Kapitel 1

 

1

 

»Sie ist eine Waise«, sagte Mr. Collings gerührt. Für Waisen hatte er eine besondere Vorliebe. Sonst war er als Rechtsanwalt im Verkehr mit seinen Klienten ein strenger, etwas zurückhaltender Mann, der gern zum Abschluß von Vergleichen riet. Es kamen Klienten in sein Büro, die ganz sicher waren, daß ihre Feinde sich selbst in ihre Hände gegeben hatten. Sie sprachen von Schadenersatzforderungen, die sich auf fünfstellige Zahlen beliefen und den vollkommenen Ruin von Leuten oder Firmen bedeuteten, die sie beleidigt hatten. Aber als sie wieder fortgingen, waren alle ihre Berechnungen über den Haufen geworfen und ihre Zukunftspläne vernichtet. Mr. Collings glaubte nun einmal nicht, daß Prozesse vorteilhaft seien. Seiner Meinung nach war es viel besser, alle Streitfragen gütlich beizulegen.

 

Wenn ein Ermordeter aus seinem Grabe auferstehen, in Mr. Collings Büro kommen und sagen könnte: »Ich habe eine ganz einwandfreie Klage gegen Binks. Er hat mich erschossen. Sie sind doch davon überzeugt, daß ich einen Schadenersatzanspruch an ihn stellen kann?«, dann würde Mr. Collings geantwortet haben; »Das ist noch gar nicht sicher. Ich zweifle daran. Man könnte auch sehr viel zugunsten von Mr. Binks anführen. Haben Sie sich nicht auf seine Kosten bereichert? Sind Sie nicht selbst in einer unangenehmen Lage? Sie tragen doch zunächst einmal ein Geschoß im Leibe herum, das zweifellos das Eigentum von Mr. Binks ist. Man kann nie genau wissen, welchen Standpunkt das Gericht einnimmt. Ich gebe Ihnen den guten Rat, mich zu Vergleichsverhandlungen zu ermächtigen.«

 

Aber wenn es sich um Waisen handelte, war Mr. Collings weich wie Butter. Seine Eltern hatten ihn einfach und streng erzogen, und er hatte sonntags fromme Bücher lesen müssen, in denen von Waisen, von gutherzigen Drehorgelspielern und von kleinen Mädchen erzählt wurde, die viel aus guten Büchern lernten, später als Missionsfrauen nach Afrika gingen und dort starben, tief betrauert und beweint von den bekehrten Eingeborenen. Die schlechten Menschen in diesen Geschichten waren meistens junge Burschen, die heimlich die Rosinen aus dem Kuchen nahmen, nur weißes Brot aßen und die Krusten wegwarfen. Sie mißhandelten die Hunde und traten sie mit Füßen, fingen die Fliegen, warfen sie in die Netze der Spinnen und beobachteten mit grausamer Freude und Mordlust, wie diese über ihre armen Opfer herfielen und ihnen das Blut aussaugten.

 

»Sie ist eine Waise«, sagte Mr. Collings noch einmal und seufzte vernehmlich.

 

»Sie ist schon seit zehn Jahren eine Waise«, entgegnete Mr. William Cathcart zynisch.

 

Mr. Collings war untersetzt, hatte einen kahlen Kopf und hielt gern nachmittags ein kleines Schläfchen. Mr. Cathcart war im Gegensatz zu ihm mager, hatte ein schmales Gesicht und volles Haar. Auch schlief er niemals tagsüber, wie man wußte. Er haßte Waisenkinder. Stets gab es ihretwegen unangenehme Auseinandersetzungen über die Elternschaft, über testamentarische Bestimmungen, und immer hatte man Schreibereien mit dem Vormundschaftsgericht. Am liebsten hätte er sich hinter Stacheldraht gegen Waisen verschanzt.

 

»Sie ist die sonderbarste Waise, die mir jemals begegnet ist«, fuhr Mr. William Cathcart erbarmungslos fort. »Dem Gesetz nach ist sie noch ein Kind, aber sie hat ein Bankguthaben von hunderttausend Pfund. Ich vergieße ihretwegen keine Träne – das dürfen Sie mir glauben!«

 

Mr. Collings wischte sich die Augen.

 

»Aber sie ist doch eine Waise!« Er versuchte vergeblich, das steinharte Herz von Mr. Cathcart zu erweichen.

 

»Mrs. Tetherby hat ihr das Geld geschenkt, während sie noch lebte – daran ist doch nichts Besonderes. Wenn ich einem Waisenkind« – er schluckte und wollte seine Rührung verbergen – »einen Schilling, ein Pfund, ja selbst tausend Pfund schenkte, so wäre das doch kein Bruch des Gesetzes oder eine Ungehörigkeit, selbst wenn ich es Tag für Tag täte?«

 

Mr. Cathcart dachte nach.

 

»Unter gewissen Umständen könnte es doch ein Unrecht sein«, meinte er dann.

 

Mr. Collings verwahrte sich dagegen, aber er wollte nicht verletzend werden.

 

»Mrs. Tetherby war träge. Starke Frauen sind oft so.«

 

»Sie war direkt faul«, erwiderte Cathcart.

 

»Es gibt nur wenig Tanten, die Zuneigung zu ihren Nichten fühlen. Aber Mrs. Tetherby liebte Diana. Aus ihrem Testament geht das deutlich hervor. Sie hinterließ ihr alles –«

 

»Es war ja gar nichts zu hinterlassen«, unterbrach ihn Mr. William Cathcart befriedigt.

 

Wie dieser Mann Waisenkinder haßte!

 

»Es war nichts mehr da, weil sie ja schon zu Lebzeiten Diana die Kontrolle über ihr Vermögen überließ.«

 

»Das tat sie doch nur, weil sie sich nicht damit belasten wollte«, sagte Mr. Collings leise. »Sie hat dieses Waisenkind doch so geliebt!«

 

»Wenn man jemals einer Frau auf der Welt nicht hätte gestatten dürfen, ein Mädchen von Diana Fords Charakter zu erziehen, so war es Mrs. Tetherby. Als Kind von sechzehn Jahren hatte Diana schon eine leidenschaftliche Liebesaffäre mit einem Studenten –«

 

»Es war ein Student der Theologie«, verteidigte sie Mr. Collings. »Vergessen Sie das nicht! Das läßt doch die Sache in einem ganz anderen Licht erscheinen. Ich kann mir wohl denken, daß ein junges Mädchen sein Herz einem zukünftigen Geistlichen schenkt. Ein Student der Medizin wäre mir dagegen ganz unmöglich erschienen.«

 

»In meinen Augen ist es um so schlimmer, wenn er ein Student der Theologie war.«

 

»Aber schließlich hat uns Mrs. Tetherby wegen dieser Angelegenheit um Rat gefragt«, sagte Mr. Collings etwas vorwurfsvoll. »Ob sie nun zu lässig oder zu energisch war, auf jeden Fall ist sie zu uns gekommen.«

 

»Sie wollte von uns erfahren, ob sie vor Gericht schuldig gesprochen würde, wenn sie diesem verfluchten Mr. Dempsi auflauerte und ihn über den Haufen schösse. Sie erzählte uns doch, daß sie schon die Hunde auf ihn gehetzt hatte, ohne ihn abschrecken zu können.«

 

»Dempsi ist tot«, erwiderte Mr. Collings heiser. »Ich habe schon vor acht Monaten mit Diana über ihn gesprochen, als ihre verehrte Tante starb. Ich fragte sie, ob diese Wunde vernarbt sei. Sie antwortete, daß sie kaum noch daran denke. Nur manchmal mache sie sich abends noch den Spaß, sein Gesicht aus dem Gedächtnis zu zeichnen.«

 

»Ein herzloses, teuflisches Mädchen!«

 

»Sie ist ein Kind – und in der Jugend geht dergleichen schnell vorüber. Man vergißt sogar Leibschmerzen sehr rasch«, sagte Mr. Collings.

 

»Haben Sie auch mit ihr über Leibschmerzen gesprochen?« fragte der andere höhnisch.

 

Mr. Collings zog die Augenbrauen hoch. Ein Mann von seiner Gutherzigkeit war solchen Gemeinheiten gegenüber einfach machtlos.

 

»Eine Waise« – begann er eben wieder, als ein Schreiber ins Büro trat.

 

»Miss Diana Ford«, meldete er an.

 

Die beiden Chefs der Rechtsanwaltsfirma Collings und Cathcart wechselten Blicke.

 

»Lassen Sie die junge Dame näher treten.« Die Tür schloß sich hinter dem Schreiber. »Seien Sie liebenswürdig zu ihr, William«, bat Collings.

 

Mr. Cathcart rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

 

»Wird sie denn liebenswürdig zu mir sein?« fragte er bitter. »Garantieren Sie mir und sind Sie bereit, Geld darauf zu wetten, daß sie höflich ist?«

 

In der Tür erschien ein hübsches Mädchen. Sie sah blühend wie der Frühling aus. Die Farbe ihrer Wangen erinnerte an Pfirsiche, und sie brachte den Duft blumiger Wiesen mit in dieses dumpfe Büro. Ihre Sprache hörte sich an wie das Geplätscher eines kristallklaren Baches, der zwischen Lärchen und Erlen dahineilt. Das war Miss Diana Ford.

 

Während des Krieges hatte Mr. Cathcart eine Stellung in einem Armeeversorgungsdepot eingenommen (Heimatdienst) und hatte infolgedessen eine gewisse Art zu denken beibehalten. Er nahm den Tatbestand wie folgt auf:

 

Mädchen. Schlank. Mittelgröße.

Augen. Graublau, groß. Unschuldiger Blick.

Mund. Rot, geschwungen, ziemlich groß.

Nase. Gerade, gutgeformt.

Haare. Goldblond, Bubikopf.

 

Nach dieser Beschreibung war Diana ebensowenig wiederzuerkennen wie ein gewöhnlicher Mensch nach den Eintragungen in seinem Reisepaß. Sie war frisch und natürlich.

 

Impulsiv ging sie auf Mr. Collings zu und küßte ihn. Mr. William Cathcart schloß die Augen, um nicht das wohlgefällige Lächeln zu sehen, mit dem sein Partner diese Bevorzugung quittierte.

 

»Guten Morgen, lieber Onkel! Guten Morgen, Onkel Cathcart!«

 

»Morgen«, erwiderte Mr. Cathcart. Er war so feindlich wie nur möglich gesinnt.

 

»Morgen«, ahmte sie ihn nach. »Und ich bin doch in so guter Stimmung gekommen und habe Sie doch so gern. Ich habe Sie sogar Onkel genannt«, rief sie vorwurfsvoll.

 

»Habe ich gehört«, brummte der neuernannte Verwandte. »Es wäre weit besser, Miss Ford, wenn wir uns in mehr geschäftlichen Formen bewegten –«

 

»Bewegen Sie sich meinetwegen auf Autobussen und Elektrischen, wenn Ihnen das Spaß macht«, sagte sie seufzend, nahm ihren Hut ab und legte ihn auf das nächste Aktenstück. »Ach, Onkel Collings, ich bin krank!«

 

Mr. Cathcart sah bestürzt auf.

 

»Ich bin ganz krank von Australien. Mir macht das Leben hier keine Freude mehr. Ich bin krank von der ganzen Stadt, von den Leuten, von der Umgebung, von allem! Ich fahre heim.«

 

»Heim?« rief Mr. Collings atemlos. »Aber meine gute, liebe Diana, Sie wollen doch nicht etwa nach England gehen?«

 

»Natürlich will ich nach England! Ich werde dort meinen Vetter Gordon Selsbury besuchen.«

 

Mr. Collings fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

 

»Es ist natürlich ein älterer Herr?«

 

»Ich weiß es nicht.« Sie zuckte gleichgültig die Schultern.

 

»Aber er ist doch verheiratet?«

 

»Vermutlich. Er ist hübsch, und alle hübschen Leute sind verheiratet – die Anwesenden sind selbstverständlich ausgeschlossen.«

 

Mr. Collings war Junggeselle und konnte deshalb herzlich über den Spaß lachen. Mr. Cathcart aber als ein verheirateter Mann machte ein saures Gesicht.

 

»Sie haben sich wohl telegrafisch und brieflich angemeldet. Mr. Selsbury hat nichts gegen Ihren Besuch einzuwenden?«

 

»Nicht im geringsten – er wird entzückt sein, mich zu sehen.«

 

»Zwanzig Jahre alt«, sagte Mr. Cathcart kopfschüttelnd. »Vor dem Gesetz noch ein Kind. Ich glaube wirklich, wir müßten erst mehr über Mr. Selsbury und seine Verhältnisse erfahren, bevor wir gestatten könnten – wie, Collings?«

 

Mr. Collings schaute das junge Mädchen fast bittend an. Sie hatte niemals verwaister ausgesehen als in diesem Augenblick.

 

»Es wäre doch vielleicht besser –?« fragte er behutsam.

 

Diana lächelte, ihre Augen strahlten, und ihre kleinen weißen Zähne blitzten.

 

»Ich habe schon meine Kabine belegt, sie ist sehr hübsch. Es ist ein besonderer Baderaum und auch ein Wohnzimmer dabei. Die Wände sind ganz mit Brokatseide ausgeschlagen. Und es steht eine hübsche, niedliche Bettstelle aus Messing in der Mitte, so daß ich nach beiden Seiten herausfallen kann.«

 

Mr. Cathcart fühlte, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, seine Autorität geltend zu machen.

