Kapitel 4

 

4

 

Als Diana an einem der nächsten Tage ihre Einkäufe besorgt hatte und nach Hause kam, fand sie im Wohnzimmer eine etwas magere Dame mittleren Alters vor, die es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Sie begrüßte Diana mit einem gleichgültigen Lächeln. Diana hatte den Eindruck, als ob eine Romanfigur früherer Zeit lebendig geworden wäre. Die Fremde trug keinen Hut und strickte an einer feuerroten Wolljacke. Die Nadeln klapperten emsig in ihren Händen und schienen ganz von selbst zu arbeiten.

 

»Guten Tag – Sie sind sicher Miss Ford. Ich bin Miss Staffle – ich hoffe, daß wir gute Freunde werden!«

 

»Das hoffe ich auch!« erwiderte Diana. »Und wir werden noch bessere Freunde werden, wenn ich erst alles verstehe. Sind Sie hierzu Gast?«

 

Hurtig und flink schlugen die Stricknadeln aneinander.

 

Diana sah erstaunt zu – sie hatte noch niemals in ihrem Leben eine Wolljacke oder Strümpfe gestrickt.

 

»Nun ja, Mr. Selsbury dachte, daß Sie sich zu einsam fühlten. Es paßt ja für uns Mädchen nicht, daß wir allein sind, dann brüten wir zuviel.«

 

»Da haben Sie recht – ich brüte in diesem Augenblick auch über etwas nach.« Diana konnte sehr bestimmt auftreten. »Ist es richtig, daß Sie gewissermaßen als meine Anstandsdame engagiert sind?«

 

»Als Ihre Gesellschafterin«, erwiderte Miss Staffle leise.

 

»Nun, dann liegt der Fall ja sehr einfach.« Diana öffnete ihre Handtasche und nahm ein Scheckbuch heraus. »Wie hoch ist Ihr Gehalt?«

 

Miss Staffle nannte den Betrag.

 

»Hier haben Sie Ihr Gehalt für zwei Monate. Es war nicht meine Absicht, eine Gesellschafterin zu engagieren.« Sie klingelte, und die Stricknadeln hörten ganz plötzlich auf zu klappern.

 

»Eleanor, Miss Staffle verläßt das Haus vor dem Tee. Wollen Sie bitte dafür sorgen, daß das Gepäck heruntergebracht wird. Trenter soll ein hübsches Auto besorgen.«

 

»Aber, meine Liebe«, – Miss Staffles Stimme klang erregt und etwas scharf –, »Mr. Selsbury hat mich engagiert, und ich fürchte …«

 

»Mr. Selsbury braucht keine Gesellschaftsdame. Und nun, mein Engel, wollen Sie Spektakel machen oder wollen Sie als ein süßer, zarter Cherub von hier entschweben?«

 

Gordon kam nach Hause und war auf eine stürmische Szene vorbereitet. Er hatte sich aber fest vorgenommen, diesmal hart zu bleiben wie ein Felsen, mochte sie nun leidenschaftlich schelten oder ihn durch Tränen zu erweichen versuchen. Als er eintrat, ließ Diana gerade eine neue Platte auf einem ebenfalls neuen Grammophon spielen und tanzte vergnügt nach den Takten des neuen Schlagers: »Niemand darf mich Liebling nennen!«

 

Er konnte Grammophone im allgemeinen nicht leiden, aber im Augenblick gab es wichtigere Dinge zu besprechen.

 

Von der trefflichen Miss Staffle war nichts zu sehen.

 

»War jemand hier?« fragte er leichthin.

 

»Niemand, mit Ausnahme einer etwas verrückten alten Jungfer, die leider glaubte, daß ich eine Gesellschafterin brauche.«

 

Gordons Mut sank.

 

»Wo ist sie denn?«

 

»Ich habe mir nicht die Mühe gegeben, ihre Adresse zu notieren. Warum fragst du denn eigentlich? War die Gouvernante etwa für dich bestimmt?«

 

»Du hast sie wieder fortgeschickt?« Diana nickte.

 

»Ja, ihr Fleiß war ganz entsetzlich.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Sie hat die rote Strickweste doch nicht für dich gearbeitet?«

 

»Was, du hast eine – hm, eine Frau, die ich engagierte, fortgeschickt?« fragte er streng. »Wirklich, Diana, das geht etwas zu weit!«

 

Diana wechselte sofort das Thema der Unterhaltung.

 

»In zehn Minuten wird der Tee serviert sein. Mein lieber Gordon, deine Schuhe sind so schmutzig, geh schnell nach oben und zieh andere an.«

 

Der Widerspruchsgeist in ihm regte sich, sein Gesicht war rot vor Ärger.

 

»Ich werde nichts Derartiges tun!« sagte er scharf. »Ich will mich nicht in meinem eigenen Hause kommandieren lassen! Diana, die unerträgliche Situation muß jetzt ein Ende haben.« Er schlug mit der Hand schwer auf die Stuhllehne. »Einer von uns beiden verläßt heute abend das Haus. Ich habe genug! Die Dienstboten sprechen schon darüber. Ich sah, wie Trenter lächelte, als du heute morgen im Negligé zum Frühstück herunterkamst. Ich habe eine Stellung, einen guten Ruf und einen Namen in der City. Ich muß meine Interessen gegen die Gedankenlosigkeit selbstsüchtiger, rücksichtsloser Backfische wahren!«

 

»Aber wie kannst du mir einen solchen Namen geben?« fragte sie vorwurfsvoll.

 

»Ich gestatte unter keinen Umständen, daß eine so ernste Situation sich in einen Scherz oder Witz auflöst. Und ich säge noch einmal: Einer von uns beiden verläßt Cheynel Gardens.«

 

Sie dachte einen Augenblick nach, dann ging sie aus dem Zimmer. Gordon hörte, wie sie in der Diele telefonierte, und lächelte. Er hatte gesiegt. Man mußte nur fest auftreten und sich nicht einschüchtern lassen. Mehr war nicht notwendig –

 

»Ist dort die Redaktion des ›Morning Telegram‹? Hier ist Miss Diana Ford. Senden Sie doch bitte einen Reporter nach Cheynel Gardens Nr. 61.«

 

In zwei Sekunden war Gordon neben ihr in der Diele und hielt die Sprechmuschel zu. »Was machst du da?« fragte er erregt.

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»Ein Leben ohne dich ist einfach unerträglich, Gordon«, sagte sie, scheinbar ganz gebrochen. »Wenn du mich aus der Wohnung weist, muß ich ins Wasser gehen.«

 

»Du bist verrückt!« stöhnte er.

 

»Der Leichenbeschauer wird vielleicht auch eine solche Ansicht äußern, wie ich hoffe – unterbrich mich nicht, Gordon. Die Leute der Redaktion wollen mich sprechen.«

 

Nur mit der größten Anstrengung gelang es ihm, sie von dein Apparat zu entfernen. Mit Gewalt nahm er ihr den Hörer aus der Hand.

 

»Machen Sie sich keine Mühe, jemand zu schicken … die Dame befindet sich sehr wohl. Sie ist am Leben – ich meine, es ist kein Selbstmord zu fürchten …«

 

Außer Atem ging er in sein Studierzimmer zurück.

 

»Dein Benehmen ist wirklich schändlich, direkt schamlos! Jetzt verstehe ich auch, warum dieser niederträchtige Dempsi vor dir Reißaus genommen hat und lieber draußen in der Wildnis sterben als länger bei einem so schrecklichen Zankteufel sein wollte!«

 

Gordon war an der Grenze seiner Geduld angekommen. Er war wild und grausam und wußte schon, bevor er zu Ende gesprochen hatte; daß sein Betragen unverzeihlich war.

 

»Es tut mir leid«, sagte er leise.

 

Ihre Gesichtszüge waren verschlossen, ihr Blick undurchdringlich. Er konnte ihre Gedanken nicht erraten.

 

»Es tut mir unendlich leid, das hätte ich nicht sagen dürfen bitte verzeih mir.«

 

Sie sprach noch nicht. Sie sah fast tragisch aus, wie sie hochaufgerichtet vor ihm stand.

 

Gordon schlich sich leise aus dem Zimmer. Dann sprach sie ihre Gedanken laut aus.

 

»Es ist doch einfach Unsinn, daß das Telefon nicht hier im Zimmer ist. Ich werde noch heute abend an das Postamt schreiben, daß das geändert wird.«

 

Das Abendessen verlief sehr schweigsam. Später ging Gordon aus.

 

»Ich habe mich mit einem Freund heute abend zum Theater verabredet«, sagte er.

 

»Ich habe auch seit Jahren kein Schauspiel mehr gesehen«, seufzte sie.

 

»Aber das wird dich nicht interessieren – es ist ein russisches Stück, das soziale Probleme behandelt.«

 

Sie seufzte aufs neue.

 

»Aber ich liebe doch das russische Theater so sehr! Die Haupthelden sterben so schön auf der Bühne, und man kann der Handlung so gut folgen. In einer Oper oder Operette weiß man nie genau, wen die Leute eigentlich darstellen, besonders wenn man den Text nicht genau versteht.«

 

»Dies ist aber kein Stück für junge Damen«, erwiderte er.

 

Aber sie ließ sich nicht überzeugen.

 

»Wenn du mich mitnehmen willst, ich bin in fünf Minuten umgezogen. Ich weiß sowieso nicht, was ich heute abend anfangen soll.«

 

»Du kannst dir doch überlegen, was es morgen zum Frühstück geben soll«, sagte er ärgerlich.

 

Als sie nun allein war, teilte sich ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Grammophon und ihren Grübeleien. Sie mußte zuweilen an Dempsi denken, aber der Gedanke war ihr etwas unbehaglich. Nicht, daß sie diesen etwas merkwürdigen Menschen, den Sohn Michael Dempsis und Marie Stezzagannis, geliebt hätte. Dempsi brach in ihr Leben ein wie ein Erdbeben über das Haus eines kalifornischen Farmers. Er hatte alle ihre Lebensanschauungen umgestoßen und sie furchtbar erschüttert. Aber jetzt erinnerte sie sich nur noch schwach an seine schmächtige, sehnige Gestalt und an seine vielen Reden. Er hatte sich ihr damals zu Füßen geworfen, hatte gedroht, sie zu erschießen, dann hatte er wieder erklärt, daß er sie anbete und ihretwegen seine geistliche Laufbahn aufgeben wolle. An einem heißen Februarmorgen – sie besann sich noch darauf, wie reich die Rosen in dem Garten blühten – hatte er sein ganzes Vermögen vor sie hingeschleudert und einen tränenreichen Abschied von ihr genommen. Dann war er in die Wildnis gelaufen, um niemals wieder zurückzukommen.

 

Tatsächlich war die nächste Wildnis etwa hundert Meilen entfernt, aber er hatte gesagt, daß er in die Wildnis gehen und seinem Leben ein Ende machen wolle, das schon über die Grenzen menschlichen Duldens hinaus durch Kummer und Qualen bedrückt sei. Er wolle dort vergessen und Erlösung von seinen Leiden finden. Wahrscheinlich hatte er auch sein Versprechen erfüllt, soweit es sich um den Weg in die Wildnis handelte. Diana beklagte oder betrauerte ihn nicht. Sie war nur neugierig, unter welchen Umständen er wieder erscheinen und die achttausend Pfund von ihr zurückfordern würde, die er ihr damals wohlverpackt und zusammengeschnürt in einer so großartigen dramatischen Szene vor die Füße geworfen hatte. Er hatte allerdings in der Aufregung sein Ziel verfehlt. Das Bündel Banknoten war in weitem Bogen über ihre Füße hinweggeflogen und hatte die Katze getroffen, die gerade Junge hatte und auf Dempsi losstürzte. So wurde seine wilde Flucht noch beschleunigt.

 

Als die Jahre vergingen, wurde ihr der Besitz des Geldes immer unangenehmer, und sie machte einen schwachen Versuch, seine Verwandten zu entdecken, obwohl sie wußte, daß er nicht einmal einen Vetter hatte. Aber dann geriet das Andenken an Dempsi allmählich in Vergessenheit. Ein romantischer Farmer machte ihr den Hof. Dieses Abenteuer endete jedoch etwas plötzlich, als die sehr unromantische Frau dieses Mannes in einem Auto auf der Bildfläche erschien und ihn wieder mit sich fortnahm.

 

Diana dachte an diesem Abend auch nur fünf Minuten an Dempsi, dann probierte sie einen neuen Walzerschritt aus, den man eventuell auch nach Jazzmelodien tanzen konnte.

 

»Ich verstehe nur nicht«, sagte Trenter, »daß unser gnädiger Herr so etwas erlaubt. Es schickt sich doch nicht, daß eine junge Dame im Hause eines Junggesellen wohnt. Das erinnert mich an einen Fall, den der alte Superbus erzählt hat. Er ist ein Gerichtsvollzieher und sieht immer nur die Schattenseiten des Lebens.«

 

»Ich würde mich schämen, einen Gerichtsvollzieher zum Freund zu haben, selbst wenn man mir eine Million dafür bezahlte«, erwiderte Eleanor, die in dürftigsten und ärmlichsten Verhältnissen groß geworden war. »Eher würde ich mir noch einen Bettler zum Freunde nehmen. Und sorgen Sie sich nur nicht um unsere Miss Diana, Arthur, es ist sehr gut, daß sie da ist. Besonders ich bin sehr froh darüber. Denken Sie denn nicht an mich? Habe ich denn nicht auch eine Moral? Haben die Köchin und ich nicht seit Jahren in demselben Haus mit einem Junggesellen gelebt?«

 

»Mit euch ist das doch etwas ganz anderes Das Haus ist lange nicht mehr das, was es war«, klagte er.

 

Aber seine Trauer hatte einen tieferen Grund, den die beiden nicht kannten. So methodisch Gordon sonst auch war, so zählte er doch niemals seine Zigarren. Diana aber hatte ein gutes Schätzungsvermögen und paßte auf alles auf. Eines Tages fragte sie Trenter so nebenbei, ob Mäuse im Hause seien, und als er das bejahte, meinte sie, es sei doch sonderbar, daß Mäuse Havannazigarren auffräßen.

 

»Es wird noch ein großer Umschwung kommen, ein schrecklicher Wechsel, das fühle ich schon«, sagte er. »Ich weiß es ganz bestimmt. Ich habe immer das zweite Gesicht gehabt, schon als ich noch ein Junge war.«

 

»Dann sollten Sie eine Brille tragen«, erwiderte Eleanor.

 

Kapitel 5

 

5

 

An einem Spätsommernachmittag schaute Heloise van Oynne über den dunklen Fluß und schien in den Anblick eines farbenfreudig gestrichenen Hausbootes versunken zu sein, das am Ufer befestigt war.

 

»Erzählen Sie mir doch noch etwas mehr von Diana, sie muß wirklich faszinierend sein«, sagte sie plötzlich.

 

Gordon wurde unruhig. Er hatte schon viel mehr über Diana erzählt, als er eigentlich wollte und ihm lieb war.

 

»Nun … Sie wissen doch schon alles über sie, ich hoffe, daß Sie sie kennenlernen werden … eines Tages.«

 

Die kleine Pause, die er vor den letzten Worten machte, hatte für eine sensitive Frau eine ganz besondere Bedeutung, und Heloise war sehr hellhörig, denn das gehörte zur Durchführung ihrer Absichten. Heute schien sie wieder unglaublich ätherisch zu sein.

 

Sie war schön, schlank – Diana hätte sie wahrscheinlich mager genannt – und geistreich.

 

In ihren tiefen schwarzen Augen verbärgen sich Geheimnisse und unergründliche Rätsel. Manchmal fürchtete er sich fast vor ihr.

 

Gordon Selsbury war nicht verliebt. Er gehörte nicht zu den Leuten, die leicht ihr Herz verloren. Aber es schmeichelte ihm, daß er ein Geheimnis hatte. Früher hatte einmal jemand von ihm gesagt, daß er etwas Sphinxhaftes an sich habe.

 

Wenn Diana älter und vor allem nicht seine Kusine gewesen wäre, wenn sie sich nicht in dieser meisterlichen Art ganz gegen jedes Herkommen und gegen jede Sitte in seinem Hause festgesetzt hätte und nicht so verteufelt sarkastisch und selbstbewußt gewesen wäre – dann hätte er ihr gegenüber wahrscheinlich so etwas wie Zuneigung, vielleicht auch Liebe, gefühlt.

 

Er dachte an Diana und schaute auf seine Armbanduhr. Er hatte versprochen, zum Abendessen zu Hause zu sein. Heloise hatte die kurze Bewegung gesehen und innerlich gelächelt.

 

»War eigentlich die erste Liebesaffäre Dianas sehr ernster Natur?«

 

Gordon hustete.

 

Heloise konnte ihn in letzter Zeit überhaupt nicht mehr sehen, ohne dauernd über Dianas frühere Liebe zu sprechen. Das war doch ein merkwürdig weiblicher Zug, den er nicht bei ihr vermutet hatte. Er wurde einer Antwort enthoben, denn sie stellte plötzlich eine andere Frage an ihn.

 

»Wer ist dieser Mann, Gordon?«

 

Eine merkwürdige Gestalt war schon zweimal an der Hotelterrasse vorübergerudert, wo sie beim Nachmittagstee saßen, und zweimal hatte der dicke Mann mit dem roten Gesicht zu ihnen heraufgeschaut.

 

»Ich weiß es wirklich nicht – sollen wir nicht besser gehen?«

 

Sie machte keinen Versuch, sich zu erheben.

 

»Wann werde ich Sie wiedersehen, Gordon? Das Leben ist so leer und öde ohne Sie. Hat denn Diana ein Monopol auf Sie? Die Leute würden uns beide nicht verstehen. Ich liebe Sie nicht, und Sie lieben mich nicht; wenn Sie dächten, daß ich Sie etwa liebte, würden Sie mich nicht wiedersehen wollen.« Sie lachte ruhig vor sich hin. »Es ist nur Ihre Seele und Ihr Geist« – sie sprach sehr leise – »nur das vollkommene Verstehen, das uns eint. Liebe oder Ehe bringen das nicht zustande.«

 

»Es ist wundervoll«, sagte er und nickte. »Nein, die böse Welt würde uns nie verstehen.«

 

»Ich sehne mich so sehr nach dem einen Tag.« Sie schaute zu dem Fluß hinüber. »Aber ich wage nicht zu hoffen, daß er jemals kommen wird, dieser Tag meiner Träume.«

 

Auch Gordon Selsbury glaubte nicht daran und hatte schon den ganzen Nachmittag darüber nachgedacht, wie er ihr seine Zweifel sagen könne.

 

»Ich habe mir den Plan unserer Reise nach Ostende genau überlegt, Heloise. Es würde natürlich etwas Wunderbares sein, wenn wir einander den ganzen Tag sehen könnten und miteinander, wenn auch nicht unter demselben Dach, so doch in derselben Umgebung, leben könnten. Die ungestörte Verbindung unserer Seelen – das ist ein zu glücklicher Gedanke. Aber glauben Sie, daß es klug ist, nach Ostende zu gehen? Ich spreche natürlich von Ihrem Standpunkt aus, denn Skandal und Klatsch berühren einen Mann kaum.«

 

Sie wandte ihm ihre sehnsüchtig strahlenden Augen zu.

