Zwanzigstes Kapitel
Zeigt, was für tüchtige Geschäftsleute Dodson und Fogg sind und wie gut sich ihre Schreiber unterhalten. Ein rührendes Wiedersehen zwischen Mr. Weller und seinem Vater und eine Schilderung, welch auserlesene Geister in der „Elster“ zusammenkommen.
In einem schmutzigen Hause am entferntesten Ende von Freemans Court Cornhill saßen in einem Vorderzimmer zu ebener Erde die vier Schreiber der Herren Dodson und Fogg, zweier Anwälte Seiner Majestät bei den Gerichtshöfen von Kings Bench und Common Pleas zu Westminster und Prokuratoren beim Oberkanzleigericht.
Das Büro der Herren Dodson und Fogg war ein dunkles, dumpfes, muffiges Zimmer mit einer Nebenabteilung, die die Schreiber durch eine hohe spanische „Wand vor den Blicken der Klienten verbarg, ein paar alten hölzernen Stühlen, einer sehr laut tickenden Uhr, einem Kalender, einem Regenschirmständer, einer Reihe von hölzernen Hutnägeln, einigen Wandbrettern, worauf verschiedene schmutzige Aktenfaszikel lagen, mehreren alten hölzernen Schubkästen mit Aufschriften und allerlei steinernen‘ Tintenkrugruinen von verschiedener Gestalt und Größe. Eine Glastür führte in das Vorzimmer der Kanzlei, und auf der andern Seite dieser Glastür zeigte sich am nächsten Freitagmorgen nach dem eben berichteten Ereignis Mr. Pickwick, gefolgt von Mr. Weller.
„Könnt ihr nicht reinkommen?“ rief eine Stimme aus dem Verschlag auf Mr. Pickwicks schüchternes Klopfen.
„Ist Mr. Dodson oder Mr. Fogg zu Hause?“ fragte Mr. Pickwick bescheiden und näherte sich mit dem Hut in der Hand dem Verschlage.
„Mr. Dodson ist nicht zu Hause und Mr. Fogg hat dringende Geschäfte“, antwortete die Stimme, und zugleich sah der dazugehörige Kopf, mit einer Feder hinter dem Ohr, über die spanische Wand nach Mr. Pickwick hinüber.
Es war ein unförmiger Kopf; das fuchsrote Haar, sorgfältig nach der einen Seite gescheitelt und mit Pomade angeklebt, umrahmte in kleinen halbkreisförmigen Locken ein glattes, mit kleinen Äuglein geziertes und von einem schmutzigen Hemdkragen und einer schwarzen, strickartigen Halsbinde abgeschloßnes Gesicht.
„Mr. Dodson ist nicht zu Hause, und Mr. Fogg hat dringende Geschäfte“, sagte der Mann, dem der Kopf angehörte.
„Wann wird Mr. Dodson zurückkommen, Sir?“ fragte Mr. Pickwick.
„Kann’s nicht sagen.“
„Wird Mr. Fogg lange beschäftigt sein, Sir?“
„Weiß nicht.“
Mit großer Sorgfalt begann der Mann seine Feder zu schneiden, während ein andrer Schreiber, sich ein Seidlitzpulver mischend, hinter seinem Pultdeckel beifällig lachte.
„So will ich warten“, sagte Mr. Pickwick.
Da keine Antwort erfolgte, setzte er sich unaufgefordert und lauschte auf die laut tickende Uhr und auf die halblaut geführte Unterhaltung der Schreiber.
„Das war ein Spaß, was?“ sagte einer der Herren in einem braunen Rock mit Messingknöpfen und tintenfarbenen Tuchhosen am Schluß einer unverständlich leisen Erzählung seiner Abenteuer vom verfloßnen Abend.
„Mordsmäßig“, sagte der Seidlitzpulvermann.
„Tom Cummins hatte den Vorsitz“, fuhr der Schreiber mit dem braunen Rock fort. „Es war halb fünf Uhr, als ich nach Somers Town kam, und ich hatte einen Derartigen weg, daß ich das Schlüsselloch nicht finden konnte und die Alte herausklopfen mußte. Möchte nur wissen, was der alte Fogg sagen würde, wenn er das erführe. Ich glaube, ich bekäme meine vierzehn Tage.“
Die humoristische Bemerkung wurde allgemein belacht.
