kopie des Geheimberichtes über Mills hatte er ein Bündel von Zetteln gefunden, von denen viele unleserlich und unverständlich schienen. Sie waren maschinengeschrieben und glichen auffällig Armeebefehlen. Es waren tatsächlich des Frosches Befehle, vom Oberhaupt seines Stabes herausgegeben und trugen die Unterschrift: Nummer Sieben.

 

Auf einem Zettel stand: »Es muß rascher gehen mit Raymond Bennett! L. muß ihm sagen, daß er ein Frosch ist. Was immer mit ihm auch geschehen wird, es muß von einem ausgeführt werden, der als Frosch unbekannt ist.«

 

Auf einem anderen Zettel: »Gordon hat eine Einladung für Donnerstag zum Dinner der Amerikanischen Gesandtschaft. Ein Ende machen. Elk hat eine neue Alarmglocke unter der vierten Treppe anbringen lassen. Er geht morgen um 4.14 nach W., um M. zu verhören.«

 

Es gab da noch andere Zettel, die von Leuten handelten, von denen Dick nie gehört hatte. Er lächelte eben über die lakonische Instruktion, ein Ende mit ihm zu machen, als der Amerikaner eintrat.

 

»Setzen Sie sich, Herr Broad. Elks trauriger Blick sagt mir, daß Sie Ihre Anwesenheit hier hinreichend erklären konnten.«

 

Broad nickte lächelnd. »Und Herr Elk gibt sich solch riesige Mühe«, sagte er. Seine Blicke fielen auf die Papiere. »Wäre es indiskret, zu fragen, ob dies hier Froschakten sind?« fragte er.

 

»Sehr«, sagte Dick. »Jede Ihrer Bemerkungen über die Frösche bedeutet den Höhepunkt der Indiskretion, sofern Sie nicht gewillt sind, etwas zu unserer Aufklärung beizutragen.«

 

»Ich kann Ihnen, ohne mich ganz zu eröffnen, mitteilen, daß Ihr Frosch Nummer Sieben durchgebrannt ist«, sagte der Amerikaner kühl. »Ich hörte die Frösche jubeln, als sie unter Bewachung die Straße hinuntergeführt wurden. Die Verkleidung von Nummer Sieben war vollendet. Er trug die Uniform eines Polizisten.«

 

Elk fluchte leise, aber gründlich. »Also das war er«, sagte er. »Er war der Polizist, der Hagn unter dem Vorwand zu arretieren, abführte. Und wenn nicht einer meiner Leute zufällig ihm den Gefangenen weggenommen hätte, so wären sie beide entwischt. Bitte, warten Sie.«

 

Elk suchte den Detektiv auf, der Hagn hereingeführt hatte.

 

»Ich kenne den Schutzmann nicht«, sagte der Beamte. »Er war von einer mir fremden Abteilung. Ein größerer Mann mit einem dicken, schwarzen Schnurrbart. Wenn es eine Verkleidung war, dann war sie ausgezeichnet.«

 

Elk kehrte geknickt zurück.

 

»Ich möchte das eine nur gerne wissen, was für ein Spiel der Frosch mit Ray Bennett treibt?« sagte Joshua Broad. »Denn das ist jedenfalls die interessanteste Intrige der Froschstrategie.« Er erhob sich und nahm seinen Hut. »Gute Nacht! Vergessen Sie nicht, nach dem Kindergarten zu suchen, Inspektor.« Er lächelte beim Abschied, und Elk durchstöberte das Haus vom Boden bis zum Keller ohne das leiseste Resultat.

 

»Ich glaube, daß sich hier eine sehr wertvolle Spur verrät«, sagte Dick, indem er Elk ein Papier reichte. Dieser las: »Alle Ochsen müssen Mittwoch 3. 1. A. hören! L. V. M. B. Wichtig!«

 

»Es sind fünfundzwanzig Abschriften von dieser einfachen aber aufregenden Botschaft vorhanden«, sagte Dick. »Und da ich keine Briefumschläge für die Instruktionen finde, so kann ich nur vermuten, daß Hagn sie entweder vom Klub oder von seiner Wohnung aus expediert hatte. Soweit habe ich die Ziffern in der Organisation der Frösche festgestellt. Frosch Nummer Eins arbeitet durch ›Sieben‹ , der vielleicht – oder vielleicht auch nicht – den Chef kennt. Hagn, dessen Nummer, nebenbei erwähnt, dreizehn ist, die ihm auch noch viel Unglück bringen wird, ist der ausübende Chef vom Büro Sieben und verkehrt nur mit den Leitern der einzelnen Sektionen. Sieben bekommt seine Orders vom Frosch selbst, aber er darf auch ohne Anfrage arbeiten, wenn sich Notfälle ergeben. Hier zum Beispiel«, er klopfte mit dem Zeigefinger auf das Papier, »ist eine Entschuldigung für die Verwendung von Mills, was meine Annahme bestätigt.«

 

»Keine Handschrift?« – »Nein, auch keine Fingerabdrücke.«

 

Elk nahm einen der Zettel, auf denen die Nachrichten geschrieben waren, und hielt ihn gegen das Licht.

 

»Drei Löwen als Wasserzeichen«, sagte er. »Eine neue Schreibmaschine von jemand Geschultem geschrieben, dessen kleiner Finger der linken Hand schwach ist, denn das Q und A sind durchlaufend schwach. Das zeigt, daß er nach dem Fingersatz schreibt. Maschinenschreib-Amateure gebrauchen selten ihre kleinen Finger, besonders an der linken Hand. Ich erwischte einmal einen Bankdieb, nur weil ich das wußte.« Er las nochmals die Nachricht. »Alle Ochsen müssen am Mittwoch hören. – ›Ochsen‹ bedeutet hier die Anführer, die Ochsenfrösche. Hm, wo hören Sie zu? ›3. 1. A.‹, das gibt mir zu denken, Herr Hauptmann.« Dick sah ihn merkwürdig an.

 

»Am 3. 1. Mittwoch nachts werden wir das Codesignal L. V. M. B. abhören. Wir werden den großen Frosch sprechen hören, mein lieber Elk!«

 

Kapitel 15

 

15

 

Ray Bennett erwachte. Seine Schläfen hämmerten, seine Zunge lag trocken im Mund. Als er den schmerzenden Kopf vom Kissen zu heben versuchte, stöhnte er, aber es gelang ihm mit Willensanstrengung, aus dem Bett zu steigen und sich bis ans Fenster zu schleppen. Er stieß die bleigefaßten Fensterflügel auf und sah auf den grünen Hyde-Park hinaus.

 

Dann goß er ein Glas mit Wasser voll und trank es gierig, setzte sich auf den Rand des Bettes, den Kopf in den Händen, und versuchte die Ereignisse der vergangenen Nacht zu überdenken. Er konnte sich ihrer nur trübe entsinnen, aber er war sich dessen bewußt, daß etwas Schreckliches geschehen war. Langsam erhellte sich die Erinnerung mehr und mehr, und mit schwerem Herzen wurde er sich des furchtbaren Vorganges bewußt.

 

Er sprang auf und begann hin und her zu gehen, bemüht, Rechtfertigung vor sich selber zu ersinnen. Die Eitelkeit der Jugend weist Entschuldigungen für eigene Fehltritte nicht zurück, und Ray stellte keine Ausnahme unter der Jugend dar.

 

Nachdem er ein Bad genommen und sich angekleidet hatte, war er bereits zu der Ansicht gekommen, daß viel, viel Unrecht an ihm geschehen sei. Es war unverzeihlich von ihm gewesen, seinen Vater zu schlagen, und er wollte ihm sicherlich sogleich schreiben, um seinen Schmerz hierüber zu betonen. Aber es sollte kein kriecherischer Brief sein, gelobte er sich, sondern ein würdiger und distanzierender. Schließlich kamen doch in allen Familien derlei Streitigkeiten vor. Und eines Tages würde er als reicher Mann zu seinem Vater zurückkehren und . . .