 

»Ich kann Ihrem Plan nicht zustimmen«, sagte er ruhig.

 

»Warum denn nicht?« Sie sah ihn von oben her an und warf den Kopf in den Nacken.

 

»Ja, warum denn nicht?« fragte auch Mr. Collings.

 

»Weil Sie noch nicht volljährig sind, meine liebe, junge Dame, weil Sie nach den Gesetzen dieses Landes noch ein Kind sind, und weil Mr. Collings und ich die Vormundschaft über Sie führen. Ich bin alt genug, Ihr Vater sein zu können –«

 

»Oder auch mein Großvater! Aber kommt es denn darauf an? Neulich traf ich in dem Zug von Bendigo hierher einen Herrn von sechzig Jahren, der mich in den Arm zwicken und dauernd meine Hand in die seine nehmen wollte. Das Alter macht gar nichts aus, wenn nur das Herz jung ist.«

 

»Das stimmt«, bestätigte Mr. Collings, dessen Herz noch sehr jung war.

 

»Der langen Rede kurzer Sinn ist, daß Sie nicht abfahren dürfen«, sagte Mr. Cathcart entschieden. »Ich möchte nicht erst eine gerichtliche Entscheidung hierüber herbeiführen –«

 

»Einen Augenblick, Sie schlechter Freund der armen jungen Leute!« Diana nahm kurz entschlossen mehrere große Gesetzbücher und einen ganzen Stoß von Gerichtsakten vom Stuhl, legte ihn auf die Erde und setzte sich. »Meine Kenntnis des Gesetzes ist ja nur oberflächlich«, sagte sie ernst. »Ich habe mein Leben auf den Grassteppen von Kara-Kara zugebracht. Aber obwohl ich nur ein unwissendes Waisenkind bin …«

 

Mr. Collings seufzte.

 

»… so ist mir doch bekannt, daß ein Anwalt erst einen Klienten haben muß, bevor er eine Gerichtsentscheidung beantragt. Denn kein Jurist, es sei denn einer, der vor Verliebtheit verrückt ist, stellt Anträge bei Gericht, ohne einen Klienten zu vertreten.«

 

Mr. William Cathcart zuckte die Schultern.

 

»Sie müssen sich Ihr Bett allein machen.«

 

»Der Gerichtshof kann mir mein Bett auch nicht machen!« antwortete sie.

 

Mr. Cathcart sah, wie sie auf ihn zukam und schnell seinen Federhalter nahm.

 

»Onkel Cathcart, ich hoffte so sehr, daß wir als gute Freunde scheiden würden! Jeden Abend, wenn ich vor meinem Bett zum Abendgebet niederknie, sage ich: ›Lieber Gott, bitte, gib doch Onkel Cathcart ein bißchen mehr Humor und mache ihn ein wenig liebenswürdiger.‹ Ich habe immer geglaubt, daß dieses Wunder eines Tages geschehen würde.«

 

Onkel Cathcart rückte auf seinem Stuhl unruhig hin und her.

 

»Gehen Sie Ihren eigenen Weg«, sagte er laut. »Ich kann keinen alten vernünftigen Kopf auf junge Schultern setzen. Wir werden ja noch länger leben, und dann werden wir ja sehen.«

 

»Man probiert den Pudding am besten, indem man ihn aufißt. Das haben Sie eben vergessen, Onkel Cathcart.«

 

*

 

Mr. Collings speiste mit Diana in einem Restaurant zu Mittag.

 

»Was ist eigentlich dieser Mr. Selsbury für ein Mann?«

 

»Ach, er ist wundervoll«, sagte sie träumerisch. »Er hat damals in dem Universitätsachter bei dem Rennen mitgerudert und gewonnen. Ich bin ganz verschossen in ihn!«

 

Mr. Collings sah sie entsetzt an.

 

»Ist er auch verschossen in Sie?« fragte er atemlos.

 

Diana lächelte. Sie hatte gerade ein kleines Spiegelchen aus der Handtasche gezogen und puderte sich ein wenig.

 

»Er wird sich schon in mich verlieben«, sagte sie sanft.

 

Kapitel 10

 

10

 

Überraschenderweise kam Diana an diesem Tag zu ihm und bat um etwas Geld.

 

»Ich habe mein Geld auf die Londoner Filiale der Bank von Australien überweisen lassen, aber es muß irgendeine Stockung dabei eingetreten sein. Ich war heute dort, die Überweisung ist noch nicht eingetroffen. Ich habe infolgedessen kein Geld, Gordon.«

 

Sie zeigte ihm dramatisch ihre leere Brieftasche. Gordon gab ihr einen Scheck, und sein Selbstbewußtsein stieg, als er ihn ausstellte. Er wurde etwas freundlicher und väterlicher zu ihr.

 

»Hättest du mich nun aus dem Hause gewiesen, dann hätte ich verhungern müssen«, sagte sie, als sie den Scheck entgegennahm. »Gordon, du verbirgst hinter einer rauhen, abstoßenden Außenseite ein goldenes Herz.«

 

»Ich wünschte nur manchmal, du wärst ein wenig ernster«, erwiderte er gutgelaunt.

 

»Und ich wünschte nur, du wärest es nicht!«

 

Am Nachmittag wurde er auf das lebhafteste an Dianas eigenwilliges Handeln und an die Energie, mit der sie sich durchzusetzen verstand, erinnert, denn die Telefonarbeiter kamen und verlegten den Apparat aus dem Korridor in das Studierzimmer. Gordon brummte zuerst, aber Diana wir nicht auf den Mund gefallen, und er war nicht geneigt, sich im Augenblick in einen Disput mit ihr einzulassen.

 

Bobby kam zum Abendessen, und als er später mit Diana allein war, stellte er eine Frage an sie, die er sich selbst schon öfters vorgelegt hatte.

 

»Warum führst du eigentlich ein solches Leben hier? Du hast doch so viel Geld und könntest dich doch glänzend amüsieren, anstatt diesem steifen Gordon nachzulaufen?«

 

»Will Gordon mich hier haben? Hat er mich überhaupt haben wollen? Nein. Als ich hierherkam, ließ ich mein Gepäck in der Diele. Ich wollte mir damals nur einen Rat von ihm holen, in welches Hotel ich am besten ziehen könnte. Ich hatte nicht die leiseste Absicht, hier zu bleiben, bis ich ihn sah, ihn sprechen hörte und den Schrecken wahrnahm, als er vermutete, ich könne hier bleiben wollen. Als er dann so väterlich zu mir sprach und mich wie ein kleines Kind behandelte, blieb ich natürlich. An dem Tage, an dem Gordon mich halten mochte, gehe ich fort!«

 

Die Atmosphäre in dem Hause war geladen. Bobby fühlte es. Diana war nicht nur über das langsame Arbeiten der Bank ärgerlich. Sogar in dem Dienstbotenzimmer hinten war etwas nicht in Ordnung, Eleanor hatte eine bestimmte Ahnung.

 

»Ich bin sicher, daß etwas passiert.«

 

»Machen Sie sich doch nicht lächerlich«, sagte Trenter rauh.

 

»Ich wünschte, Sie gingen nicht fort«, rief sie plötzlich schluchzend. »Ich fürchte mich auf einmal so sehr. Dieser gräßliche Kerl, der immer zum Fensterputzen kommt, wird noch irgend etwas anstellen. Das habe ich gleich gesagt, als ich ihn sah. Das ist ein Schuft, ein Schurke! Habe ich es nicht gesagt?« Mit diesen Worten wandte sie sich an die Köchin.

 

»Ja, Eleanor hat gesagt, daß der Kerl verdächtig ist«, stimmte ihr die Köchin bei.

 

Gordon ging um zehn Uhr zu Bett. Aber um ein Uhr stand er schon wieder auf und ging in seinem Zimmer auf und ab. Um drei Uhr war er in seinem Studierzimmer und steckte die Kaffeemaschine an. Während der Kaffee kochte, öffnete er den Geldschrank, nahm die fünfzigtausend Dollar heraus, zählte sie genau und legte sie dann wieder zurück. Der Geldschrank sah eigentlich ein wenig schwach aus. Wenn erst diese verrückte Reise hinter ihm lag, wollte er das abändern. Er überlegte, daß es nicht schwer war, in das Haus einzubrechen. Die großen bunten Glasfenster waren nicht geschützt. Ein unternehmender, kühner Mann konnte sie mit einem Taschenmesser öffnen.

 

In einer Ecke des Zimmers befand sich eine kleine Tür, die hinter einem Vorhang verborgen war. Sie führte direkt auf den Hof, wurde aber niemals benutzt. Weshalb sie überhaupt angebracht war und welchen Zwecken sie diente, wußten nur der Erbauer und der frühere Eigentümer dieses Hauses, der dreimal geschieden worden war. Jetzt war er im Himmel, wenn seine in schönen Worten abgefaßte Grabschrift nicht log.

 

Gordon ging wieder in sein Zimmer hinauf, um den Schlüssel zu holen, dann öffnete er die Tür und trat in den »Garten« hinaus. Draußen war es dunkel und ruhig. Der feuchte Wind erfrischte ihn. Auf der anderen Seite des Hofes war eine kleine Tür, die in eine Seitenstraße führte. Die Mauer, die den Hof nach dort abschloß, war hoch, bot aber einem gewandten Einbrecher kein allzu großes Hindernis. Er fror, ging wieder in sein Studierzimmer und zu dem heißen Kaffee zurück und setzte sich an das Kaminfeuer, das er angesteckt hatte.

 

Er hätte gern tausend, ja zehntausend gegeben, wenn er dieses verrückte Abenteuer hätte aufgeben können. Es wäre doch viel besser, wenn er hierbliebe bei … nun ja, bei Diana.

 

Er mußte sich ja nun auf sie verlassen, wenn Mr. Tilmet am Sonntag kam. Sie mußte mit ihm verhandeln, es war wahrscheinlich niemand anders diesem schlauen und listigen Amerikaner gewachsen.

 

»Ich will es gern tun«, hatte sie ohne Zögern erwidert, als er sie darum bat. »Ist die Quittung ausgeschrieben und auch der endgültige Vertrag? Er hat aber durchaus keinen Wert, wenn der Text nicht von einem amerikanischen Notar aufgesetzt ist. Tante hat damals eine Petroleumquelle in Texas gekauft und müßte einen amerikanischen Rechtsanwalt aufsuchen, bevor der Vertrag geschlossen werden konnte.«

 

»Und sie ist dann doch beschwindelt worden«, sagte Gordon.

 

»O nein, sie hat siebzigtausend Dollar bei der Sache verdient. Sie hatte eine unwiderstehliche Neigung, sich an Geschäften zu beteiligen. Sind denn die Banknoten im Geldschrank?«

 

»Zusammen mit dem aufgesetzten Vertrag und der Quittung. Du bist wirklich eine tüchtige Geschäftsfrau, Diana!«

 

»Am besten ist es, du übergibst mir das Geld.«

 

Er öffnete den Geldschrank, und sie zählte die Scheine. Dann schloß sie die Banknoten wieder ein.

 

»Es ist gut«, sagte sie. »Ich werde großes Reinemachen halten, wenn du fort bist. Ich habe mir einen Mann bestellt, der die Fenster im Studierzimmer putzen soll. Sie sehen schauderhaft aus. Außerdem brauche ich jemand hier, weil du mit Trenter zu gleicher Zeit fortgehst. Ich werde ein Ehepaar hier ins Haus nehmen. Oben im Dachgeschoß ist ein Raum, wo sie schlafen können. Du bist doch damit einverstanden?«

 

Diana war sehr geschäftstüchtig, energisch und begabt, das gestand sich Gordon auch ein.

 

Als Eleanor früh am Morgen in das Zimmer kam, um aufzuräumen, saß er noch im Schlafrock vor dem Kamin. Das Feuer war ausgegangen, und als sie versuchte, es wieder anzuschüren, wachte er auf.

 

»Ach, mein Herr, Sie haben mich aber erschreckt!« Er erhob sich steif und blinzelte sie an.

 

»Das tut mir leid, Eleanor. Schicken Sie mir Trenter!«

 

Das war wirklich ein guter Anfang für seinen Reisetag: Ihm taten alle Glieder weh, bis er sich durch ein heißes Bad erfrischte.

 

»Eleanor sagt, daß sie dich heute morgen schlafend vor dem Kamin angetroffen hat. Wann bist du denn heruntergekommen?« fragte Diana beim Frühstück.

 

»Ich glaube, es war drei Uhr morgens. Es fiel mir ein, daß ich noch etwas zu arbeiten hatte.« Sie war besorgt.

 

»Warum benützt du denn nicht den Nachtzug? Du könntest doch schlafen«, riet sie ihm.

 

Er zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Ich werde schon gut schlafen«, sagte er und gab sich Mühe, recht vergnügt auszusehen.

 

Die Unterhaltung wandte sich anderen Dingen zu. Bald darauf erschien Bobby, um seine letzten Instruktionen entgegenzunehmen. Gordon war sehr nervös darüber, daß sein Bruder so pflichteifrig war, und sein Gutenmorgengruß klang nicht gerade höflich.

