25

 

Gordon lag in seinem Bett und lauschte. Eine Kirchturmuhr schlug eins. Vor einer Stunde hatte er gehört, wie Bobby draußen gute Nacht sagte, und er hatte ebenfalls mit gute Nacht geantwortet.

 

»Ich spreche nicht mit Ihnen«, rief Bobby unwirsch.

 

Er war den ganzen Abend fort gewesen, um den Polizeiinspektor Carslake zu sprechen, aber seine Bemühungen waren nicht sehr erfolgreich gewesen. Bobby machte seine Tür zu, auch Diana verschloß ihr Zimmer. Dempsi ging daran vorbei und hielt noch lange Monologe vor dem versperrten Portal ihres Gemaches. Von unten drang das Schnarchen von Julius Superbus herauf.

 

Alle Ausgänge aus dem Hause waren gesichert – mit Ausnahme eines einzigen, der kleinen Öffnung in dem großen Glasfenster des Studierzimmers. Gordon hatte sich vorher genau informiert, denn Diana konnte ja so vorsichtig gewesen sein, es zuzuschrauben. Aber sie hatte es anscheinend vergessen, oder sie traute Mr. Superbus, der im Studierzimmer auf dem Sofa schlief. Gordon war schon zweimal auf Zehenspitzen zu seiner Tür geschlichen und hatte die Klinke niedergedrückt. Er war in dieser Nacht nicht eingeschlossen worden. Da Bobby im Hause war, hatte Diana ihre Wachsamkeit verringert.

 

Es schlug halb zwei, Gordon verließ das Bett und kleidete sich an. Er hatte keinen Pfennig Geld bei sich, aber das Personal in den Hotels kannte ihn ja, und er konnte auf das Hotelpapier einen Scheck schreiben, dann hatte er so viel Geld, wie er nur brauchte. Dann wollte er aber hierher zurückkehren und sich Mr. Dempsi einmal vornehmen. Er hatte sich noch nicht entschieden, welchen Tod dieser Halunke sterben sollte, aber sicher würde ihm ein qualvolles Ende bevorstehen. Er dachte an Heloise … er hoffte für sie nur, daß sie inzwischen verschwunden war.

 

Er löschte das Licht, öffnete die Tür und lauschte. Als er kein Geräusch hörte, schlich er sich leise die Treppe hinunter und ging in das Studierzimmer. Mr. Superbus atmete regelmäßig. Während Gordon noch horchte, stöhnte er und warf sich auf die andere Seite. Das Schnarchen hörte auf, und Julius schlief tiefer als jemals.

 

Nun war die günstige Gelegenheit für Gordon gekommen. Aber er hatte noch keinen Schritt vorwärts getan, als plötzlich ein kreisrunder Lichtschein auf dem Fenster erschien. Er wartete und hielt den Atem an. Ein leises Geräusch folgte, dann öffnete sich der eine Fensterflügel, und eine dunkle Gestalt kam ins Zimmer.

 

Eine Weile war der Eindringling unsichtbar, dann tauchte der helle Kreis wieder auf – diesmal auf dem Geldschrank.

 

Ein Einbrecher! Gordons erster Gedanke war, auf ihn zuzuspringen und ihn dingfest zu machen, aber – dann überlegte er es sich und näherte sich ihm langsamer und vorsichtiger …

 

»Hände hoch, oder ich schieße!«

 

Sofort ging das Licht aus.

 

»Schießen Sie nicht, Sir!«

 

»Schießen Sie nicht, Sie Narr!« zischte Gordon. »Es schläft hier noch ein Mann im Zimmer. Wo ist Ihr Revolver?«

 

»Ich habe keinen bei mir.«

 

»Was machen Sie hier?«

 

»Stellen Sie keine dummen Fragen –«

 

Gordon hatte die Blendlaterne des Mannes gepackt und leuchtete ihm ins Gesicht.

 

»Ich kenne Sie!«

 

Der Mann grinste verlegen.

 

»Sie haben mich gefaßt«, sagte er verstimmt.

 

»Sie sind der Mann, der gestern morgen die Fenster geputzt hat!«

 

Der Einbrecher nickte.

 

»Das ist das erste Mal, daß man mich geschnappt hat – ich heiße Stark. Ich werde keinen Widerstand leisten, und wenn Sie dem Richter sagen, ich hätte einen Revolver bei mir gehabt, dann lügen Sie!«

 

Der Einbrecher hatte etwas lauter gesprochen, und Gordon sah sich ängstlich um. Aber Mr. Superbus schnarchte aufs neue.