 

Ray verzog unangenehm berührt die roten Lippen. Es ging ihm ja jetzt recht gut, er hatte eine teure Wohnung, jede Woche wurden neue knisternde Banknoten durch die Post an seine Adresse gesandt. Er hatte auch ein Auto . . . aber wie lange würde es wohl so bleiben? Ray war kein Narr, nicht ganz so klug vielleicht wie er sich dünkte, aber auch nicht dumm. Warum sollte die japanische – oder irgendeine andere Regierung – ihn für Informationen bezahlen, die sich doch aus jedem erreichbaren Handbuch schöpfen ließen, die für ein paar Schillinge bei jedem Buchhändler zu kaufen waren. Er ließ den Gedanken fallen. Er besaß die Gabe, alles von sich zu schieben, was ihn störte. Er öffnete die Tür, die in sein Speisezimmer führte und erstarrte.

 

Ella saß an dem offenen Fenster, den Ellbogen auf dem Sims und das Kinn in der Hand. Sie war blaß, und tiefe Schatten lagen unter ihren Augen.

 

»Ella, was, um Gottes willen, machst du hier?« fragte er. »Wie bist du hereingekommen?«

 

»Der Portier hat mir mit seinem Schlüssel geöffnet, als ich ihm sagte, daß ich deine Schwester bin«, sagte sie apathisch. »Ich kam sehr zeitig heute morgen, und ich will dich fragen, ob du nicht nach Horsham kommen und mit Vater sprechen möchtest?«

 

»Nicht jetzt, nein – in ein paar Tagen«, sagte er hastig. Tatsächlich fürchtete er sich nicht davor, seinem Vater zu begegnen.

 

»Wäre es denn ein solch schreckliches Opfer, Ray, das alles aufzugeben?«

 

Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Das alles nicht, wenn du damit die Wohnung meinst. Aber du und Vater, ihr wollt doch, daß ich meine Arbeit aufgebe.«

 

»Ich glaube nicht, daß das dein Schaden wäre.« Das war ein neuer Ton, und Ray starrte sie an. Ella war ihm immer eine nachsichtige, billigende, entschuldigende Schwester gewesen. Ein Puffer zwischen ihm und den Ermahnungen seines Vaters.

 

»Komm zu Papa zurück, Ray, komm sofort!«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich kann nicht. Ich werde ihm schreiben. Ich gebe zu, daß ich unrecht an ihm gehandelt habe und werde ihm das auch in meinem Brief schreiben; aber mehr kann ich nicht tun.« Es klopfte an die Tür.

 

»Herein!« rief Ray.

 

»Wollen Sie Fräulein Bassano und Herrn Brady empfangen?« fragte der Diener im Flüsterton und sah bedeutsam nach Ella hin.

 

»Natürlich will er mich empfangen!« rief eine Stimme draußen.

 

»Wozu denn diese Formalitäten? Ach, ich verstehe . . .« Lola Bassano maß Ella aus halbgeschlossenen Lidern.

 

»Das ist meine Schwester Ella«, stellte Ray vor, »und dies sind Fräulein Bassano und Herr Brady.«

 

Ella blickte nach der zarten Gestalt in der Tür und vermochte nur zu bewundern, was sie erblickte. Lolas schönes Gesicht, ihre Haltung, ihre wundervolle Hand, ihre Art sich zu kleiden, entzückten sie.

 

»Gefällt Ihnen die Wohnung Ihres Bruders?« fragte Lola, die gegenüber Platz nahm und ihre Beine übereinanderschlug.

 

»Es ist sehr schön hier, und Horsham wird ihm ziemlich öde vorkommen, wenn er zu uns zurückkehrt«, sagte Ella.

 

»Ja, gehen Sie denn nach Horsham zurück?« Lola warf den Kopf in den Nacken und sah Ray voll in die Augen, während sie diese Frage stellte.

 

»Ich denke nicht daran!« sagte Ray energisch. »Ich habe Ella schon vorhin gesagt, daß meine Arbeit hier mir viel zu wichtig ist, um sie aufzugeben.«

 

Lola nickte zufrieden, und eine seltsame Kälte überkam Ella plötzlich. Eine Sekunde vorher war sie noch von Lolas Schönheit gefangengenommen gewesen. Nun aber schien ihr, als berge sich viel Grausamkeit in den Linien ihres schönen Mundes. »Sie müssen wissen, Fräulein Bassano, daß Gordon meiner Schwester die reinsten Spukgeschichten über uns erzählt hat.«

 

»Gordon ist Monomane«, sagte Lew Brady. »Er hat ja sogar Elk zu Ihrem Herrn Vater geschickt, um ihn verhören zu lassen. Er meint, daß es in der ganzen Welt lauter Verbrecher gibt und einen einzigen Mann, der sie zu fangen vermag, und das ist er selber . . .«

 

»Tapp, tapp, tapptapptappp, tapp.« Es klopfte an die Tür. Langsam, überlegt, unverkennbar. Die Wirkung auf Lew Brady war eine höchst merkwürdige. Sein mächtiger Körper schien zusammenzusinken, und sein braunes Gesicht wurde plötzlich ganz hohl.

 

»Tapp, tapp ,tapptapptapp, tapp.«

 

Die Hand, die Brady zum Mund führte, zitterte. Ella blickte von ihm zu Lola und sah zu ihrem Erstaunen, daß sie unter ihrem Rouge blaß geworden war. Brady stolperte zur Tür, und sein Atem ging schwer und laut in der Stille.

 

»Herein!« brachte er hervor. Aber er vermochte das Eintreten nicht abzuwarten, er riß selbst die Tür auf.

 

Es war Dick Gordon, der eintrat.

 

Er sah einen nach dem andern mit lachenden Augen an. »Das Froschzeichen scheint manchen von euch zu erschrecken?« sagte er vergnügt.

 

Kapitel 16

 

16

 

Lola gewann als erste ihre Fassung wieder. »Es war nicht nett von Ihnen, uns so zu erschrecken, ich fürchte mich sehr vor den Fröschen, seit man so viel über sie in den Zeitungen liest.«

 

»Das Zeichen ist meine neueste Errungenschaft«, sagte Dick mit spöttischem Ernst. »Ein Frosch des dreißigsten Grades hat es mich gelehrt. Und er sagte mir, es ist dies das Signal, das der Meister, der große, alte Ochsenfrosch gibt, wenn er seine Untergebenen aufzusuchen beliebt.«

 

»Ihr dreiunddreißigjähriger Frosch lügt wahrscheinlich«, sagte Lola, in deren Wangen der Zorn neue Farbe jagte. »Überhaupt hat Mills . . .«

 

»Ich habe Mills gar nicht erwähnt«, sagte Dick.

 

»Aber seine Verhaftung stand doch in allen Blättern.«

 

»Sie erschien in keinem einzigen Blatt!« sagte Dick. »Falls sie nicht in ›Die Neue Froschzeitung‹ eingeschaltet wurde. Vermutlich unter Personalnachrichten.«

 

Ray trat einen Schritt vor. »Was führt Sie her, Gordon?«

 

»Ich möchte privat mit Ihnen sprechen«, sagte Dick.

 

»Es gibt nichts, was Sie mir nicht vor meinen Freunden sagen könnten«, antwortete Ray, der unmutig zu werden begann.

 

»Die einzige, für die dieser Titel Geltung hat, ist Ihre Schwester«, antwortete Gordon.

 

»Gehen wir, Lew«,, sagte Lola achselzuckend. Aber Ray hielt sie zurück.

 

»Einen Augenblick! Ist das meine Wohnung oder nicht?« fragte er wütend. »Sie kommen ganz einfach her, beleidigen meine Freunde und werfen sie faktisch zur Tür hinaus. Ich bewundere Ihre Kühnheit. Dort ist die Tür!«

 

»Wenn Sie es so aufnehmen, so muß ich gehen!« sagte Dick. »Aber, ich kam hierher, um Sie zu warnen.«

 

»Pah, ich pfeife auf Ihre Warnungen!«

 

»Ich kam, um Ihnen zu sagen, daß der Frosch beschlossen hat, Sie Ihr Geld in Zukunft auch verdienen zu lassen. Das ist alles.«

 

Totenstille folgte, die endlich Ellas schwankende Stimme unterbrach.