 

»Wenn du fort bist, werde ich Trenter bitten, mir deine Anzüge zu übergeben, die gereinigt und aufgebügelt werden müssen«, sagte Diana.

 

»Trenter reist vor mir ab – er fährt mit dem Zug nach Bristol, seine Tante ist schwer krank.«

 

»Was ist denn eigentlich mit dir los?« fragte Bobby plötzlich.

 

Gordon fuhr herum und wollte recht unangenehm werden, aber Bobbys Worte waren nicht an ihn gerichtet.

 

Diana war blaß geworden und sah ganz verstört aus. Gordon sprang auf und eilte zu ihr.

 

»Was hast du denn?« fragte er erschrocken.

 

»Es ist nichts – vielleicht ist es der Abschied, ich bin immer so niedergeschlagen, wenn meine Vettern fortfahren!«

 

»Hast du schlechte Nachrichten bekommen?«

 

Ihre Briefe lagen auf dem Tisch.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ach nein, nur die Fleischerrechnung stimmt nicht ganz. Sieh mich doch nicht so an, Bobby, das schickt sich nicht!« Aber ihre Hand lag auf dem Brief, den sie eben gelesen hatte.

 

Mr. Dempsi war nicht tot, er war sehr lebendig und augenblicklich in London. Die ersten Zeilen seines Briefes waren bezeichnend für ihn.

 

»Meine Braut, ich bin gekommen, um in Deine Arme zu eilen!« In diesem Stil hatte er immer geschrieben.

 

Kapitel 11

 

11

 

Zehn Minuten später trat Bobby in das Zimmer seines Bruders, ohne anzuklopfen, und unterbrach anscheinend eine sehr vertrauliche Besprechung. Trenter steckte schnell ein ganzes Paket Telegrammformulare in die Tasche, aber Bobby hatte sie doch gesehen. Er machte aber keine Bemerkung darüber, bis der Butler, der seinen besten Anzug angelegt hatte und ungewöhnlich flott aussah, eilig verschwunden war.

 

»Trenter besucht seine kranke Tante«, erklärte Gordon.

 

»So sieht er auch aus«, meinte Bobby. »Die Chrysantheme in seinem Knopfloch wird sie sicher sehr aufleben lassen. Ist dieser vertrauenswürdige Mann etwa auch an dem Schwindel beteiligt?«

 

»Ich weiß nicht, was du unter ›Schwindel‹ verstehst«, sagte Gordon laut. »Ich wünschte, daß ich dir überhaupt nichts von der Sache gesagt hätte.«

 

»Das hättest du auch nicht getan, wenn du nicht jemand brauchtest, der dir im Falle der Not beisteht.«

 

Gordon starrte ihn an.

 

»Ich sage dir doch, daß ich nichts Unrechtes tun werde! Du kannst mir doch glauben!«

 

»Na, das ist ein bißchen viel verlangt, aber ich will es ja tun. Du kannst aber lange suchen, bis du einen anderen findest, der die Geschichte für wahr hält!«

 

»Du verstehst diese – diese Seelenverwandtschaft nicht, die uns beide zueinander hinzieht. Es ist ein gegenseitiges Verstehen und Ergänzen, das du bei keinem anderen Menschen findest. Es liegt eine magische Anziehungskraft in einer solchen Beziehung zu einem andern. Man wird erhaben über Zeit und Raum.«

 

Bobby nickte weise.

 

»Nun ja, ich verstehe schon, welche Anziehungskraft eine Frau ausüben kann.« Gordon richtete sich auf.

 

»Bobby«, beschwor er seinen Bruder beinahe, »dies ist wirklich keine gewöhnliche Liebesaffäre – es ist etwas ganz anderes.«

 

»Es ist genau dasselbe wie all die anderen Geschichten. Die Dame ist natürlich verheiratet?«

 

»Ja, Heloise ist verheiratet«, erwiderte Gordon ernst.

 

»Heloise? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Und Trenter reist also vermutlich nach Schottland, um die nötigen Telegramme aufzugeben und das Märchen glaubwürdig zu machen, das du Diana erzählt hast. Sage einmal, wie sieht denn deine Heloise eigentlich aus?«

 

Gordon war aber nicht in der Stimmung, sich mit seinem Bruder darüber zu unterhalten.

 

»Wenn du mir jetzt noch Scherereien machen willst –«

 

»Nun, sei doch nicht verrückt! Ich will dir nichts in den Weg legen, denn aus irgendeinem mir selbst unerklärlichen Grunde glaube ich dir.«

 

Es klopfte an der Tür, und Eleanor trat ein.

 

»Wollen Sie Mr. Superbus empfangen?« fragte sie.

 

»Nein!« rief Gordon wütend. »Holen Sie mir lieber ein Auto.«

 

»Wer ist denn dieser Mr. Superbus?«

 

»Der Detektiv, von dem ich dir schon erzählte. Er ist hinter dem Doppelgänger her.«

 

Bobby pfiff.

 

»So? Um Himmels willen, an den habe ich noch gar nicht gedacht! Gordon, die Sache ist kritisch! Hast du Geld im Hause?«

 

»Das habe ich dir doch schon alles gesagt.«

 

»Du behauptest immer, daß du mir alles gesagt hast. Ich glaube, du weißt überhaupt nicht mehr, was du redest.«

 

»In meinem Geldschrank liegen fünfzigtausend Dollar. Diana ist instruiert. Das Schlüsselwort ist Alma, ich habe es ihr gesagt, du kannst es auch wissen. Das Geld ist für Mr. Tilmet bestimmt, der am Sonntag kommt. Aber du brauchst dich nicht darum zu kümmern, Diana wird die Sache schon in Ordnung bringen.«

 

»Der Doppelgänger!« wiederholte Bobby nachdenklich. »Und du bist gerade ein Mensch, den er bis aufs Haar genau kopieren könnte. Manchmal ertappe ich mich dabei, daß ich dich unbewußt auch nachmache! Weißt du, so ein bißchen pompös, ein bißchen gespreizt und geziert –«

 

Gordon wies ihn mit einer Geste aus dem Zimmer. Seine Geduld war erschöpft. Als er hinunterkam und sich verabschieden wollte, war Diana ausgegangen. Der Telefonhörer lag auf dem Schreibtisch, er legte ihn wieder auf die Gabel.

 

»Wo ist Miss Ford?« fragte er.

 

»Sie ist fortgegangen und bat mich, Ihnen ihre Abschiedsgrüße zu übermitteln. Wollen Sie noch Mr. Superbus sprechen?«

 

»Nein, dazu habe ich doch keine Zeit mehr! Sagen Sie ihm – ach, sagen Sie ihm, was Sie wollen. Ich muß jetzt zu meinem Zug.«

 

Er war in solcher Eile, daß Bobby sich nicht mehr über das informieren konnte, weswegen er gekommen war. Gordon hatte nämlich vergessen, ihm die Adresse mitzuteilen, unter der ihn Telegramme erreichen konnten. Bobby hätte ihm ja nachgehen können, aber er wußte nicht, wohin er sich zuerst wenden würde. Für die Abfahrt des Zuges war es offenbar noch viel zu früh, und Bobby war viel zu diskret, um eine Begegnung mit der faszinierenden Mrs. van Oynne zu riskieren. Er setzte sich also ins Wohnzimmer und wartete auf Dianas Rückkehr. Plötzlich fiel ihm ihr merkwürdiges Verhalten ein, und er zerbrach sich den Kopf, was das wohl für ein Brief gewesen sein mochte, der solchen Eindruck auf sie gemacht hatte. Er hatte schärfere Augen als sein Bruder und hatte die eng beschriebenen Zeilen unter ihrer Hand wohl bemerkt. Diana hatte also auch ihre Geheimnisse!

 

Gordon war einfach ein unmöglicher Narr! Sein Fall lag hoffnungslos. Er gehörte eigentlich ins Irrenhaus. Bobby stand auf und trat an den Geldschrank. Einen Augenblick zögerte er, dann stellte er das Schlüsselwort ein und öffnete ihn.

 

Außer einer ausgefertigten Quittung und einem vier Seiten langen Vertrag enthielt der Geldschrank nichts. Von Geld war keine Spur zu sehen!

 

Kapitel 12

 

12

 

Es dauerte eine halbe Stunde, bis Diana zurückkam. Sie sah immer noch angegriffen aus.

 

»Hallo, Bobby! Was ist denn mit dir los?«

 

»Diana« – er sprach sehr langsam – »du hast irgendeinen Kummer –«

 

»Irgendein Kummer ist gut!« Sie warf ihren Hut rücksichtslos auf den Tisch. »Ich weiß nicht, wo ich vor Sorgen hin soll, mein Lieber!«

 

»Gordon sagte mir, daß er fünfzigtausend Dollar hier im Geldschrank habe, um einen Amerikaner auszuzahlen, der am Sonntag hierherkommen wird. Er hat mir das Schlüsselwort gesagt.«

 

Sie stellte sich vor ihn und legte die Hände auf den Rücken.

 

»Nun – und?«

 

»Das Geld ist verschwunden!«

 

Eine kleine Pause.

 

»Weißt du denn, warum es verschwunden ist?«

 

»Nein – ich bin zu Tode erschrocken – Gordon hat es doch nicht mitgenommen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich habe es geholt, Bobby. Dempsi lebt. Ich habe heute morgen einen Brief von ihm bekommen – dreizehn Seiten lang und in einer Sprache – es ist einfach schrecklich! Ich bin ganz außer mir.«

 

»Ich dachte, er wäre damals in den Busch gelaufen und gestorben.«

 

Sie lächelte schmerzlich und ließ sich in den Stuhl fallen, in dem Gordon die Nacht zugebracht hatte.

 

»Er wurde im Busch gefunden. Er hatte Fieber, als die Eingeborenen ihn entdeckten. Sie nahmen ihn mit in ihr Dorf.«

 

Bobby dachte lange nach.

 

»Weiß er denn, daß du nicht verheiratet bist?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Wie?«

 

»Nein«, sagte Diana ruhig. »Wir haben vorhin miteinander telefoniert. Seine erste Frage an mich lautete: ›Bist du noch frei? Wir werden morgen vor den Altar treten. Wenn du aber verheiratet bist, wirst du noch heute abend Witwe sein.‹ Ich erkannte Dempsi gleich wieder an diesen Worten.«

 

»Was hast du ihm denn geantwortet?« fragte er verwundert.

 

»Ich habe ihm selbstverständlich gesagt, daß ich verheiratet sei«, erwiderte sie mit einer Selbstverständlichkeit, die ihn fassungslos machte. »Ich konnte ihm doch nicht gut erklären, warum ich hier bin, wenn ich nicht verheiratet bin. Dann wurde er aber so heftig, daß ich ihm erzählte, ich sei Witwe. Bobby, weißt du, Lügen ist doch furchtbar leicht!«

 

Bobby war noch sprachlos.

 

»Dann setzte er mir aufs neue zu, und ich teilte ihm mit, daß ich hier bei meinem Onkel Artur wohne. Ich hatte früher einmal einen solchen Onkel Artur, das heißt, er war natürlich nur so eine Art Adoptivonkel – er starb an Delirium tremens. Es scheint, daß alle unsere Familienmitglieder nicht ganz normal sind. Ich konnte ihm doch unmöglich sagen, daß ich allein in dem großen Hause wohne. Bedenke doch, Gordon ist fort – aber es ist eigentlich gut, daß er nicht im Lande ist.«

 

Bobby ging in größter Aufregung im Zimmer auf und ab.

 

»Ja, aber was hast du denn eigentlich mit dem Geld gemacht?«

 

»Das war ich Dempsi doch schuldig. Bevor er in den Busch rannte, hatten wir einen furchtbaren Auftritt. Er wollte mich veranlassen, mit ihm durchzubrennen, und als ich ihm diesen Wunsch nicht erfüllte, Wollte er Selbstmord begehen. Er war damals vollständig verrückt. Er schrie mich an, dann weinte er wieder, küßte meine Füße und lief davon, um im Busch zu sterben. Aber nicht einmal das hat er richtig ausgeführt.«

 

»Und das Geld?«

 

»Er hat mir damals sein Vermögen vor die Füße oder vielmehr der Katze an den Kopf geworfen – ich weiß, es nicht mehr genau. Jedenfalls war ich nachher im Besitz des Geldes. Er hatte keine arideren Verwandten, und es blieb mir nichts anderes übrig, als es auf die Bank zu tragen.« Sie biß sich auf die Lippen. »Ich hatte eigentlich vor, ihm ein schönes Grabmal zu errichten.«

 

Bobby seufzte erleichtert auf.

 

»Da du ihm anscheinend das Geld geschickt hast, ist wenigstens diese Sorge erledigt. Du kannst es ja ersetzen. Die Banken schließen heute erst um eins.«

 

»Wie soll ich denn das machen?« fragte sie bitter. »Ich habe kein Geld auf der Bank, mit Ausnahme von ein paar Pfund, mit denen ich mir ein Konto eröffnete, als ich nach London kam. Ich nahm die fünfzigtausend Dollar und zahlte achttausend Pfund auf mein Konto ein. Hier ist der Rest!« Sie zog ein Paket Banknoten aus der Tasche und reichte sie ihm.

 

Bobby sah sie entsetzt an.