 

»Was könnten uns die Leute anhaben? Was wollen sie denn von uns sagen? Lassen Sie sie doch klatschen!« sagte sie verächtlich. Er schüttelte den Kopf.

 

»Ihr Ruf ist mir heilig«, erwiderte er bewegt. »Er ist mir teuer und kostbar und darf nicht irgendwie in den Schmutz getreten werden. Die Saison in Ostende ist zwar vorüber, die meisten Hotels sind geschlossen, und viele Kurgäste sind abgefahren, aber trotzdem besteht die Möglichkeit – allerdings nur die Möglichkeit, daß wir einen Bekannten treffen, der womöglich gleich das Schlimmste über unsere unschuldige Seelenfreundschaft dächte. Es ist außerordentlich gefährlich.«

 

Sie lachte hart, als er sich erhob.

 

»Ich sehe, daß Sie sich doch innerlich noch nicht befreien können, Gordon. Es war ein verrückter Gedanke, wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Es tut mir weh.« Er zahlte schweigend, und schweigend folgte er ihr zu seinem Auto. Er war etwas gekränkt. Niemand hatte ihm bis jetzt gesagt, daß er innerlich gebunden sei.

 

»Wir werden nach Ostende fahren. Ich werde Sie treffen, wie wir es schon seit langem verabredet haben«, sagte er, als sie halbwegs zum Richmond-Park gefahren waren.

 

Sie antwortete ihm nicht, aber sie drückte seinen Arm innig.

 

Sie saßen schweigend nebeneinander und träumten.

 

»Es liegt etwas Unendliches in unserer Freundschaft. Ach, Gordon, es ist doch zu wundervoll …«

 

Diana las ein Magazin im Studierzimmer, als Gordon eintrat. Sie ließ das Heft sofort sinken und sprang von ihrem Stuhl auf. Wenn sie las, saß sie an seinem Schreibtisch, der sich gewöhnlich bei seiner Rückkehr abends in einem chaotischen Zustand befand, obwohl er ihn morgens nett und ordentlich zurückgelassen hatte.

 

»Das Essen ist schon lange fertig«, sagte sie kurz. »Du kommst verteufelt spät, mein lieber Gord.«

 

Mr. Selsbury fühlte sich bedrückt.

 

»Ich wünschte, du würdest mich nicht Gord nennen, Diana«, sagte er vorwurfsvoll. »Es klingt – es klingt fast wie Hohn.«

 

»Aber es paßt doch so gut zu dir. Du weißt gar nicht, wie dir dieser Name steht.«

 

Gordon zuckte die Schultern.

 

»Jedenfalls nimmt eine Dame nicht das Wort ›verteufelt‹ in den Mund.«

 

»Wo bist du eigentlich gewesen?« fragte sie mit herausfordernder Offenheit, die ihr besonders eigen war.

 

»Ich bin aufgehalten worden –«

 

»Aber doch nicht in deinem Büro«, erwiderte Diana prompt, als sie sich zu Tisch setzten. »Seit dem Mittagessen bist du nicht dort gewesen.« Mr. Selsbury sah verzweifelt zur Decke.

 

»Ich bin in einer reinen Privatsache aufgehalten worden«, sagte er steif.

 

»Aha!« Diana schien von seinen Worten in keiner Weise beeindruckt zu sein. Sie hatte, wie sie selbst sagte, das Alter längst hinter sich, in dem man sich durch andere Leute imponieren läßt.

 

Gordon hatte sich eingestanden, daß sie sehr hübsch sei: In gewisser Weise war sie sogar eine Schönheit. Sie hatte tiefe, graublaue Augen und eine seidenweiche Haut. Auch gab er zu, daß ihre Figur sehr anmutig und graziös war. Wenn sie älter oder jünger gewesen wäre – wenn sie keinen Bubikopf trüge, wenn sie ein wenig mehr Respekt vor wahrer Bildung und Kenntnissen hätte, wenn sie die Gedankenarbeit mehr schätzte und wenn sie weniger selbstsicher wäre!

 

Er trat nachdenklich ans Fenster und schaute in die Dunkelheit. Diana war für ihn ein ungelöstes Problem.

 

Der Butler erschien in diesem Augenblick im Zimmer.

 

»Trenter!«

 

»Jawohl, Sir?«

 

»Sehen Sie den Herrn dort auf der anderen Seite der Straße den Mann mit dem roten Gesicht?«

 

Es war wieder der Fremde, der am Nachmittag an ihnen vorbeigefahren war. Gordon hatte ihn sofort wiedererkannt.

 

»Ich habe ihn heute schon einmal gesehen – es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen.«

 

»Das ist Mr. Julius Superbus.«

 

Gordon schaute Trenter erstaunt an.

 

»Julius Superbus – was zum Teufel wollen Sie denn damit sagen?«

 

»Welch eine Sprache in Gegenwart einer Dame«, tönte eine Stimme aus dem Hintergrund. Das sah Diana wieder ganz ähnlich.

 

»Was meinen Sie denn – das ist doch ein lateinischer Name.«

 

Trenter lächelte verschmitzt.

 

»Jawohl, Sir, Mr. Superbus ist ein Römer, der letzte Römer in England. Er stammt aus dem Ort Caesaromagnus, das ist ein kleines Dorf bei Cambridge. Ich bin dort in der Nähe in Stellung gewesen, daher weiß ich das.«

 

Gordon runzelte die Stirn.

 

Welch ein merkwürdiger Zufall führte ihm diesen seltsamen Menschen zweimal am Tage in den Weg – einmal in Hampton, wo er mit größter Anstrengung in einem Boot an ihm vorbeiruderte, und dann in Cheynel Gardens, wo er scheinbar in den Anblick eines Laternenpfahls versunken war?

 

»Was ist er denn – ich meine von Beruf?«

 

»Detektiv, Sir«, sagte Trenter.

 

Gordon wurde plötzlich blaß.

 

Kapitel 21

 

21

 

Bobby Selsbury war zum Victoria-Bahnhof gegangen, um seinen Bruder noch in elfter Stunde aus einer gefährlichen Lage zu befreien. Er hatte schon erfolglos den einen Zug, der nach dem Festland fuhr, von Anfang bis zu Ende durchsucht, und war nun dabei, den anderen zu inspizieren, als plötzlich die Pfeife des Fahrdienstleiters ertönte und er vor die Alternative gestellt wurde, den Zug sofort zu verlassen oder mit nach Dover zu fahren. Er entschied sich für das letztere und setzte seine Nachforschungen in den einzelnen Abteilen weiter fort. Er störte zwei jung verheiratete Paare auf der Hochzeitsreise, aber seinen Bruder fand er nicht.

 

Bei seiner Ankunft in Dover entdeckte er, daß um drei Viertel elf noch ein Vorzug vom Victoria-Bahnhof abgegangen war. Die Passagiere waren bereits auf dem Dampfer. Es war ja möglich, daß Gordon diesen Zug benutzt hatte, und Bobby entschloß sich, rasch zu handeln.

 

Er telefonierte schnell nach London und hatte glücklicherweise sofort Anschluß. Es waren sehr viele Leute an Bord, und er sah sofort, daß es unmöglich war, in kurzer Zeit festzustellen, ob Gordon hier war. Er blieb also auf der »Prinzessin Juliana«, als sie in See stach, und kam um vier Uhr nachmittags in Ostende an. Gordon und Mrs. van Oynne hatte er nicht gefunden.

 

In Ostende waren nur noch einige Hotels geöffnet. Bobby besuchte sie alle und ließ sich die Gästebücher vorlegen. Aber er stellte mit einer gewissen Erleichterung fest, daß Gordon nicht in Ostende war. Es war ja möglich, daß er in letzter Minute noch seinen Plan geändert hatte und nach Paris gefahren war, obwohl ihm das nicht ähnlich sah. Bobby glaubte seinem Bruder, obwohl sein Vertrauen auf eine sehr harte Probe gestellt wurde.

 

Er kehrte mit dem Nachtdampfer nach Dover zurück und erreichte den Hafen beim Morgengrauen. Um zehn Uhr kam er unrasiert, müde und gereizt wieder in der Hauptstadt an. Er fuhr sofort nach Scotland Yard. Er hatte sich überlegt, daß er das eigentlich gleich hätte tun sollen. Er hatte Glück, denn er fand Polizeiinspektor Carslake in seinem Büro, mit dem er während des Krieges in Frankreich zwölf Monate lang in einem Nachrichtenbüro zusammengearbeitet hatte.

 

Bobby brachte sein Anliegen so kurz wie möglich vor, und der Inspektor hörte ihm mit außerordentlichem Interesse zu.

 

»Es ist merkwürdig, daß Sie gerade zu mir kommen. Ich führe nämlich die Untersuchung über alle Vergehen des Doppelgängers. Ich muß ohne weiteres zugeben, daß die Sache ganz nach ihm aussieht.«

 

»Gordon ist nicht leicht zu imitieren«, entgegnete Bobby, »obgleich ich ihm das sagte, um ihn zu warnen.«

 

»Für den Doppelgänger gibt es in dieser Beziehung keine Schwierigkeiten«, meinte Carslake. »Groß, klein, dünn oder dick, das ist diesem Spezialisten ganz gleich. Er hat bis jetzt noch keinen Nachfolger in diesem Fach gefunden. Haben Sie die Frau gesehen, diese Mrs. van Oynne?«

 

Bobby schüttelte den Kopf.

 

»Wissen Sie vielleicht ihre Wohnung?«

 

»Ich habe nicht die mindeste Ahnung.«

 

»Vor Montag wird er wohl nichts unternehmen«, sagte Carslake nachdenklich. »Der Doppelgänger arbeitet nur, wenn die Banken geöffnet sind. Aber wenn er tätig ist, dann regt er sich auch ordentlich. Vor der Schlauheit dieses Menschen nehme ich den Hut ab, er kann etwas.«

 

»Wer ist er denn eigentlich?«

 

»Er heißt Throgood und war früher Schauspieler. Ich glaube, er wurde den besten Künstlern in Amerika an die Seite gestellt. Er war ein Charakterdarsteller. Er selbst ist wahrscheinlich Engländer, seine Partnerin stammt aus Amerika oder Kanada und war früher eine Statistin am Theater. Vielleicht ist es noch dieselbe – sehr schlank, nicht allzu groß – goldblondes Haar und blaue Augen. Sieht Mrs. van Oynne so aus?«

 

»Soviel ich weiß, nicht.« Bobby begann wieder zu hoffen. »Vielleicht irre ich mich auch. Sind Sie Ihrer Sache ganz sicher?«

 

Carslake nickte.

 

Er werde am Montag nach dem Rechten sehen.

 

Bobby fuhr nach Hause. Er fühlte sich jetzt wohler als in den letzten vierundzwanzig Stunden.

 

Sein Diener hatte neue Nachricht für ihn.

 

»Miss Ford hat heute morgen schon angeläutet, Sir.«

 

»Was hat sie denn gesagt?« fragte Bobby. Er hielt den Rasierpinsel in der Hand.

 

»Sie fragte nur, ob Sie zu Hause seien.«

 

»Um wieviel Uhr hat sie denn angerufen?«

 

»Etwa um fünf.«

 

»Um fünf Uhr! Sie alter Ölgötze, warum haben Sie mir denn das nicht sofort gesagt?« Eingeseift wie er war, eilte er zum Telefon und ließ sich mit Diana verbinden.

 

»Bist du am Apparat, Bobby? Kannst du heute zu mir kommen?«

 

»Ich werde sofort erscheinen!«

 

»Das ist nicht nötig. Wenn du gelegentlich vorbeikommst, ist es gut. Aber sei nicht erstaunt, wenn du hier einen Herrn findest, von dem ich dir schon viel erzählt habe.«

 

»Doch nicht etwa Dempsi?« fragte er verwundert.

 

»Ja. Er ist für ein oder zwei Tage hier – ich werde dir alles erklären, wenn du kommst.«

 

Bobby pfiff leise vor sich hin.

 

Er nahm das Mittagessen in seinem Klub und machte am frühen Nachmittag seinen Besuch in Cheynel Gardens. Die Tür wurde ihm von einem merkwürdigen Hausmeister geöffnet.

 

Bobby schaute den Mann überrascht an. Dieser Diener mit den Ziehharmonikahosen und dem schlechtsitzenden Anzug hätte aus einer Burleske entsprungen sein können.

 

»Sie sind wohl der neue Butler?«

 

Der andere legte die Hand aufs Herz und verneigte sich. »Jawohl, Sir, mein Name ist Smith«, sagte er düster.

 

Er schielte und legte das Gesicht in Falten.

 

»Ich werde Sie aber trotzdem Superbus nennen – Sie können auch ruhig wieder natürlich dreinschauen.«

 

Mr. Superbus gehorchte enttäuscht.

 

»Woran haben Sie mich denn wiedererkannt? Hat Ihnen Miss Ford etwas erzählt?«

 

Bobby lächelte ironisch.

 

»Na, das war doch wirklich nicht schwer, Sie zu erkennen!«

 

»Das ist merkwürdig. Meine Frau sagt immer, daß sie mich auf der Straße nicht wiedererkennen würde, wenn ich mein Gesicht derartig verstelle.«

 

»Nun sagen Sie mir, Superbus, was ist denn hier los?«

 

Julius war unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Mit einem Blumenkranz auf dem Kopf hätte er nicht dümmer aussehen können. Aber Bobby ließ sich nicht täuschen.

 

»Was sollte denn hier los sein?«

 

»Warum sind Sie denn in dem Haus und haben sich so merkwürdig ausstaffiert. Miss Ford weiß doch, wer Sie sind?«

 

Mr. Superbus schloß schnell die Tür und legte seinen Zeigefinger an den Mund.

 

»Pst!« sagte er geheimnisvoll.

 

Bobby wartete.

 

Julius ging auf Zehenspitzen in das Studierzimmer und winkte Bobby zu sich.

 

»Sie hat mich gerufen«, sagte er ernst. »Sie hat mich gebeten, bei ihr zu bleiben. Konnte ich ihr das abschlagen? Wenn die Sache gefährlich wird, dann bin ich dabei – ja, das ist meine Art!«

 

Bobby glaubte Dianas Gründe zu verstehen. Sie wollte wahrscheinlich einen Mann im Hause haben. Er entnahm daraus, daß nicht nur er Respekt vor dem Doppelgänger hatte.

 

»Oh, ich begreife. Eine vernünftige junge Dame!«

 

»Ja, mein Herr, sie ist sehr verständig. Ich wüßte nicht, was sie Besseres hätte tun können. In mir hat sie den rechten Mann gefunden!«

 

»Miss Ford war allein und hat Sie gebeten, hierherzukommen? Das freut mich.«

 

»Nun, sie war gerade nicht allein«, erklärte Mr. Superbus, dem es schwerfiel, seine Ehre als alleiniger Beschützer aufzugeben, »Onkel Artur ist natürlich auch noch da.«

 

Bobby traute seinen Ohren nicht.

 

»Onkel Artur? Wer ist denn Onkel Artur?«

 

Julius hatte schon die Absicht gehabt, bei der ersten Gelegenheit diese Frage auch an Bobby zu stellen.

 

»Ich kenne seinen Familiennamen nicht, er ist aber ein sehr übelgelaunter Herr mit allerhand verrückten Einfällen und …« er zeigte mit dem Finger auf die Stirn, aber Bobby verstand den Sinn dieser Geste nicht.

 

Von Dempsi hatte Bobby ja schon am Telefon erfahren.

 

»Und dann ist auch noch Tante Lizzie da«, fuhr Julius fort.

 

Bobby schwankte beinahe und stützte sich auf den Kamin. Er wußte nicht, ob er wache oder träume. Es kam ihm plötzlich alles unwirklich vor. Sicherlich würde Mr. Superbus gleich zwei Hasen und eine Schüssel mit Goldfischen aus seinem Zylinder hervorzaubern, und Diana würde mit einem gezierten Lächeln auf den Lippen als Balletteuse ins Zimmer schweben. Und dann würde er aus seinem Traum aufwachen.

 

»Geben Sie mir doch etwas zu trinken«, sagte er schwach. »Meine Hand zittert ein wenig.«

 

Der große Detektiv goß ihm stolz ein Glas ein.

 

»Sagten Sie nicht eben etwas von Tante Lizzie?« fragte Bobby, der inzwischen alle seine Verwandten im Geist hatte Revue passieren lassen, aber weder einen Onkel Artur noch eine Tante Lizzie unter ihnen entdeckt hatte.

 

»Jawohl, Sir, sie kam gestern nachmittag mit Onkel Artur. Sie ist eine sehr hübsche Dame. Aber die beiden vertragen sich nicht recht miteinander. Das ist ja weiter auch nicht verwunderlich. Es ist doch merkwürdig, daß sie einen so häßlichen Namen hat. – Lizzie klingt doch so gewöhnlich! Es gibt doch so schöne Namen wie Maud und Agnes. Wenn sie allerdings allein sind, dann nennt er sie Heloise.«

 

Das Zimmer schien sich plötzlich um Bobby zu drehen.

 

»Heloise! Heloise!« murmelte er. »Hat sie – hat sie dunkle rabenschwarze Haare?«

 

»Jawohl, mein Herr.«

 

»Und Augen, die bis auf den Grund Ihrer Seele blicken?«

 

Superbus mußte sich das erst überlegen.

 

»In meine Seele blickt sie nicht, aber es ist schon irgend etwas Besonderes an ihren Augen«, gestand er.

 

»Hat sie die süßeste Stimme der Welt?«

 

Mr. Superbus stutzte wieder. Stimmen waren für ihn eben Stimmen.

 

»Ich habe sie noch nicht singen oder viel sprechen hören. Sie flucht ein wenig auf Onkel Artur, und das ist eigentlich nicht recht das Betragen einer vornehmen Dame.«

 

Bobby unterbrach ihn. »Wo ist Onkel Artur?«

 

»Der putzt Silber.«

 

Bobby fuhr zurück.

 

»Was, der putzt Silber?« fragte er ganz verwirrt. »Wache oder träume ich? Wo sind denn die anderen Dienstboten?«

 

»Miss Ford hat sie vorläufig auf Urlaub geschickt. Ich bin hier beruflich tätig. Ich habe die Aufgabe, aufzupassen, daß Onkel Artur das Haus nicht verläßt.«

 

Bobby begann endlich Licht zu sehen. Wenn Heloise hier und Gordon nicht in Ostende war –! Und wenn Gordon hier war, dann war seine Sehnsucht nach Freiheit nicht nur verzeihlich, sondern auch vollkommen verständlich.

 

»Onkel Artur will wohl immer fortgehen?«

 

Julius wunderte sich, daß er überhaupt diese Frage stellte. Bobby mußte doch über seine Familienmitglieder Bescheid wissen. Aber auf der anderen Seite war es ja begreiflich, daß er diese dunklen Punkte gern verleugnen wollte.