 

»Der Frosch?« wiederholte sie mit aufgerissenen Augen. »Aber, Herr Gordon, Ray gehört doch nicht zu den Fröschen?«

 

»Es wird ihm vielleicht noch neu sein, aber es ist trotzdem wahr. Ihre beiden Gäste, Ray, sind treue Diener des Reptils, Lola wird von ihm ausgehalten, genauso wie ihr Gatte . . .«

 

»Lügner!« schrie Ray. »Lola ist nicht verheiratet. Sie sind ein elender Lügner. Hinaus, bevor ich Sie selbst hinauswerfe!«

 

Ellas stummes Flehen bewog Dick, wortlos zur Tür zu gehen. An der Schwelle wendete er sich um, und sein kalter Blick heftete sich auf Lew Brady.

 

»Im Froschbuch steht ein großes Fragezeichen bei Ihrem Namen, Brady! Seien Sie auf der Hut!«

 

Brady fuhr unter dem Schlag zusammen; denn es war ein Schlag. Hätte er es gewagt, so wäre er Gordon auf den Korridor nachgefolgt, um weitere Informationen zu erbetteln. Aber dazu fehlte ihm der Mut, und er stand in seiner ganzen Riesengröße da und sah hilflos und traurig auf die Tür, die der Besucher hinter sich geschlossen hatte.

 

»Um Gottes willen, lassen wir frische Luft herein!« rief Ray und riß das Fenster auf. »Dieser Kerl ist ja die reine Pest! Verheiratet! Und das will er mich glauben machen? . . . Du gehst schon, Ella?«

 

Seine Schwester nickte.

 

»Sage dem Vater, ich würde ihm schreiben. Sprich für mich und beweise ihm, daß auch er oft Unrecht an mir begangen hat!«

 

Sie hielt ihm die Hand entgegen. »Lebe wohl, Ray«, sagte sie. »Vielleicht wirst du eines Tages zu uns zurückkehren.« Die Bewegung überwältigte sie, und Tränen liefen über ihre Wangen. Sie drängte sich an ihn und flüsterte: »O, Ray, Ray, ist das denn wahr? Gehörst du zu den Fröschen?«

 

»Aber Ella, es ist ungefähr so viel Wahres daran, wie an der Geschichte von Fräulein Bassanos Verheiratung. – Sensationen! Gordon will immer nur Sensationen hervorrufen!«

 

Ella nickte Lola zum Abschied zu, ohne ihr die Hand zu reichen.

 

Lew Brady sah ihr mit hungrigen Augen nach, als Ray sie zum Lift begleitete.

 

»Was hat er gemeint, Lola?« fragte Brady, als die beiden zurückblieben. »Gordon weiß etwas! Hast du gehört? Es steht ein Fragezeichen bei meinem Namen! Das ist böse. Lola, ich habe genug von diesen Fröschen. Sie gehen mir auf die Nerven!«

 

»Du bist ein Narr«, sagte sie ruhig. »Gordon hat genau das erreicht, was er wollte, er hat dir Angst gemacht.«

 

»Angst?« antwortete Lew. »Du hast keine Angst, weil du keine Phantasie hast. Ich bin in Unruhe, weil ich einzusehen beginne, daß die Frösche zehnmal größer sind, als mir je geträumt hat! Sie haben neulich erst den Schotten Maclean getötet, sie werden sich’s nicht zweimal überlegen, bevor sie mir den Garaus machen. Ich kenne die Frösche, Lola. Sie sind imstande, jedes Verbrechen zu begehen, vom Mord angefangen! Der Frosch ist ihr Gott, ihr Idol. – Ein Fragezeichen bei meinem Namen? Ich könnte es beinahe glauben! Ich habe etwas über sie ausgeplaudert, und das werden sie mir nicht verzeihen.«

 

»Pst!« warnte sie. Schritte wurden hörbar, und Ray kam zurück.

 

»Gott sei Dank, sie ist fort! Ach, was ist das heute für ein Morgen. Ich sehe schon überall grüne Frösche, wie ein Säufer im Delirium tremens weiße Mäuse sieht.«

 

Lola öffnete ihr goldenes Zigarettenetui, entzündete eine Zigarette und löschte das Zündhölzchen mit einem Knipsen des Fingers aus. Dann wendete sie über die Schulter hin ihr schönes, weißes Gesicht Ray zu. »Was hast du gegen die Frösche?« fragte sie kühl. »Sie zahlen gut und verlangen wenig.«

 

Ray starrte sie an.

 

»Wie meinst du das?« fragte er verblüfft. »Es sind doch niedrige Vagabunden, die die Leute umbringen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nicht alle«, verbesserte sie. »Das ist nur die Masse. Die großen Frösche sind schon anderer Art. Ich bin einer und Lew ist einer.«

 

»Was, zum Teufel, plapperst du da?« fragte Lew halb in Angst und halb in Zorn.

 

»Er soll es nur wissen. Früher oder später muß er es wissen«, sagte Lola unbewegt. »Er ist ein viel zu gescheiter Junge, um für ewige Zeiten an die japanische Gesandtschaft zu glauben. Warum soll er nicht wissen, daß er ein Frosch ist?«

 

Ray taumelte zurück. »Ein Frosch?« wiederholte er mechanisch.

 

Lola trat hinter seinen Stuhl.

 

»Ich kann nicht begreifen, warum es schlimmer sein soll, ein Frosch zu sein, als der Agent einer fremden Regierung, der du die Geheimnisse deines Vaterlandes verkaufst«, sagte sie. »Man hat dich aus Tausenden auserwählt, weil man die richtige Intelligenz bei dir gefunden hat. Du solltest darüber geschmeichelt und nicht entrüstet sein.« Sie streckte ihm ihre schmalen Hände entgegen, die seine Seele wie Wachs zu formen wußten, und er küßte sie.

 

»Etwas wirklich Schlechtes wird man doch von mir nicht verlangen?« fragte er zögernd. »Ich bin auch absolut nicht dazu angetan, Leute mit dem Knüppel zu erschlagen, aber du hast vielleicht recht – man kann den Frosch nicht für alles verantwortlich machen, was seine Leute anstellen. Nur in einer Sache bleibe ich fest, Lola. Ich lasse mich unter keinen Umständen tätowieren!«

 

»Du dummer Junge!« sagte sie und streckte ihren weißen Arm aus. »Bin ich denn tätowiert?« fragte sie. »Oder Lew? Die Großen werden nicht gezeichnet! Du weißt nicht, was für eine große Zukunft du hast, Lieber.«

 

Ray nahm ihre Hand und streichelte sie. »Lola – und diese Geschichte, die Gordon erzählt hat – daß du verheiratet bist, ist das wahr?«

 

Sie strich über sein Haar.

 

»Gordon ist eifersüchtig«, sagte sie. »Nein, frage nicht, ich kann dir jetzt nicht alles erzählen. Aber hat er nicht seine guten Gründe?«

 

Ihre Augen strahlten ihn an, aber als er die Arme nach ihr ausstreckte, entwand sie sich ihm.

 

»Hör zu. Ich werde jetzt um einen Tisch telefonieren, und du kommst mit uns zum Lunch. Und wir werden auf das Wohl des großen, kleinen Frosches trinken, der uns alle ernährt.«

 

Aber als Lola den Hörer abhob, sah sie ein kleines schwarzes Metallkästchen, das an der Basis des Telefons befestigt war.

 

»Ist das eine neue Erfindung?« fragte sie.

 

»Man hat es gestern angebracht«, erwiderte Ray. »Der Monteur erzählte mir, daß jemand, der während eines Gewitters telefonierte, einen schrecklichen Schlag bekommen hat, und so machen sie jetzt das Experiment mit diesen Apparaten, die sie überall anbringen. Es macht das Telefon schwerer und ist auch häßlich, aber …«

 

Lola legte den Hörer nieder und beugte sich über den Apparat.