„Mit Fogg war’s diesen Morgen wieder mal ein Riesen-Jux“, sagte der Mann in dem braunen Rock, „während Jack oben die Akten sortierte und ihr beide auf dem Stempelamt wart. Fogg war hier und las gerade die Korrespondenz durch, da kam der Kerl aus Camberwell herein, den wir verklagt haben … „Wie heißt er doch schnell?“
„Ramsey“, antwortete der Schreiber, der mit Mr. Pickwick gesprochen hatte.
„Ja, richtig, Ramsey. Ein komischer Kerl mit seinem Hungerleidergesicht. ,Nun, Sir‘, sagte der alte Fogg mit einem grimmigen Blick‘ – Ihr wißt doch, wie er ist – ,nun, Sir, Sie kommen wohl, um die Sache zu begleichen?‘ – Ja, Sir‘, sagte Ramsey und griff in die Tasche, ,die Schuld macht zwei Pfund zehn Schilling und die Kosten drei Pfund fünf Schilling; da ist es.‘ – Er ächzte wie eine Wetterfahne, als er das Geld aus seinem Löschpapier herauswickelte. Der Alte sah zuerst auf das Geld, dann auf ihn und räusperte sich trocken, daß ich gleich merkte, wo er hinauswollte. ,Sie wissen vermutlich nicht, daß wir eine Deklaration eingereicht haben, wodurch sich die Kosten bedeutend erhöhen?‘ sagte er. – ,Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Sir‘, sagte Ramsey und fuhr vor Schreck zusammen, ,die Zeit ist doch erst gestern abend abgelaufen, Sir.‘ – .Natürlich ist es mein Ernst‘, erwiderte Fogg, ,mein Schreiber hat sie soeben eingereicht. Mr. Wicks, ist nicht Mr. Jackson mit der Deklaration, in Sachen Bullman kontra Ramsey, bereits fort?‘ Natürlicherweise sagte ich ja, und dann hustete Fogg wieder. ,Mein Gott‘, sagte Ramsey, ,und ich habe mich beinahe zu Tode gemartert, um das Geld zusammenzukratzen und rechtzeitig abzuzahlen, und jetzt soll alles umsonst sein?‘ – ,Keineswegs‘, versetzte Fogg kaltblütig. ,Sie brauchen nur wieder umzukehren, etwas mehr aufzutreiben und es zur rechten Zeit zu bringen.‘ – ,Aber, bei Gott, es ist mir unmöglich‘, sagte Ramsey und schlug mit der Faust auf den Tisch. – .Beleidigen Sie mich nicht, Sir‘, schrie der Alte und spielte sich auf den Zornigen. – ,Ich beleidige Sie doch nicht, Sir‘, entschuldigte sich Ramsey. – ,Sie entfernen sich auf der Stelle, Sir‘, sagte Fogg, ,und kommen erst wieder, Sir, wenn Sie sich zu betragen gelernt haben.‘ Ramsey wollte noch etwas erwidern, aber der Alte ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er steckte daher sein Geld in die Tasche und schlich hinaus. Die Tür war kaum zu, da wandte sich der alte Fogg mit einem süßen Lächeln zu mir und zog die Deklaration aus seiner Rocktasche. ,Wicks‘, sagte er, .nehmen Sie eine Droschke, fahren Sie so schnell wie möglich ins Eingabeprotokoll und geben Sie das ab. Die Kosten stehen ganz sicher, denn er ist ein zuverlässiger Mann mit einer großen Familie und einem wöchentlichen Einkommen von fünfundzwanzig Schilling. Wenn’s schließlich zum Verhaftsbefehl kommt, wird ihn sein Prinzipal schon auslösen. Abzwacken, wo’s nur geht, Mr. Wicks, das ist Christenpflicht. Bei seiner großen Familie und seinem schmalen Einkommen kann ihm eine solche Lektion nur eine heilsame Warnung sein, und er wird sich das Schuldenmachen abgewöhnen; was meinen Sie, Mr. Wicks?‘ – Und er lächelte beim Hinausgehen so gutmütig, daß es eine Lust war, ihn anzusehen. Er ist wirklich ein vortrefflicher Geschäftsmann“, fügte Wicks im Tone der höchsten Bewunderung hinzu.