 

»Aber wenn nun dieser Tilmet, der Amerikaner, kommt, dann mußt du ihn doch auszahlen!«

 

»Ich dachte, du könntest mir vielleicht aushelfen«, sagte sie bittend.

 

Er schaute auf seine Uhr.

 

»Da muß ich mich aber anstrengen. Man kann achttausend Pfund in bar nicht in zwei Stunden beschaffen. Gordons Geld liegt auf deiner Bank?«

 

Sie nickte.

 

»Ich will Dempsi durch einen besonderen Boten einen Scheck schicken. Er wohnt in einem kleinen Hotel in der Edgware Road.«

 

»Hat er denn das Geld von dir verlangt?«

 

»Nein, nicht direkt. Er machte eine Bemerkung, woraus ich das schloß. Mein Gewissen hat sich geregt.« Sie nahm ihr Taschentuch und fächelte sich damit.

 

Bobby schloß die Banknoten in den Geldschrank.

 

»Ich will sehen, was ich tun kann. Darf ich mal telefonieren?«

 

Sie nickte.

 

»Du kannst alles tun, was du willst – nur bitte mich nicht, Dempsi zu heiraten«, sagte sie müde.

 

Zuerst rief er bei seiner Bank an, aber sein Gespräch war nicht sehr ermutigend. Bobby hatte in den letzten Tagen große Rechnungen bezahlt und sein Guthaben etwas überzogen. Als er dem Direktor den Vorschlag machte, noch mehr Kredit in Anspruch zu nehmen, war dieser nicht sehr erbaut davon. Nach Bobbys drittem erfolglosem Versuch kam Eleanor mit einem Telegramm herein. Diana öffnete es schnell. »Wir sind gerettet!« rief sie.

 

»Was ist denn?« Bobby nahm ihr das Formular aus der Hand.

 

Es kam aus Paris und war von dem Sekretär des Amerikaners unterzeichnet.

 

»Mr. Tilmet schwer an Grippe erkrankt, kann nicht vor vierzehn Tagen nach London kommen.«

 

»Gott sei Dank!« Bobby wischte sich den Schweiß von der Stirn.

 

»Ich will das Geld lieber mitnehmen, Diana. Ich habe so eine Ahnung, daß es hier nicht gut aufgehoben ist.« Sie antwortete ihm nicht, sondern öffnete eine Schublade des Schreibtisches und zog ihren Browning heraus.

 

»Einbrecher sind meine Spezialität«, sagte sie nur.

 

»Aber leg doch diese Mordwaffe beiseite, ich hätte niemals gedacht, daß du so blutdürstig bist!«

 

»Ja, das bin ich! Augenblicklich könnte ich tatsächlich jemand umbringen!« Sie dachte an Dempsi. »Nun, was gibt es, Eleanor?«

 

»Wollen Sie jetzt Mr. Superbus sprechen?«

 

»Ich wußte ja gar nicht, daß er hier war. Lassen Sie ihn bitte näher treten.«

 

Mr. Superbus stolzierte wie ein alter Senator ins Zimmer und wurde Bobby vorgestellt. Offenbar wollte er mit Diana allein sprechen, aber sie erklärte ihm, in welchen verwandtschaftlichen Beziehungen sie zu Bobby stehe.

 

»Es tut mir sehr leid, daß ich Mr. Selsbury nicht mehr getroffen habe. Ich habe gestern abend ganz bestimmte Nachrichten von meinem Geheimagenten über gewisse Leute erhalten.«

 

»Meinen Sie etwa den Doppelgänger?«

 

Diana lachte plötzlich, sie hatte ja im Augenblick keine Sorgen mehr.

 

»Das ist nicht zum Lachen, Miss.« Mr. Superbus schüttelte den Kopf und setzte sich dann würdevoll. »Nein, wirklich nicht, es ist sehr ernst, Madam – Miss! Wenn er jetzt hier zur Tür hereinkäme, würden Sie sicher denken, es sei Ihr Vater!«

 

Diana hob abwehrend die Hand.

 

»Kann ich Ihnen wenigstens nebenbei erklären, daß Mr. Selsbury nicht mein Vater ist?«

 

Julius gab ihr gnädig die Erlaubnis dazu.

 

»Dieser Doppelgänger ist wirklich wunderbar! Ich gab noch heute morgen meiner Frau Verhaltungsmaßregeln. Wenn sie einen Kerl sieht, der mir aufs Haar gleicht und in das Haus eindringen will, während ich fort bin, muß sie ihn zuerst das Hemd ausziehen lassen – ich habe nämlich ein Muttermal auf meiner Schulter.«

 

Diana wandte sich an Bobby.

 

»Warum sollte er denn ausgerechnet hierherkommen?« fragte Bobby, obgleich er sehr wohl wußte, daß der Inhalt des Geldschrankes einen Besuch rechtfertigen würde.

 

»Das sagen die Leute immer vorher. Aber der Doppelgänger weiß stets, warum er kommt. Meine Frau meinte auch, warum er denn gerade zu uns kommen solle – sagen Sie einmal, was ist denn in dem Geldschrank? Doch nicht etwa wertvolle Dinge?«

 

»Da ist nicht viel drin«, erklärte Diana hastig. »Erzählen Sie uns doch noch etwas mehr von diesem Menschen.«

 

Mr. Superbus lächelte selbstgefällig.

 

»Ich bin die größte lebende Autorität über ihn«, erwiderte er bescheiden. »Er ist ein sehr gerissener Junge und arbeitet immer mit einem Mädchen zusammen. Ich weiß es nicht genau, aber nehmen Sie einmal an, daß sie seine Frau ist. Sie hat die Aufgabe, vorher den Mann auszuholen, den der Doppelgänger berauben will. Verstehen Sie mich?«

 

»Ja, sie ist so eine Art Lockvogel, die das Opfer auskundschaftet.«

 

»Nur auskundschaften?! Das versteht sie bestimmt aus dem Effeff. Aber es wäre viel leichter, Ihnen das alles zu erklären, wenn Sie eine verheiratete Frau wären.«

 

»Bilden Sie sich einmal ein, ich wäre das. Sie muß ihn natürlich sehr genau kennenlernen?«

 

»Ja, sie muß mit ihm eine Freundschaft – eine Art Verhältnis anfangen.«

 

»Ist das immer der Fall?« unterbrach ihn Bobby. »Den alten Smith haben sie doch auf diese Art und Weise nicht hereingelegt? Der ist doch schon fünfundsechzig!«

 

Mr. Superbus amüsierte sich.

 

»Aber natürlich! Die Leute von fünfundsechzig an sind ja oft die allertollsten! Mit denen können die Weiber machen, was sie wollen. Sie macht sich am liebsten an Denker heran. Sie kann sich sehr gut benehmen und hat eine gebildete Sprache – Sie wissen ja, wie guterzogene Damen reden.«

 

»Gibt sie sich als verheiratet aus?« fragte Diana.

 

»Ja, es ist immer ein Gatte im Hintergrund. Manchmal lebt er außer Landes, manchmal ist er in einer Irrenanstalt, auf jeden Fall ist er zunächst einmal nicht da.«

 

Bobby schwankte und hielt sich an der Tischkante fest. Glücklicherweise bemerkte es Diana in ihrer Aufregung nicht.

 

»Und wie geht die Sache weiter?« Diana war nervös geworden.

 

»Nun, sie sorgt dafür, daß er wegkommt. Sie lockt ihn irgendwohin, man kann es gar nicht anders nennen. Und während die beiden nun fort sind, erscheint der Doppelgänger als der Abgereiste, er hat genau seine Stimme, alle Einzelheiten sind bis ins letzte kopiert. Das Mädchen hat ja wochen- oder monatelang Zeit dazu, alles zu studieren und es dem Doppelgänger mitzuteilen. Verstehen Sie mich? Das habe ich alles selbst herausgebracht.«

 

»Ja, und was macht denn das Mädchen?« fragte Diana.

 

»Die zieht sich natürlich zurück. Sie schützt vor, daß ihr Mann unerwartet aus dem Ausland zurückgekommen ist, oder so etwas Ähnliches, aber sie richtet es schon so ein, daß das Opfer nicht nach Hause zurückkehren kann. Gewöhnlich hat er seinen Bekannten gesagt, daß er etwa vierzehn Tage fortbleiben wird, und dann kann er natürlich nicht ohne weiteres zurückkehren.«

 

»Das ist aber alles furchtbar gerissen eingefädelt«, sagte Diana entsetzt.

 

»Das habe ich auch immer behauptet«, erwiderte Mr. Superbus ernst. »Wenn sich ein Mann erst so weit mit einer Dame eingelassen hat –«

 

»Aber jedenfalls brauchen wir uns in dieser Beziehung keinerlei Sorgen über Mr. Selsbury zu machen.« Diana lächelte beruhigt.

 

Aber Mr. Superbus schien nicht ganz ihrer Meinung zu sein, denn er war sehr beunruhigt. Er sah sich geheimnisvoll um.

 

»Ist Mr. Selsbury schon abgereist?«

 

Diana nickte.

 

»Wann will er denn zurückkommen?«

 

»Etwa in einer Woche.«

 

Superbus fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

 

»Ja, das ist nun eine sehr delikate Angelegenheit – ich bin ja ein verheirateter Mann, Madam – Miss. Ist er auf eine Geschäftsreise gegangen oder –«

 

»Oder?«

 

»Ich meine – hat man ihn nicht vielleicht von hier weggelockt ihn wegbugsiert?«

 

Diana lachte.

 

»Nein, da können Sie ohne Sorge sein. Mr. Selsbury läßt sich nicht wegbugsieren.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Wie sieht denn die Frau aus, die mit dem Doppelgänger zusammenarbeitet? Ist sie sehr schön?«

 

»Ach ja, sie wird im allgemeinen so beschrieben.«

 

»Gehst du fort, Bobby?«

 

Bobby folgte dem Detektiv aus dem Zimmer.

 

»Ja, ich habe jetzt eine wichtige Unterredung«, sagte er ein wenig zusammenhanglos. Es war immer noch Zeit, Gordon zurückzuhalten, und er hatte sich zu dieser äußersten Maßnahme entschlossen.

 

Nachdem Bobby gegangen war, klingelte Diana. Als Eleanor eintrat, saß sie am Schreibtisch und löschte gerade ein Kuvert ab.

 

»Ziehen Sie sich an, Eleanor, und geben Sie diesen Brief im Marble-Arch-Hotel ab. Nehmen Sie ein Auto.«

 

»Jawohl, Madam«, sagte Eleanor erstaunt.

 

»Fragen Sie, ob Sie Mr. Dempsi sprechen können.«

 

Diana machte den Versuch, vollständig gleichgültig zu erscheinen, es gelang ihr aber vollkommen vorbei.

 

»Wenn er den Brief küßt oder irgend etwas Derartiges tut brauchen Sie nicht erstaunt zu sein – der Herr ist sehr impulsiv es ist auch möglich, daß er Sie selbst küßt!«

 

»Wirklich?«

 

»Aber er denkt sich nichts dabei.« Diana war sehr diplomatisch und baute vor. »Er hat die Angewohnheit, alle Leute zu küssen, wenn er sie sieht. Ich wäre nicht einmal erstaunt, wenn er mich selbst küssen würde, wenn er hierherkommt. Wir sind alte Freunde – und in Australien macht man das so.«

 

»Ach, das ist aber interessant«, erwiderte Eleanor. Ihr Interesse an Australien war erwacht.

 

»Ich fürchte, daß Mr. Selsbury das nicht verstehen würde«, fuhr Diana gleichgültig fort. »Manche Männer haben einen furchtbar engen Horizont. Wenn Sie ihm das erzählten –«

 

»Ich würde mir nicht im Traume einfallen lassen, zu Mr. Selsbury darüber zu sprechen«, entgegnete Eleanor etwas beleidigt.

 

Sie kam noch einmal herein, bevor sie fortging.

 

»Entschuldigen Sie, Miss Ford, aber wenn es passieren sollte, daß mich dieser fremde Herr küßt, dürfte ich Sie dann bitten, Mr. Trenter gegenüber nichts davon zu erwähnen?«

 

»Darauf können Sie sich verlassen – wir Frauen müssen doch zusammenhalten.«

 

Sie schaute Eleanor nach, bis sie außer Sicht gekommen war, dann warf sie sich in ihren Stuhl zurück. Die Zeitungen lagen noch alle ungelesen auf dem Schreibtisch, und sie nahm eine auf, um sich zu zerstreuen. Aber es gelang ihr nicht. Plötzlich hörte sie ein Klopfen und wandte sich um. Es schien aber nicht von der Tür, sondern vom Fenster herzukommen. Man könnte einen kleinen, viereckigen Teil des unteren Fensters öffnen. Sie schaute näher hin und sah den Schatten eines Kopfes dort.

 

»Wer ist dort?« fragte sie.

 

Dann hörte sie eine Stimme, die sie bis ins Innerste traf.

 

»Erkennst du meine Stimme nicht, Geliebte?«

 

»Giuseppe Dempsi!« sagte sie atemlos. »Du darfst nicht hereinkommen! Onkel Artur ist nicht zu Hause, und ich kann dich nicht empfangen!«

 

Mit äußerster Willensanstrengung öffnete sie das Fenster und schaute in ein bärtiges Gesicht und in glänzende Augen. Mr. Dempsi trug einen breitkrempigen Hut, den er ins Gesicht geschoben hatte, und um seine Schultern hing ein langes, schwarzes Cape – er hätte direkt von einer Opernbühne entlaufen sein können.