 

»Es ist ein Diktaphon«, sagte sie. »Und die ganze Zeit, während wir gesprochen haben, hat man unser Gespräch belauschen können.«

 

Sie ging zum Kamin, holte den Schürhaken und ließ ihn mit einem Krach auf den kleinen Kasten fallen.

 

Inspektor Elk, der, die Hörer auf dem Kopf, in seinem kleinen Büro auf dem Themse-Embankment saß, legte den Bleistift mit einem Seufzer nieder. Dann nahm er seinen Hörer von der Gabel auf und rief die Polizeizentrale an.

 

»Sie können das Diktaphon bei Nummer 93718 abschrauben«, sagte er.

 

Er sammelte seine Stenogrammnotizen, ging an sein Pult und legte sie gleich neben seinem Ablöscher zurecht. Zum Fenster schlendernd, blickte er auf den sonneblitzenden Fluß hinab, und Friede und Freude wohnten in seinem Herzen.

 

In derselben Nacht hatte sich der Gefangene Mills, nachdem ihm Straflosigkeit und freie Fahrt nach Kanada zugesichert worden waren, entschlossen, ein volles Geständnis in Aussicht zu stellen. Und Mills wußte viel, weit mehr, als er bis jetzt gestanden hatte.

 

»Ich kann Ihnen eine Spur angeben, die Ihnen Nummer Sieben in die Hände liefern wird«, hatte auf einem Zettel gestanden. »Nummer Sieben!« Elk holte tief Atem. Nummer Sieben war der Angelpunkt, um den sich das Rad drehte. Elk rieb sich die Hände, denn nun schien es, daß das Geheimnis des Frosches doch gelöst werden sollte. Vielleicht würde die Spur, auch zu dem fehlenden Vertrag hinführen.

 

Bei dem Gedanken an das fehlende Dokument seufzte Elk. Zwei Minister, ein großes Staatsdepartement und unzählige Untersekretäre füllten ihre Bürozeit mit wilden Erkundigungsschreiben an die Polizeidirektion aus, die alle Lord Farmleys Verlust zum Inhalt hatten.

 

»Sie fordern Wunder!« sagte Elk. »Und ich glaube nicht, daß heutzutage noch Wunder geschehen.«

 

Er ging zum Kleiderständer, um sich zum Trost die Zigarrentasche aus seinem Rock zu holen, und seine Hand berührte dabei eine dicke Papierrolle. Er zog sie heraus und warf sie auf sein Pult. Sie entfaltete sich, und sein Blick fiel auf die ersten Worte des ersten Blattes: »Im Namen von des Königs allerhöchster Majestät …«

 

Elk wollte aufschreien, aber die Stimme versagte ihm. Er riß die Papiere vom Pult und wendete mit zitternden Händen die Blätter um. Es war der verlorene Vertrag.

 

Elk hielt das kostbare Dokument in Händen und ließ die Ereignisse der heutigen Nacht an sich vorüberziehen. Wann hatte er nur den Überrock abgelegt? Wann hatte er nur zuletzt die Hand in die Tasche gesteckt? Er hatte den Rock in die Garderobe des Herons-Klubs gegeben und konnte sich nicht entsinnen, seither in die Tasche gegriffen zu haben. Also war es doch wohl im Klub geschehen! Vielleicht war einer der Kellner der Frosch gewesen.

 

Elk setzte sich nieder, um nachzudenken. »Du lieber Gott!« sagte er.

 

Er läutete, und Balder kam herein.

 

»Balder, Sie können sich erinnern, daß ich durch Ihr Zimmer gegangen bin. Trug ich da den Rock über dem Arm?«

 

»Ich habe gar nicht darauf geachtet«, sagte Balder mit Befriedigung.

 

Balder machte stets auf Elk den Eindruck, als ob es ihm herzliche Zufriedenheit bereite, wenn er nichts gesehen hatte, wenn er nichts wußte, wenn er nicht fähig war, zu helfen.

 

»Sehr merkwürdig«, sagte Elk.

 

»Etwas nicht in Ordnung, Herr Inspektor?«

 

»Nein, nein. – Haben Sie sich gemerkt, was mit Mills zu geschehen hat? Er darf mit niemandem sprechen. Im Augenblick seiner Ankunft soll er in das Wartezimmer geführt werden und ganz allein bleiben. Es ist nicht erlaubt, mit ihm zu reden, oder, falls er selbst sprechen sollte, zu antworten.«

 

Elk prüfte seinen Fund nochmals. Es fehlte nichts, auch die Anmerkungen des Ministers waren vorhanden. Elk rief Seine Lordschaft an und erstattete seinen erfreulichen Bericht. Zehn Minuten später kam eine kleine Abteilung vom Auswärtigen Amt, um das kostbare Dokument abzuholen und Elk im Namen des Ministeriums den Dank für seine wertvollen Dienste auszudrücken.

 

Hätte Elk die Papiere nicht wieder zu finden gewußt, so hätte man ihn von ganzem Herzen verflucht, und er wäre ebenso unschuldig daran gewesen. Es blieb noch eine Stunde bis zur Ankunft Mills‘, und Elk verbrachte diese mit Hagn, der nun eine besondere Zelle, entfernt von den gewöhnlichen Haftplätzen, in der Cannon-Row-Station einnahm.

 

Hagn weigerte sich, irgendwelche Geständnisse zu machen.

 

»Sie haben keine Beweise, Elk«, sagte er. »Und Sie wissen, daß ich unschuldig bin.«

 

»Sie waren der letzte, den man in Genters Gesellschaft gesehen hat«, sagte Elk fest. »Im übrigen hat auch Mills alles verraten.

 

Ich will es Ihnen gestehen, wir haben seit heute morgen Nummer Sieben unter Schloß und Riegel.«

 

Zu seinem Erstaunen brach Hagn in helles Gelächter aus.

 

»Bluff!« sagte er. »Und ein billiger Bluff. Damit können Sie kleine Diebe täuschen, aber mir machen Sie nichts weis. Wenn Sie ›Sieben‹ gefangen hätten, würden Sie nicht so fröhlich zu mir sprechen. Gehen Sie doch und finden Sie ihn, Elk. Und wenn Sie ihn gefunden haben, dann halten Sie ihn nur ja fest. Lassen Sie ihn nicht entkommen, so wie Mills Ihnen entkommen wird.«

 

Elk kehrte von dieser Unterredung mit dem Gefühl zurück, daß vielleicht doch nicht alles ganz nach seinem Wunsch gegangen war.

 

Aber als er das Gebäude verließ, winkte er dem Oberinspektor.

 

»Ich werde Hagn heute nachmittag einen Lockvogel schicken. Stecken Sie die beiden zusammen und lassen Sie sie allein.«

 

Der Oberinspektor nickte verständnisinnig.

 

Kapitel 17

 

17

 

An jenem Morgen, an dem Elk auf die Ankunft des geständigen Mills wartete, wurden umständliche Vorsichtsmaßregeln ergriffen, um den Gefangenen sicher in die Polizeidirektion zu schaffen. Während der ganzen Nacht war das Gefängnis von einem Kordon bewaffneter Wachen umgeben, und Wachen patrouillierten in dem angrenzenden Hof. Der gefangene Frosch war ein gebildeter Mann, dem es nicht schlecht ergangen und der auf der Walze von zwei vagabundierenden Mitgliedern der Brüderschaft angeworben worden war. Aus seinen Aussagen ging hervor, daß er als Abteilungschef fungiert hatte, indem er die Instruktionen und Orders den Unteroffizieren und Gemeinen weitergab.

 

Um elf Uhr brachte man ihn aus seiner Zelle, aber Mills war trotz der Versicherung, die er erhalten hatte, nervös und furchtsam. Außerdem war er erkältet und hustete stark.

 

Um elf Uhr fünfzehn wurden die Gefängnistüren geöffnet, und drei Motorradfahrer fuhren gleichzeitig heraus. Ein geschlossenes Auto mit herabgelassenen Vorhängen folgte ihnen. Auf beiden Seiten begleitete den Wagen eine Patrouille auf Motorrädern, und ein anderes Auto, mit Polizeibeamten bemannt, folgte.