„Nette Bande das, Sir“, flüsterte Mr. Weller seinem Herrn zu. „Haben kuriose Begriffe von ’nem Spaß, Sir.“
Mr. Pickwick nickte bekümmert und hustete laut, um die Aufmerksamkeit der jungen Gentlemen hinter dem Verschlag auf sich zu lenken, die sich daraufhin endlich herabließen, Notiz zu nehmen.
„Ob Fogg wohl jetzt zu sprechen ist?“ sagte Jackson. „Was meinst du?“
„Will nachsehen“, erwiderte Wicks und stand gemächlich von seinem Stuhl auf. „Wen soll ich Mr. Fogg melden?“
„Pickwick“, antwortete der Gelehrte.
Mr. Jackson ging die Treppe hinauf, kehrte gleich darauf mit der Meldung zurück, Mr. Fogg würde in fünf Minuten für Mr. Pickwick zu sprechen sein, und setzte sich wieder hinter sein Pult.
„Wie, sagte er, heißt er?“ flüsterte Wicks.
„Pickwick. Es ist der Beklagte in Sachen Bardell kontra Pickwick“, erwiderte Jackson, und sofort ließ sich ein Scharren und unterdrücktes Lachen hinter dem Verschlag vernehmen.
„Sie beobachten Ihnen, Sir“, flüsterte Mr. Weller.
„Sie beobachten midi, Sam?“ fragte Mr. Pickwick. „Wieso? Wer?“
Mr. Weller deutete mit dem Daumen über seine Schulter, und als Mr. Pickwick aufblickte, gewahrte er zu seinem Mißvergnügen, daß sämtliche Schreiber mit dem Ausdruck größter Heiterkeit über die spanische Wand herüberspähten, offenbar, um sich den Zerstörer weiblichen Seelenfriedens genauer anzusehen. Sofort fuhren die vier Köpfe zurück, und im nächsten Augenblick hörte man Schreibfedern hastig über Papier hinrauschen.
Gleich darauf ertönte die Glocke, die in der Kanzlei hing, und Mr. Jackson sagte, Mr. Fogg sei jetzt bereit, Mr. Pickwick zu empfangen. Daraufhin ging Mr. Pickwick mit dem Schreiber die Treppe hinauf und ließ Sam Weller unten. Jackson klopfte und geleitete auf das „Herein“ Mr. Pickwick ins Zimmer.
„Ist Mr. Dodson schon zurück?“ fragte Mr. Fogg.
„Soeben gekommen, Sir.“
„Sagen Sie ihm, er möchte sich heraufbemühen.“
„Ja, Sir“, antwortete Jackson und entfernte sich.
„Nehmen Sie Platz, Sir“, sagte Fogg. „Hier ist der Akt. Mein Kollege wird sogleich hier sein. Wir können dann über die Sache sprechen.“
Pickwick nahm einen Stuhl und das Dokument; aber anstatt es zu lesen, schielte er darüber weg und faßte den Advokaten näher ins Auge. Es war ein ältlicher Herr mit einem finnigen Gesicht, wie ein Vegetarier, in einem schwarzen Rock, dunkel melierten Beinkleidern und kurzen schwarzen Gamaschen, eine Art von Wesen, das mit dem Pulte, an dem es schrieb, verwachsen und ungefähr ebenso gefühlvoll zu sein schien. Nach einigen Minuten Stillschweigen erschien Mr. Dodson, ein plumper, stämmig gebauter Mann, mit einem strengen Blick und einer lauten Stimme, und die Unterhaltung nahm ihren Anfang.
„Dies ist Mr. Pickwick“, sagte Fogg.
„Aha, Sie sind der Beklagte in Sachen Bardell kontra Pickwick?“ fragte Dodson.
„So ist es, Sir“, versetzte Mr. Pickwick.