 

»Er ist ein bißchen verdreht – Sie wissen doch, was ich meine? Er hat Wahnvorstellungen, Hallelujahzinationen, um einen hohen medizinischen Ausdruck zu gebrauchen. Er sieht Dinge und denkt, daß er jemand anders ist. Hunderte von solchen Fällen sind mir schon vorgekommen.«

 

»Aber wer hat ihm denn den Auftrag gegeben, das Silber zu putzen?«

 

»Miss Ford sagte, dann hätte er wenigstens eine Beschäftigung und käme nicht auf dumme Gedanken.«

 

In der Diele hörte man schwere Schritte.

 

»Das ist er. Sie brauchen sich aber nicht vor Onkel Artur zu fürchten, Sir. Er ist harmlos wie ein Kind.«

 

Im nächsten Augenblick trat Gordon ein, blieb aber sofort erschrocken stehen, als er Bobby sah. Er war in Hemdsärmeln, trug einen Staubwedel in der Hand und hatte eine große, weiße Schürze vorgebunden.

 

Bobby starrte ihn hilflos an.

 

»Um Gottes willen – das ist Onkel Artur?«

 

»Sie kennen ihn doch wieder, mein Herr?«

 

»Ja, ja, ich kenne ihn.«

 

Superbus ging auf Gordon zu.

 

»Brauchen Sie irgend etwas, Onkel Artur?« fragte er freundlich und klopfte ihm auf den Arm.

 

Mr. Selsbury war schon so gebrochen, daß er sich diese Vertraulichkeit ruhig gefallen ließ.

 

»Ja – nein«, sagte er heiser.

 

Julius schüttelte den Kopf.

 

»Er ist wirklich etwas schwachsinnig – er ist nicht recht klar im Kopf. Ich wundere mich nur, wie er zu einer Frau gekommen ist.«

 

Gordon besann sich auf sich selbst.

 

»Wo ist Tante Lizzie?« fragte er.

 

»In ihrem Zimmer, Onkel Artur. Sie liest Bücher.«

 

»Nennen Sie mich nicht Onkel – auf keinen Fall bin ich Ihr Onkel.«

 

»Nein, Sir«, gab Julius zu. »Ich habe überhaupt keinen Onkel, soviel ich weiß.« Plötzlich runzelte er die Stirn und sah Gordon so an, daß sogar Bobby eingeschüchtert wurde. »Mir kommt eben ein Gedanke«, sagte er langsam. »Ich möchte es fast Erleuchtung nennen. Ist denn das in Wirklichkeit Ihr Onkel Artur?«

 

Bobby horchte auf.

 

»Kennen Sie Onkel Artur ganz genau?« Mr. Superbus war von seiner neuen Idee ganz besessen. »Wenn nun der Doppelgänger hierhergekommen wäre und sich als Onkel Artur ausgegeben hätte!«

 

Bobby schaute seinen Bruder an. Gordon gab ihm ein Zeichen und schüttelte den Kopf. Er wollte also aus irgendeinem, Bobby nicht verständlichen Grund seine Rolle als Onkel weiterspielen.

 

»Aber ja«, sagte Bobby atemlos, »das ist Onkel Artur!« Julius ließ sich aber nicht so leicht überzeugen.

 

»Sind Sie Ihrer Sache auch ganz sicher?« fragte er noch immer zweifelnd.

 

»O ja, das ist Onkel Artur, daran ist kein Zweifel. Ich habe ihn sofort wiedererkannt.«

 

Kein Mann opfert leicht seine genialen Gedanken – und auch Julius war doch nur ein Mensch.

 

»Nun«, sagte er etwas verletzt. »Der Doppelgänger ist sehr schlau, der könnte Onkel Artur leicht nachahmen!«

 

»Das ist doch Unsinn«, erwiderte Bobby böse. »Onkel Artur könnte er nicht nachmachen.«

 

»Da kennen Sie den Mann schlecht!« murmelte Superbus beleidigt.

 

Bobby dachte schnell nach. Er mußte mit Gordon allein sein.

 

»Ich möchte meinen Onkel einmal unter vier Augen sprechen. Es handelt sich um eine Familienangelegenheit. Es wäre ganz gut, wenn Sie uns einmal einen Augenblick allein ließen.«

 

Julius wußte nicht, was er tun sollte.

 

»Lassen Sie ihn aber bloß nicht entwischen«, warnte er. »Er ist so schlau und hinterlistig wie ein Affe. Sie sollten nur einmal hören, welchen Trick er uns in der vorigen Nacht gespielt hat!«

 

»Nein, ich lasse ihn nicht entwischen.« Bobby war auch bereit, das Versprechen zu geben, seinen Bruder zum Schafott zu führen.

 

Mr. Superbus zögerte aber immer noch. Diana war ausgegangen und hatte ihm Instruktionen erteilt, die er bis auf den Buchstaben genau auszuführen hatte. Und Julius war in solchen Dingen ein Kleinigkeitskrämer.

 

»Lassen Sie ihn auch ja nicht telefonieren!«

 

Bobby versprach auch das, und Julius ging langsam hinaus.

 

»Wenn er Ihnen Schwierigkeiten macht, bin ich in der Nähe«, sagte er in der Tür noch. »Also, Onkel Artur, machen Sie keine dummen Streiche!«

 

Bobby ging leise zur Tür und lauschte. Er wartete erst einige Sekunden, dann riß er sie plötzlich auf. Julius bückte sich nach seinen Schuhriemen. Ein mit wenig Phantasie begabter Mann hätte sicher vermutet, daß er gehorcht hatte.

 

»Haben Sie mich nötig?« fragte er, ohne im mindesten verblüfft zu sein.

 

»Nein«, sagte Bobby so eindringlich und nachdrücklich, daß Mr. Superbus ihn nicht mißverstehen konnte. Die Tür wurde wieder geschlossen.

 

»Aber Gordon, was in aller Welt –?«

 

Gordon hob verzweifelt die Arme.

 

»Bobby, ich bin in einer unglaublichen Lage«, stöhnte er ganz verzweifelt.

 

»Was ist denn geschehen? Was soll das alles bedeuten?« fragte Bobby verwirrt. »Warum hast du dich denn nicht früher mit mir in Verbindung gesetzt?«

 

Gordon machte eine abwehrende Handbewegung.

 

»Ich habe ja dauernd versucht, dich anzutelefonieren, aber ich konnte dich nicht bekommen. Und später hat mich dieser verfluchte Teufel bewacht, so daß ich den Apparat nicht mehr anrühren konnte. Bobby, ist es eigentlich ein Verbrechen, wenn man einen Amateurdetektiv totschlägt? Ich habe es vergessen –«

 

»Aber was ist denn eigentlich passiert?«

 

Gordon ging erst einige Minuten im Raum auf und ab, um sich zu sammeln. Er war so aufgeregt, daß er seine Stimme nicht beherrschte. Die Erleichterung, die ihm Bobbys Erscheinen brachte, hatte diese unvermeidliche Reaktion hervorgerufen. Aber allmählich wurde er ruhiger.

 

»Als ich damals zum Bahnhof ging, um – nun du weißt schon – sie zu treffen –«

 

»Heloise?«

 

Gordon seufzte schmerzlich auf. Er wollte überhaupt nichts mehr von Heloise hören. Schon die Erwähnung ihres Namens verursachte ihm Pein.

 

»Ich fand sie in einer schrecklichen Verfassung. Sie war außer sich vor Furcht und Entsetzen. Du kannst dir vielleicht meine Gefühle vorstellen, als sie mir mitteilte, daß ihr Mann draußen vor den Schaltern warte, um mich umzubringen. Sie wollte mich bestimmen, nach Ostende zu fahren und dort auf sie zu warten. Aber ich fuhr nicht ab, sondern ging zu dem Hotel zurück, um meinen Anzug wieder zu wechseln. Der Hausdiener, der meinen Koffer in dem Gepäckraum des Bahnhofs abgegeben hatte, war aber inzwischen abgelöst worden. Dann bin ich nach Hause gefahren – sie muß mir gefolgt sein.«

 

»Heloise?«

 

»Sprich, bitte, ihren Namen nicht mehr aus!«

 

»Dann ist sie also hier im Hause?« fragte Bobby entsetzt. »Ist sie etwa Tante Lizzie?«

 

»Ja, sie ist Tante Lizzie! O Bobby, konnte überhaupt etwas Schrecklicheres passieren? Was soll ich nun machen? Ich kann nicht einmal das Haus verlassen!«

 

»Aber warum denn nicht?«

 

Gordon war zu nervös, er vertrug dieses Kreuzverhör nicht mehr. Er hatte gehofft, daß Bobby, der doch großzügig war, die Situation sofort erfassen würde, ohne viel Fragen zu stellen.

 

»Das kann ich wirklich nicht verstehen. Du brauchst doch Diana nur zu erklären –«

 

Gordon lachte bitter auf.

 

»Ich habe dir ja noch nicht das Schlimmste erzählt. Diana fand mich hier und beschuldigte mich, daß ich der Doppelgänger sei. Ich war wie vom Donner gerührt. Die Idee war so grotesk, daß ich überhaupt nicht mehr antworten konnte. Denke dir, es käme plötzlich jemand auf der Straße auf dich zu und machte dir den Vorwurf, daß du ein Mörder seist. Was würdest du dann sagen? Ich habe nicht die Gabe, mich mit einem Witz über solche Dinge hinwegzusetzen. Ich wäre vielleicht noch aus dieser unglücklichen Lage herausgekommen, wenn nicht dieses verteufelte Frauenzimmer erschienen wäre und sich mir an den Hals geworfen hätte. In einer Beziehung war es ja gerechtfertigt, denn Diana bedrohte sie mit der Pistole. Das kann keine Frau ertragen. Was sollte ich nun machen – ich war in einem furchtbaren Dilemma! Ich stand vor der Alternative, entweder zuzugeben, ich sei der Doppelgänger, oder die Wahrheit zu gestehen. Und das wäre gleichbedeutend mit einem Geständnis gewesen, daß ich mich in eine gewöhnliche Affäre mit Heloise eingelassen habe.«

 

Dieser Grund schien Bobby sehr zu überzeugen.

 

»Wer hat sie denn Tante Lizzie genannt?«

 

»Diana! Dieses Mädchen bringt mich noch vollständig um den Verstand! Warum kam sie denn überhaupt aus Australien, um mir das Leben zu vergiften? Sie ist schrecklich, sie poussiert hier unter meinen Augen mit Dempsi herum! Und das ist erst ein Bursche! Außerdem behauptet sie, daß sie Witwe sei! Ich weiß nicht, wessen Witwe, aber manchmal kommt mir der Gedanke, daß sie tatsächlich meine Witwe ist. Und dann sagt sie Dinge über mich, die allein schon genügten, mich vor Ärger ins Grab zu bringen!«

 

Bobby war ernst und nachdenklich. Eine so unglaubliche Situation war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen.

 

»Es ist verflucht unangenehm, mein Freund.«

 

Gordon hatte etwas ganz anderes von seinem Bruder erwartet als ein »verflucht unangenehm«. Er war sehr enttäuscht.

 

»Du mußt mir helfen, daß ich hier herauskomme«, sagte er ungeduldig. »Und vor allen Dingen müssen wir Dempsi hinauswerfen. Der Kerl wollte heute nachmittag Diana heiraten! Er sagte, daß er eine Kirche wisse, in der besonders am Sonntagnachmittag Trauungen abgehalten werden. Der Geistliche war schon zweimal da! Dempsi, dieser Zigeuner, hat einen besonderen Erlaubnisschein in der Tasche. Ich werde noch zu einer Wahnsinnstat hingerissen! Wenn das so weitergeht, schieße ich die beiden über den Haufen!«

 

Bobby sah ihn neugierig an. Gordons Hauptärger schien sich gegen Dempsi zu richten, der das Verbrechen begangen hatte, Diana heiraten zu wollen, was Bobby als ein ganz begreiflicher Ehrgeiz erschien.

 

»Ich würde sie nicht erschießen!« sagte Bobby langsam. »Du würdest dich für dein ganzes Leben damit ruinieren! Nebenbei bemerkt, geht dich das doch gar nichts an. Sie sind doch von früher her alte Freunde, obendrein waren sie ein Liebespaar –«

 

»Willst du mich auch noch verrückt machen?« brüllte Gordon. »Ein Liebespaar! Das sind sie niemals gewesen! Am allerwenigsten hätte ich von Diana erwartet, daß sie sich so beträgt, daß sie ihn obendrein noch ermutigt! Ich kann es gar nicht anders nennen – Diana, die ich für eine Seele von Zurückhaltung hielt.«

 

Bobby interessierte sich nicht sehr für Dianas Seele.

 

»Das muß ja ein Schrecken für dich gewesen sein. Was sagt denn nun eigentlich Tante Lizzie zu der ganzen Sache?«

 

Gordon war so erbittert, daß er nicht mehr ruhig und höflich sprechen konnte.

 

»Kommt es überhaupt darauf an, was die sagt? Bobby, weißt du, was Diana zu tun versuchte? Sie wollte uns dasselbe kleine Schlafzimmer geben, irgendeine Dienstbotenkammer unter dem Dach! Sie behauptet, Heloise sei meine Komplicin … das ist gar nicht zum Lachen!«

 

Bobby krümmte sich in seinem Stuhl.

 

»Diana behandelt mich wie einen Hund!«

 

Bobby betrachtete seinen Bruder kritisch.

 

»Na, du siehst auch ein bißchen wie ein Hund aus – in diesem Aufzug! Wo hast du denn den Anzug her? Deswegen hättest du allein fünf Jahre Zuchthaus verdient!«

 

»Bobby, du mußt mir jetzt helfen. Ich muß hier aus dem Hause fort. Ich kann dann ins Hotel gehen und meinen Koffer wieder holen, oder ich kann auch nach Schottland reisen, dann bin ich gerettet. Aber ich habe kein Geld. Sie hat mir mit erhobener Pistole all meine Sachen abgenommen, die ich in den Taschen hatte. Sie ist die energischste Frau, die ich jemals getroffen habe. Sie behauptete, ich wolle den Geldschrank berauben, und durchsuchte mich nach Nachschlüsseln!«

 

Bobby nahm seine Brieftasche heraus. Die Reise nach Ostende hatte fast sein ganzes bares Geld verzehrt – und heute war Sonntag.

 

»Ich fürchte, daß ich nicht genügend Geld bei mir habe. Ich könnte zwar einen Scheck für zehn Pfund in meinem Klub unterbringen –«

 

»Eine solche Summe hilft mir nicht«, unterbrach ihn Gordon. »Aber du kannst mir einen ganz einfachen Dienst erweisen, der mich aus dieser fürchterlichen Zwangslage befreit. Wenn Diana kommt –«

 

Bobby dachte auch, es ließe sich dann alles leicht aufklären.

 

»Gewiß, wenn sie kommt, werde ich ihr natürlich sagen, daß du der richtige Gordon Selsbury bist.«

 

Gordon sprang erregt auf.

 

»Willst du mich denn vollständig ruinieren?« rief er wild. »Du willst ihr obendrein noch sagen, daß ich der richtige Gordon Selsbury bin? Das habe ich ihr doch selbst schon oft genug gesagt. Aber schließlich habe ich es aufgegeben, als ich an Heloise dachte. Wie soll ich ihr denn das erklären?«

 

Das war der Kernpunkt der ganzen Frage und die große Schwierigkeit. Auch Bobby wußte hier keinen Rat. Alles, was ihm einfiel, war so wenig brauchbar, daß er es sofort ohne nähere Prüfung wieder verwarf.

 

»Ich hatte nicht mehr an Tante Lizzie gedacht«, sagte er.

 

»Siehst du nicht, daß es unmöglich geht? Aber ich kann einen viel besseren Vorschlag machen als du. Ich kann entkommen, wenn dieser alte herumschnüffelnde Esel nicht auf dem Posten ist, und das ist ja oft genug der Fall. Diana muß morgen sehr früh zu ihrer Bank gehen. Das ist die günstigste Gelegenheit für mich, aber ich muß etwas Geld haben. Ich brauche es, bevor die Banken aufgemacht werden, also kannst du mir wahrscheinlich nicht dabei helfen. Aber du kannst folgendes für mich tun: Überrede Diana, dir den Schlüssel zu dem Geldschrank zu übergeben. Sie hat außer der Buchstabeneinstellung auch das andere Schloß gesichert. Nimm den Schlüssel und gib ihn mir bei der ersten besten Gelegenheit.«

 

Bobby sah ihn auf einmal scharf an – Bobby pfiff.

 

»Den Schlüssel zum Geldschrank? Donnerwetter!« Seine Augen traten hervor, und er biß sich auf die Lippen.

 

»Was hast du denn?« fragte Gordon und wurde plötzlich ganz mutlos.

 

»Sie Halunke!«

 

Gordon wich zurück, als ob er einen Schlag bekommen hätte.

 

»Was meinst du?« fragte er atemlos. Aber die Bedeutung von Bobbys Worten und Blicken war nicht mißzuverstehen.

 

Bobbys Haltung änderte sich jetzt vollkommen. Die Freundlichkeit verschwand aus seiner Stimme und das Mitgefühl aus seinen Zügen. Seine Augen sprühten nur noch Verachtung und Vernichtung.

 

»Sie sind der Doppelgänger!« rief er. »Daß ich mich so täuschen lassen konnte! Sie sind geschickt, mein Lieber, verteufelt geschickt! Carslake erzählte mir von Ihrer Schlauheit, und ich Narr glaubte, er übertriebe! Sie sind der Doppelgänger! Mein Bruder trug einen Backenbart! Wo haben Sie denn den gelassen? Ihr Aussehen erschien mir gleich etwas sonderbar, als ich Sie sah. Und wenn ich es jetzt bedenke – diese verrückte Geschichte von Tante Lizzie würden Sie auch erzählt haben, wenn Sie entdeckt worden wären! Bravo, kleine Diana!«

 

Gordon wurde purpurrot und gestikulierte wild.

 

»Ich schwöre dir –«

 

Bobby schüttelte den Kopf.

 

»Ist gar nicht notwendig, mein Freund. Ich durchschaue den ganzen Plan. Natürlich! Sie und ihre Komplicin holten meinen unglücklichen Bruder aus, der nach Paris oder sonstwohin gefahren ist, wo man ihn nicht erreichen kann. Sie brachten heraus, daß ich von der Ostender Reise wußte, und änderten Ihre Pläne. Gordon ging nach Paris – wie ich fürchte –«

 

»Allein?«

 

Gordon übte sich in Selbstbeherrschung. Allein? Das war eine schwierige Frage für Bobby.

 

»Daran dachte ich nicht. Aber es ist kein Grund, warum Ihre originelle Geschichte nicht wahr sein sollte. Der Ehemann erscheint, die Dame bittet ihr Opfer zu fahren, sie will nachkommen. So ist es!«

 

»Ich sage dir –«

 

»Nein, nein, mein Lieber, das nützt alles nichts. Meine Kusine, Miss Ford, die Sie so geschickt gefangen hat, muß einen ganz speziellen Grund haben, Sie nicht der Polizei zu übergeben. Wäre ich an ihrer Stelle gewesen, so hätte ich das zweifellos sofort getan. Aber sie hat sicher die richtige Maßnahme ergriffen, und ich will sie nicht in ihren Plänen stören. Den Schlüssel zum Geldschrank, teurer Freund? Beinahe wäre ich doch in Ihre Falle gegangen, auf mein Wort. Gehen Sie jetzt wieder an Ihre Pflicht, und danken Sie den Göttern, daß Sie noch nicht im Gefängnis sitzen!«

 

Gordon machte sich an die Arbeit. Aber erst wischte er sich mit dem nicht ganz sauberen Staubtuch den Schweiß von der Stirn. Das Resultat war erschreckend.