 

Sie erreichten Scotland Yard ohne Mißgeschick. Die Tore an beiden Seitenflügeln des Gebäudes wurden geschlossen, und Mills wurde durch das Haupttor hereingebracht. Elks Beamter Balder und ein Detektivsergeant nahmen den Mann in Obhut, der sehr blaß war und schwankte.

 

Er wurde in ein kleines Zimmer, das an Elks Büro stieß, geführt. Es war ein Raum, dessen Fenster mit schweren Stangen versehen waren, weil er während des Krieges als Arrest für Spione verwendet worden war. Zwei Leute wurden zur Bewachung außerhalb der Tür beordert, und der immer unzufriedene Balder kam herein, um zu berichten.

 

»Wir haben den Burschen ins Wartezimmer gesteckt, Herr Inspektor.«

 

»Hat er etwas gesagt«, fragte Dick, der um des Verhöres willen gekommen war.

 

»Nein, nur verlangt, daß das Fenster geschlossen werden soll. Da habe ich es selber zugemacht.«

 

»Bringen Sie uns den Gefangenen!« sagte Elk.

 

Sie warteten eine Weile und hörten das Rasseln von Schlüsseln und dann ein aufgeregtes Stimmengewirr. Balder stürzte herein.

 

»Er ist krank, ohnmächtig oder so was!« keuchte er. Und Elk stürzte ihm nach, den Korridor entlang in das Wartezimmer. Mills lag halb, den Oberkörper schwer gegen die Mauer gelehnt. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht war aschfahl. Dick beugte sich über ihn und legte ihn flach auf den Boden. Er roch an seinem Mund.

 

»Blausäure«, sagte er. »Aus.«

 

An jenem Morgen war Mills bis auf die Haut ausgezogen und alle seine Kleidungsstücke waren gründlich untersucht worden. Aus besonderer Vorsicht hatte man außerdem seine Taschen zugenäht. Den beiden begleitenden Detektiven gegenüber hatte er hoffnungsvoll von seiner bevorstehenden Reise nach Kanada gesprochen.

 

Niemand, außer den Polizeioffizieren, war mit ihm in Berührung gekommen.

 

Dicks erster Blick galt dem Fenster, von dem vorhin Balder erwähnt hatte, er hätte es geschlossen. Es war jetzt etwa sechs Zoll weit geöffnet.

 

»Herr Hauptmann, ich weiß ganz bestimmt, daß ich es geschlossen habe«, sagte der Beamte nachdrücklich. »Der Sergeant Jekler hat es gesehen.«

 

Der Sergeant bestätigte die Aussage. Dick schob das Fenster ganz auf und sah hinaus. Es liefen vier Eisenstangen quer über den Ziegelrahmen, aber sowie er den Kopf hinausstreckte, sah er, daß ungefähr einen Meter vom Fenster entfernt eine lange Eisenleiter an der Mauer befestigt war, die vermutlich vom Dach zur Erde führte. Das Zimmer lag im dritten Stockwerk, und man sah auf das Strauchwerk weiter Gärten hinab. Jenseits wurde der Blick von Gitterzäunen begrenzt.

 

»Was sind das für Gärten?« fragte Dick.

 

»Die Onslow-Gärten«, sagte Elk.

 

»Onslow-Gärten?« wiederholte Dick nachdenklich. »War es nicht von dort aus, daß die Frösche mich zu erschießen versuchten?«

 

Elk schüttelte hilflos den Kopf.

 

»Was meinen Sie damit, Hauptmann?«

 

»Ich weiß es mir wirklich nicht zu erklären! Es scheint mir keine sehr geistreiche Theorie zu sein, wenn wir annehmen, daß jemand die Leiter erklettert hätte, um Mills das Gift durch das Fenster aufzudrängen. Und noch unwahrscheinlicher ist es, daß er es selbst genommen haben soll! Balder schwört, daß das Fenster verschlossen war, und jetzt stand es offen. Können Sie Balder trauen?«

 

Elk nickte überzeugt. Der Polizeiarzt kam bald nachher und bestätigte die Annahme, daß Blausäure die Todesursache gewesen war.

 

Elk begleitete Dick Gordon in sein Büro in Whitehall.

 

»Ich habe mich im ganzen Leben nicht gefürchtet«, sagte er. »Aber diese Frösche wachsen mir über den Kopf. Es ist hier doch tatsächlich ein Mensch vor unseren Augen getötet worden. Er war bewacht, wir haben ihn nie allein gelassen, außer für die wenigen Minuten, die er in dem versperrten Zimmer verbrachte, und doch konnte ihn der Frosch erreichen. Das vermag einen schon ein bißchen bange zu machen, Hauptmann Gordon!«

 

Dick schloß die Tür seines Büros auf und führte Elk in das gemütliche Innere.

 

»Ich kenne keine bessere Kur für zerrüttete Nerven, als eine ›Cabana Cesare‹«, sagte er fröhlich. »Verlieren Sie nicht den Mut, Elk. Der Frosch ist nur ein Mensch wie wir alle und hat, wie wir, seine Befürchtungen. – Wo ist Freund Broad?«

 

Elk zog, ohne zu zögern, das Telefon herbei und verlangte die Nummer. Nach einer kleinen Pause antwortete ihm Broads Stimme.

 

»Sind Sie das, Herr Broad? Was machen Sie denn jetzt?« fragte Elk in jenem schmeichelnd-süßen Ton, den er bei Telefongesprächen anzuwenden pflegte.

 

»Wer spricht? Elk? Ich bin im Begriff, auszugehen.«

 

»Ich war der Meinung, Sie vor fünf Minuten in Whitehall gesehen zu haben«, flötete Elk.

 

»Dann war es ein Doppelgänger«, antwortete Broad. »Ich bin erst vor zehn Minuten aus dem Bad gestiegen. Wünschen Sie etwas von mir?«

 

»Nein, nein«, gurrte Elk. »Ich wollte nur wissen, ob Sie wohlauf wären.«

 

»Warum? Ist etwas geschehen?« kam eine scharfe Gegenfrage.

 

»Nein, nein. Alles in schönster Ordnung!« antwortete Elk unaufrichtig. »Vielleicht kommen Sie einmal herüber und besuchen mich dieser Tage im Amt? Adieu.«

 

Er legte den Hörer zurück und machte eine schnelle Berechnung.

 

»Von Whitehall nach Cavendish Square braucht man in einem guten Auto vier Minuten«, sagte er. »Also hat ein momentaner Aufenthalt in der Wohnung nichts zu sagen.«

 

Er zog das Telefon wieder zu sich heran und rief die Polizeidirektion an. »Ich brauche einen Mann, um Herrn Joshua Broad zu beobachten. Er darf ihn bis acht Uhr abends nicht verlassen und soll mir dann Bericht erstatten.«

 

Elk setzte sich in den Sessel zurück und zündete die lange Zigarre, an, die Dick ihm aufgedrängt hatte. »Heute ist Dienstag«, überlegte er. »Morgen ist Mittwoch, wo schlagen Sie vor, daß wir zuhören sollen?’«

 

»Im Admiralitätsgebäude«, sagte Dick. »Ich habe es mit dem Ersten Lord so arrangiert, daß ich um drei Viertel drei in der Instrumentenkammer sein kann.« Dick ließ eine Frühausgabe der Abendblätter besorgen und war sehr erleichtert, als er darin keine Anspielung auf den Mord fand. Im Lauf des Tages, als er einmal von seinem Fenster nach Whitehall hinaussah, bemerkte er Elk, der auf der anderen Seite der Straße dahinschlenderte, den Regenschirm am Arm, den alten, steifen, runden Hut aus der Stirn geschoben, eine schlampige, unauffällige Figur. Eine Stunde später sah er ihn wieder aus der entgegengesetzten Richtung kommen. Dick wunderte sich, in was für besonderen Geschäften der Detektiv ausgewesen sein mochte und erkundete, daß Elk der Admiralität an jenem Tage zwei Besuche abgestattet hatte. Doch erfuhr er den Grund erst, als sie sich spät am Abend trafen.