„Nun, Sir“, fuhr Dodson fort, „was haben Sie uns vorzuschlagen?“
„Ja“, wiederholte Fogg, steckte die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich gemächlich in seinen Armstuhl zurück. „Was haben Sie uns vorzuschlagen, Mr. Pickwick?“
„Pst, Fogg“, sagte Dodson, „lassen Sie mich hören, was Mr. Pickwick zu sagen hat.“
„Ich komme, meine Herren“, begann Mr. Pickwick mit einem friedlichen Blick auf die beiden Partner, „ich komme, meine Herren, um Ihnen mein Erstaunen über Ihr gestriges Schreiben auszudrücken und Sie zu fragen, auf was für Gründe Sie Ihre Klage stützen?“
„Auf Gründe …“, begann Fogg, aber Mr. Dodson unterbrach ihn:
„Mr. Fogg, lassen Sie mich sprechen.“
„Bitte sehr, Mr. Dodson.“
„Was die Gründe der Klage betrifft, Sir“, fuhr Dodson abweisend und mit Würde fort, „so müssen Sie schon Ihr eignes Gewissen und Ihre eignen Gefühle befragen. Wir lassen uns lediglich durch die Angaben unsrer Klienten leiten, mögen dieselben nun wahr oder falsch, glaubwürdig oder unglaubwürdig sein. Jedenfalls muß ich Ihnen gestehen, daß ich als Geschworener unumwunden sagen würde, es könne hinsichtlich Ihres Vorgehens nur eine Ansicht herrschen.“
Mr. Dodson warf, mit der Miene eines in seinem Moral –gefühl schwer verletzten Mannes, den Kopf zurück und sah auf Fogg, der die Hände noch tiefer in seine Hosentaschen versenkte und mit weisem Kopfnicken im Brustton der Überzeugung bestätigte: „Nur eine Ansicht.“
„Die Klageschrift, Sir“, fuhr Mr. Dodson fort, „ist ordnungsgemäß abgefaßt. Mr. Fogg, wo ist das Eintragungsbuch?“
„Hier“, antwortete Fogg und reichte einen Quartband in Pergament herüber.
„Hier steht unter dem achtundzwanzigsten August achtzehnhundertunddreißig“, las Dodson laut vor, „Middlessex, Klagschrift von Marta Bardell, Witwe, gegen Samuel Pickwick. Schadenersatz, fünfzehnhundert Pfund. Dodson und Fogg für die Klägerin. Alles ganz ordnungsgemäß, Sir, vollkommen ordnungsgemäß.“
Dodson hustete und sah auf Fogg, der in sein „vollkommen ordnungsgemäß“ einstimmte.
„Ich habe Sie also dahin zu verstehen“, bemerkte Mr. Pickwick, „daß Sie auf der Klage beharren?“
„Sehr richtig.“
„Und die Entschädigung soll sich also wirklich auf fünfzehnhundert Pfund belaufen?“
„Zu dem, daß Sie uns recht verstehen“, erwiderte Dodson, „kann ich noch die Versicherung hinzufügen, daß sie sich auf den dreifachen Betrag belaufen würde, wenn sich unsre Klientin hätte von uns raten lassen.“
„Ich glaube, Mrs. Bardell hat noch ausdrücklich bemerkt“, fügte Fogg mit einem Blick auf Dodson hinzu, „sie würde von dieser Summe keinen Penny nachlassen.“
„Selbstverständlich nicht“, erwiderte Dodson ernst. Denn die Klage war eben erst eingeleitet worden, und es wäre Mr. Pickwick nicht einmal gestattet worden, sich gleich anfangs zu vergleichen, selbst wenn er Lust dazu gehabt hätte.
„Da Sie keine Vorschläge machen, Sir“, setzte Dodson hinzu, Mr. Pickwick ein Dokument hinhaltend, „so tue ich wohl am besten, Ihnen eine Abschrift der Klage zu überreichen.“
„Also gut, meine Herren“, sagte Mr. Pickwick und stand voll Ingrimm auf. „Das „Weitere werden Sie von meinem Rechtsanwalt hören.“ „Es wird uns ein Vergnügen sein“, erwiderte Fogg, sich die Hände reibend.