 

»Ich – ich kann dich jetzt nicht sehen – wirklich, ich kann nicht! Kannst du nicht nächsten Mittwoch wiederkommen?«

 

Das war also Dempsi! Sie sah dunkel einige Ähnlichkeit mit dem bartlosen jungen Mann, den sie gekannt hatte. Diese wildblitzenden Augen, diese heftigen Bewegungen – das war er!

 

»Diana«, rief er leidenschaftlich, »ich bin aus dem Grabe zurückgekommen, um meine alten Rechte an dich geltend zu machen!«

 

»Ja, ja, ich weiß, aber nicht jetzt«, sagte sie ganz verzweifelt. »Geh bis drei Uhr zu deinem Grab zurück, dann werde ich dich sprechen können.«

 

Der Schatten verschwand. Wie mochte er nur dort hingekommen sein? Sie sah, wie er mit einer Behendigkeit über die Mauer kletterte, die sie bei anderer Gelegenheit sicherlich bewundert hätte. Langsam ging sie auf ihr Zimmer hinauf, schloß sich ein und setzte sich müde auf ihr Bett.

 

Früher einmal hatte ihre Tante einen Revolver geladen, um diesen Dempsi zu erschießen. Die Tränen kamen ihr in die Augen.

 

»Liebe Tante«, schluchzte sie, »du hast doch eine große Menschenkenntnis gehabt!«

 

Kapitel 13

 

13

 

Gordon zögerte noch vor dem großen Spiegel des Zimmers, das er im Hotel gemietet hatte. Er hatte das Rasiermesser in der Hand, der kleine Backenbart war eingeseift. Es gibt keinen feierlicheren Akt, als wenn Männer sich den Bart abnehmen. Es liegt so etwas Unwiderrufliches, so etwas von Selbstaufopferung darin, daß man sich wundern muß, warum so wenige große Dichter dieses Thema behandelt haben.

 

Er biß die Zähne zusammen und ging mit fester Hand zum Angriff über. Die breite Klinge blitzte im Sonnenlicht … es war geschehen.

 

Er reinigte sein Gesicht vom Seifenschaum und betrachtete dann das Resultat im Spiegel. Sein Aussehen hatte sich tatsächlich vollkommen verändert. Er betrachtete sich erstaunt – er sah zehn Jahre jünger aus.

 

»Wie ein Junge!« rief Gordon aus. Seine Gefühle hielten zwischen Freude und Verzweiflung die Mitte.

 

Bis jetzt hatte er sich seinen Anzug noch nicht besehen. Er hatte beinahe schon wieder vergessen, wie dieses moderne graue Karo mit den roten Tupfen aussah …

 

»Mein Gott!« sagte er plötzlich.

 

Er war kein Stutzer. Einmal hatte ihm Diana einen solchen Ausruf entlockt. Aber Dianas modernstes Kleid war zahm im Vergleich zu diesem Kunstwerk des Schneiders, das auf dem Bett lag.

 

Das konnte er doch unmöglich anziehen! Aber der schwarze Cut, den er jetzt trug, und der glänzende Zylinder waren für eine kurze Seereise ebenfalls unmöglich.

 

Die Zeit verging im Fluge, er mußte sich entschließen. Also zog er zunächst einmal die Beinkleider an. Er betrachtete sich im Spiegel, sie sahen eigentlich gar nicht so schlecht aus … er machte sich fertig.

 

Nun stand er in seiner vollen Größe vor dem Spiegel, staunte und bewunderte sich. Eins war sicher: Auch sein bester Freund hätte ihn so nicht wiedererkannt. Außerdem konnte er ja seinen Mantel anziehen, der verdeckte fast alles. Dieser neue Gordon Selsbury faszinierte ihn geradezu.

 

»Wie geht es Ihnen?« fragte er sein Spiegelbild freundlich. Die Gestalt in dem Spiegel machte eine höfliche Verbeugung.

 

Plötzlich erschrak Gordon – er hatte zuviel Zeit mit dem Umziehen versäumt. Er packte schnell und klingelte dann dreimal nach dem Hausdiener. Das Zimmermädchen erschien. Glücklicherweise war es ein Durchgangshotel, Gäste kamen über Nacht und verließen das Haus am Morgen wieder. Niemand erkannte jemand, es sei denn, daß Rechtsanwälte durch ihre Leute schnelle und dringende Nachfragen stellen oder das Gästebuch einsehen ließen.

 

Zehn Prozent der Hotelangestellten waren dauernd als Zeugen vor Gericht beschäftigt.

 

»Rufen Sie mir den Hausdiener!« sagte Gordon. Als dieser erschien, gab er ihm Instruktionen wegen des Handkoffers, in den er seinen Anzug verpackt hatte, und wegen der Hutschachtel. Erst jetzt fiel es ihm ein, daß man nicht im Zylinder nach Schottland reist, und er war sehr froh, daß Diana ihn nicht gesehen hatte, als er sein Haus verließ.

 

Der Würfel war nun gefallen. Er nahm den anderen Koffer, zahlte seine Hotelrechnung und trat auf die Straße. Die Uhren schlugen gerade Viertel vor elf, als er auf den Victoria-Bahnhof kam. Der Zug fuhr um elf. Er brauchte sich nicht um Plätze zu bemühen, er hatte die Platzkarten in der Tasche. Glücklicherweise war das Wetter ziemlich schlecht – Sonnenschein und Regen wechselten miteinander ab, und es wehte ein ziemlich heftiger Wind. Er konnte also getrost den Kragen seines Mantels hochschlagen. Auf dem Anschlagbrett las er: Wind Nordnordwest, See mäßig bewegt bis stürmisch, Sicht gut.

 

Er war auf jeden Fall froh, daß die Sicht gut war.

 

Dann schaute er sich nach Heloise um. Sie wollten sich erst kurz vor Abgang des Zuges treffen.

 

Zehn Minuten vor elf wurde er unruhig. Aber plötzlich sah er sie auf sich zueilen. Sie drehte sich ein paarmal ängstlich um, und es lag ein Ausdruck in ihrem Gesicht, vor dem er erschrak.

 

»Folgen Sie mir in den Wartesaal!« Sie war an ihm vorbeigehuscht und hatte ihm nur diese Worte zugeflüstert. Wie im Traum nahm Gordon seinen Koffer auf und ging ihr nach. Der große Raum war fast leer.

 

»Gordon, es ist etwas Schreckliches passiert!« Ihre Aufregung und Unruhe übertrugen sich auf ihn. »Mein Mann ist unerwartet vom Kongo zurückgekehrt. Er verfolgt mich … er ist rasend, er ist wild! Ach, Gordon, was habe ich getan!«

 

Er wurde nicht ohnmächtig, er ertrug diese Situation, ohne das Bewußtsein zu verlieren.

 

»Er sagt, ich hätte meine Neigung und Liebe einem anderen geschenkt, und er würde nicht eher ruhen, bis er diesen anderen tot zu meinen Füßen niedergestreckt hätte. Er hat gedroht, furchtbare Dinge zu tun – er ist ein Bewunderer Peters des Großen.«

 

»So, ist er das?« Gordons Frage war kaum am Platz, aber es fiel ihm im Augenblick nichts Besseres ein. Auch war er kein bißchen an Mr. van Oynnes historischen Neigungen interessiert.

 

»Gordon, Sie müssen nach Ostende fahren und dort auf mich warten«, sagte sie schnell. »Ich komme so bald wie möglich nach … o mein Lieber, Sie wissen nicht, wie ich leide!«

 

Gordon war so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß es ihm gleichgültig war, was andere Menschen fühlten.

 

»Haben Sie ihm denn nicht erzählt, daß unsere … unsere Freundschaft nur … geistiger Art ist?«

 

Sie lächelte schwach und traurig.

 

»Mein lieber Gordon … wer würde denn das glauben? Aber beeilen Sie sich jetzt – ich muß gehen.«

 

Ihre Hand lag einen kurzen Augenblick lang zitternd auf seinem Arm, dann war sie verschwunden.

 

Er nahm seinen Koffer, der ihm merkwürdig schwer vorkam, und folgte ihr in den Bahnhof. Aber sie war nirgends mehr zu sehen.

 

Ein Gepäckträger bot ihm seine Dienste an.

 

»Zug nach dem Festland, Sir? Haben Sie einen reservierten Platz?«

 

Gordon schaute auf die Uhr. Es war fünf Minuten vor elf.

 

»Der Zug nach Ostende geht um elf Uhr fünf, mein Herr.«

 

»Ich dachte um elf«, sagte Gordon verwirrt.

 

»Sie haben noch sehr viel Zeit, Sir.«

 

Gordon stand wie erstarrt da. Seine Gedanken arbeiteten plötzlich nicht mehr. Er war im Augenblick unfähig, sich zu einem Entschluß aufzuraffen oder sich zu rühren.

 

»Besorgen Sie mir ein Auto.«

 

»Jawohl, mein Herr.«

 

Der Gepäckträger nahm ihm den Koffer aus der Hand, Gordon leistete keinen Widerstand. Er folgte dem Mann ins Freie, absolut hilflos.

 

»Wohin wünschen Sie zu fahren?«

 

Der Träger stand da, hatte den Wagenschlag in der Hand und lächelte freundlich. Er hatte nämlich noch nicht sein Geld bekommen.

 

»Nach Schottland«, sagte Gordon heiser.

 

»Schottland – Sie meinen wohl Scotland Yard?«

 

Plötzlich arbeiteten die Räder in Mr. Selsburys Gehirn wieder.

 

»Nein, nicht doch, ich will ins Grovely-Hotel.« Das Trinkgeld, das er dem Träger in die ausgestreckte Hand drückte, war sehr hoch.

 

Der Wagen setzte sich in Bewegung, und der Bahnhof war bald außer Sicht.

 

Zur selben Zeit suchte Bobby Selsbury fieberhaft den ganzen Zug ab und eilte von Abteil zu Abteil, um seinen Bruder zu finden.

 

Gordon war nun ruhiger geworden, obwohl er noch keineswegs aus der Gefahrenzone war. Er überlegte. Einen eifersüchtigen, rachegierigen Ehemann, der Waffen trug und wahrscheinlich Mordabsichten hatte, konnte er nicht ganz aus seinen Gedanken verdrängen. Gordon war neugierig, ob er in seiner Bibliothek eine ungekürzte Ausgabe der Geschichte Peters des Großen finden werde.

 

Der Hotelportier war geschäftsmäßig erfreut, als er wieder zurückkehrte.

 

»Lassen Sie den Wagen warten«, sagte Gordon. Er war nicht ganz sicher, ob er ohne fremde Hilfe fähig war, sich ein anderes Auto zu besorgen.

 

Er erhielt seinen Schlüssel wieder, ging in sein Zimmer und klingelte nach dem Hausdiener. An seiner Stelle kam der Portier.

 

»Ach, Sie wollten den Hausdiener sprechen? Der ist nicht mehr im Dienst, er geht am Sonnabend schon um elf.«

 

»Wann wird er denn wieder dasein?«

 

»Erst am Montag, mein Herr. Wir haben jede zweite Woche einen ganzen Tag frei. Kann ich irgend etwas für Sie tun?«

 

Gordon schüttelte den Kopf. Er wollte nur den anderen Koffer und sein verlorenes, achtbares Aussehen wieder haben. Er legte seinen Überzieher ab und schaute in den Spiegel.

 

»Das bin ich nicht mehr«, sagte er gebrochen.

 

Sein Aussehen hatte sich vollkommen verändert, seitdem er sich zum letztenmal im Spiegel betrachtet hatte. Die Type, die er da vor sich sah, kam ihm bekannt vor – er hatte sie irgendwo in einem Film gesehen, wo jedermann hinter jedem herlief.

 

Es gab nun zwei Möglichkeiten für ihn. Er konnte hierbleiben und sich so lange als Gefangener in diesem Raum aufhalten, bis der Diener zurückkam, oder er konnte unbeobachtet nach Hause gehen und sich umziehen. Er hatte sehr viele schwarze Cuts, ganze Batterien von Zylindern und Wälder von gestreiften Beinkleidern. Dieser Gedanke hatte etwas Anziehendes. Diana würde um ein Uhr zu Mittag essen. Das Eßzimmer lag seinem Studierzimmer gegenüber auf der anderen Seite der Diele. Es wäre eine einfache Sache, nach oben zu gehen, sich umzukleiden und sich dann einer erstaunten Diana vorzustellen. Wie verwundert würde sie sein, und wie interessant und unterhaltsam wäre das für ihn selbst!

 

»Du hast wohl nicht erwartet, mich schon wieder hier zu sehen? Nun, ich erhielt im letzten Augenblick vor Abgang des Zuges ein dringendes Telegramm. Beinahe wäre der Zug auf und davon gewesen. Mein Backenbart? Ach, den habe ich abrasiert, um dir eine kleine Überraschung zu bereiten. Du findest auch, daß ich so besser aussehe?«

 

Er begeisterte sich für diesen Plan.