 

»Bobby!« stöhnte er.

 

Sein Bruder wandte sich um.

 

»Soll ich Ihnen vielleicht einen kleinen Antrieb geben?«

 

Gordon wünschte das offenbar nicht, denn er begann gleichgültig die Lehne eines Stuhles abzustauben.

 

Bobby öffnete die Tür und fand Mr. Superbus auf der obersten Treppenstufe sitzen. Er manikürte sich mit einem Taschenmesser.

 

»Hat er Ihnen Schwierigkeiten gemacht?« fragte er eifrig und schien sichtlich enttäuscht, als Bobby den Kopf schüttelte.

 

»Nicht die geringsten.« Er ging in das Zimmer zurück.

 

»Gehe jetzt fort, Onkel Artur!«

 

»Versuchte er zu entwischen?« fragte der interessierte Wächter.

 

Bobby lachte wieder, und Gordon hätte gern gewußt, wo Diana ihre kleine Pistole verwahrte.

 

»Ob er zu entwischen versuchte? Ich darf wohl sagen, daß er das tat! Sehen Sie nach ihm, Mr. Superbus. Ihren fähigen Händen ist ein besonders schlauer und geschickter Mann anvertraut.«

 

Mr. Superbus schüttelte besorgt den Kopf und bemerkte vorwurfsvoll:

 

»Sie sind ein nichtsnutziger alter Onkel Artur, jawohl, ich bin sehr verwundert über Sie.«

 

Gordon sammelte seine Staubtücher und Wedel und schwankte aus dem Zimmer. Er hatte keine Hoffnung mehr.

 

»Ja, ich bin ein nichtsnutziger, alter Onkel«, stöhnte er. »Ein nichtsnutziger, alter Onkel!«

 

Kapitel 22

 

22

 

»Bobby!«

 

Diana kam mit ausgestreckten Händen auf ihn zu. Hinter ihr sah er einen Fremden in der Diele.

 

»Hallo, meine Liebe! Ich komme hoffentlich gelegen?«

 

Mr. Dempsi wurde jetzt sichtbar. Sein schwarzer Sombrero gab ihm ein düsteres Aussehen. Seine Stimme klang leidenschaftlich, und seine Haltung war drohend.

 

»Meine Liebe?« fragte er. »Wer nennt dich hier ›Meine Liebe‹? Was bedeutet dir dieser Mann, Diana?«

 

»Mein lieber Dempsi«, sagte sie müde, »dieser Herr –« Aber er warf wütend seinen Hut auf den Boden und schleuderte seinen Mantel in weitem Bogen von sich fort. Bobby erwartete, einen Gürtel mit Messern und Pistolen zu sehen – aber es kam nur eine getüpfelte Weste zum Vorschein.

 

»Das werde ich nicht dulden«, rief er stürmisch. »Hören Sie, mein Herr? Sie nannten diese Dame ›Meine Liebe‹? Erklären Sie mir das!«

 

Diana ersparte Bobby die Mühe.

 

»Dies ist Mr. Selsbury, mein Vetter.« Sie sprach mit einer gefährlichen Ruhe. Anscheinend kannte Mr. Dempsi dieses Anzeichen.

 

»Ach, dein Vetter! Ich sehe es an der Ähnlichkeit! Dieselben schönen Augen, derselbe feste, aber freundliche Mund, die schlanke Gestalt, die reizenden Hände –«

 

Bobby war ärgerlich.

 

»Ich danke Ihnen sehr. Wenn Sie mit der Beschreibung meiner Gestalt und ihrer besonderen Vorzüge fertig sind, haben Sie vielleicht die Güte, mir zu sagen, wer Sie sind?« Dieser Mann war ihm nicht sympathisch, und er teilte sofort Gordons Abneigung gegen ihn.

 

»Das ist Mr. Dempsi«, sagte Diana. »Ich habe schon von ihm erzählt.«

 

Sie sah ihn so bittend an, daß Bobby nicht widerstehen konnte. Er gab sich also den Anschein, als ob er äußerst glücklich wäre, Mr. Dempsi kennenzulernen. Aber trotz größter Anstrengung mißglückte dieser Versuch doch vollständig.

 

»Würdest du nicht deinen Anzug wechseln, Wopsy – ich meine, oben auf deinem Zimmer?« fragte sie.

 

Dempsi küßte ihr die Hand.

 

»Mein angebeteter Liebling – ich gehe! Dein leisester Wunsch ist mir oberstes Gesetz! Mein Herr – Vetter Bobby – entschuldigen Sie mich.«

 

Bobby zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. Dempsi dachte, es wäre ihm schlecht.

 

Er stieg singend die Treppe hinauf. Er sang »Donna e mobile« glücklich und falsch, als ob seine Kehle gegen seine Freude an dem Wankelmut der Frauen rebellierte.

 

»Das klingt ja so, als ob man einer Katze auf den Schwanz tritt«, sagte Bobby ganz entsetzt. »Und das ist deine erste Liebe?«

 

Sie nickte.

 

»Herrgott, was kann der Kerl nur alles zusammenfaseln! Ich werde verrückt werden!«

 

»Er ist auf jeden Mann eifersüchtig, der mich anschaut! Er hat sich vollkommen verändert. Sechs Jahre sind aber auch eine lange Zeit. Ich dachte, er könne sich höchstens bessern, denn er war sehr jung. Aber er ist bedeutend schlimmer geworden. Er scheint in schlechte Gesellschaft geraten zu sein, er hat schreckliche Manieren angenommen. Im Ritz-Carlton-Hotel wollte er den Kellner umbringen, weil er ein hübscher Mensch war und Sinn für Humor hatte. Er lächelte, als ich einen kleinen Scherz machte. Aber Bobby – der Doppelgänger!« Sie sah, daß Bobby schon im Bilde war, und seufzte erleichtert auf. Bobby war ihr schon immer als ein starker und tapferer Mann erschienen.

 

»Ja, der ist auch hier«, sagte er.

 

»Hast du ihn gesehen? Gott sei Dank! Er sieht Gordon wirklich zum Verwechseln ähnlich. Wie er das fertiggebracht hat, ist mir ein Rätsel. Ich habe schon versucht, sein Geheimnis zu entdecken. Aber immerhin ist er sehr nützlich im Hause, schon das verrät ihn. Gordon lebte in den Wolken, für ihn gab es keine Wäscherechnungen und keine elektrischen Staubsauger. Aber dieser Doppelgänger kam mir gerade gelegen, daß ich ihn für Onkel Artur ausgeben konnte. Natürlich habe ich keinen solchen Onkel. Noch viel besser war es, daß er gleich eine Tante mitbrachte –«

 

»Das ist doch ein verwegener Schuft!« rief Bobby erbost. »Ich hätte mich doch beinahe von ihm täuschen lassen. Ich unterhielt mich zehn Minuten lang mit ihm über seine Sorgen. Er hat Gordon fabelhaft genau studiert, sowohl was sein äußeres Auftreten als auch seine innere Einstellung betrifft. Er macht gar keine Fehler. Er nannte mich gleich Bobby, sobald er mich sah.«

 

»Und mich Diana. Aber mich konnte er nicht einen Augenblick täuschen«, sagte sie und warf sich in den großen Lehnsessel Gordons. »Diesen Morgen habe ich ihn dabei erwischt, wie er sich in Gordons Ankleidezimmer schleichen wollte. Man muß ihn Tag und Nacht bewachen, und natürlich hat er immer einen triftigen Entschuldigungsgrund für alles, was er anstellt. Heute morgen sagte er, er müsse sich umziehen!«

 

Bobby dachte, daß der Wunsch, einen derartig auffallenden Anzug zu wechseln, sogar in diesem Falle verständlich wäre. Aber welche Kühnheit dieser Mann besaß! »Ein solcher Schuft! Ich wünschte, ich wäre nicht nach Ostende gereist!«

 

Jetzt fiel ihr erst ein, daß sie noch gar nicht gefragt hatte, warum er fortgefahren war. Aber das konnte sie später auch noch erfahren.

 

»Ich mußte alles sofort arrangieren«, sagte sie, als sie sich wieder an die aufregenden Szenen erinnerte, die sich am Sonnabend abgespielt hatten. »Glücklicherweise war mir die Telefonnummer von Mr. Superbus bekannt. Dann mußte ich eine Geschichte erfinden, nicht nur eine, ich mußte dauernd lügen. Am besten war es ja, daß ich sagte, Onkel Artur sei nicht ganz richtig im Kopf. Zum Glück mag er Dempsi gut leiden.«

 

»Wer?« fragte Bobby verwundert. »Doch nicht etwa Onkel Artur? Er sagte mir, daß er ihn von Grund seiner Seele aus haßte, aber das tat er natürlich in seiner Rolle als Gordon.«

 

»Nein, ich meine Superbus. Er hat gleich zu ihm gehalten – es war ganz merkwürdig, wie sich die beiden verstanden. Dempsi ist der Ansicht, daß sowohl Mr. Superbus als auch er Abkömmlinge von Julius Cäsar sind. Er ist den ganzen Morgen in der Bibliothek gewesen und hat nach ›Cäsars Leben‹ gesucht.«

 

»Wie hat sich denn eigentlich der Doppelgänger dazu gestellt, daß du ihn so behandelst? Was sagte er dazu, als du entdecktest, daß er ein Schwindler ist?«

 

»Das war das Überraschendste von allem. Er wurde so zahm wie ein Lamm. Ich habe noch niemals gesehen, daß sich ein Mann so schnell den Umständen anpaßte.«

 

»Und die Tante?«

 

Diana zuckte die Schultern.

 

»Die war allerdings ziemlich schwierig. Das ist ja auch erklärlich, da sie eine Frau ist. Jetzt ist sie aber ruhig geworden. Ich habe sie Tante Lizzie genannt, um einen Skandal zu vermeiden. Aber denke dir – die beiden sind nicht einmal verheiratet!«

 

Bobby bemühte sich krampfhaft, überrascht auszusehen.

 

»Sie sind nicht verheiratet?«

 

Diana schüttelte mißbilligend den Kopf.

 

»Ist das nicht schrecklich? Weder verheiratet noch verlobt! Nebenbei scheint sie ihn ziemlich unter dem Pantoffel zu haben. Sie tut das in der Art einer Frau, die nichts zu verlieren hat. Aber eins habe ich mir fest vorgenommen, ich habe es mir gestern abend überlegt, bevor ich zu Bett ging. Er muß sie heiraten, bevor er dieses Haus verläßt! Er hat sie doch hoffnungslos kompromittiert. Dieses Abenteuer soll wenigstens ein gutes Resultat haben!«

 

Bobby war nicht gerade sehr begeistert davon.

 

»Ich würde mich an deiner Stelle in solche Dinge nicht einmischen«, meinte er. Aber seine Worte machten keinen Eindruck auf sie.

 

Gordon Selsbury trat in diesem Augenblick unbemerkt ins Zimmer. Er hatte einen Staubbesen und eine Schaufel in der Hand und stand eine Weile unentschlossen da.

 

»Hast du eigentlich Nachricht von Gordon?«

 

Ihr Gesicht hellte sich plötzlich auf.

 

»Ich habe die liebenswürdigsten Telegramme von ihm bekommen. Er ist wirklich sehr aufmerksam. Fast von jeder Station aus hat er telegrafiert.«

 

Bobby hustete.

 

»Ich dachte mir, daß er es tun würde.«

 

Sie griff nach ihrer Handtasche und zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche.

 

»Hier ist das letzte, aus Crewe. Es kam erst heute morgen um zehn Uhr: ›Habe eine glänzende Reise. Hoffe, daß alles gutgeht. Gordon.‹«

 

Bobby richtete sich auf.

 

»Das ist doch wirklich zu schlimm! Ich meine, daß es so spät gebracht wurde – ich würde mich bei der Post beschweren.«

 

Gordon kam jetzt näher, und Diana sah ihn. Aber sie nahm ebensowenig Notiz von ihm wie von den Möbeln.

 

»Wenn er nur noch eine Woche länger ausbleiben würde«, seufzte sie.

 

Das war die günstige Gelegenheit, auf die Bobby gewartet hatte.

 

»Weißt du, Gordon ist kein schlechter Kerl. Zuerst hat man den Eindruck, daß er ein schrecklicher Strauchdieb ist. Seine Manieren sind ja geradezu auch nicht die besten, das gebe ich gern zu. Er ist etwas selbstgefällig, aber die Intellektuellen haben alle diesen Zug, obgleich ich niemals verstanden habe, warum.«

 

Sie schüttelte den Kopf. Anscheinend hatte sie selbst schon genügend Entschuldigungsgründe für Gordon gefunden, so daß es anscheinend unnötig war, ihn noch besonders in Schutz zu nehmen.

 

»Selbstgefällig? Viele Menschen sind das doch – glaubst du nicht? Ich würde ihn nicht selbstgefällig nennen, ich würde eher sagen, er ist zu sehr von sich überzeugt – das ist alles.«

 

Gordons Hände zitterten.

 

»Du hast wahrscheinlich recht«, sagte Bobby nachdenklich. »Gordon wurde als Kind sehr verwöhnt und hat immer seinen Willen bekommen. Infolgedessen ist er ein wenig hochnäsig geworden.«

 

»Und auch ein bißchen pharisäisch, nicht wahr? Ich möchte damit nichts Unfreundliches gegen ihn sagen, wirklich nicht. Aber wir können uns doch einmal ruhig über ihn aussprechen.«

 

Gordon erhob sich halb von seinen Knien. Seine Lippen zuckten, sein Gesicht war bleich.

 

»Ich bin ganz deiner Ansicht. Gordon hat seine Schwächen.« »Das sind die Fehler des Alters. Er gehört zu den Männern, die schon fünfundvierzig sind, wenn sie auf die Welt kommen. Aber Gott sei Dank machte er keine dummen Streiche!« fügte sie befriedigt hinzu.

 

»Sei nicht zu vertrauensselig«, warnte Bobby sie väterlich.

 

»Dieser Verräter!« sagte Gordon wild, aber doch so leise, daß es die anderen nicht verstanden.

 

»Auch die besten Männer machen Fehler«, fuhr Bobby fort. »Seine Unerfahrenheit ist ein großer Nachteil für ihn. Ich kann mir ganz gut vorstellen, daß eine Frau ihn um den Finger wickeln kann, wenn sie ihn richtig zu behandeln versteht.«

 

Diana hatte ihre eigene Anschauung darüber.

 

»Wenn ich mit ihm verheiratet wäre, würde ich ihm unter allen Umständen trauen«, sagte sie ernst. »Er ist wirklich ein durch und durch ehrenhafter Charakter. Was man auch immer von ihm sagen mag, man muß jedenfalls zugeben, daß er niemals Seitensprünge macht. Er würde nie gemein oder unehrenhaft handeln. Er würde sich auch nie in geheime Liebesabenteuer einlassen.«

 

Bobby fühlte sich unbehaglich. Er war von Natur aus offen und ehrlich und hatte gewisse Grundsätze, die er unter keinen Umständen verleugnen wollte, selbst wenn es sich darum handelte, Gordon in Schutz zu nehmen.

 

»N – ein, vielleicht würde er das nicht tun.«

 

Diana lächelte verächtlich.

 

»Vielleicht nicht! Du weißt ganz genau, Bobby, daß er es nicht tut! Gordon haßt alles Gemeine und Obskure. Kannst du dir etwa vorstellen, daß er ein heimliches Verhältnis mit einer Frau wie Tante Lizzie unterhalten würde? Das ist doch ganz absurd! Oder glaubst du, daß er mir fremde Frauen ins Haus bringen und nachher abstreiten würde, daß er sie überhaupt kennt, wenn er entdeckt wird? Das ist ganz ausgeschlossen!«

 

»Ich glaube nicht, daß es richtig ist, irgendeinem Mann absolut zu vertrauen«, sagte Bobby bestimmt. »Kein Mann ist ein solches Vertrauen wert.«

 

Sie lachte.

 

»Du bist ein zynischer Junggeselle!«

 

Gordon konnte nicht länger an sich halten.

 

»Das habe ich auch immer gesagt«, rief er entrüstet. »Ich kann mir keinen unmoralischeren Standpunkt denken –«

 

Unter Dianas vernichtendem Blick verstummte er sofort wieder.

 

»Sie wagen es, uns zu unterbrechen?« fragte sie.

 

»Ich – ich –«

 

Bobby schnitt ihm das Wort ab.

 

»Lieber Freund, lassen Sie sich gut von mir raten und versuchen Sie nicht, eine andere Rolle zu spielen als Ihnen zukommt.«

 

Gordon war wütend. Er warf Besen und Schaufel beiseite und sprang auf.

 

»Es ist mir alles gleich – ich werde jetzt die Wahrheit sagen«, rief er verbissen. »Trotz allem, was sich schon ereignet hat, ich bin Gordon Selsbury!«

 

Er schaute sich um: Superbus stand in der Tür und hatte ein gelbes Telegrammformular in der Hand. Es hatte keinen Zweck. Gordon kniete wieder nieder und griff nach dem Besen, er war vollkommen geschlagen.

 

»Ein Telegramm für Sie, Madam.«

 

Sie nahm es ihm aus der Hand und öffnete es.

 

»Siehst du, Bobby, er denkt an mich! ›Aberdeen. Hatte eine sehr gute Reise. Freue mich schon auf meine Rückkehr. Gordon.‹«

 

Bobby wand sich.

 

»Ein schrecklicher Kerl!«

 

Sie sah ihn stirnrunzelnd an.

 

»Eine schreckliche Reise – meinte ich natürlich«, verbesserte sich Bobby.

 

Sie nickte langsam und nachdenklich.

 

»Ich beginne eigentlich, Gordon jetzt ganz anders zu betrachten.«

 

Der Mann mit Besen und Schaufel hielt plötzlich in der Arbeit inne und hörte gespannt zu. Einen Augenblick lang erinnerte sich Diana an seine Gegenwart.

 

»Nun, worauf warten Sie denn?« fragte sie kühl.

 

»Auf nichts – auf nichts«, erwiderte Gordon verzweifelt und bückte sich wieder.

 

»Wo ist denn Ihre Komplicin?« fragte Diana.

 

Gordon wandte sich um.

 

»Sie liest ein Buch: ›Wie kann man glücklich und doch verheiratet sein?‹« sagte er zynisch. An diesem Mann war wirklich Hopfen und Malz verloren.

 

»Was willst du denn aber mit diesem verrückten Dempsi anfangen?« fragte Bobby. Er beugte sich vor und sprach leise.

 

»Ich weiß es auch noch nicht. Diesmal kann ich nicht wieder darauf rechnen, daß er in den Busch läuft. Nun –?«

 

Mr. Superbus war wieder in der Tür erschienen. Sie konnte es nicht leiden, daß er immer die Hand aufs Herz legte, bevor er sich verneigte.