 

»Ich verstehe nicht viel von der drahtlosen Telegrafie«, sagte Elk, »aber ich erinnere mich, etwas über ›Peilungen‹ gelesen zu haben. Wenn man wissen will, woher eine drahtlose Botschaft kommt, so muß man sie von zwei oder drei verschiedenen Orten abhören.«

 

»Natürlich, was bin ich für ein Narr!« unterbrach Dick, über sich selbst verärgert. »Es ist mir nicht einmal eingefallen, daß wir doch zu der Radiostation gehen können.«

 

»Mir kommen manchmal solche Ideen«, sagte Elk bescheiden.

 

»Die Admiralität hat Botschaften nach Milford Haven, Harwich, Portsmouth und Plymouth geschickt und den Schiffen den Auftrag gegeben, abzuhorchen und uns die Richtung zu peilen. Hoffentlich haben die Abendblätter die Sache nicht gebracht.«

 

»Sie meinen wegen Mills? Gott sei gedankt, nein. Aber es wird ja sicher bei der Untersuchung herauskommen. Ich habe es schon so eingerichtet, daß sie um eine oder zwei Wochen verschoben wird. Denn ich fühle, daß sich in den nächsten Wochen für uns vieles ereignen muß.«

 

»Hoffentlich nicht«, sagte Elk böse. »Ich traue mich ja nicht einmal mehr, eine Bratwurst zu essen, seitdem Mills um die Ecke gebracht wurde. Und ich habe so eine Schwäche für Bratwürste.«

 

Kapitel 18

 

18

 

Elks mißlauniger Beamter war in anklägerischer Stimmung.

 

»Die beim Rekord haben mir schon wieder eine Nase gegeben«, beschwerte er sich bitter. »Rekord bildet sich mehr ein als das ganze verfluchte Büro zusammen.«

 

Der Krieg zwischen Balder und »Rekord«, was eine Abkürzung für jene Abteilung der Polizeidirektion war, die die genauen Daten der Verbrechervergangenheit aufbewahrt, war schon älteren Datums. Rekord stand allem, was nicht intabulierte Tatsache war, höchst erhaben und ablehnend gegenüber. Die Rekordbeamten respektierten die anderen Leute nicht, sie hätten ebensogut den Polizeichef, der sich gegen ihre unbeugsamen Regeln verging, getadelt, wie den jüngsten Schutzmann des Straßen- und Sicherheitsdienstes.

 

»Was ist denn wieder los?« fragte Elk.

 

»Wissen Sie noch? Sie hatten letzthin eine Menge Material über den Mann, ich kann mich an seinen Namen nicht erinnern…«

 

»Lyme«, meinte Elk.

 

»Ja, so hieß er. Aber es scheint nun, daß eines der Bilder fehlt. Am nächsten Vormittag, nachdem Sie sie angeschaut hatten, bin ich wieder in die Statistik gegangen und habe mir die Dokumente wieder geben lassen, weil ich gemeint habe, Sie wollten sie noch einmal anschauen. Sie haben sie aber nicht verlangt, und ich habe sie zurückgebracht. Und jetzt behaupten die vom Rekord; daß das Bild und die Maße weg sind.«

 

»Wollen Sie damit sagen, daß sie verlorengegangen sind?«

 

»Wenn sie verlorengegangen sind«, sagte der immer mürrische Balder, »dann hat sie die Statistik selber verloren. Die glauben vielleicht, daß ich irgend so etwas wie ein Frosch bin? Sie werfen mir auch immer vor, daß ich ihre Fingerabdruckkarten verlege.«

 

»Balder, ich habe Ihnen versprochen, Ihnen einmal eine große Chance zu geben, und jetzt sollen Sie sie haben. Sie sind letzthin nicht befördert worden, mein Sohn, weil die Leute da oben glaubten, daß Sie einer der Führer im letzten Streik gewesen sind. Ich kenne die Gefühle der Übergangenen. Sie machen einen bitter. Wollen Sie die große Chance ausnützen?«

 

Balder nickte mit angehaltenem Atem.

 

»Hagn ist in der separierten Zelle«, sagte Elk. »Legen Sie Zivilkleidung an, maskieren Sie sich ein bißchen, und ich werde Sie mit ihm zusammen einschließen. Wenn Sie sich fürchten, so können Sie einen Revolver mitnehmen, und ich werde es so einrichten, daß man Sie nicht untersucht. Schauen Sie, daß Sie mit Hagn ins Gespräch kommen. Sagen Sie ihm, daß Sie wegen des Mordes in Dundee eingesteckt worden sind. Er wird Sie nicht erkennen. Tun Sie mir den Gefallen, Balder, und in einer Woche werden Sie den Streifen auf dem Ärmel haben.«

 

Balder nickte. Der streitsüchtige Ton seiner Stimme war verschwunden, als er sprach. »Das ist eine Chance. Und schönen Dank dafür, Herr Inspektor.«

 

Eine Stunde später brachte ein Detektiv einen grimmig aussehenden Gefangenen nach Cannon Row und stieß ihn in die Stahlkammer. Der einzige, der den Gefangenen erkannt hatte, war der Oberinspektor, der auf die Ankunft des Lockvogels wartete. Dieser hohe Beamte geleitete Balder selber zu der separierten Zelle und stieß ihn hinein.

 

»Gute Nacht, Frosch!« sagte er.

 

Balders Antwort ist im Druck nicht wiederzugeben. Nachdem er seinen Untergebenen in Sicherheit wußte, ging Elk in sein Büro zurück, schloß die Tür, nahm den Hörer vom Telefon und legte sich nieder, um endlich ein paar Stunden Schlaf zu finden. Aber der Schlaf kam nicht. Seine Gedanken wanderten von Balder zu Dick Gordon, von Lola zu dem toten Mann Mills.

 

Seine eigene Stellung schien ernstlich gefährdet, aber das machte Elk nicht die geringsten Sorgen. Er war Junggeselle und hatte sich ein hübsches, rundes Sümmchen erspart.

 

Er dachte an Maitland, dessen Verbindung mit den Fröschen nun erwiesen schien. Der Alte lebte ein Doppelleben, am Tage ein Geschäftsmann, vor dem das Personal zitterte, bei Nacht der Mithelfer von Dieben und schlechter noch als ein Dieb. Und wo war das Kind? Das war eine andere harte Nuß!

 

»Nichts als harte Nüsse!« sagte Elk. Und mit den Händen unter dem Kopf blickte er wach und grollend zur Decke auf. Da er doch die gesuchte Ruhe nicht zu finden vermochte, stand er endlich auf und ging nach Cannon Row hinüber.

 

Der Gefängniswärter sagte ihm, daß der neue Arrestant eine ganze Menge mit Hagn gesprochen habe, und Elk lächelte.

 

Er hoffte nur, daß der »neue Arrestant« nicht auch versucht hatte, seine Klagen gegen die Polizeiadministration mit Hagn zu diskutieren.

 

Um drei Viertel drei Uhr traf er in der Instrumentenkammer der Admiralität mit Dick Gordon zusammen. Es war ihnen ein Funker zur Verfügung gestellt worden, und nach den Vorinstruktionen nahmen sie an seinem Tisch Platz, wo er mit seinen Tastern hantierte. Dick lauschte bezaubert den Rufen der fernen Schiffe und dem Geplauder der übermittelten Stationen. Einmal hörte er ein ganz schwaches Quieken, so schwach, daß er nicht sicher war, ob er sich nicht geirrt hatte.

 

»Cap Race«, sagte der Funker. »Sie werden in einer Minute Chicago hören. Um diese Zeit werden sie dort immer gesprächig.«

 

Als die Zeiger der Uhr sich der dritten Stunde näherten, begann der Funker seine Wellenlänge zu verändern, um die zu erwartende Botschaft im Äther zu erreichen. Genau eine Minute nach drei sagte er plötzlich: »Da haben Sie Ihr L. V. M. B.«

 

Dick hörte den Stakkatotönen zu:

 

»Alle Frösche hört: Mills ist tot! Nummer Sieben hat ein Ende mit ihm gemacht.