 

Er freute sich auch, daß er heute abend wieder in seinem eigenen Bett schlafen konnte. Und er würde wieder bei Diana sein. Bis jetzt hatte er viel zuwenig auf ihre Gesellschaft geachtet. Ihre Bedeutung für ihn wuchs, das gestand er sich selbst ein. Wenn Heloise nach Ostende fahren würde, dann wäre das allerdings sehr peinlich. Der Gedanke, daß sie seinetwegen umsonst reiste, war ihm unsympathisch, aber sie würde ja erst in ein oder zwei Tagen fahren, und er konnte inzwischen Mittel und Wege finden, sich mit ihr in Verbindung zu setzen.

 

Er schauderte, denn im Hintergrund tauchte wieder der rachsüchtige Ehemann auf, dieser große, brutale Mensch, der verrückt war, verrückt, wahnsinnig!

 

Gordon mußte noch zwei Stunden warten, bevor er seinen Plan ausführen konnte.

 

Er zog dann seinen Mantel an und fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter. Sein Wagen wartete noch, der Taxameter war allerdings inzwischen zu einer ziemlichen Höhe emporgeklettert. Er hatte überhaupt nicht mehr an das Auto gedacht. An seiner Straßenecke zahlte er den Chauffeur und ging schnell auf sein Haus zu. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen. Glücklicherweise war die Straße vollkommen leer. Er rannte beinahe bis in die kleine Seitenstraße und schloß mit zitternder Hand das rückwärtige Tor auf. Wenn die Riegel nun vorgeschoben waren! Aber die Tür bewegte sich nach innen, und er sah darauf die wohlbekannten Fenster seines Studierzimmers. Er schlich sich auf Zehen zu dem kleinen hinteren Eingang und lauschte. Er konnte kein Geräusch hören. Mit größter Vorsicht schloß er auf und öffnete die Tür zuerst einen Spalt, dann ein wenig weiter, schlüpfte hinter den Vorhang, der die Tür verbarg und zog sie hinter sich zu.

 

Das Zimmer war leer, die beiden Türen zur Diele waren angelehnt. Er konnte das feierliche Ticken der Großvateruhr im Treppenhaus hören.

 

Er hatte sich überlegt, daß er sich zuerst mit Bobby in Verbindung setzen mußte. Er lauschte in die Diele hinaus und hörte ein schwaches Geklirr von Tellern. Diana war also, wie er erwartet hatte, beim Mittagessen. Er schloß leise die Stofftür, dann die Holztür, schob einen Riegel vor und ging auf Zehenspitzen durch das Zimmer. Jetzt war er Diana dankbar, daß sie das Telefon in sein Studierzimmer hatte legen lassen.

 

Bobbys Büro meldete sich. Ein Angestellter, der sich verspätet hatte, bediente das Telefon noch.

 

»Nein, Sir, Mr. Selsbury ist heute nicht im Geschäft.«

 

Gordon hängte den Hörer wieder ein, ohne seinen Namen zu nennen. Dann rief er Bobbys Wohnung an, hatte aber keinen besseren Erfolg. Er verschwendete wertvolle Zeit – Bobby konnte ja noch warten. Mit einem glücklichen Lächeln richtete er sich auf. Er war wieder zu Hause! Diana würde natürlich sehr erstaunt sein, wenn sie ihn sähe!

 

Er ging quer durch den Raum zur Diele. Seine Hand lag schon auf der Türklinke, als er sich noch einmal umschaute und plötzlich bemerkte, daß sich der Vorhang bauschte, der die Geheimtür verbarg. Er dachte daran, daß er die Tür offengelassen hatte und wollte gerade zurückkehren, um sie zu schließen, als eine Hand den Rand des Vorhangs faßte. Gordon blieb wie angewurzelt stehen. Wieder bewegte sich der Vorhang, und nun wurde eine Frau sichtbar. Es war Heloise!

 

Gordon traute seinen Augen nicht. Sicher war das eine Halluzination seiner überhitzten Phantasie und ein Symptom dafür, daß seine Nerven nicht mehr in Ordnung waren.

 

»Sie sind es doch nicht wirklich?« fragte er ganz verwirrt.

 

»Gordon!« Er sah ihre ausgestreckten Hände und den unendlich traurigen Blick ihrer Augen.

 

»Wie sind Sie denn hierhergekommen?« fragte er verzweifelt.

 

»Auf demselben Weg, den auch Sie genommen haben. Ich folgte Ihnen, Gordon. Er ist so fürchterlich, Sie müssen mich beschützen!«

 

Er starrte sie entsetzt an.

 

»Ach, Sie meinen – Peter?« Er nickte.

 

»Peter? Nein, ich meine Claude, meinen Mann… Er weiß alles!«

 

Heloise kam jetzt auf ihn zu und legte ihre beiden Hände auf seinen Arm.

 

»Ich kann doch hier in Ihrem Haus bleiben – Sie werden mich doch nicht auf die Straße werfen? Er war hinter mir her, aber ich bin seinen Verfolgungen glücklich entgangen!«

 

»Was, Sie wollen hier bleiben?« Gordon erkannte kaum seine eigene Stimme wieder. »Sind Sie verrückt – sind Sie wahnsinnig?«

 

Sie schaute ihn argwöhnisch an.

 

»Sind Sie etwa verheiratet?«

 

»Nein!« Aber plötzlich kam ihm eine Erleuchtung. »Ja!«

 

»Ja – nein«, sagte sie ungeduldig. »Was sind Sie denn – geschieden?«

 

»Nein. Sie müssen doch einsehen, daß das nicht geht, Heloise!«

 

»Sie sind mit Diana verheiratet!« rief sie anklagend.

 

Gordon nickte ganz verwirrt.

 

»Sie müssen wirklich gehen, sonst bin ich ruiniert!«

 

Sie trat einen Schritt zurück und stemmte die Arme in die Hüften.

 

»Und was erbe ich bei diesem Ruin?« fragte sie.

 

»Sie müssen zu Ihrem Mann zurückgehen!« Seine Gedanken begannen sich wieder zu sammeln. »Sie müssen ihm sagen, daß Sie einen Irrtum begangen haben!«

 

»Das vermutet er schon so«, klagte sie. Langsam legte sie ihren Mantel ab. Gordon eilte zu ihr hin und wollte sie daran hindern.

 

»Ziehen Sie ihn schnell wieder an!« sagte er, aber sie machte sich von ihm frei.

 

»Ich gehe nicht – unter keinen Umständen gehe ich fort! Gordon, Sie können mich doch nicht auf die Straße werfen, nach allem, was wir einander waren!«

 

Er schob sie nach der Hoftür zu. Er war außer sich vor Furcht und hoffte kaum noch auf eine glückliche Lösung.

 

»Schnell durch diese Tür«, zischte er ihr zu. »Ich treffe Sie in einer halben Stunde in irgendeinem Restaurant. Heloise, verstehen Sie denn nicht, mein guter Ruf hängt davon ab –«

 

Aber nun ließ sie die Maske vollkommen fallen.

 

»In einem Restaurant – wollen Sie mich wirklich den Löwen zum Fraß vorwerfen?«

 

Er sah sie erbittert an. War es möglich, daß eine Frau in einem so ernsten Augenblick noch dumme Witze machen konnte?

 

»Ihr guter Ruf kümmert mich gar nicht«, sagte sie kühl. »Deswegen würde ich nicht den kleinsten Schritt tun. Ich werde dieses Haus nicht – allein verlassen!«

 

Gordon bedeckte seinen Mund mit der Hand, obwohl er ja gar nicht sprechen, sondern nur ihr die Rede abschneiden wollte. Aber er stand zu weit von ihr entfernt, um ihr den Mund zuhalten zu können. Seine unfreiwillige Geste hatte aber wenigstens den Erfolg, daß sie schwieg. Plötzlich klopfte es an der Tür.

 

»Wer ist in dem Zimmer?« fragte Diana.

 

Gordon zeigte auf die Seitentür und suchte Heloise durch Gebärden verständlich zu machen, daß sie gehen solle, aber sie reagierte nicht darauf.

 

»Wer ist hier?« fragte Diana lauter.

 

»Schnell durch die Seitentür«, flüsterte Gordon.

 

Heloise schüttelte den Kopf, zögerte und trat dann leise hinter den Vorhang. Das war ihr einziges Zugeständnis.

 

»Wer hat die Tür abgeschlossen?«

 

Dianas Stimme war jetzt dringend und erregt. Gordon zog seinen Rock zurecht, fuhr mit der Hand über das Haar, schloß die Tür auf und öffnete sie weit.

 

»Es ist alles in Ordnung, meine liebe Diana!« Er grinste geistlos und fade. »Haha – Gordon ist wieder da! Gord, wie du ihn immer nennst. Ich komme gerade nach Hause. Hier bin ich … hier bin ich wieder wie ein falscher Pfennig!«

 

Diana war ganz starr vor Schrecken, als sie hereintrat.

 

Sein Mut sank, aber er hielt sich durch die Überzeugung aufrecht, daß sie schließlich überhaupt kein Recht hatte, sich in diesem Hause aufzuhalten. Er war doch der Hausherr, er war die höchste Autorität in seinen eigenen vier Wänden, obwohl er sich eben wie ein Dieb ins Zimmer geschlichen hatte.

 

Sie betrachtete ihn schnell von Kopf bis zu Fuß und bemerkte eine fabelhafte Ähnlichkeit mit Gordon. Aber dann sah sie ihn genauer an: Er war etwas korpulenter als ihr Vetter (der graue Sportanzug mit den roten Tupfen brachte diesen Eindruck hervor), er war auch kleiner. Außerdem hatte er einen ganz gewöhnlichen Geschmack. Anscheinend wollte er sich durch diesen Aufzug als Sportsmann legitimieren. Gordon war ein Ruderer und ging auf die Jagd, aber er hätte sich niemals in einer solchen Aufmachung blicken lassen. Sie überlegte sich das schnell, ihre Gedanken rasten. Er dachte überhaupt nicht mehr. In Dianas Augen sah er jenes Leuchten, das er nicht liebte, und als sie auf ihn zuging, wich er vor ihr zurück.

 

»Aber das ist doch nur der alte Gordon, haha!« scherzte er schwach.

 

»So, Sie sind nur der alte Gordon!« Sie nickte verstehend. »Setzen Sie sich einmal dorthin, alter Gordon!«

 

»Nun hör doch einmal zu, liebes Kind! Ich will dir alles erklären. Ich habe meinen Zug versäumt …«

 

Sie öffnete langsam eine Schublade des Schreibtisches, ließ ihn dabei aber nicht aus den Augen. Plötzlich hielt sie eine Browningpistole in der Hand.

 

Er hörte, wie sie lud und entsicherte.

 

»Aber was tust du denn da, Diana!« rief er.

 

Sie sah ihn durchbohrend und vernichtend an.

 

»Wollen Sie bitte so liebenswürdig sein, mich nicht mehr Diana zu nennen«, erwiderte sie eisig. »Sie sind also doch gekommen, sehen Sie einmal an. Und selbst ich, die gewöhnlich auf alles gefaßt ist, habe Sie nicht erwartet! Aber Sie sind zu einer glücklichen Stunde gekommen, mein Freund!«

 

»Aber begreife doch, mein liebes Mädel!«

 

»Unterlassen Sie gefälligst die Vertraulichkeiten!« Energisch wies sie wieder auf einen Stuhl, und er setzte sich gehorsam. »Und bilden Sie sich ja nicht ein, daß ich mich von Ihnen täuschen lasse – ich kenne Sie!«

 

»Du kennst mich?« fragte er heiser. Er wußte bald nicht mehr, ob er sich selbst noch kannte.

 

»Ich kenne Sie«, wiederholte sie langsam. »Sie sind der Doppelgänger!«

 

Er sprang auf, aber sie erhob sofort die Pistole. Er gestikulierte wild mit den Händen und wollte sprechen.

 

»Sie sind der Doppelgänger!« Ihre Augen blitzten unheimlich. »Ich weiß alles von Ihnen – Sie erscheinen in der Gestalt Ihrer Opfer – Sie und die Frau, mit der Sie zusammenarbeiten, locken unschuldige Männer von ihren Häusern weg, damit Sie sie ausplündern können.« Sie schaute sich um. »Wo ist denn die Frau? Ist sie nicht auf der Szene? Oder ist ihre Aufgabe zu Ende, wenn sie die Leute weggelockt hat?«

 

»Diana, ich schwöre dir, du irrst dich, ich bin dein Vetter Gordon!«

 

»Mein lieber Doppelgänger, Sie sind diesmal nicht so sorgfältig zu Werk gegangen wie früher. Lassen Sie sich aber die Tatsache, daß ich Sie eben so freundlich angeredet habe, nicht zu Kopf steigen! Sie haben Ihr augenblickliches Opfer nicht genau genug studiert. Mein Vetter Selsbury trägt einen Backenbart – wußten Sie das nicht?«

 

»Ich – ich hatte einen Unfall! In Wirklichkeit nahm ich ihn ab, um dir zu gefallen – dir zuliebe!«

 

Ihr verächtliches Lächeln erschütterte ihn vollständig.