 

»Der Geistliche ist wieder gekommen«, flüsterte er heiser, »es ist der Vikar von Banhurst.«

 

Mr. Superbus hatte eine große Ehrfurcht vor Vertretern der Kirche, und der Vikar von Banhurst war für ihn eine Respektsperson hohen Ranges. Aber Diana sah in ihm nur den Mann, der sie verheiraten und ihrer Freiheit berauben wollte. Sie war sehr bestürzt über sein Erscheinen.

 

»Sagen Sie ihm, daß ich krank bin, sagen Sie ihm – ich bin – ich bin sehr, sehr krank! Bitten Sie ihn, morgen wiederzukommen. Aber teilen Sie nur nicht Mr. Dempsi mit, daß er hier war!«

 

»Er sagte, für den Fall, daß Sie ihn anläuten wollten –«

 

Superbus versuchte, ihr eine Visitenkarte zu überreichen, aber sie machte eine abwehrende Handbewegung.

 

»Ich brauche seine Adresse nicht –«

 

Mr. Superbus machte eine feierliche Verbeugung und verließ das Zimmer.

 

»Bobby, was soll ich nur tun? Das war nun schon der dritte Besuch!«

 

»Wer ist es denn?«

 

»Der Geistliche! Natürlich hat Dempsi das veranlaßt! Er glaubt, daß wir in einigen Stunden verheiratet sein werden. Das sieht ihm so ganz ähnlich! Es ist ja so absurd, so vollkommen verrückt! Aber er war kaum zwei Minuten im Haus, als er mir schon sagte, daß er zum Pfarrer schicken wolle, um uns zu vereinen …«

 

Bobby suchte nach einer Lösung. »Hast du keinen Plan?«

 

Ob sie einen Plan hatte? Dachte sie nicht jede Sekunde daran, wie sie sich von diesem Alpdruck befreien könnte?

 

»Ich habe hundert Pläne, aber sie sind alle töricht und unausführbar. Ich wollte schon fortlaufen – das erschien mir bisher als die einzig vernünftige Idee.«

 

»Wohin willst du denn gehen?« fragte er.

 

»Nach Schottland – zu Gordon.«

 

Bobby sprang auf.

 

»Das darfst du nicht tun! Wozu du dich auch immer entschließen magst, das ist unmöglich! Erstens weiß niemand von uns, wo er ist, und zweitens … nein, das würde ich nicht tun!«

 

Sie zog die Augenbrauen hoch.

 

»Aber warum denn nicht? Ich könnte Gordon alles sagen, und ich bin fest überzeugt, daß er sehr lieb zu mir sein würde. Ich fühle, daß ich in dieser Krisis einen großen Halt an ihm hätte.«

 

»Aber wenn Dempsi dir nun folgt? Soweit ich die Sache übersehen kann, wird er das sicher tun! Wenn er herausbringt, daß du ihn getäuscht hast, wenn er dich bei Gordon findet?«

 

Sie lächelte, und ihre Augen strahlten.

 

»Das ist ein guter Gedanke. Gordon hat doch seine Jagdgewehre bei sich – pst, hier kommt er!«

 

Bobby hatte schon versprochen, die Nacht im Hause zu bleiben, denn Superbus war müde. Auch er war nur ein Mensch, wie er erklärte, und hatte nur ein Paar Augen, die jetzt dringend der Ruhe bedürften.

 

Bald darauf versammelten sich alle zum Abendessen. Heloise hatte es gekocht, und Dianas Respekt vor ihr wuchs. Dempsi war in der ausgelassensten Stimmung und wollte Wein, roten, köstlichen Wein, auf die Gesundheit seiner Braut trinken. Er verlangte, daß der Wein rot und rosig in geschliffenen Gläsern funkeln und den lachenden Sonnenschein der Weinberge widerspiegeln sollte. Seine Farbe sollte dem warmen, pulsenden Blut der Jugend entsprechen, das vor Lust und Liebe wallte.

 

Dies sagte er in so vielen wortreichen Phrasen, daß Bobby schließlich kurz und beleidigend wurde und ihm statt dessen Whisky-Soda anbot. Mr. Dempsis Gesichtsfarbe wurde dunkel. Diana vermittelte schnell und wollte ihn zum Schweigen bringen, aber ebensogut hätte sie versuchen können, das rollende Rad der Zeit aufzuhalten. Dempsi hatte sich aber von seinem Ärger sehr bald wieder erholt und sprach nun in den höchsten Tönen von seinem Glück. Er küßte Dianas Hand und erzählte ihr zum drittenmal die Geschichte seines Lebens.

 

»Der Teufel soll Sie holen!« brummte Bobby.

 

Mr. Dempsi brach in Tränen aus.

 

»Diana, der Kerl fällt mir wirklich derartig auf die Nerven, daß ich es nicht mehr aushalten kann!« sagte Bobby, als der begeisterte Liebhaber verschwunden war.

 

Diana lehnte sich erschöpft in ihren Stuhl zurück und fächelte sich mit ihrem Taschentuch.

 

»Es ist entsetzlich!« stöhnte sie. »Aber wir müssen eine Lösung finden!«

 

Mr. Dempsi hatte dank seiner temperamentvollen Veranlagung sein Gleichgewicht schon wiedergefunden, als er durch die Diele schritt. Julius Superbus machte sich gerade an dem Ofen im Studierzimmer zu schaffen, als er eintrat. Er ging auf ihn zu und legte seine Hand auf seine Schulter.

 

»Ah, mein Freund«, murmelte er.

 

Julius, dem nicht gleich eine passende Antwort einfiel, wollte sichergehen.

 

»Guten Abend«, sagte er nur und klopfte ihm auf den Kopf.

 

»Sie sind der einzige Freund, den ich in diesem Hause habe, die einzige verstehende Seele, der einzige ehrliche Charakter! Ich werde immer an Sie denken!«

 

Mr. Dempsi sprach dauernd so, als ob er erst kürzlich von einem Ferienaufenthalt im Himmel zurückgekommen wäre.

 

»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht sagen«, entgegnete Julius großzügig. »Es gibt auch noch andere große Menschen hier.«

 

»Ich sage es aber, ich Giuseppe Dempsi! Wer will mir dieses Recht verwehren?« fragte er wild.

 

Julius machte schleunigst einen Rückzug.

 

»Ich nicht, mein Herr, ganz gewiß nicht!« erwiderte er schnell. »Das ist das letzte, was ich tun würde.«

 

Giuseppe wurde wieder sehr liebenswürdig.

 

»Gleich, als ich Sie sah, sagte ich: ›Das ist ein Mann mit einer glänzenden Phantasie, ein tapferer, begabter Mann mit großem Verstand! Superbus hat ein Herz, er hat Mitgefühl, er ist ein Mann von Welt, ein kühner Verteidiger des Rechts, ein Vertreter des Gesetzes!‹«

 

Mr. Superbus wurde es ganz unheimlich zumute. Er fürchtete wie alle Amateurdetektive, daß seine Stellung falsch aufgefaßt werden könne. Er räusperte sich.

 

»Ich bin nicht direkt ein Vertreter des Gesetzes, mein Herr. In gewisser Weise stimmt das wohl, aber in anderer Beziehung bin ich es auch wieder nicht, obwohl ich diese Bezeichnung mit allem Recht führen durfte, als ich ein Gerichtsvollzieher in der Provinz war.«

 

Dempsi lächelte.

 

»Aber jetzt sind Sie ein großer Detektiv, ein Schüler des unsterblichen Sherlock Holmes – was für ein Mann, welch ein Genie! Ja, das sind Sie, Sie haben es mir ja selbst gesagt!«

 

Julius beeilte sich, einen falschen Eindruck, den er hervorgerufen hatte, richtigzustellen.

 

»Ich bin ein Privatdetektiv, mein Herr, Privat! Ich habe es Ihnen doch erklärt, ich kam hierher, um –«

 

Aber Dempsi erlaubte keinem anderen zu reden.

 

»Um einen gemeinen Schuft zu bewachen«, fuhr er begeistert fort. »Daß solch ein Mensch überhaupt frei umherlaufen darf! Der Doppelgänger! Schon sein Name ist schlimm. Sie sind erstaunt, daß auch ich von diesem Menschen gehört habe, der die heiligsten Gesetze verletzt? Sie, der kluge Detektiv, sind verwirrt und bestürzt, daß ich etwas von diesem teuflischen Briganten weiß? Superbus, ich bitte Sie um einen Gefallen. Wenn Sie ihn entdeckt haben, dann lassen Sie mich rufen!«

 

Es lag ein eigenartiger Glanz in seinen Augen. Seine halbgeschlossenen Hände schienen von dem Blut seines Opfers zu triefen. Mr. Superbus war ganz in seinem Bann.

 

»Senden Sie nach mir, lassen Sie mich rufen – seit Jahren habe ich keinen Menschen getötet, aber davon will ich jetzt nicht sprechen. Seine Frau und seine Familie tun mir ja leid, denn ich habe ein weiches Herz.« Bewundernd sah er auf Julius. »Sie sind also ein Detektiv! Sie gehören zu dieser großen, schweigenden Armee von Wächtern, die immer ihre Pflicht erfüllen, die zwischen diesen friedlichen Bürgern wie etwa Giuseppe Dempsi und den Geiern und Vampiren stehen, die bereit sind, die menschliche Gesellschaft auszusaugen!«

 

Dempsi streckte seine Hand aus. Mr. Superbus senkte seine Blicke plötzlich und schüttelte Dempsis Rechte. Er fühlte, daß zum erstenmal der Wert seiner Persönlichkeit richtig erkannt wurde. Dempsi war ein Mann von Welt, dessen Lobeserhebungen wirklich etwas bedeuteten. Julius merkte sich seine Worte ganz genau, um sie bei Gelegenheit wiederholen zu können.

 

»Ja, es ist eine große Aufgabe«, versicherte er. »Die meisten Menschen würden das nicht verstehen.«

 

»Sicher nicht«, rief Dempsi zornig.

 

Mr. Superbus sollte in dieser Nacht auf einem Feldbett schlafen, das im Studierzimmer aufgestellt wurde. Es war Dianas Idee. Und er betrachtete sie mit berechtigtem Mißtrauen.

 

»Ein gutes Gewissen ist etwas Schönes!« meinte Dempsi!

 

»Eine gute Verdauung ist aber auch etwas wert«, erwiderte Mr. Superbus. »Ich bin sehr vorsichtig beim Essen.«

 

»Sagen Sie mir«, fragte Dempsi vertraulich, »haben Sie ihr schon lange gedient – meiner Königin?«

 

Mr. Superbus dachte schnell nach.

 

»Ich dachte, Sie hätten einen König in Italien?«

 

Dempsi lachte laut auf.

 

»O nein, Sie haben mich mißverstanden – ich meinte die Königin meines Herzens, die ich verehre – meine Diana! Ich bin eifersüchtig darauf, daß Sie das Vorrecht haben, ihr zu dienen!«

 

»Ach so, Sie meinen Miss Ford! Ach nein, die habe ich erst kürzlich kennengelernt.«

 

»Ich werde mich jetzt zur Ruhe legen. Diese Nacht wird meine Tür nicht verschlossen sein. Wenn der Doppelgänger kommt, lassen Sie es mich doch wissen?«

 

Es war nicht nötig, Julius dazu aufzufordern. Solange er noch bei Bewußtsein war und schreien konnte, würde das ganze Haus erfahren, daß der Verbrecher eingedrungen war.

 

»Ja, gewiß, aber ich werde schon allein mit ihm fertig.«

 

Dempsi sah seinen Freund nachdenklich an.

 

»Ich möchte doch den Augenblick wissen, in dem der Feuerkampf beginnt. Beim ersten Schuß werde ich an Ihrer Seite sein!«

 

Julius erblaßte. In Augenblicken großer Erregung wurden alle Römer weiß. Cesare Borgia hatte auch diese Eigenschaft besessen, ebenso Nero, der Rom in Asche gelegt hatte.

 

»Meinen Sie, daß es zu einer Schießerei kommt?« fragte Superbus schwach.

 

Dempsi nickte.

 

»Ein solcher Verbrecher trägt natürlich Waffen bei sich. Aber erinnern Sie sich stets daran, und lassen Sie sich von diesem Gedanken trösten: Wenn Sie fallen, werde ich bereit sein, Ihren Platz einzunehmen.«

 

Julius beugte sich vor.

 

»Wenn ich – wenn ich falle?« sagte er unsicher. »Aber ich werde doch nicht fallen, wenn ich immer auf dem Teppich gehe. Das Parkett ist allerdings sehr glatt.«

 

»Sie werden dann aufschauen und mich sehen« – Dempsi machte es augenscheinlich große Freude, die Szene noch weiter auszumalen. »Ich bin vielleicht das Letzte, was Sie in diesem Erdenleben sehen. Ich werde über Ihnen stehen, während Sie auf die Erde niedergestreckt sind, getroffen von einem Dutzend von Geschossen. Dann werde ich für Sie eintreten und mich Ihrem Mörder entgegenwerfen!«

 

Julius schloß die Augen, und seine Lippen bewegten sich.

 

Aber er war nicht in ein Gebet versunken.

 

Kapitel 16

 

16

 

Diana fühlte sich unsäglich erschöpft. Im allgemeinen war sie unermüdlich, aber die vielen Anforderungen, die augenblicklich an ihre Energie und Nervenkraft gestellt wurden, überstiegen doch ihre Kräfte.

 

Als Dempsi gegen Abend unruhig wurde, weil er Hunger hatte, fiel es ihr ein, daß sie ganz vergessen hatte, sich um das Abendessen zu kümmern. Obendrein kam noch ein Mann, der ärmlich gekleidet war und nicht sehr sauber aussah. Sein hageres, gelbes Gesicht war unrasiert, und er hielt den Kopf etwas schief. Bei dem Anblick Dianas wich er sichtlich zurück.

 

»Guten Abend, Miss«, sagte er und langte an seine Mütze. »Ich bin wegen des Geldes gekommen.«

 

»Wegen des Geldes?« fragte sie überrascht.

 

»Ich will mir mein Geld holen – ich habe gestern die Fenster geputzt.

 

Nun erinnerte sie sich an ihn. Eleanor hatte sich gestern über ihn beschwert, daß er im Studierzimmer überall herumspionierte, und hatte Zweifel an seiner Ehrlichkeit geäußert.

 

»Ich heiße Stark«, sagte er ermutigend.

 

»Ja, ich kann mich jetzt besinnen.« Sie ging, um ihre Handtasche zu holen. Als sie wieder zurückkam, betrachtete er das Türschloß mit mehr als gewöhnlichem Interesse. Um seine Neugierde zu entschuldigen, sagte er, daß er früher Schlosser gewesen sei.

 

»Mr. Selsbury ist nicht zu Hause?«

 

»Nein.«

 

»Und Mr. Trenter ist auch nicht da?«

 

»Nein.«

 

Seine Augen glänzten.

 

»Wird Mr. Selsbury lange fortbleiben? Ich wollte wegen einer Anstellung mit ihm sprechen.«

 

»Ich weiß nicht, wann er wieder zurückkommt. Aber es sind verschiedene Männer hier im Hause – wollen Sie einige von ihnen sehen?«

 

Er machte ein langes Gesicht.

 

»Nein, ich danke Ihnen, Miss.«

 

Sie schloß die Tür hinter ihm zu und war neugierig, wann der Detektiv endlich kommen würde. Es lag doch noch eine ziemliche Geldsumme im Schrank, und Leute, die nichts von ihrer Verpflichtung gegenüber Dempsi wußten, konnten denken, daß noch mehr da sei.

 

Dempsi war nicht im Studierzimmer, als sie jetzt hereinkam. Schnell ging sie zu dem Geldschrank. Es war eines dieser altmodischen Exemplare, die außer der Vorrichtung zur Buchstabeneinteilung noch ein besonderes Schloß hatten. Gordon hatte ihr gesagt, daß er den Schlüssel dazu überhaupt nicht mehr benützte. Er hatte ihn einmal verlegt und einen Schlosser rufen lassen müssen, um die Tür zu öffnen. Sie durchsuchte den ganzen Schreibtisch, zog alle Schubladen auf und fand schließlich auch einen kleinen Briefumschlag, auf dem obendrein noch »Schlüssel« stand.

 

»Gott sei Dank!« sagte sie. Schnell schloß sie den Geldschrank ab. Nun war er gegen alle gesichert, die durch List oder Anwendung von Gewalt vielleicht das Schlüsselwort erfahren hatten.

 

*

 

Mr. Julius Superbus kam gewichtig daher. Er stieg aus einem Auto, stellte sein ganzes Gepäck zunächst auf den Gehsteig und bezahlte den Chauffeur. Er gab ihm einen halben Schilling Trinkgeld, denn Diana hatte ihn angewiesen, »keine Ausgaben zu sparen«.

 

Dann nahm er seine Habseligkeiten unter die Arme, stieg die Treppe zur Haustür empor, beugte sich und drückte die Klingel mit seiner Nasenspitze. Das war eine Methode, die er sich selbst ausgedacht hatte und die seine Persönlichkeit gut illustrierte.

 

Diana öffnete die Tür persönlich.

 

»Sie haben mich gerufen – ich bin nun gekommen.«

 

Sie war offensichtlich sehr erleichtert, als sie ihn sah, und führte ihn ins Speisezimmer.

 

»Mr. Superbus, ich stelle große Anforderungen an Sie, aber ich bin sicher, daß ich mich nicht vergeblich an Sie wende. Ich bin in großer Bedrängnis.« Er neigte den Kopf.

 

»Haben Sie alle Taschen Ihrer Kleider durchsucht?« fragte er ruhig. »Sie haben etwas verloren. Ich weiß das sozusagen aus mir selbst heraus. Es ist natürlich das einfachste von der Welt, zunächst die Dienstboten zu verdächtigen. Aber haben sie es auch getan? Meistens sind die Leute unschuldig –«

 

»Ich habe nichts verloren, Mr. Superbus. Mein Onkel ist hier –«

 

Sie wußte nicht recht, wie sie ihm die ganze Sache beibringen konnte. Sollte sie sich ihm ganz anvertrauen? Das war eine kühne Idee, aber sie hatte vielleicht ihre Vorteile.

 

»Verwandte halten sich besser voneinander getrennt«, sagte der Römer mit Nachdruck. »Sie kommen nur, um Geld zu borgen, essen Sie vollständig arm, und wenn sie gehen, haben sie nicht einmal ein gutes Wort für Sie. Besonders die Onkels machen es so. Aber überlassen Sie ihn nur mir. Ich werde ihm schon von Mann zu Mann den Fall erklären. Er wird dieses Haus« – er sah auf die Uhr – »in fünf Minuten verlassen haben.«

 

Sie klärte ihn kurz auf: Ihr Onkel war hier ein willkommener Besuch. Er war ein liebenswürdiger Herr, sah Mr. Selsbury äußerlich sehr ähnlich, war noch jung, nur … sie zeigte mit dem Finger auf die Stirn. Mr. Superbus war sofort im Bilde.