 

Nummer Sieben bekommt eine Prämie von hundert Pfund.« ..Die Stimme war klar und ganz ungewöhnlich zart. Es war die Stimme einer Frau.

 

»Der dreiundzwanzigste Bezirk soll es so einrichten, daß er die Instruktionen von Nummer Sieben an dem gewöhnlichen Ort empfängt.«

 

Dicks Herz schlug wie ein Hammer. Er hatte die Sprecherin erkannt. Es konnte kein Zweifel sein. Er kannte den weichen Tonfall. Es war Ella Bennetts Stimme. Es wurde ihm plötzlich übel. Elks Augen hingen an ihm, und er machte übermenschliche Anstrengungen, sich zu beherrschen.

 

»Es scheint, als ob noch etwas kommen sollte«, sagte der Funker, nachdem er einige Minuten gewartet hatte.

 

Dick nahm den Kopfhörer ab und erhob sich. »Wir müssen warten, bis die Direktionssignale kommen«, sagte er, so fest er es vermochte.

 

Da kamen sie auch schon und wurden von einem Schiffsoffizier auf einer großen Skalenlandkarte ausgearbeitet.

 

»Die Radiostation befindet sich in London«, sagte der Offizier. »Ich möchte fast behaupten, daß alle Linien sich im Westen treffen, vermutlich im Herzen der City. – Haben Sie es schwer gehabt, den Froschruf aufzunehmen?« fragte er, sich an den Funker wendend.

 

»Ja«, sagte der Mann. »Ich glaube, man hat von ganz nah gesendet.«

 

»In welchem Stadtteil dürfte es Ihrer Ansicht nach gewesen sein?« fragte Elk.

 

Der Schiffsoffizier deutete auf eine Bleistiftlinie, die er in den Plan eingezeichnet hatte. »Ungefähr auf dieser Linie«, sagte er.

 

Und Dick, über dessen Schulter gebeugt, sagte erstickt: »Caverley-Haus.«

 

Es drängte ihn ins Freie hinaus. Er mußte das Ungeheuerliche überdenken. Ob wohl auch der Detektiv die Stimme erkannt hatte?

 

Sie hatten schon Whitehall erreicht, als Elk endlich sagte: »Das klang ja ganz wie eine uns sehr befreundete Stimme, Hauptmann Gordon?«

 

Dick antwortete nicht.

 

»Sehr ähnlich«, sagte Elk, als ob er zu sich selber spräche.

 

»Wirklich, ich könnte unzählige Eide schwören, daß ich die junge Dame kenne, die da für den alten Herrn Frosch gesprochen hat.«

 

»Warum hat sie das nur getan?« stöhnte Dick. »Warum, um Himmels willen, mußte sie das tun?«

 

»Ich erinnere mich, sie schon vor Jahren gehört zu haben«, sagte Elk. »Sie war damals bei der Bühne und noch ein kleiner Fratz.«

 

Dick Gordon blieb stehen und starrte den andern an.

 

»Ich habe etwas bemerkt, Hauptmann. Wenn Sie ein Vergrößerungsglas nehmen und Ihre Haut dadurch betrachten, so sehen Sie die geringsten Defekte, nicht wahr? Dieses drahtlose Telefon wirkt wie eine Art von Vergrößerungsglas auf die Stimme. Sie hat immer ein bißchen gelispelt, was ich sofort gemerkt habe.

 

Sie mögen es vielleicht nicht beobachtet haben, aber ich habe ziemlich scharfe Ohren. Sie kann das S nicht richtig aussprechen. Es ist immer ein Zischen darin. Haben Sie das gehört?«

 

Dick hatte es gleichfalls gehört und bestätigte es stumm.

 

»In manchen Dingen bin ich – wie soll ich sagen? – unfehlbar!« fuhr Elk fort. »Bei den Daten mag es vielleicht ein wenig hapern, zum Beispiel, wann Wilhelm der Eroberer geboren ist – übrigens habe ich selbst auf Geburtstage nie Wert gelegt! Aber Stimmen und Nasen merke ich mir. Unvergeßlich!«

 

Sie durchschritten, den dunklen Eingang von Scotland Yard, als Dick im Ton der Verzweiflung sagte: »Natürlich, das war ihre Stimme! Aber, ich hatte keine Ahnung, daß sie je bei der Bühne war. Ist ihr Vater vielleicht auch Schauspieler gewesen?«

 

»Soweit mir bekannt ist, hat sie doch keinen Vater«, war Elks zögernde Antwort. Und nun blieb Gordon stehen.

 

»Sind Sie wahnsinnig?« fragte er. »Ella Bennett hat keinen Vater?«

 

»Aber ich spreche doch nicht von Ella Bennett!« sagte Elk. »Ich spreche von Lola Bassano.«

 

»Ja, meinen Sie denn wirklich, daß Lola gesprochen hat?« fragte Dick atemlos.

 

»Natürlich war es Lola! Es mag ja eine ganz gute Imitation von Fräulein Bennet; gewesen sein, aber jeder Imitator kann Ihnen sagen, daß solche sanften Altstimmen sehr leicht nachzuahmen sind.«

 

»Sie ganz gemeiner Schuft!« sagte Dick Gordon, und ein Stein fiel ihm vom Herzen. »Sie wußten wohl, daß ich Ella Bennett meinte, und Sie haben mich so auf die Folter gespannt!«

 

»Wieviel Uhr ist es?« gab Elk kühl zur Antwort. Es war halb vier. Elk sammelte seine Reserve, und zehn Minuten später entstieg vor der geschlossenen Tür des Caverley-Hauses eine kleine Gesellschaft dem Polizeiauto. Die Glocke rief den Nachtportier, der Elk sogleich erkannte.

 

»Schon wieder ein Gasalarm?« fragte er.

 

»Ich möchte das Mieterverzeichnis des Hauses sehen«, sagte Elk und hörte, wie der Portier die Namen, Beschäftigungen und Eigentümlichkeiten der Mieter darlegte.

 

»Wem gehört der Häuserblock?« fragte der Detektiv.

 

»Er gehört den Vereinigten Maitlands. Jetzt hat Maitland auch das Haus des Prinzen von Caux in Berkeley Square gekauft und …«

 

»Bitte bemühen Sie sich nicht, mir seine Familiengeschichte zu erzählen. Um wieviel Uhr ist Fräulein Bassano nach Hause gekommen?«

 

»Sie war den ganzen Abend zu Hause, seit elf Uhr.«

 

»War jemand bei ihr?«

 

Der Mann zögerte. »Herr Maitland kam mit ihr, aber er ist bald wieder fortgegangen.«

 

»Sonst niemand?« Elk faßte den Portier scharf ins Auge.

 

»Niemand, außer Herrn Maitland.«

 

»Geben Sie mir Ihren Nachschlüssel.«

 

Der Portier weigerte sich. »Ich verliere meine Stellung«, bat er. »Können Sie nicht klopfen?«

 

»O doch«, meinte Elk. »Es vergeht kaum ein Tag, ohne daß ich jemanden bei der Verhaftung auf die Schulter klopfe. Aber ich möchte doch gern Ihren Schlüssel haben.«

 

Elk hatte nicht daran gezweifelt, daß Lola ihre Tür von innen verriegelt hatte, und seine Annahme bestätigte sich. Er läutete, und es dauerte lange, bevor Lola im Schlafanzug erschien.

 

»Was soll denn das heißen, Herr Inspektor?« fragte sie. Sie machte nicht einmal den Versuch, erstaunt zu scheinen.

 

»Nur eine freundliche Visite. Darf ich hereinkommen?«

 

Sie öffnete die Tür weiter, und Elk trat, von Gordon und den beiden Detektiven gefolgt, in die Wohnung ein. Lola ignorierte Dick völlig.