 

»Mein Vetter Gordon gehört nicht zu den Männern, die Unfälle mit ihren Backenbärten haben«, sagte sie nachdrücklich. »Nun erzählen Sie mir einmal, wo Ihre Freundin steckt.«

 

Er versuchte von dem Vorhang fortzuschauen und starrte feierlich geradeaus, aber dann wanderten seine Augen doch unfreiwillig zu dem Ausgang nach dem Hof. Diana folgte seinen Blicken und sah plötzlich, daß sich der Vorhang leise bewegte.

 

»Kommen Sie, bitte, hervor!«

 

Es kam keine Antwort.

 

»Kommen Sie hervor – oder ich schieße sofort!«

 

Sie sah, wie sich der Vorhang bewegte. Heloise stürzte kreidebleich ins Zimmer und warf sich dem vollständig geschlagenen Gordon an die Brust.

 

»Schütze mich doch, sie darf nicht schießen! Sie darf nicht schießen!« schrie sie lös.

 

Diana nickte befriedigt.

 

»Das ist also Ihr Mann?« konstatierte sie.

 

Sie ging zur Tür und schloß sie ab.

 

»Nun hören Sie einmal zu, Herr und Frau Doppelgänger, oder welchen Namen Sie sonst führen mögen. Sie sind hierhergekommen, um einen ganz gemeinen Betrug auszuführen. Wenn ich wollte, könnte ich sofort zur Polizei schicken, um Sie dem Arm der Gerechtigkeit auszuliefern. Ich bin aber noch nicht ganz sicher, ob ich das tun werde. Im Augenblick ist Ihre Gegenwart jedenfalls wie von der Vorsehung herbeigeführt. Gordon Selsbury!« sagte sie dann verächtlich. »Glauben Sie vielleicht, daß Gordon Selsbury heimlich eine Frau in dieses Haus bringen würde? Bilden Sie sich ein, er würde wie ein drittklassiger Komödiant in einem derartigen Aufzug erscheinen? Erwähnen Sie nie wieder Mr. Selsburys Namen in meiner Gegenwart!«

 

Gordon öffnete und schloß seinen Mund, aber er brachte keinen Ton hervor.

 

»Sie werden jetzt in diesem Zimmer bleiben, bis ich Ihnen erlaube, etwas anderes zu tun! Sie haben doch einen Schlüssel zu dieser Tür gehabt, geben Sie ihn sofort her!«

 

Gordon gehorchte lammfromm und beobachtete, wie sie die Tür nach dem Hofe zweimal verschloß. Dann machte er einen letzten, verzweifelten Versuch, sich aus dieser Situation zu retten.

 

»Diana, ich kann dir doch alles erklären«, sagte er verzweifelt. »Ich bin – es ist wirklich so – ich will dir die Wahrheit erzählen. Ich war im Begriff abzureisen, und – ich bin tatsächlich Gordon, obwohl der Schein gegen mich ist. Ich gebe ja gern zu, daß ich einen ganz abscheulichen Anzug trage und daß ich auch in anderer Weise mein Aussehen verändert habe, aber das kann ich dir alles genau erklären –«

 

Es klopfte an die Tür.

 

»Warten Sie!« sagte Diana und ging zur Tür. »Wer ist dort?«

 

»Eleanor. Es ist ein Telegramm gekommen!«

 

»Schieben Sie es unter der Tür durch!«

 

Ein gelbes Formular wurde sichtbar, sie riß es auf und las.

 

»Nun, fahren Sie doch fort!« wandte sie sich an Gordon. »Sie sagen, Sie seien Gordon Selsbury? Erzählen Sie mir nur noch ein wenig mehr. Aber hören Sie vorher einmal zu, was ich Ihnen vorlese: ›Habe gerade Custon verlassen. Sei vorsichtig. Gordon.‹ Wir wollen uns nun gegenseitig nichts mehr vormachen. Beichten Sie mir alles, kleiner Bursche! Schütten Sie mir Ihr Herz aus! Wer sind Sie: Gordon Selsbury oder der Doppelgänger?«

 

»Irgend jemand«, sagte er, verzweifelt wie ein Verdammter.

 

»Gordon Selsbury oder der Doppelgänger?« fragte sie unbarmherzig.

 

Er streckte seine Hände aus und ließ sie resigniert wieder fallen.

 

»Der Doppelgänger!« stöhnte er kaum vernehmlich.

 

Von den beiden Rollen erschien ihm diese als die glaubwürdigere.

 

Kapitel 14

 

14

 

Gordon hatte niemals einen Menschen gesehen, der so verwirrt und verängstigt war wie Heloise. Das war der einzige klare Eindruck, den er von diesem unangenehmen Auftritt hatte. Sie, die selbstbewußte Dame, die Frau mit der feinen Seele, die sich hoch über alle gewöhnlichen Grade der Menschheit erhob, schien unter Dianas beherrschenden Blicken vollständig zusammengebrochen zu sein. Gordon seufzte, band seine Flanellschürze ein wenig fester und hätte gern gewußt, wo Trenter das Putzpulver aufbewahrte. Es war wenigstens gut, daß der Hausmeister nicht anwesend war und nicht Zeuge der Erniedrigung seines Herrn werden konnte. Denn Diana hatte ihn in den schlechtbeleuchteten Anrichteraum gesteckt und ihm den Auftrag gegeben, das Silber zu putzen und außerdem sofort zu erscheinen, wenn er gerufen werde.

 

Gordon seufzte verzweifelt und nahm sich ein silbernes Sahnekännchen vor, aber mit dem Herzen war er nicht bei seiner Aufgabe. Seine feingepflegten Hände waren nicht für häusliche Dienstbotenarbeiten geschaffen, aber es kam ihm ebensowenig der Gedanke, sich die Kehle mit einem Obstmesser zu durchschneiden, wovon gerade ein halbes Dutzend vor ihm auf dem Tisch lag, als der befehlenden Geste Dianas nicht zu gehorchen, die ihn hier Silber putzen ließ.

 

Er träumte nicht, er schlief nicht, davon hatte er sich schon des öfteren überzeugt. Er war wirklich wach, er stand hier in Hemdsärmeln und trug eine Flanellschürze über dem graukarierten Anzug mit den roten Tupfen. Und er war zweifellos dabei, einen silbernen Sahnetopf zu putzen. Diese Tatsache stand jedenfalls fest, und sie konnte ja nun die Basis für weitere Spekulationen abgeben. Vor allem wunderte er sich darüber, warum Diana ihn überhaupt im Hause behielt, wenn sie glaubte, er sei der Doppelgänger. Warum schickte sie denn nicht sofort zur Polizei und ließ ihn zur nächsten Wache bringen? Er mußte ihr ja noch im Herzen dankbar sein, daß sie diese Maßregel nicht ergriffen hatte! Außerdem war er neugierig, wo seine übrigen Dienstboten geblieben waren. Eleanor hatte er nicht gesehen, auch die Köchin war verschwunden. Er war ja bis zu einem gewissen Grade sehr zufrieden damit – aber wo mochten sie nur geblieben sein? Er sollte es bald erfahren.

 

Diana erschien in der Tür, und er starrte sie mit offenem Mund an. Sie trug einen breiten, braunen Ledergürtel, an dem ein Pistolenfutteral hing. Aus diesem schaute der Griff einer Pistole hervor. »Können Sie Kartoffeln schälen?« fragte sie.

 

Gordon erkannte beschämt, daß er von Kartoffeln weiter nichts wußte, als daß sie eine Art Gemüse seien.

 

»Haben Sie denn noch nie Kartoffeln geschält?«

 

»Ich kann mich nicht darauf besinnen. Als ich noch zur Schule ging –«

 

»Ich interessiere mich nicht im geringsten dafür, was in der Besserungsanstalt von Borstel passierte, in der jugendliche Taugenichtse erzogen werden. Stellen Sie sofort das Milchkännchen hin, und kommen Sie mit in die Küche!«

 

Er folgte ihr gehorsam.

 

»Ich habe meinen Dienstboten über das Wochenende frei gegeben. Ich möchte nicht, daß der Name meines Vetters in irgendeinen Skandal gezogen wird. Natürlich ist es ganz unmöglich, daß ich Sie Tag und Nacht dauernd bewachen kann. Ich habe deshalb einen befreundeten Herrn gebeten, hierherzukommen und mir bei dieser schweren Aufgabe zu helfen.«

 

Ein Hoffnungsschimmer leuchtete in Gordons Augen auf.

 

»Es ist ein Detektiv – ein gewisser Mr. Superbus. Ich glaube, Sie kennen ihn dem Namen nach schon, er ist Ihnen schon seit langem auf den Fersen.«

 

»Dieser – dieser …« stotterte Gordon entrüstet.

 

»Ja, dieser!«

 

Es klingelte in der Küche, und Diana sah nach der Nummerntafel. Die kleine Klappe, die die Haustür anzeigte, war gefallen.

 

»Hier sind die Kartoffeln!«

 

Gordon salutierte. Er hatte früher in der Armee gedient, und ihr befehlshaberischer Ton rief die Erinnerung daran wach.

 

Als Diana die Küche verlassen hatte, sah er sich schnell um. Er war gut genug mit seinem eigenen Hause vertraut, um zu wissen, daß man durch die Küchentür ins Freie kommen konnte. Aber sie war fest verschlossen, und der Schlüssel war abgezogen. Die Fenster waren mit eisernen Gittern gegen Einbrecher geschützt. Gordon kehrte seufzend zu seinen Kartoffeln zurück.

 

Wieder klingelte es. Diana hörte es, als sie ihren Ledergürtel mit der Pistole abschnallte und die Waffe in eine Kommode in der Diele einschloß. Sie zögerte einen Augenblick und ließ ihre Hand auf der Türklinke liegen, aber dann zwang sie ein donnerndes Gepolter zum Handeln. Entschlossen öffnete sie die Tür. Der gefürchtete Augenblick war gekommen. Noch bevor sie den bärtigen Mann sah, wußte sie, wer es war.

 

»Drei Uhr!« rief er frohlockend und streckte die Hände aus. »Drei Uhr, das ist die wunderbare Stunde unserer Wiedervereinigung, meine Braut, meine Taube, mein Leben!«

 

»Komm herein!« sagte Diana nüchtern.

 

Er wollte sie sofort in seine Arme schließen, aber sie hielt ihn immer in einer gewissen Entfernung von sich.

 

»Die Dienstboten!« sagte sie leise und entwand sich geschickt seinen Armen. »Hier hinein!« Sie öffnete die Tür zum Studierzimmer. »Giuseppe, du mußt dich aber benehmen, das ist das mindeste, was ich von dir verlangen kann. Mein Onkel –«

 

»Dein Onkel!« Er schaute sie begeistert an. »Ist er hier?«

 

Sie nickte.

 

»In diesem Hause?«

 

Sie hätte sich eigentlich durch seinen Eifer warnen lassen sollen, aber die Zwangslage, in der sie sich augenblicklich befand, hatte sie etwas aus dem Gleichgewicht gebracht.

 

»Aber natürlich ist er hier!« Seine Stimme klang triumphierend, und er sah sie mit leuchtenden Blicken ekstatisch an. Dann schloß er die Augen und lächelte verzückt.

 

»Der Traum meines Lebens wird nun erfüllt werden. Kann ich einmal telefonieren?«

 

Er hatte den Hörer schon in der Hand, bevor sie antworten konnte. Er rief sein Hotel an.

 

»Senden Sie sofort mein Gepäck hierher nach Cheynel Gardens. Jawohl, zwei Koffer – verstehen Sie denn kein Englisch? Wohin? Ich sage Ihnen doch, nach Cheynel Gardens Nr. 61. Das Haus ist gar nicht zu verfehlen! Vergessen Sie nicht meine Pyjamas! Sie liegen unter meinem Kopfkissen!«

 

»Aber Giuseppe«, rief Diana bestürzt, »was machst du da, warte doch! Du kannst unmöglich hier wohnen!«

 

»Doch, meine schlanke Lilie, hier, zusammen mit dir unter einem Dache! Oh, das ist die höchste Wonne, das ist die wunderbarste Erfüllung meiner unendlichen Sehnsucht! O Diana, Sternenfee meiner himmlischen Träume! Wenn dein guter Onkel nicht hier wäre, hätte ich unmöglich bleiben können. Hast du auch eine Tante? Ach, die arme Mrs. Tetherby!«

 

»Giuseppe! Du kannst nicht hier wohnen, mein Onkel duldet keine fremden Leute im Haus!« Er klopfte ihr auf die Schulter.

 

»Oh, ich werde ihn schon herumkriegen. Ich werde so liebenswürdig zu ihm sein, ich werde einfach seinen Widerspruch nicht gelten lassen! Erzähle mir doch von seinen Liebhabereien, damit ich mit ihm darüber sprechen kann. Es gibt nichts unter der Sonne, worüber ich nicht reden könnte!«

 

Das glaubte sie ihm aufs Wort.

 

»Und deine liebe Tante – sie ist auch meine Tante! Bringe sie sofort her, damit ich ihr die Hand drücken und ihre Wangen küssen kann. Dianas Tante! Welch eine göttliche Verwandtschaft!«

 

Trotz ihrer Bestürzung entdeckte Diana doch, daß die impulsive Seite in Dempsis Charakter sich unerträglich entwickelt hatte. Er konnte nicht einen Augenblick den Mund halten. Jetzt stand er vor dem Kamin und betrachtete die gekreuzten Ruder.