„Ein außerordentliches“, bestätigte Dodson und öffnete die Tür.
„Und ehe ich gehe, meine Herren“, bemerkte Mr. Pickwick und drehte sich an der Treppe noch einmal empört um, „erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß von allen schändlichen und schuftigen Machinationen …“
„Einen Augenblick, Sir, einen Augenblick“, unterbrach ihn Mr. Dodson mit großer Höflichkeit. „Mr. Jackson – Mr. Wicks …“
Die beiden Schreiber erschienen sofort am Fuß der Treppe.
„Ich möchte nur, daß Sie mit anhören, was dieser Herr sagt“, rief ihnen Dodson hinunter. „Bitte, fahren Sie fort, Sir. ,Schändliche und niederträchtige Machinationen‘ haben Sie, glaube ich, gesagt?“
„Jawohl“, antwortete Mr. Pickwick wutentbrannt. „Ich habe gesagt, Sir, daß von allen schändlichen und schuftigen Machinationen, die jemals ausgeheckt wurden, diese die schuftigste ist. Und ich wiederhole es, Sir.“
„Sie haben es gehört, Mr. Wicks?“ rief Dodson.
„Vergessen Sie den Wortlaut nicht, Mr. Jackson!“ sagte Fogg.
„Vielleicht beliebt es Ihnen, uns auch noch Betrüger zu nennen, Sir?“ fragte Dodson. „Bitte, Sir, tun Sie sich keinen Zwang an.“
„Ich tue es auch nicht“, sagte Mr. Pickwick. „Ja, Sie sind Betrüger.“
„Sehr schön“, versetzte Dodson. „Sie können doch unten alles hören, Mr. Wicks?“
„Gewiß, Sir“, antwortete Mr. Wicks.
„Kommen Sie lieber ein paar Stufen weiter herauf, wenn Sie es nicht verstehen“, fügte Mr. Fogg hinzu.
„Fahren Sie fort, Sir, fahren Sie fort. Nennen Sie uns auch noch Diebe, Sir! Oder belieben vielleicht, einen von uns tätlich zu insultieren? Bitte, nur zu, Sir! Wir werden nicht den geringsten Widerstand leisten. Bitte, nur zu!“
Da sich Fogg verführerischerweise in das Bereich von Mr. Pickwicks geballter Faust begab, so ist kaum daran zu zweifeln, daß seiner nachdrücklichen Bitte willfahrt worden wäre, hätte sich nicht Sam, der von Anfang an Zeuge des Streites gewesen, ins Mittel gelegt, indem er schnell aus der Schreibstube die Treppe heraufrannte und seinen Herrn beim Arm ergriff.
„Gleich kommen Sie mit fort“, sagte er. „Katz und Maus ’s ’n hübsches Spiel, wenn nich Sie die Maus und zwei Rechtsgelehrte die Katzen sin, in welchem Falle es erhitzend is, aber nich lustig. Kommen Sie mit, Sir. Wenn Sie schon jemand durchbleuen müssen, dann kommen Sie raus auf den Hof und nehmen Sie mir vor; ’s is weniger kostspielig.“
Und ohne das geringste Zeremoniell zog Mr. Weller seinen Herrn die Treppe hinunter über den Hof hinweg, und nachdem er ihn sicher bis nach Cornhill gebracht hatte, trat er hinter ihn, bereit, ihm zu folgen, wohin es auch sei.
Mr. Pickwick ging zerstreut weiter, bis „r dem Rathaus gegenüber stand, und wandte dann seine Schritte Cheapside zu. Sam war bereits neugierig, wohin es jetzt gehen sollte, als sich sein Herr mit den Worten umwandte: „Sam, ich muß sogleich zu Mr. Perker.“
„Da hätten Sie gestern abend schon hingehen sollen, Sir“, versetzte Mr. Weller.
„Ich glaube das auch“, bemerkte Mr. Pickwick.
„Und ich weiß es“, erwiderte Mr. Weller.