 

»Ja, da kann man nur mit Takt etwas erreichen – mit Takt und mit Humor. Man muß ihm die Überzeugung beibringen, daß er alles nach seinem eigenen Kopf tut. Und dann natürlich: eiserne Hand im Sammethandschuh. Das ist ein Ausdruck, den ich selbst geprägt habe«, fügte er bescheiden hinzu. »Überlassen Sie den Mann nur mir. Sie hätten überhaupt keinen Besseren als mich finden können. Wir haben nämlich auch verschiedene Verrückte in unserer Familie.«

 

Diana trat einen Schritt zurück.

 

»Und seine gute Frau ist auch hier?«

 

»Ja, Tante Lizzie.«

 

»Das macht die Sache ein wenig peinlich«, entgegnete Mr. Superbus bedauernd. »Man kann ihn dann nicht gut beobachten, wenn er schläft, es sei denn, daß Tante Lizzie nichts dagegen hätte. Ich bin ja auch ein verheirateter Mann.«

 

»Das würde ihr sicher nicht passen. Ich glaube auch nicht, daß das notwendig ist. Es genügt, wenn Sie tagsüber auf ihn aufpassen. Vor allem darf er unter keinen Umständen das Haus verlassen.«

 

Mr. Superbus lächelte.

 

»Darüber brauchen Sie sich nicht die geringsten Sorgen zu machen, Madam.«

 

Diana gab ihm noch weitere Instruktionen. Dann eilte sie in das Studierzimmer, um den aufgeregten Dempsi zu beruhigen, dessen dringende Rufe sie schon zweimal gezwungen hatten, ihre Unterhaltung mit dem Detektiv zu unterbrechen.

 

Mr. Superbus ging in tiefen Gedanken zur Küche. Er konnte keine Ähnlichkeit zwischen Gordon Selsbury und ihrem Onkel entdecken. Aber er sah, daß Tante Lizzie sich anscheinend hier nicht wohl fühlte.

 

»Guten Tag«, sagte er. »Mein Name ist Smith.«

 

Gordon zeigte auf die Tür.

 

»Machen Sie, daß Sie hinauskommen, und schaffen Sie sich einen anderen Namen an!«

 

Mr. Superbus war belustigt.

 

»Ich dachte, ich wollte einmal herkommen und nach Ihnen sehen, Onkel Artur«, sagte er und machte eine Verbeugung vor der Dame. »Und auch nach Tante Lizzie.«

 

Seine Augen leuchteten vor Mitgefühl.

 

»Scheren Sie sich fort!« brüllte Gordon, rot vor Wut. »Gehen Sie zurück zu der Dame, die Sie angestellt hat, und sagen Sie ihr, daß ich ihr zehn Minuten Zeit lasse, mir meinen Schlüssel wiederzugeben und diesen verteufelten Dempsi aus dem Hause zu werfen!«

 

»Was hat denn das nun alles für einen Zweck?« fragte Heloise. »Wenn du irgendwelchen Spektakel machst, kommst du am Montag vor den Richter.«

 

»Das ist mir ganz gleich!« Gordon war an der Grenze seiner Geduld angekommen. »Das ist mir wirklich ganz gleich«, schrie er. »Ich bin hier Herr im Hause, ich kann tun, was ich will!«

 

»Und was bin ich denn eigentlich hier? Vielleicht eine Statistin? Habe ich hier nicht auch noch ein Wörtchen mitzusprechen? Um mich kümmerst du dich überhaupt nicht mehr! Nun ja, ich bin ja schließlich froh, daß du dich hier so benimmst. Es ist einfach großartig – verteufelt, daß ich mich von einem solchen weiblichen Seepolypen fangen ließ, aber ich werde schon wieder aus dieser Hundehütte herauskommen! Gordon, das einzige Vernünftige ist in diesem Augenblick, sich ruhig zu verhalten!«

 

Kapitel 17

 

17

 

»Das Leben ist wirklich herrlich«, sagte Mr. Dempsi und streckte seine Füße bequem zum Kamin aus. »Von den tiefsten Tiefen der Verzweiflung bis zu den höchsten Höhen der Erfüllung eines Herzenswunsches – welch ein Gegensatz!«

 

»Giuseppe –« begann Diana.

 

»Wopsy hast du mich früher genannt«, sagte er vorwurfsvoll.

 

»Also gut, Wopsy, ich habe dir erlaubt, hier zu wohnen, weil ich mich in aller Ruhe mit dir aussprechen wollte.«

 

»Das Schweigen ist so wundervoll.« Er sah sie mit melancholischen, müden Augen an. »Schweigen und Nachdenken und Frauen!«

 

Aber Diana hatte ihm etwas zu sagen. Sie hatte sich alles überlegt.

 

»Vor fünf Jahren hast du mich einmal um meine Hand gebeten. Ich lehnte deinen Antrag ab. Man sagt, daß junge Mädchen keinen Verstand haben. Die Tatsache, daß ich dich damals zurückwies, beweist allerdings das Gegenteil. Was ich vor Jahren fühlte, fühle ich auch heute noch. Mein Herz ruht im Grabe!«

 

»In meinem Grabe«, sagte er mit einem traurigen, aber selbstgefälligen Lächeln.

 

»Sei nicht verrückt, du lebst jetzt, das tut mir sehr leid, ich wollte sagen, es würde mir sehr leid tun, wenn es nicht so wäre. Ich habe ein einzigesmal in meinem Leben geliebt, Wopsy« – ihre Stimme zitterte, und sie glaubte Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen –, »aber er ging von hinnen.«

 

»Ist er dir fortgelaufen?« fragte er und richtete sich auf.

 

»Wenn ich sage, er ging von hinnen, so meine ich, er ging in das große Jenseits.«

 

»Er ist gestorben?« Dempsi zuckte die Schultern. »Das kann schließlich passieren. Ich liebte einmal ein Mädchen – o Diana, sie war die Perle aller Mädchen, groß, schlank und göttlich blond, entzückend anzusehen und lieblich in ihren Bewegungen. Auch sie ging von hinnen – in das große Jenseits.«

 

»Starb sie?« flüsterte Diana.

 

»Nein, sie ging zur Bühne – nach Amerika. Und so starb sie für mich. Ich habe die Erinnerung an sie aus meinem Herzen gerissen.«

 

Diana war vollständig ungerührt, aber sie war doch ein wenig entmutigt.

 

»Meine Liebe werde ich niemals vergessen«, sagte sie fast schluchzend. »Wopsy, siehst du denn nicht, wie unmöglich es ist hast du übrigens das Geld erhalten?«

 

»Das Geld? Hast du es mir geschickt? Aber Diana, wie töricht!«

 

»Ich schickte einen Scheck.«

 

Er sank in seinen Stuhl zurück.

 

»Nein, das ist doch wirklich zu töricht von meiner kleinen Diana – Geld!« Er lachte grausam. »Wie ihr Angelsachsen doch das Geld anbetet! Für Männer meines Temperaments bedeutet Geld nichts!« Er schnippte mit den Fingern. »Ich vergebe dir, daß du nicht mehr dem großen, hohen Ideal entsprichst, dem ich huldige, und daß du grausam die Erinnerung an frühere glückliche Zeiten zerstörst. Du warst ja noch ein Kind, man konnte nicht von dir erwarten, daß du in Liebe eines Mannes gedenkst, der für dich starb! Aber das gehört alles der Vergangenheit an. Wir aber gehören der Gegenwart – morgen, Montag, Dienstag, werden wir heiraten!«

 

»Was tun wir denn aber am Mittwoch? Verzeih mir, daß ich noch etwas weiter in die Zukunft blicke!«

 

Einen Augenblick war er bestürzt, und seine Verwirrung verriet sich deutlich in einem gezwungenen Lachen.

 

»Meine teure, kleine Diana, wie drollig du doch bist!«

 

»Nun höre einmal zu, Dempsi, oder Wopsy, du gehst morgen in dein Hotel zurück, und wir werden weder am Montag noch am Dienstag oder Mittwoch heiraten. Du möchtest wissen, warum? Weil ich dich eben nicht heiraten will!«

 

»Das ist Onkel Arturs Einfluß!« zischte er. »Dieser Teufel! Mein ganzes Leben bin ich durch Tanten und Onkels gehindert worden! Aber er soll sich vor mir verantworten, vor mir, Giuseppe Dempsi!«

 

Er stieß seinen Stuhl zurück und eilte zur Tür. Aber sie packte ihn verzweifelt am Arm.

 

»Laß mich gehen!« rief er leidenschaftlich.

 

»Wenn du dieses Zimmer verläßt, werde ich die Polizei anrufen.«

 

Er blieb stehen.

 

»Was – die Polizei willst du auf mich hetzen?«

 

Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und schluchzte hysterisch. Seine Schultern zuckten krampfhaft, aber Diana fühlte nicht das geringste Mitleid mit ihm.

 

»Der Abgott meiner Träume verrät mich! Ich will nicht weiterleben!«

 

Diana überließ ihn sich selbst, und nach drei Minuten lebte er immer noch.

 

»Mr. Dempsi, trocknen Sie Ihre Tränen!« sagte er pathetisch zu sich selbst.

 

»Du kannst heute noch hier wohnen. Dein Schlafzimmer liegt oben an der Treppe. Ich hoffe, daß du gut schlafen wirst. Wenn du irgend etwas nötig hast, kannst du ja klingeln. Aber es wird niemand kommen. Gute Nacht!« Er wandte sich bedrückt zur Tür.

 

»Das ist nicht mehr meine angebetete Diana!«

 

Seine Trauer hätte einen Stein erweichen können, aber Diana war hart wie Stahl – selbst eine Bombe wäre an ihr zerschmettert.

 

Als er in seinem Zimmer war, hörte er zu spät, daß der Schlüssel umgedreht wurde. Bevor er die Tür erreichen konnte, war das Schloß eingeschnappt.

 

»Wer ist das – wer hat die Tür verschlossen? öffnen Sie sofort!«

 

»Ich habe es getan«, sagte Diana draußen.

 

»Aber Diana, das ist doch unerhört!«

 

»Ich tue es zu deinem eigenen Schutz!« flüsterte sie durch das Schlüsselloch. »Onkel Artur kann dich nicht leiden!«

 

»Aber das ist doch gefährlich! Wenn Feuer ausbricht –«

 

»Dann benutzt du den Minimax! Er hängt im Kleiderschrank!«

 

Sie war müde, alle Glieder schmerzten sie, und sie fühlte sich schrecklich allein. Wie schön wäre es doch, wenn Gordon jetzt hier wäre, oder Eleanor, die sich in diesem Augenblick erregt mit Mrs. Magglesark über das merkwürdige Betragen von Damen im allgemeinen und australischen Damen im besonderen unterhielt.

 

Aber glücklicherweise war ja Mr. Superbus im Hause.

 

Schwache Klänge kamen aus der Küche, als sie die Treppe hinunterging. Mr. Superbus blies zart und – beinahe musikalisch auf einer Mundharmonika. Tante Lizzie saß vor dem Küchenfenster und hatte das Kinn in die Hand gestützt. Onkel Artur lehnte am Tisch und schaute den Musikanten düster an. Die Melodie endete plötzlich in einem Mißklang, als Diana die Tür öffnete.

 

»Na, haben Sie sich hier gut amüsiert?« fragte sie.

 

»Ich hatte nichts zu essen, außer Käse und Brot«, murrte Gordon. »Ihr kleiner Scherz geht doch etwas zu weit!«

 

Sie schaute ihn verstört an.

 

»Wir hatten ja auch kein Abendessen«, sagte sie enttäuscht, dachte aber doch mit einiger Genugtuung daran, daß Dempsi in diesem Augenblick in seinem verschlossenen Zimmer hungern mußte. »Ich hatte nicht einmal Brot und Käse – es ist jetzt Zeit, daß Sie zu Bett gehen!«

 

»Ich werde zur Ruhe gehen, wenn es mir paßt«, erwiderte Gordon gereizt.

 

Mr. Superbus schüttelte tadelnd den Kopf.

 

»Das ist unartig und nichtsnutzig«, schalt er. »Das ist nicht der liebe Onkel Artur. Und er war doch vorhin so ein lieber Junge, Madam. Er hat gesungen wie eine Lerche.«

 

Gordon wurde rot. »Ich habe nicht gesungen, Sie verrückter Esel!« protestierte er.

 

»Hat er es nicht getan, Tante Lizzie?«

 

Heloise zuckte gleichgültig die Schultern.

 

»Nun, wenn er nicht gesungen hat, so hat er doch wenigstens gesummt«, behauptete Mr. Superbus hartnäckig.

 

Sein Repertoire auf der Mundharmonika umfaßte auch den Gesang der Eton-Ruderer, und Gordon war ein alter Eton-Schüler. Ganz zweifellos hatte er mitgesummt, denn kein alter Eton-Mann kann dem Rhythmus dieser Melodie widerstehen.

 

»Jetzt geht es zu Bett«, sagte Diana kurz.

 

Der Schlüsselbund verlieh ihr beinahe das Aussehen eines Gefängniswärters.

 

»Das wird Ihnen noch bitter leid tun«, sagte Gordon sehr böse. »Ich kann tausend Leute beibringen, die meine Identität bezeugen können.«

 

»Und wie viele Zeugen werden die Identität von Tante Lizzie beschwören?« fragte Diana. Gordon sagte nichts mehr.

 

Sie schloß alle Türen vor seinen Augen, und seine Hoffnung, nachts zu entkommen, wurde immer geringer.

 

Aber Heloise schwieg nicht.

 

»Es ist doch nicht schwierig, meine Persönlichkeit festzustellen. Ich bin« Mrs. van Oynne und wohne Clarens Gate Gardens Nr. 71.«

 

»Sehr gut«, nickte Diana. »Es steht Ihnen frei, mit der Polizei zu telefonieren, um Ihre Persönlichkeit feststellen zu lassen. Ich werde den Beamten sagen, daß ich Sie irrtümlicherweise für die Frau des Doppelgängers gehalten habe – oder soll ich lieber Partnerin oder Gehilfin sagen? Die Polizei wird schon wissen, wie sie die Sache zu behandeln hat.«

 

Heloise stand auf.

 

»Mich mit Leuten herumzuärgern war mir stets unangenehm – ich gehe jetzt schlafen«, sagte sie.

 

Diana ging voraus, Gordon und Heloise kamen hinter ihr, und Superbus bildete die Nachhut. Er blies wieder eine nette Weise auf seinem Instrument. Gordon hätte ihn am liebsten gebeten, als angemessene Begleitung zu diesem feierlichen Marsch »Ases Tod« zu spielen. Er kam sich vor wie ein Missetäter, der zum Schafott geführt wird. Diana erschien ihm wie ein Henker und Folterknecht.

 

»Gute Nacht«, sagte er mechanisch und blieb an der Tür seines Zimmers stehen.

 

»O nein, nicht hier hinein!« Sie erklärte das so energisch, daß er ihr ohne weiteres in das obere Geschoß zu dem Zimmer folgte, das sie für das Ehepaar bestimmt hatte, das ihr beim großen Reinemachen helfen sollte. Heloise ging hinein – sie kannte den Raum ja schon.

 

»Gute Nacht«, sagte sie leise.

 

»Sie haben aber etwas vergessen«, meinte Diana.

 

»Wenn Sie glauben, ich küsse ihn, dann irren Sie sich, meine Dame«, gab Heloise kühl zurück und wollte die Tür zuschließen.

 

»Aber es ist doch Ihr Mann!«

 

Die Tür wurde zugeschlagen. Diana hörte, wie Heloise einen Stuhl heranzog, und vermutete, daß sie die Lehne unter die Klinke gestellt hatte. Gordons Kehle war trocken.

 

»Sie haben sich wohl gezankt?« fragte Diana. »Oder vielleicht sind Sie gar nicht …«

 

»Nein, ich bin nicht!«

 

Sein Magen knurrte laut. Er hatte nie vermutet, daß eine Reihe so häßlicher Töne aus ihm hervorkommen könnte.

 

»Dann muß ich also noch einen besonderen Raum für Sie suchen!« Sie legte den Schlüssel an ihre Lippen und überlegte.

 

»Kommen Sie mit!«

 

Am äußersten Ende des Ganges lag noch ein kleines Zimmer das Bett war noch nicht bezogen.

 

»Dort sind die Bettücher!« Diana zeigte auf einen Schrank. »Morgen werde ich auch Decken für Sie suchen. Immerhin ist das Bett viel komfortabler als die Pritsche in einer Polizeizelle!«

 

Sie schloß die Tür hinter ihm zu.

 

Das Fenster war offen, aber es gab keine Möglichkeit, dort zu entkommen. Die Wand fiel unter dem Fenster senkrecht acht Meter bis zum Boden des Hofes ab. Gordon entschied sich dafür, vorläufig zu Bett zu gehen.

 

Kapitel 18

 

18

 

Diana wachte plötzlich auf. Sie hörte nur entfernt das Schnarchen von Mr. Superbus, aber sie hatte das untrügliche Gefühl, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Sie stand auf, schlüpfte in ihren Morgenrock und schaute aus dem Fenster. Auf dem Gehsteig drüben stand eine Gestalt, ein ziemlich kleiner Mann mit runden Schultern. Sie konnte ihn deutlich in dem Licht der Straßenlaterne erkennen, die gerade ihrem Hause gegenüberstand. Sie ahnte sein Gesicht mehr als sie es erkannte, und allmählich wurde ihr klar, daß es Stark, der Fensterputzer, war.

 

Als er sie sah, trat er schnell zurück. Sie beugte sich weiter hinaus und entdeckte einen Polizisten, der langsam die Straße entlangkam. Er erreichte die gegenüberliegende Ecke und blieb stehen, ging ein paar Schritte nach Cheynel Gardens hinein und hielt dann wieder an. Es war früh am Morgen, und die Straßen lagen verlassen, so daß er es riskieren konnte, sich heimlich eine Pfeife anzustecken, was allerdings ganz gegen die Dienstvorschriften war. Die Gestalt, die sich drüben eng an die Mauer lehnte, regte sich nicht.

 

»Was wollen Sie?« fragte Diana plötzlich laut über die Straße hinüber.

 

Mr. Stark schaute hinauf.

 

»Nichts, Madam, ich kann nur nicht schlafen«, stotterte er.

 

»Gehen Sie einmal zu dem Polizisten, der wird schon Rat wissen!«

 

Er verschwand in der engen Straße, die an ihrer Hofmauer vorbeiführte, aber gleich darauf kam er wieder zurück und ging kühn nach der Hauptstraße zu.

 

Der Polizist trat auf ihn zu, und nach einer kurzen Unterhaltung zwischen den beiden entfernte sich Mr. Stark endgültig. Diana glaubte bemerkt zu haben, daß der Polizist seine Taschen abgetastet hatte.

 

Sie war nun ganz munter. Es war erst Viertel nach drei. Sie nahm den Schlüssel aus ihrer Handtasche, schloß ihr Zimmer auf und lauschte. Der wachsame Mr. Superbus meldete sich sofort.

 

»Ich bin’s, Mr. Superbus.« Diana war froh, daß er so auf dem Posten war. »Ich fürchte nur, Sie liegen auf dem Flur recht unbequem.«

 

»O nein, ich schlafe nur sehr selten. Napoleon schlief auch nur wenig, wenn wir den Berichten trauen dürfen. Wünschen Sie etwas?«

 

»Ich will in die Küche gehen und eine Tasse Tee machen«, sagte sie und stieg die Treppe hinunter. Sie war sehr hungrig. Sie kochte Tee, fand ein Paket Keks und rief Mr. Superbus leise, daß er kommen solle, um etwas zu essen.