 

»Pst, nicht so laut! Haben Sie den Geldschrank schon geöffnet?« Gordon kam plötzlich eine glänzende Idee.

 

»Es wäre geschehen gewesen, wenn Sie einige Minuten später gekommen wären«, sagte der Mann vorwurfsvoll.

 

Gordon nickte.

 

»Sie haben mir die Sache ganz und gar verdorben.«

 

»Öffnen Sie den Schrank.«

 

Stark wollte seinen Ohren nicht trauen.

 

»Was?«

 

»Öffnen Sie den Schrank – ich werde Sie gut bezahlen und Sie außerdem freilassen. Es ist nur ein Schloß daran, und das Schlüsselwort heißt ›Alma‹. Haben Sie verstanden?«

 

»Ist das Ihr Ernst, mein Herr?« fragte Stark ungläubig.

 

»Jawohl, ich habe meinen Schlüssel verloren. Nun gehen Sie schnell an Ihre Arbeit. Können Sie es ohne Licht machen?«

 

»Natürlich – nur dumme Amateure brauchen viel Licht, ein ganz kleiner Lichtschein genügt mir.«

 

Er holte unter seinem Rock ein kurzes Stemmeisen und ein längeres, dünnes Instrument hervor. Seinem Beruf nach war er nur ein armer Fensterputzer, aber als Einbrecher gehörte er zu den hervorragendsten Fachleuten. »Haben Sie schon einmal gesehen, wie ein Geldschrank aufgeknackt wird?« fragte er über die Schulter.

 

Gordon schüttelte den Kopf.

 

»Nein, auf diese Art jedenfalls noch nicht«, gab er zu.

 

»Es dauert Jahre, bis man das lernt. Viel Geld ist auch nicht damit zu machen«, meinte Mr. Stark traurig. »Das ganze Geschäft ist durch die Fremden verdorben worden. Es sind zu viele Leute im Handwerk, zu viele Outsider. Es ist hier genauso wie überall – meistens sind es Amerikaner. Warum sie nicht in ihrem Lande bleiben, weiß ich auch nicht. Sie sind aber tüchtig, das muß man schon sagen, obgleich sie uns unser sauer verdientes Brot vor der Nase wegschnappen. Wir haben aber auch glänzende Vertreter – wenn sie nur ein wenig Aufmunterung hätten, ich meine etwas Kapital.« Die Geldschranktür öffnete sich. »So, sehen Sie, das hätten wir wieder einmal gekonnt!«

 

»Wie – schon offen?« fragte Gordon erstaunt und etwas verärgert. Der Mann, der ihm den Geldschrank verkauft hatte, hatte ihn also tüchtig belogen.

 

»Jawohl.«

 

»Leuchten Sie einmal hinein! Donnerwetter, es sind ja kaum noch Zehntausend da!«

 

Er raffte alles zusammen, was an Banknoten noch im Schrank lag. Plötzlich hob er den Kopf, um zu lauschen, denn es kam jemand die Treppe herunter.

 

»Machen Sie sich schnell aus dem Staub – es kommt jemand – hier, nehmen Sie das!«

 

Er steckte dem Einbrecher ein paar Banknoten in die Hand, und im nächsten Augenblick war Stark durch das Fenster verschwunden. Gordon folgte ihm auf dem Fuße.

 

»Wer ist dort?« fragte eine zitternde Stimme vom Sofa her.

 

Gordon gab ihm aber keine Antwort. Als Mr. Superbus mit überraschendem Mut auf ihn zueilte, sprang er durch das Fenster.

 

»Halt!«

 

Das war Dempsis Stimme.

 

Gordon sprang auf den Hof hinunter, als im Zimmer zwei Schüsse fielen.

 

Ein gellender Schrei ertönte. Es mußte jemand schwer getroffen sein. Diana hörte es, sprang aus dem Bett, warf den Morgenrock über und eilte in das Studierzimmer. In der Mitte des Raumes stand Dempsi, und zu seinen Füßen auf dem Boden wand sich in tausend Schmerzen die Gestalt von Julius Superbus.

 

»Er war ein Opfer seiner Pflicht«, sagte Dempsi ehrerbietig.

 

Und er hatte nicht unrecht. Mit zehn Zehen war Mr. Superbus nach Cheynel Gardens Nr. 61 gekommen, aber das Schicksal hatte bestimmt, daß er dieses Haus nur mit neun Zehen wieder verlassen sollte, denn eine hatte er bei der Schießerei verloren.