„Ich hätte nur vorher gern noch ein Glas Brandy mit Wasser getrunken, um mich zu beruhigen. Wo kann man hier wohl eins bekommen, Sam?“
Mr. Wellers Lokalkenntnisse in London waren unbegrenzt, speziell in dieser Hinsicht. Er antwortete, ohne sich im geringsten besinnen zu müssen:
„Zweiter Hof rechts, das vorletzte Haus gleich hier auf dieser Seite. Setzen Sie sich in die Box neben dem Kamin, weil da nämlich das Tischbein nich in der Mitte von der Tischplatte is, wie bei die andern; das is nämlich störend.“
Mr. Pickwick hielt sich genau an seines Dieners Angaben und trat, von diesem gefolgt, in die bezeichnete Schenke, wo ihm der warme Grog alsbald vorgesetzt wurde, während sich Mr. Weller in respektvoller Entfernung, wiewohl an demselben Tisch, niederließ und sich eine Pinte Porter bringen ließ.
Das Zimmer war recht gewöhnlicher Art und wurde augenscheinlich mit Vorliebe von Droschkenkutschern frequentiert. Verschiedne Gentlemen dieses Standes tranken und rauchten an den verschiednen Wandtischen. Unter ihnen fiel besonders ein stämmiger ältlicher Herr mit einem roten Gesicht auf und erregte Mr. Pickwicks Aufmerksamkeit. Er saß am gegenüberstehenden Wandtisch und rauchte mit großer Vehemenz; aber jedesmal nach einem halben Dutzend Zügen nahm er seine Pfeife aus dem Mund, sah abwechselnd Mr. Weller und Mr. Pickwick an und begrub dann in einem Maßkrug so viel von seinem Gesicht, als die Dimensionen des Gefäßes zu fassen vermochten, um dann abermals seine Blicke auf Sam und Mr. Pickwick zu richten und Wolken aus seiner Pfeife zu blasen. Endlich legte er seine Beine auf die Bank, lehnte sich rückwärts an die Wand, paffte dabei rastlos und ließ die beiden überhaupt nicht mehr aus den Augen.
Anfangs war das Benehmen des stämmigen Gentlemans der Beobachtung Mr. Wellers entgangen; als ihm jedoch auffiel, daß sich Mr. Pickwicks Brille immer von neuem nach dieser Richtung wandte, folgte er seinen Blicken und legte sofort die Hand über die Augen, als ob ihm der erblickte Gegenstand auffalle und er sich nur noch seiner Identität versichern wolle. Seine Zweifel waren jedoch im Augenblick behoben, denn nachdem der stämmige Gentleman wieder eine dichte Rauchwolke von sich geblasen hatte, kam eine rauhe Stimme, befremdlich wie die Töne eines Bauchredners, hinter dem großen Tuch heraus, das seinen Hals verhüllte, und langsam quollen die Worte hervor: „Hei, Sammy!“
„Wer ist das, Sam?“ fragte Mr. Pickwick.
„Hei, na das hätt ich nicht gedacht, Sir“, antwortete Mr. Weller mit erstaunten Augen. „Das ist doch der Alte.“
„Der Alte?“ sagte Mr. Pickwick. „Was für ein Alter?“
„Mein Vater, Sir“, erwiderte Mr. Weller. „Wie geht’s dir, mein gutes altes Stück?“ Nach diesem rührenden Erguß kindlicher Zärtlichkeit machte Mr. Weller neben sich Platz, und der stämmige Mann kam, mit der Pfeife im Mund und dem Krug in der Hand, herüber, um ihn zu begrüßen.
„Na, Sammy“, sagte der Vater, „da hab ich dich doch, warte mal, das sind ja schon zwei Jahre und mehr, nich gesehen.“
„Noch viel länger hast du das nich, alte Haut“, antwortete der Sohn. „Wie geht’s der Stiefmutter?“
„Ach, ich will dir mal was sagen, Sammy“, sagte Mr. Weller senior mit sehr feierlicher Miene, „da gab’s keine niedlichere Frau, ich meine so als Witwe; ich bin nämlich ihr Erlebnis. Sammy, sie war eine süße Krabbe; aber jetzt kann ich von ihr bloß sagen, wo sie doch so eine ungewöhnlich nette Witwe war, da ist es jammerschade, daß sie ihren Zustand verändert hat. Sie benimmt sich nicht wie ein Eheweib, Sammy.“ „Macht sie nicht?“ fragte Mr. Weller junior.