 

»Vielleicht ist es gut, wenn wir etwas mehr Licht machen.« Sie drehte den elektrischen Schalter in der Diele an. »Kommen Sie nur herein, Mr. Superbus!«

 

Die Tür des Studierzimmers öffnete sich nicht, als sie die Klinke herunterdrückte. Sie runzelte die Stirn.

 

»Ich bin ganz sicher, daß ich diese Tür nicht verschlossen habe!« Sie nahm den Schlüssel von ihrem Bund und schloß auf. Aber die Tür war von innen verriegelt!

 

»Warten Sie hier, bis ich mich angezogen habe«, sagte sie.

 

Die Augen des Detektivs traten vor Erregung aus den Höhlen, und er verfärbte sich. Er war nicht im mindesten nervös und spürte keine Furcht, aber Gefahr ließ ihn immer erbleichen.

 

In unglaublich kurzer Zeit war Diana wieder unten, nahm den Pistolengürtel aus der Kommode in der Diele und schnallte ihn um.

 

Mr. Superbus sah die Pistole in ihrer Hand und fühlte sich jetzt sicherer.

 

Sie hörten ein leises Rascheln in dem Zimmer und ein schwaches Klicken, als ob die Lichter ausgedreht würden.

 

»Passen Sie auf die Hintertür auf«, sagte sie leise. »Wahrscheinlich will er über die Mauer klettern! Schlagen Sie ihn sofort nieder – möglicherweise ist er bewaffnet!«

 

Mr. Superbus bewegte sich nicht. Er stand wie angewurzelt an seinem Platz.

 

»War es nicht besser, wenn ich einen Polizisten hole?« fragte er hohl.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Tun Sie bitte das, was ich Ihnen gesagt habe – ich möchte die Polizei nicht im Hause haben.«

 

Mr. Superbus versuchte einen Fuß aufzuheben und stöhnte. Sein Rheumatismus war plötzlich wiedergekommen.

 

»Ich möchte Sie nicht gern hier allein lassen«, sagte er unsicher. »Es wäre direkt gemein und schurkenhaft, eine Dame im Augenblick der Gefahr sich selbst zu überlassen.«

 

Von der Diele aus führte nur eine Tür zum Studierzimmer. Man konnte es aber auch durch den kleinen Vorraum erreichen, in dem an den Wänden Gordons Bücherschränke standen.

 

»Bleiben Sie hier«, flüsterte sie und eilte den dunklen Korridor entlang.

 

Die Tür des kleinen Zimmers war nicht verschlossen. Es roch nach Büchern. Leise trat sie ein, die Pistole in der Hand. Auch die Tür nach dem Studierzimmer öffnete sich widerstandslos. Der große Raum lag im Dunkeln, nur durch die bunten Glasfenster fiel ein schwacher Schein herein.

 

»Hände hoch!« rief Diana plötzlich. »Ich sehe Sie!«

 

Der Lichtschalter befand sich an der anderen Seite des Zimmers, und sie tastete sich vorsichtig vorwärts. Sie war aber erst ein paar Schritte gegangen, als die Tür nach der Halle plötzlich aufgerissen wurde. Einen Augenblick sah sie in der Öffnung eine Gestalt, dann wurde die Tür zugeschmettert..

 

Superbus muß den Kerl ja fassen, dachte sie aufgeregt, als sie sofort hinterhereilte. Aber sie hörte nichts von einem Kampf, und als sie in die Diele trat, war sie vollständig leer.

 

»Mr. Superbus!«

 

»Hier, Madam!«

 

Er kam aus dem Studierzimmer hinter ihr her.

 

»Ich bin Ihnen gefolgt. Es war nicht recht, eine Dame allein zu lassen. Haben Sie ihn gesehen?«

 

»Aber warum haben Sie denn nicht das getan, was ich Ihnen sagte?« fragte sie vorwurfsvoll.

 

»Es war meine Pflicht, Ihnen zu folgen.« Julius war verdrießlich. »Es war sicherer so.«

 

Das stimmte auch.

 

Sie drehte alle Lampen im Studierzimmer an. Es schien sich nichts geändert zu haben, nur –

 

Sie hatte den Buchstabenanzeiger am Geldschrankschloß gestern auf X stehen lassen, und er stand jetzt auf A.

 

»Holen Sie den Tee aus der Küche«, sagte sie und setzte ihre Nachforschungen fort.

 

Mr. Superbus kehrte mit dem Tablett zurück.

 

»Was wir brauchen, sind Anhaltspunkte«, sagte er leise.

 

»Nun gut, dann suchen Sie welche.«

 

Er bückte sich und durchstöberte den ganzen Raum. Diana aß inzwischen Kekse, denn sie war außerordentlich hungrig.

 

»Es ist jemand hiergewesen«, er zeigte auf den großen Stuhl am Kamin. »Sehen Sie doch einmal das Kissen. Dort sieht man deutlich, daß jemand seinen Kopf dagegen lehnte.«

 

»Das habe ich gestern abend selbst getan«, erwiderte sie kurz und wenig höflich. »Sehen Sie ja nach, ob Sie auch Zigarrenasche finden, mein teurer Sherlock Holmes!«

 

Er sah sie argwöhnisch von der Seite an.

 

»Kommen Sie jetzt und essen Sie auch etwas«, sagte sie und stellte die Keksschachtel in seine Reichweite. »Ich möchte nur wissen, wie er aus seinem Zimmer gekommen ist.«

 

– »Wer denn?«

 

»Der Doppel – Onkel Artur«, verbesserte sie sich sofort.

 

Julius lächelte.

 

»Der ist nicht herausgekommen, denn ich habe meinen Posten nicht verlassen. Ich habe die Überzeugung, daß es ein Einbrecher war.«

 

»Aber wie ist er denn fortgekommen? Die vordere Haustür ist doch vollständig verschlossen und verriegelt. Er muß noch im Hause sein.«

 

»Sagen Sie das ja nicht«, bat Julius nervös. »Wenn er noch hier wäre, wüßte ich nicht, was ich täte. Ich werde ganz toll, wenn ich Einbrecher sehe. Deshalb hat mir auch der Doktor verordnet, daß ich mich nach Möglichkeit von ihnen fernhalten soll.«

 

»Er ist sicher noch im Haus – wahrscheinlich verbirgt er sich in der Küche. Essen Sie doch noch ein paar Kekse. Wenn ich fertig bin, werden wir uns einmal nach ihm umsehen.«

 

Julius hatte keinen Appetit mehr.

 

»Dies ist ein Fall für reguläre Polizisten«, sagte er ernst. »Sie werden doch dafür bezahlt, und die Regierung gibt ihren Witwen Pension. Nebenbei bemerkt, werden sie auch noch befördert, wenn, sie Einbrecher fassen. Ich lasse anderen Leuten gern etwas zukommen, wenn es in meinen Kräften steht. Soll ich nicht schnell nach draußen gehen und einen Polizisten rufen?«

 

»Bleiben Sie hier, ich werde allein gehen.«

 

Aber er lehnte es ab zu bleiben. Sein Platz war an ihrer Seite, wie er als treuer Beschützer behauptete. Aber er ging immer etwas hinter ihr her. Er war sehr beruhigt, daß sie gut mit der Pistole umgehen konnte. Sie schien doch eine tüchtige Frau zu sein.

 

Die Küche war leer.

 

»Ich hatte auch nicht erwartet, ihn hier zu finden«, sagte sie. »Nein, das war … Onkel Artur.«

 

Als sie wieder im Studierzimmer waren, entwickelte Mr. Superbus eine merkwürdige Theorie.

 

»In diesem Hause gibt es sicher unterirdische Gänge, ich habe schon welche gesehen. Man braucht nur eine Füllung in dem Holzpaneel zurückschieben, dann öffnet sich eine Treppe, die in ein unterirdisches Gewölbe führt. Man drückt auf eine Feder –«

 

»Nein, Mr. Superbus, in Cheynel Gardens Nr. 61 gibt es keine Federn, die man berührt, und keine Wandpaneele, ebensowenig unterirdische Gewölbe, mit Ausnahme des Kellers, in den die Kaminschächte münden. Gehen Sie nur hinunter und überzeugen Sie sich davon!«

 

Mr. Superbus erwiderte, daß ihm ihre Worte vollkommen genügten.

 

Es war jetzt Viertel nach vier. Julius steckte das Feuer an und ging langsam zur Küche hinunter, um Feuerholz zu suchen. Er kam aber sehr schnell wieder. Seine Zähne klapperten, und er sagte, es sei sehr kalt in der Küche.

 

»Aber in der Küche war doch nichts, wovor Sie Angst haben konnten?«

 

Er war belustigt.

 

»Wovor ich Angst haben könnte? Das möchte ich erst einmal sehen! Ich weiß überhaupt nicht, was Furcht ist! Alle in unserer Familie sind tapfer.«

 

Er war halb aufgesprungen. In der Diele waren Schritte zu hören.

 

»Sehen Sie nach!«

 

Sie griff nach der Pistole.

 

Mr. Superbus ging zögernd, machte aber einen großen Umweg. Sie beobachtete ihn, wie er langsam vorwärts schritt und vorsichtig um die Tür herumspähte, um einen Blick in die Diele zu werfen.

 

»Schießen Sie ja nicht«, sagte er dann zitternd. »Es ist die Tante!«

 

Kapitel 19

 

19

 

Heloise trat ein und sah mürrisch aus.

 

»Was gibt es denn?« fragte sie. »Ich hörte jemand die Treppe hinauf laufen.« Ihr Blick fiel auf die Keksschachtel, sie nahm eine Handvoll, setzte sich vor den Kamin und aß in aller Gemütsruhe. »Ich fühle mich in diesem Hause nicht recht wohl, ich wünschte, ich wäre daheim!«

 

Ihre ungewöhnliche Niedergeschlagenheit machte Eindruck auf Diana.

 

»Holen Sie noch eine Tasse und einen Teller, Mr. Superbus«, sagte sie. »Tante Lizzie möchte Tee trinken.«

 

Julius kniete vor dem Kamin und glich in dieser Stellung einem Priester irgendeiner geheimnisvollen Sekte von Feueranbetern. Er richtete sich mühsam auf und sah Diana ängstlich an.

 

»Sie können auch das nötige Geschirr aus dem Geschirrschrank am Ende des Ganges nehmen, dann brauchen Sie nicht in die Küche hinunterzugehen.«

 

Julius erhob sich erleichtert.

 

»Es wäre mir auch nicht darauf angekommen, das zu tun«, log er.

 

Heloise starrte in die Flammen. Es schienen fast Jahre vergangen zu sein, seitdem sie sich mit Gordon über Seelenharmonie unterhalten hatte. Diana beobachtete sie und bemerkte, daß sie eigentlich recht schön war. Sie bewunderte ihr gutgeformtes Gesicht, das Oval ihrer Wangen und ihre feingeschnittene Nase. Sie empfand ein leises Mitgefühl für diese Frau.

 

»In welchem Verhältnis stehen Sie eigentlich zu dem Doppelgänger?«

 

Heloise zuckte nur die Schultern.

 

»Sind Sie mit ihm verheiratet?«

 

Mrs. van Oynne war klug und hellhörig.

 

»Ich werde es Ihnen vielleicht später einmal erzählen«, sagte sie melancholisch. »Aber nicht jetzt – jetzt nicht!« Sie seufzte tief.

 

»Ich bin davon überzeugt, daß Sie dieses Leben nicht führen, weil es Ihnen Freude macht. Wahrscheinlich sind Sie nur dazu gezwungen«, fuhr Diana fort.

 

»Ja, Sie haben mich erkannt.« Heloise nickte langsam.

 

»Wenn ich etwas für Sie tun könnte –« begann Diana. Mr. Superbus kam mit Tasse und Teller an und unterbrach diese vertrauliche Unterhaltung jäh.

 

»Haben Sie gut geschlafen, Tante Lizzie?« fragte Julius, als er hörbar seinen Tee schlürfte.

 

»Nein, ich kann in fremden Betten nicht schlafen – außerdem habe ich große Sorge – und man findet keine Ruhe, wenn man von Sorgen gequält wird.«

 

»Nach meiner Theorie haben Sie aber doch geschlafen!«

 

Sie sah ihn über die Schulter an.

 

»Wie kommen Sie denn zu dieser Annahme? Glauben Sie, ich wüßte nicht, ob ich schlafe oder nicht? Sie armseliger – – Mr. Superbus.«

 

»Man kann niemals genau wissen, ob man schläft. Schlafwandeln Sie nicht ein wenig?« fragte er möglichst gleichgültig.

 

»Was meinen Sie?«

 

»Ich meine, ob Sie nicht im Schlaf umherwandeln? Ich hatte den Eindruck, daß ich Sie um ein Uhr gesehen hätte.«

 

Sie wandte ihr Gesicht ab und schaute wieder ins Feuer.

 

»Sie scheinen eine rege Phantasie zu haben. Wenn ich dächte, daß Sie mich um ein Uhr gesehen hätten, würde ich hier auf der Stelle sterben. Ich hatte mich ganz ausgezogen – sind Sie verheiratet?«

 

Julius nickte.

 

»Sie haben mich um ein Uhr nicht gesehen – ich würde mich sonst zu Tode schämen.«

 

Julius war verwirrt, aber er ließ sich doch nicht ganz entmutigen.

 

»Vielleicht war es auch drei Uhr. Ich habe jedenfalls jemand die Treppe herunterkommen sehen. Haha, Tante Lizzie! Ich habe Sie gesehen!« Er drohte ihr schelmisch mit dem Finger.

 

»Sie sind ganz verrückt«, sagte sie kurz, gähnte und stand auf. »Ich glaube, ich kann jetzt schlafen. Und ich werde einen Strumpf über das Schlüsselloch hängen«, wandte sie sich an Mr. Superbus, der über diese Verdächtigungen entrüstet war.

 

»Haben Sie Tante Lizzie wirklich gesehen?« fragte Diana, als Heloise gegangen war.

 

»Nein. Aber man kann auf diese Weise die Leute zum Geständnis bringen. Das ist ein amerikanischer Trick, ich habe ihn schon oft angewandt.«

 

»Glauben Sie, daß Tante Lizzie hier war?«

 

»Ganz bestimmt. Haben Sie nicht bemerkt, wie leise sie geht? Das ist ein schlechtes Zeichen –«

 

»Haben Sie nicht gemerkt, wie sie nach L’Origan duftet?« fragte Diana spöttisch.

 

»Das habe ich nicht gemerkt«, gab Mr. Superbus verwirrt zu.

 

»Ich wundere mich, daß Sie das nicht bemerkt haben. Diese schweren französischen Parfüms duften so stark, daß man sie direkt sehen kann. Aber es war kein Geruch nach L’Origan in dem Studierzimmer, als wir hereinkamen, wenigstens kein frischer.«

 

Sie ging zum Fenster und zog die Jalousie hoch, aber es war noch ganz dunkel. Sie fühlte sich vollständig frisch und wollte nicht mehr schlafen, aber sie wußte im Augenblick auch nicht, wie sie ihre Tatkraft am besten anwenden konnte.

 

»Nehmen Sie diesen Schlüssel, gehen Sie ins Zimmer von Onkel Artur, öffnen Sie die Tür leise und sehen Sie nach, ob er noch im Bett liegt. Und schließen Sie dann die Tür schnell wieder!«

 

Mr. Superbus liebte es nicht, zur Eile angetrieben zu werden. Er stieg langsam die Treppe hinauf und lauschte an der Tür. Er hörte nichts – das war befriedigend. Aber auf der anderen Seite erschienen ihm diese Stille und Ruhe verdächtig. Wahnsinnige Leute sind bekanntlich auf ihre Art sehr schlau und verschlagen. Er erinnerte sich an grauenhafte Geschichten von Irren, die leise umherschlichen, ihre Wärter von hinten anfielen und ihnen die Kehle mit Blechstücken durchschnitten, die sie heimlich geschärft hatten.

 

Julius Superbus atmete tief.

 

Wenn Onkel Artur schlief, würde er kein Geräusch machen. Und da kein Geräusch zu hören war, mußte er schlafen. Beruhigt ging Mr. Superbus wieder nach unten.

 

»Er schläft wie ein unschuldiges Kind«, berichtete er. »Er hat die Hand an der Backe und lächelt wie ein kleiner Engel.«

 

Sie nahm ihm den Schlüssel ab und betrachtete ihn.

 

»Waren Sie wirklich in dem Zimmer?«

 

»Natürlich.« Julius wärmte seinen Rücken am Kaminfeuer. »Ich habe das Licht angedreht und mich genau umgesehen.«

 

Sie sah immer noch auf den flachen Schlüssel in ihrer Hand.

 

»Ich habe Sie nur deshalb gefragt, weil ich Ihnen aus Versehen einen falschen Schlüssel gab.«

 

Aber Julius war ein Mann, der nie um eine Ausrede verlegen war.

 

»Ich habe eine Methode, Türen ohne Schlüssel zu öffnen, die nur drei Leuten auf der Welt bekannt ist.«

 

»Kommen Sie mit mir.« Diana erhob sich. »Auch ich habe meine Methoden, Türen zu öffnen. Ich benütze nämlich den richtigen Schlüssel dazu.«

 

Er ging hinter ihr her und war nun doch etwas kleinlaut. Sie schloß rasch die Tür von Gordons Gefängniszelle auf und machte Licht.

 

Das Zimmer war leer.

 

Kapitel 2

 

2

 

Mr. Gordon Selsbury war von Natur aus weder anomal noch exzentrisch. Aber er hielt sich doch für etwas höherstehend als andere Menschen, für einen Feingeist und für einen jener besonders begnadeten Sterblichen, die die Dinge von einer höheren Warte aus betrachten.

 

Er lebte in der City Londons, und sein Beruf stand in schreiendem Gegensatz zu seiner geistigen Einstellung, denn er war Generalvertreter einer der größten Versicherungsgesellschaften und lebte als solcher in äußerst guten pekuniären Verhältnissen.

 

Manchmal saß er vor seinem mit echt silbernen Gittern und Beschlägen geschmückten Kamin und dachte in philosophischer Ruhe über die Laune des Schicksals nach, das ihn zu einer so nüchternen geschäftlichen Tätigkeit verurteilte. Denn während andere Menschen nur stumpf vegetierten und triebhaft ihren Leidenschaften und Begierden frönten, lebte er in höheren geistigen Sphären.

 

Wenn er seinen Gedanken nachhängen konnte, fühlte er sich erhaben über die Welt und ihren verabscheuungswürdigen Kampf ums Dasein. Er war ein Mann, der durch seine geistige Begabung wie ein Fels über nebligen Niederungen in einsamer Höhe ragte, wo sich nur schneebedeckte Gipfel zum blauen Himmel emporreckten. Und doch – das schien ihm am erstaunlichsten – konnte er heruntersteigen in die Arena des Lebens, mit diesen Materialisten ringen, sie besiegen und ihren zusammengeballten Fäusten unheimliche Summen dieses schmutzigen Geldes entreißen …

 

»Nein, Trenter, ich werde morgen nachmittag nicht zu Hause sein. Sagen Sie bitte Mr. Robert, daß er mich in meinem Büro sprechen kann. Danke schön.«

 

Der Butler verneigte sich respektvoll und ging zum Telefon zurück.