 

»Ah, du hast rudern gelernt, meine kleine Diana? Das ist ja wundervoll! Wir werden miteinander in dem Nachen des Lebens auf dem Strom der Zeit fahren, wir werden das Wasser des Lethe trinken und die Vergangenheit vergessen –«

 

Mit zwei Schritten war er an ihrer Seite und nahm ihre Hände in die seinen.

 

»O Diana, fühlst du nicht, daß ich von dieser Stunde geträumt habe während der langen Nächte in dem Busch, in der unendlichen Öde der nördlichen Landstrecken, die ich durchzog, um Gold und Vergessenheit zu suchen? Und habe doch keins von beiden gefunden. In der Einsamkeit der Eingeborenenhütten, wenn ich in der Dunkelheit hingerissen dem Gezwitscher der kleinen Vögel und dem Seufzen des Windes lauschte, sah ich immer dein Gesicht, deine herrlichen, unvergeßlichen Züge, den Glorienschein deines goldenen Haares.«

 

Plötzlich unterbrach er seine ekstatischen Phantasien.

 

»Dein Onkel! Stelle mich ihm doch vor! Bringe ihn her!«

 

*

 

Gordon hatte gerade seine dritte Kartoffel geschält, als Diana wieder in der Küche erschien. Die Kartoffeln waren noch groß, als er sie zu bearbeiten begann, aber sie schrumpften unter seinen Händen allmählich merklich zusammen. Für ihn war es ein großes Geheimnis, wo die Schale anfing und wo sie endete. Er hatte deshalb recht tief geschnitten, um ganz sicherzugehen.

 

Bei dem Anblick ihres tragischen Gesichtsausdruckes ließ er seine Kartoffel fallen.

 

»Was gibt es denn?«

 

»Was es gibt? Alles geht drunter und drüber!« rief sie bitter.

 

»Ich gebe Ihnen jetzt eine Chance. Ihr Name gefällt mir nicht, ich gebe Ihnen deshalb einen anderen – Sie heißen jetzt Artur!«

 

»Wie?« fragte er ganz verdutzt.

 

»Sie sind von jetzt ab Artur, mein Onkel Artur!«

 

Er legte das Messer nieder, wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging langsam auf sie zu.

 

»Aber ich bin doch nicht Ihr Onkel Artur –« begann er.

 

»Nehmen Sie das jetzt ab!« Sie zeigte auf die Schürze. »Ziehen Sie sofort Ihren Rock an und kommen Sie mit nach oben. Und denken Sie immer daran, daß Sie von jetzt ab mein Onkel Artur sind! Wo steckt denn eigentlich Ihre saubere Begleiterin?«

 

»Wie zum Henker soll ich das wissen?« fragte Gordon aufsässig.

 

»Warten Sie!«

 

Diana eilte die Treppe hinauf in das Reservezimmer, wo sie den Mann und die Frau unterbringen wollte, die sie bestellt hatte. Sie fand Heloise dort mit tränenfeuchten Augen auf der Ecke des Bettes sitzen. Als die Tür aufgeschlossen wurde, sprang sie auf.

 

»Hören Sie mich doch an, Mrs. Selsbury«, begann sie in ihrer hohen, weinerlichen Stimme. »Ich kenne ja das Gesetz dieses Landes nicht, aber Sie haben kein Recht, mich einzuschließen –«

 

»Wünschen Sie, daß ich zur Polizei schicke?« fragte Diana.

 

»Sie irren sich wirklich, Mrs. Selsbury«, sagte Heloise mit tiefem Ernst. »Sie haben den größten Fehler Ihres Lebens gemacht. Dieser arme Fisch ist doch Ihr Mann!«

 

»Ich habe keinen Mann, keinen Fisch, kein Huhn und keinen Hering! Ich hatte niemals einen Mann.« Aber sie besann sich eines Besseren. »Ich bin nämlich Witwe.«

 

Heloise wußte nicht, was sie davon denken sollte.

 

»Vergessen Sie jetzt alles, was heute passiert ist«, sagte Diana plötzlich etwas zusammenhanglos. »Ich habe unerwartet Besuch bekommen, der hier in meinem Hause wohnen wird – ein alter Freund, ich war früher mit ihm verlobt, bis er im Busch starb.«

 

»Ist er hier?« fragte Heloise bestürzt.

 

»Ja«, nickte Diana. »Und er bleibt auch hier. Ich kann ihm natürlich nicht erlauben, hier zu wohnen, wenn ich nicht meine Tante oder eine Gesellschafterin habe. Sie sind also jetzt –« sie sprach jedes Wort mit großem Nachdruck aus – »Tante Lizzie.«

 

Heloise wußte auch nicht mehr, ob sie wachte oder träumte.

 

»Sie sind Tante Lizzie, und der verdammte Einbrecher, den Sie da geheiratet haben, was ich wenigstens hoffe, ist Onkel Artur. Gehen Sie jetzt in die Küche hinunter und sagen Sie ihm Bescheid.«

 

»Damit ich mich nicht irre – ich bin Tante Lizzie – Sie wollen, daß ich Ihre gute Tante Lizzie bin … und der arme Kerl in der Küche ist …?«

 

»Onkel Artur.«

 

»Ich habe die Sache noch nicht recht verstanden. Hier wird ein Film gedreht … Sie drehen selbst etwas.« Im Augenblick hatte sie vergessen, daß sie eine elegante Dame der Gesellschaft war. »Also ich bin Tante Lizzie …«

 

Sie sank vollständig zusammen unter der Last, die man ihr auferlegt hatte.

 

»Sie sind verrückt! Ich bin amerikanische Bürgerin, oder wenigstens beinahe. Ich lebe in Toronto, aber ich wohne so nahe, daß man einen Stein über die Grenze werfen könnte – und jetzt bin ich Tante Lizzie!«

 

Kapitel 15

 

15

 

Gordon spielte zerstreut mit Kartoffelschalen, als Heloise hereinkam.

 

»Sie sind jetzt Onkel Artur!« sagte sie in geziertem Ton.

 

»Wo waren Sie, Heloise?«

 

Der Anblick seiner Gefährtin im Unglück brachte ihn wieder zur Besinnung. Heloise war ein Stück Wirklichkeit, etwas, an das man sich anklammern konnte. Er vergaß seinen Widerwillen gegen sie vollständig über der Freude, jemand zu treffen, der ihn in der Überzeugung bestärkte, daß er tatsächlich Gordon Selsbury war.

 

»Sagen Sie, Gordon, diese Liese – ist das Diana?«

 

Er nickte.

 

»Ist sie Ihre Frau? Das haben Sie mir immer verschwiegen.«

 

»Sie ist nicht meine Frau … sie hat kein Recht hier … wenn ich Ihnen Veranlassung gab, zu denken, ich sei verheiratet, so tat ich es nur, weil ich Sie aus dem Hause bringen wollte. Sehen Sie nun, was Sie angerichtet haben? Sie haben mich ruiniert! Wenn Sie bloß draußen geblieben wären! Wenn ich Sie nie gesehen hätte!«

 

»Sie hat mir eben erklärt, daß sie Ihre Witwe sei!« Heloise war ganz ruhig und kleinlaut, und es kam ihm so vor, als ob sie den Verstand verloren hätte.

 

»Wenn Sie wünschen, ist sie auch meine Witwe!« sagte er begütigend. »Nehmen Sie doch Platz, ich will Ihnen ein Glas Wasser geben!«

 

»Diana!« rief Heloise erstaunt. »Das ist also Ihr kleines, australisches Mädchen … Gordon, sagen Sie einmal aufrichtig, ist sie nicht ein Polizeispitzel?«

 

»Was soll sie sein?«

 

»Ich meine so ein Frauenzimmer aus Scotland Yard – sie tritt genauso auf. Aber nun kommen Sie mit.«

 

»Wohin?«

 

»Sie will uns dabeihaben«, sagte Heloise gleichgültig. »Es hat doch keinen Zweck, hier noch Spektakel zu machen, Gordon, wir müssen uns dem Zwang der Verhältnisse unterordnen.«

 

Das war ein Lieblingsspruch von Heloise. Er hatte ihn schon öfters aus ihrem Munde gehört.

 

Fünf Minuten später schüttelte ein schlanker Mann mit braunem Gesicht Gordons Hände, und wenn er sie nicht mehr schüttelte, dann drückte er sie.

 

»Das ist ihr Onkel! Noch so jung! Und doch ist er älter als er scheint! Und das ist Tante Lizzie!«

 

Er stürzte auf sie zu und küßte die geduldige Heloise auf beide Wangen.

 

Gordon stand vollständig verwirrt dabei. Wer war denn dieser verfluchte Bursche? Diana hatte es ganz versäumt, ihn vorzustellen. Nach einer Weile holte sie es aber nach.

 

»Mein lieber Onkel Artur, dies ist Mr. Giuseppe Dempsi. Du erinnerst dich – ich habe doch des öfteren über ihn gesprochen?«

 

Ihr vernichtender Blick war unnötig. Gordon erinnerte sich tatsächlich daran.

 

»Ich dachte, er sei tot.« Ihn überkam plötzlich ein sonderbares Gefühl, so daß er im tiefsten Baß sprach. Er war selbst darüber verwundert.

 

»Aber ich lebe! Freuen Sie sich, Onkel Artur! Ihr kleiner Wopsy lebt! Ich bin von den Schatten zurückgekehrt. Der süße Zauber einer Sirene brachte mich wieder zur Welt zurück, selbst aus dem Reich der Schatten …!«

 

Er zeigte mit einer theatralischen Gebärde auf Diana.

 

»Meine Braut!« sagte er mit zitternder Stimme.

 

Gordon sah von einem zum anderen. Dempsi – Braut – Braut – Dempsi!

 

»Das ist doch wirklich lächerlich!« rief er, zuckte aber gleich unter einem zerschmetternden Blick Dianas zusammen.

 

Aber Mr. Dempsi war zu glücklich, um sich irgendwie in seiner guten Laune stören zu lassen.

 

»Mein Onkel muß jetzt gehen – er muß die Hühner füttern«, sagte Diana hastig.

 

Sie war sehr enttäuscht, als sie erkannte, wie wenig sie sich auf ihre Stützen und Helfer verlassen konnte. Sie ging gleich nach ihnen in die Küche.

 

»Sie sind beide unbrauchbar, Sie haben mich schön blamiert«, rief sie ganz verzweifelt. »Sie mögen ja ganz tüchtige Verbrecher sein, weil Sie zu nichts anderem taugen. Sie standen wie Wachspuppen aus der Schreckenskammer da und haben weder etwas gesagt noch etwas getan!«

 

»Was sollten wir denn tun?« fragte Gordon. »Wenn ich getan hätte, wonach mir der Sinn stand, hätte ich diesen zappeligen kleinen Wopsy auf die Straße geworfen! Aber Sie sind ja jetzt Herr im Hause, Sie wollen ja nicht einmal die einfachste Erklärung entgegennehmen!«

 

»Aber zu Ihrer einfachsten Erklärung paßt es schlecht, daß Sie Tante Lizzie mitgebracht haben!« unterbrach sie ihn schroff. »Sie hätten mich vielleicht täuschen können, wenn Sie hier nicht mit Ihrer Komplicin, Ihrer Frau, aufgetaucht wären. Seien Sie doch vernünftig, Mann! Ich weiß doch genau, daß Sie der Doppelgänger sind! Ich werde Sie hier irgendwie verwenden, wenn es geht – wenn es nicht geht, schicke ich sofort zur Polizei! Mr. Superbus muß in jedem Augenblick kommen – der wird Sie bewachen! Also versuchen Sie, sich so aufzuführen, wie es einem Onkel zukommt.«

 

Gordon wand sich in seelischem Schmerz.

 

»Wie kann ich mich denn wie ein Onkel benehmen, wenn Sie mir einen verteufelten Detektiv vor die Nase setzen, um mich zu bewachen?« fragte er wütend. »Es ist doch kein Verbrechen, ein Onkel zu sein, meine Liebe! Sie können doch nicht einfach sagen: ›Bewachen Sie den Mann, er ist mein Onkel Artur!‹ Von Ihrem Standpunkt aus mag ja ein Onkel an sich eine verdächtige Tatsache sein, aber in diesem Lande ist man nicht der Ansicht! Wie wollen Sie denn das dem Mann erklären?«

 

Sie sah ihn verächtlich an.

 

»Ich kann ihm ja sagen, daß Sie nicht ganz richtig im Kopf sind«, erwiderte sie kühl. »Und das werde ich tun!«

 

Gordon lehnte sich an den Tisch, um einen Halt zu haben.

 

»Ich bin aber nicht schwachsinnig!« protestierte er heftig.

 

Sie warteten, bis Dianas Schritte verhallt waren.

 

»Das kommt von einem Ausflug nach Ostende«, sagte Mr. Selsbury. Seine Stimme überschlug sich beinahe.

 

»Wenn Sie bloß nach Ostende gereist wären! Dann hätte alles nicht passieren können!« fuhr ihn Heloise wild an. »Es ist Ihnen doch klar, daß mein Mann mir folgte und daß er in diesem Augenblick wahrscheinlich auf den Treppenstufen sitzt und nur darauf wartet, Ihren armen Geist von seiner irdischen Hülle zu befreien?«

 

Gordon strich müde und verzweifelt mit der Hand über die Stirn.