 

»Morgen sehe ich den Polizeichef«, sagte sie. »Und wenn er mir nicht volle Satisfaktion gibt, so bringe ich diese Sache in alle Zeitungen. Es ist unerhört, mitten in der Nacht in die Wohnung eines alleinstehenden Mädchens einzudringen, wenn es einsam und unbeschützt ist …«

 

»Wenn es irgendeine Zeit gibt, zu der ein alleinstehendes Mädchen einsam und unbeschützt sein soll, so ist es sicherlich die Nacht«, sagte Elk freundlich. »Ich möchte nur einen Blick in Ihr liebes kleines Heim werfen, Lola. Man hat uns davon benachrichtigt, daß bei Ihnen eingebrochen worden ist. Vielleicht versteckt sich gerade in dieser Minute der schwarze Mann unter Ihrem Bett. Der Gedanke, Sie sozusagen auf Gnade oder Ungnade solch einem gesetzlosen Charakter auszuliefern, widerstrebt unserer Ritterlichkeit. Durchsuchen Sie das Speisezimmer, Williams! Ich werde den Salon vornehmen. Und das Schlafzimmer.«

 

»Sie werden mein Schlafzimmer nicht betreten, wenn Sie nur einen Funken von Anstand haben«, zürnte Lola.

 

»Ich habe ihn aber nicht«, gestand Elk, »nicht das kleinste Fünkchen. Und im übrigen, Lola, stamme ich aus einer großen Familie, ich bin einer von zehn Geschwistern, und wenn es etwas gibt, was ich nicht sehen darf, so sagen Sie nur: machen Sie die Augen zu! Und ich werde sie bestimmt zumachen.«

 

Es gab aber allem Anschein nach nichts, das im geringsten verdächtig ausgesehen hätte. Vom Schlafzimmer aus gelangte man ins Badezimmer, und hier stand das Fenster offen. Elk leuchtete mit seiner Lampe die Außenmauer ab und sah, daß eine kleine Glasspule an der Wand befestigt war.

 

»Das sieht ganz wie ein Isolator aus«, murmelte er.

 

Ins Schlafzimmer zurückgekehrt, begann er nach dem Radiosender zu suchen. Er öffnete die Tür eines riesigen Mahagonischrankes und sah darin die Kleider in regenbogenfarbenen Reihen hängen. Elk tauchte seine Hand hinein. Es war der eleganteste Garderobenschrank, den er je gesehen hatte, und die Rückseite fühlte sich merkwürdig warm an.

 

Lola stand mit verschränkten Armen da und beobachtete ihn, ein verächtliches Lächeln auf ihrem schönen Gesicht. Elk schloß die Schranktür wieder, und seine empfindlichen Finger suchten auf ihrer Oberfläche nach einer Feder. Es brauchte lange Zeit, bis er den Taster entdeckt hatte, aber schließlich fand er doch ein Stückchen Holz, das dem Druck seiner Hand nachgab. Es schnappte etwas, und die Vorderseite des Schrankes begann sich herabzusenken.

 

»Ach, ein Schrankbett! Das ist aber eine praktische Erfindung!«

 

Aber es war durchaus kein Bett, das sich nun zeigte, und Elk wäre auch recht enttäuscht gewesen, hätte er ein solches vorgefunden. Auf einem Rahmen standen reihenweise Röhren, Transformatoren, der ganze Apparat, der für eine Sendestation notwendig ist.

 

»Sie haben doch sicherlich eine Erlaubnis dafür?« fragte er. In Wahrheit aber vermutete er nichts dergleichen, denn Lizenzen für Sendestationen werden in England recht spärlich gegeben.

 

Aber Lola ging an den Schreibtisch und brachte das Dokument zum Vorschein. Elk las, las wieder und nickte.

 

»Sie sind eine tüchtige Person«, sagte er nicht ohne Respekt.

 

»Nun möchte ich auch gerne die Lizenz sehen, die der Frosch Nummer Eins Ihnen ausgestellt hat.«

 

»Und ich möchte gern wissen, ob Sie für gewöhnlich die Leute aufzuwecken pflegen, um mitten in der Nacht nach ihren Lizenzen zu fragen?«

 

»Sie haben heute nacht den Sender im Dienste der Frösche benützt«, sagte Elk kurz. »Und vielleicht werden Sie die Güte haben, Hauptmann Gordon zu erklären, warum Sie dies taten?«

 

Lola wendete sich zum erstenmal zu Dick. »Ich habe den Apparat wochenlang nicht benützt, aber die Schwester eines meiner Freunde bat mich heute abend, ob sie ihn nicht benützen dürfe. Sie ist vor einer Stunde weggegangen.«

 

»Sie meinen Fräulein Bennett?« fragte Gordon, und Lola hob in vollendet gespieltem Erstaunen die schön gebogenen Augenbrauen.

 

»Woher wissen Sie es?«

 

»Liebe Lola, nun hast du dich aber verraten«, lachte Elk freundlich. »Fräulein Bennett hat neben mir gestanden, als du eben anfingst, in der Froschsprache zu plaudern. Du bist erwischt, Lola. Und das beste, was du tun kannst, ist, dich niederzusetzen und uns die ganze Wahrheit zu sagen. Wir haben Nummer Sieben gestern abend gefangen und wissen alles. Morgen wird der Frosch Handschellen tragen, und ich bin hierhergekommen, dir eine allerletzte Chance zu geben. Ich habe dich nämlich im geheimen immer gern gehabt. Etwas an dir erinnert mich an ein Mädchen, in das ich einmal wahnsinnig verliebt war.«

 

»Jetzt will ich Ihnen etwas erzählen, Elk«, sagte Lola. »Sie haben niemanden gefangen und Sie werden niemals jemanden fangen. Sie haben Ihren plattfüßigen Lockvogel Balder mit Hagn in eine Zelle gesperrt, um einen Triumph zu erleben. Aber Sie werden nichts erleben als große, große Unannehmlichkeiten.«

 

Zu anderen Zeiten würde sich Gordon über die Wirkung dieser Offenbarung auf Elk höchlichst amüsiert haben, denn das Kinn des unglücklichen Detektivs fiel herab, und er starrte hilflos über seine Gläser hinweg nach Lola.

 

»Hagn wird nicht gestehen«, fuhr sie fort. »Denn der Arm des Frosches würde ihn erreichen, so wie er Mills und Litnow erreicht hat und Sie erreichen wird, wenn der Frosch Sie dessen überhaupt für wert hält. So, jetzt können Sie mich arretieren, wenn Sie wollen. Sie haben durch das Diktaphon alles mit angehört, was ich Ray Bennett erzählt habe. Warum arretieren Sie mich nicht, um mir den Prozeß zu machen?«

 

Der gedemütigte Elk wußte wohl, daß er keinen Schuldbeweis hatte, um sie anzuklagen. Und Lola wußte, daß er dies wußte.

 

»Glauben Sie, mir so zu entkommen, Bassano?«

 

Gordon hatte gesprochen, und sie blitzte ihn zornig an.

 

»Es steht ein ›Fräulein‹ vor meinem Namen«, fauchte sie ihn an.

 

»Früher oder später werden Sie nur eine Nummer sein«, sagte Dick ruhig. »Sie und Ihresgleichen leben verantwortungslos und in Freuden dahin. Vielleicht, weil ich nicht kompetent genug bin; vielleicht, weil ich kein Glück habe. Aber eines Tages werden wir Sie erreichen, entweder ich oder mein Nachfolger. Sie können in dem Kampf mit dem Gesetz nicht gewinnen, denn das Gesetz ist ewig und beständig.«

 

»Eine Durchsuchung meiner Wohnung kann ich Ihnen nicht verwehren, aber eine Predigt brauch‘ ich mir nicht bieten zu lassen«, sagte sie verächtlich. »Und wenn die Herren zu Ende sind, so möchte ich Sie bitten, mir noch ein wenig Schlaf zu gönnen, damit ich morgen nicht allzu häßlich aufwache.«

 

»Das ist das einzige, was Sie niemals befürchten müssen«, sagte der galante Elk, und Lola lachte.

 

»Sie sind kein schlechter Mensch, Elk«, sagte sie. »Sie sind zwar ein schlechter Detektiv, aber Sie haben ein goldenes Herz.«

 

»Wenn das wahr wäre, so würde ich nicht wagen, allein in Ihrer Gesellschaft zu bleiben!« war Elks Antwort.