 

»Mr. Selsbury wird morgen nicht zu Hause sein, Sir.«

 

Bobby Selsbury war sehr ärgerlich.

 

»Sagen Sie ihm bitte, daß er mir fest versprochen hat, mit mir und meinem Freund eine Partie Bridge zu spielen. Rufen Sie ihn doch einmal ans Telefon.«

 

Gordon erhob sich etwas gelangweilt von seinem weichgepolsterten Stuhl, ließ sich aber vor seinem Angestellten nicht das geringste merken.

 

»Ja, ja, ich weiß«, sagte er müde, »aber mir fiel ein, daß ich mich schon anderweitig verabredet hatte. Du mußt eben sehen, daß du dir die Zeit sonst irgendwie vertreibst, mein Junge. – Was erzählst du mir da? Ach, das ist doch Unsinn! … Also, ich kann dir wirklich nicht helfen, du mußt dich schon nach anderer Gesellschaft umsehen – ich habe morgen nachmittag unheimlich viel im Geschäft zu tun … ich spreche am Telefon nicht gern über geschäftliche Angelegenheiten. Auf Wiedersehen! – Trenter!«

 

Der Butler wartete in devoter Haltung und schien gespannt auf die Anordnungen seines Herrn zu sein.

 

»Jawohl, Sir?«

 

Mr. Selsbury wandte langsam den Kopf, bis seine dunklen Augen auf dem Gesicht des Dieners ruhten.

 

»Heute morgen sah ich zufälligerweise, daß Sie das Zimmermädchen küßten. Sie sind doch ein verheirateter Mann und haben dadurch eine gewisse Verantwortung, über die Sie sich unter keinen Umständen hinwegsetzen dürfen. Eleanor ist womöglich leicht beeinflußbar, Mädchen in dem Alter sind schnell verliebt. Es ist absolut verwerflich, das Leben eines jungen Mädchens dadurch zu ruinieren, daß Sie eine Leidenschaft in ihr erwecken, die Sie weder erwidern können noch dürfen. Auch ich habe darunter zu leiden – heute morgen war mein Rasierwasser nicht rechtzeitig auf meinem Zimmer. Das darf nicht wieder vorkommen!«

 

»Nein, Sir«, sagte Trenter.

 

Derartige Neuigkeiten kommen gewöhnlich auf schnellstem Wege in das Dienstbotenzimmer. Selsburys Worte schienen beinahe seelische Fernwirkung zu haben.

 

Eleanor war ein hübsches, großes Mädchen mit blassem Gesicht, blitzenden Augen und schwarzen Augenbrauen. Sie stand eben vor dem Spiegel und benützte den Lippenstift. Plötzlich hielt sie in dieser Beschäftigung inne. Sie war sehr entrüstet.

 

»Weil er ein so eiskalter und hundeschnäuziger Antonius von Padua ist, glaubt er, daß wir keine menschlichen Gefühle haben. Der arme, kaltblütige Fisch! Ich werde es ihm bei Gelegenheit schon sagen, daß ich es nicht dulden kann, wenn er so über mich spricht und dadurch meinen guten Ruf verdirbt. Dieser Schnüffler, dieser Leisetreter, dieser Spion!«

 

»Wer ist denn der Antonius von Padua?« fragte Trenter.

 

»Das ist der Heilige, der von Frauen versucht wurde und die Prüfung siegreich bestand«, erwiderte Eleanor. Sie schien aber nicht abgeneigt zu sein, ihrerseits die Versucherin zu spielen.

 

»Wer hat Mr. Selsbury versucht?« fragte er aufgebracht.

 

»Niemand, wenn Sie etwa mich meinen sollten. Ich möchte nur einmal sehen, wenn er seinen Arm um mich legen wollte – daran würde er denken!«

 

»Soweit wird er sich niemals vergessen«, sagte Trenter.

 

Sie warf den Kopf in den Nacken.

 

»Ach, ich weiß nicht!« Eleanor sah die starke Köchin an. »Fragen Sie nur einmal hier.«

 

»Großer Gott, Köchin, er hat Sie doch nicht etwa –?« fragte Trenter entsetzt.

 

Zum Glück war Mrs. Magglesark langsam von Begriff.

 

»Ja, ich habe ihn auch gesehen«, sagte sie. Aber Eleanor unterbrach sie sofort wieder, weil sie diese Geschichte selbst erzählen wollte. »Ich und die Köchin saßen letzten Sonntag oben auf einem Autobus –«

 

»In Knightsbridge.« Die Köchin wollte auch etwas berichten.

 

»Wir sprachen gerade zusammen und lachten, als die Köchin sagte: ›Sieh mal, Nelly, da ist der gnädige Herr.‹«

 

»Nein, ich sagte: Sieh mal, der Kerl hat ganz die Visage von unserem Herrn«, verbesserte Mr. Magglesark.

 

»Und richtig, er war es«, fuhr Eleanor fort. »Denken Sie sich, er hatte ein Mädel, schlank, groß und ganz in Schwarz gekleidet, neben sich – und er streichelte ihre Hand!«

 

»Aber doch nicht auf der Straße?« fragte Trenter ungläubig.

 

»Nein, er saß mit ihr in einem Auto. Von dem Autobus aus konnten wir gerade in den Wagen hineinsehen.«

 

»War sie hübsch?« fragte Trenter.

 

Eleanor kräuselte die Lippen.

 

»Nun ja, ich könnte mir denken, daß es Leute gäbe, die sie hübsch fänden. Was meinst du, war sie hübsch?« wandte sie sich an die Köchin.

 

Mrs. Magglesark, die schon ziemlich bejahrt und infolgedessen etwas milde in ihrem Urteil geworden war, sagte, sie sei hübsch gewesen.

 

»Er hat ihre Hand gehalten und gestreichelt?« fragte Trenter nachdenklich. »Es war doch nicht etwa Mrs. van Oynne?«

 

»Wer ist denn das?«

 

»Oh, sie war schon zweimal zum Tee hier, sie ist eine Amerikanerin, ist immer sehr vornehm gekleidet und heißt Heloise mit Vornamen. Sie sieht sehr schön aus. Gewöhnlich geht sie in Schwarz und trägt einen Hut mit einem Paradiesvogel.«

 

»Ja, sie trug Paradiesvogelfedern auf dem Hut«, bestätigten die Köchin und Eleanor.

 

»Dann war sie es bestimmt. Aber da ist nichts dabei – das ist eine gebildete Dame, die viele Bücher liest. Als sie das letztemal hier war, unterhielten sie sich von der Seele des eigenen Ichs. Ich habe nicht viel von der Unterhaltung gehört, es war auch so hohes Zeug, daß ich es nicht verstanden habe.«

 

Auf Eleanor machte diese Mitteilung großen Eindruck.

 

»Das ist doch merkwürdig, Sie sind doch sonst so klug«, meinte sie.

 

*

 

Gordon Selsbury konnte über alles sprechen. In seinen Unterhaltungen und philosophischen Betrachtungen mit Heloise van Oynne zergliederte er alles auf dem Seziertisch seines Verstandes, von gemeinen Bohnensträuchern bis zur höchsten Metaphysik. Allerdings führte er gewöhnlich das Gespräch, aber sie hing wie verzückt an seinem Munde, und er glaubte, daß sie seinen schwierigen Gedankengängen folgte.

 

Gordon saß am Nachmittag mit ihr in einem Teesalon des Hotels Coburg. Es waren außer ihnen nicht viele Gäste da.

 

»Ich möchte Ihnen, schon seit ich Sie kennenlernte, etwas sagen, meine liebe Heloise.« Gordons wohltönende Stimme klang dunkel und geheimnisvoll. »Es ist kaum einen Monat her, es scheint mir fast unglaublich! Wir sind einander schon früher begegnet, in längst versunkenen Zeiten, vor Tausenden von Jahren, in dem Tempel der Atlantis, wo weißgekleidete, ernste Priester mit langen Bärten Zauberformeln beteten. Sie waren damals eine große Dame, aber ich war nur ein niedriger Gladiator. Daß die Kampfspiele des späteren Roms und selbst die Zirkusspiele unter den Kaisern viel älter sind und in ein graues Altertum hinaufreichen, dessen bin ich ganz sicher. Könnten denn nicht die Überreste der sterbenden Atlantis den Beginn der etruskischen Kultur bedeuten …?«

 

Sie schaute ihn wie verzaubert an.

 

»Wie glänzend, daß Sie die Etrusker mit der mythischen Kultur von Atlantis in Verbindung bringen!« Aber ihre entzückten Blicke verrieten wenig von dem, was sie dachte.

 

»Das Schönste an unserer seelischen Freundschaft ist doch, daß sie nichts mit dieser brutalen, materiellen Welt zu tun hat«, sagte er.

 

»Wie meinen Sie das?«

 

Sie hatte sich vorgebeugt und erinnerte ihn durch die Bewegung einen Augenblick an Trenter – er war unangenehm berührt.

 

»Ich meine«, – er wischte mit seiner Hand einen Kuchenkrümel von seinem Knie –, »wir haben unsere Freundschaft niemals durch eine gewöhnliche Liebelei erniedrigt.«

 

»Oh!« Heloise van Oynne lehnte sich in ihren Stuhl zurück. »Da haben Sie recht.« Es lag etwas unendlich Süßes und Wohltuendes in ihrer Stimme. Sie sprach so befriedigt, daß sie selbst jemand getäuscht hätte, der auf ihre seelische Wellenlänge eingestellt war.

 

»Die vollkommene innere Übereinstimmung, das Verständnis von Seele zu Seele überragt alle sinnlichen Eindrücke, auf so hoher Stufe sie auch stehen mögen.«

 

Sie sah ihn mit einem zärtlich lächelnden Blick an. Das tat sie immer, wenn sie nicht recht verstand, was Gordon zu ihr sagte, besonders wenn er in diesen hohen Regionen schwebte.

 

»Die Seele ist sicher das Vornehmste und Schönste, was es überhaupt gibt«, sagte sie in tiefen Gedanken. »Die meisten Menschen sind zu gefühllos, sie verstehen das nicht. Das ist nicht gut für uns, denn wer könnte unser Verhältnis zueinander verstehen, Gordon? Für gewöhnlich kann man sein Herz und sein Innerstes nicht offenbaren. Instinktiv schreckt man zurück, wenn man mit Leuten in Berührung kommt, die zu materiell sind.«

 

Sie seufzte tief auf, als ob sie schon viel Böses im Leben erfahren hätte und als ob ihre zarte Seele von dieser rauhen Außenwelt gekränkt und verletzt worden sei. Plötzlich schien sie an gewissen Anzeichen zu ahnen, daß er sein Innerstes erschloß und daß seine wunderbare Seele nun überströmen wollte. Sie hatte eine gewisse Angst davor; denn bei früheren Gelegenheiten war es dann schwer gewesen, ihn, der in den unermeßlichen Regionen höherer Welten weilte, mit zarten Händen wieder zur Wirklichkeit zurückzuführen.

 

»Gordon, Sie haben mir schon viel von Ihrer Kusine in Australien erzählt«, sagte sie deshalb schnell, um dem Gespräch eine mehr irdische Wendung zu geben. »Sie muß sicher sehr interessant sein. Sprechen Sie doch noch ein wenig von ihr – ich höre es so gern, wenn Sie mir von Ihren Verwandten erzählen. Ich bin Ihnen so zugetan, Gordon, daß alles, was irgendwie mit Ihnen in Zusammenhang steht, mich anzieht und fesselt.« Sie legte ihre behandschuhte Hand auf sein Knie.

 

Keine andere Frau hätte es wagen dürfen, das zu tun – er hätte sofort die Polizei gerufen. Aber Heloise … Er legte seine Hand freundlich auf die ihre.

 

»Ich weiß nichts Genaues über sie. Es ist mir nur bekannt, daß sie eine schreckliche Liebesaffäre mit einem gewissen Dempsi gehabt hat. Ich habe Ihnen das doch schon alles gesagt. Aber jetzt geht es ihr gut, wie ich annehme. Ich habe mich immer ein bißchen um sie gekümmert, habe ihr ab und zu Bücher geschickt und einige Briefe geschrieben, in denen ich ihr gute Ratschläge gab. Ich denke mir immer, daß der Rat eines Mannes von einem jungen Mädchen viel leichter befolgt wird als der einer Frau. Wann haben wir doch neulich über sie gesprochen? Ach ja, ich erinnere mich, als wir unsere tiefgründige Unterhaltung über die Seele des eigenen Ichs führten.«

 

»Hat sie eigentlich hellen oder dunklen Teint?« Mit dieser Frage verbarrikadierte Heloise schnell und schlau wieder den Weg in die Metaphysik.

 

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Kurz bevor meine Tante starb, bekam ich noch einen Brief von ihr. Darin sagte sie mir, daß Diana Dempsi vergessen habe, aber doch gern ein Foto von ihm gehabt hätte – der Mann ist nämlich auch gestorben. Ist Ihnen jemals zum Bewußtsein gekommen, Heloise, wie sonderbar die Beziehungen zwischen Tod und Leben sind?«

 

»Dieses arme Mädchen in Australien! Ich würde doch soviel darum geben, wenn ich sie einmal sehen könnte, Gordon.«

 

Er schüttelte den Kopf und lächelte liebenswürdig.

 

»Ich glaube kaum, daß Sie ihr jemals begegnen werden.«

 

Kapitel 20

 

20

 

An der Bettstelle war ein merkwürdiges Tau befestigt, das von unkundigen Händen zusammengedreht war. Es bestand aus drei Streifen Bettuchleinen, die wie ein Frauenzopf zusammengeflochten waren. Das Ende hing aus dem offenen Fenster.

 

Diana schaute hinunter. Das Tau hing nur zwei Meter zum Fenster hinaus. Er hätte also mindestens noch sechs bis sieben Meter springen müssen, bis er den gepflasterten Hof erreicht hätte.

 

»Das ist merkwürdig«, sagte Superbus, der sich aber auch jetzt noch nicht ganz geschlagen geben wollte. »Als ich hereinschaute –«

 

»Ach, reden Sie doch keinen Unsinn! Wir wollen uns lieber an Tatsachen halten.« Diana zog die Augenbrauen hoch. »Was nützt denn ein Tau, wenn es nicht weiter reicht! Und warum hat er denn das Bett nicht an das Fenster gezogen?«

 

Sie rückte selbst daran, es ließ sich leicht bewegen.

 

»Wenn das Gewicht eines Mannes an dem Tau gehangen hätte, wäre die Bettstelle sicher von selbst zum Fenster hingezogen worden.«

 

Nachdenklich sah sie sich im ganzen Zimmer um. In einer Ecke stand ein großer Kleiderschrank mit einem Spiegel. Sie hob die Pistole und riß die Schranktür auf.

 

»Kommen Sie bitte heraus«, sagte sie eisig.

 

Gordon trat würdevoll heraus.

 

Mr. Superbus beobachtete diesen Vorgang aus einiger Entfernung und schüttelte mißbilligend den Kopf.

 

»Onkel Artur, Onkel Artur!« rief er vorwurfsvoll. »Ich dachte nicht, daß Sie einem alten Freund einen solchen Trick spielen würden!«

 

»Wollen Sie mir freundlichst erklären, warum Sie mein Bettleinen so zerschnitten haben?« fragte Diana.

 

Die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der sie das Eigentumsrecht an allen Dingen im Haus für sich in Anspruch nahm, brachte Gordon in höchste Wut.

 

»Das ist mein Bettleinen!« schrie er.

 

Sie hob abwehrend die Hand.

 

»Darauf wollen wir nicht näher eingehen, Onkel Artur«, sagte sie mit kalter Höflichkeit. »Bitte, ziehen Sie das Bettuch herein und schließen Sie das Fenster. Es wird bald hell werden, und ich habe nicht den Wunsch, dem Milchmann Stoff zum Klatschen zu geben. Ich muß die Interessen meines Vetters wahren.«

 

»Lassen Sie doch Bobby kommen«, sagte Gordon plötzlich ruhig. »Er wird keinen Augenblick an meiner Identität zweifeln.«

 

»Wenn Sie mit Bobby Mr. Robert Selsbury meinen, so habe ich seine Wohnung angerufen. Er ist nicht in der Stadt – wahrscheinlich haben ihn die Agenten auch fortgelockt.«

 

Es war ihm also die letzte Möglichkeit genommen, sich aus dieser entsetzlichen Lage zu befreien.

 

»Nun gut, ich verspreche Ihnen, daß ich Ihnen keinen weiteren Grund zur Beunruhigung geben werde.«

 

Er zog das geflochtene Tau herein, schloß das Fenster und ließ die Jalousien herunter.

 

»Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich jetzt schlafen – ich habe die ganze Nacht gewacht.«

 

»Sie können schlafen, aber Mr. Superbus wird bei Ihnen wachen. Ich werde Sie beide in diesem Zimmer einschließen –«

 

»Persönlich ziehe ich es allerdings vor, draußen zu sitzen«, sagte Mr. Superbus schnell. »Ich möchte gern rauchen.«

 

»Sie bleiben hier!« erwiderte Diana entschieden.

 

»Wenn der Kerl hierbleibt, werfe ich ihn aus dem Fenster!« rief Gordon wild.

 

Mr. Superbus hatte sich schon aus dem Zimmer hinausgeschlängelt.

 

»Madam, der wird jetzt ganz ruhig sein – trauen Sie nur dem alten Onkel Artur!«

 

Diana wußte, daß es nutzlos war, auf ihrem Willen zu bestehen. Sie schloß also ihren Gefangenen wieder ein und ging hinunter in das Studierzimmer. Auch sie war davon überzeugt, daß er jetzt keinen weiteren Versuch machen würde, zu entwischen.

 

Sie mußte mit Bobby in Verbindung bleiben, selbst auf die Gefahr hin, daß er ihr böse war, wenn sie ihn zu so früher Stunde aus dem Bett holte. Sie nahm den Hörer ab und rief seine Wohnung an. Mit unglaublicher Schnelligkeit erhielt sie Antwort. Die Stimme war ihr allerdings unbekannt – vermutlich sprach Bobbys Diener mit ihr.

 

»Hier ist Miss Ford – kann ich Mr. Selsbury sprechen?«

 

»Er ist die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen, meine Dame. Ich bin aufgeblieben, um auf ihn zu warten. Er wollte bei Tagesanbruch wieder in London sein.«

 

»Wo ist er denn?«

 

»Er ist nach Ostende gereist, mein Fräulein. Er hat von Dover aus telefoniert.«

 

Das war eine ganz unerwartete und beunruhigende Nachricht.

 

»Ist er allein verreist?«

 

»Nach meinem besten Wissen und Gewissen«, sagte Bobbys Diener taktvoll, diplomatisch und juristisch einwandfrei.

 

Diana hing den Hörer wieder an.

 

War es denn den Verbrechern auch gelungen, Bobby fortzulocken?