Der ältere Mr. Weller schüttelte sein Haupt und antwortete mit einem Seufzer: „Ich hab einmal zu oft geheiratet, ich hab’s einmal zu oft getan. Nimm dir ein Beispiel an deinem Vater, mein Junge, und sei furchtbar vorsichtig mit Witwen; das ganze Leben lang; besonders wenn sie ein Wirtshaus gehabt haben, Sammy.“
Nachdem Mr. Weller senior seinem Sohne diesen väterlichen Rat mit großem Pathos erteilt hatte, stopfte er sich eine neue Pfeife aus einer zinnernen Tabaksdose, die er in der Tasche bei sich trug, und begann wieder wie ein Schlot zu rauchen.
„Verzeihung, Sir“, sagte er, auf sein Thema zurückkommend, nach einer gewichtigen Pause zu Mr. Pickwick, „bin doch hoffentlich nich persönlich geworden; Sie haben doch nich womöglich auch ’n Wittweib geheiratet?“
„Nein“, erwiderte Mr. Pickwick lachend, und Sam Weller flüsterte schnell seinem Vater zu, in welchem Verhältnis er zu dem Herrn stand. „Bitte um Verzeihung, Sir“, sagte Mr. Weller senior und zog dabei den Hut, „ich hoffe doch, Sie haben, keinen Kummer mit Sammy, Sir?“
„Nicht im geringsten“, sagte Mr. Pickwick.
„Sehr erfreut, dies zu hören, Sir. Habe mir nämlich alle erdenkliche Mühe mit seiner Erziehung gegeben; ließ ihn schon als Gassenjunge rumstrolchen, wie er noch ganz klein war. Das einzige Mittel, ’nen Jungen fiffig zu machen.“
„Ist das Verfahren nicht etwas gefährlich? Ich könnte es mir jedenfalls denken“, meinte Mr. Pickwick lächelnd.
„Is auch nich immer zuverlässig“, fügte Mr. Weller junior hinzu. „Ich habe es erst in diesen Tagen wieder erfahren.“
„Was du nich sagst“, brummte sein Vater.
„Doch!“ erwiderte Sam und erzählte in kurzen Worten, wie ihn Hiob Trotter arglistig an der Nase herumgeführt hatte.
Mr. Weller senior hörte gespannt bis zu Ende zu und fragte dann:
„War nicht einer von den Kerls dürr und hoch aufgeschossen und hatte langes Haar, und die Schnauze ging immer im Galopp?“
Mr. Pickwick verstand den letzten Teil der Beschreibung nicht ganz, aber da er den ersten begriff, sagte er auf gut Glück: „Ja.“
„Und war nich der andere ’n schwarzhaariger Kerl mit ’ner maulbeerfarbenen Livree und ’nem großen Schädel?“
„Jaja, der ist es“, fielen Mr. Pickwick und Sam hastig ein.
„Dann weiß ich, wo sie sind und was mit ihnen los is. Die sind beide ganz gemütlich in Ipswich.“
„Was Sie nicht sagen!“ rief Mr. Pickwick.
„Tatsache“, erwiderte Mr. Weller, „und ich will Ihnen auch sagen, woher ich es weiß. Ich fahre dann und wann für ’nen Freund ’ne Ipswicher Droschke. Gerade an dem Tag, wo Sie sich die Nacht vorher den Reißmantüchtig geholt haben, da war ich nämlich im ,Mohrenknaben‘ in Chelmsford, und die beiden auch, und von da habe ich sie schnurstracks nach Ipswich gefahren, und da wollen sie sich wohl ziemlich lange aufhalten, meinte der mit die Maulbirnen-Livree.“
„Ich muß ihnen nach“, rief Mr. Pickwick. „Wir können Ipswich genausogut besuchen wie jeden anderen Ort. Ich muß ihm unbedingt nach.“ „Sag mal, irrst du dich auch nich, Gouverneur?“ fragte Mr. Weller junior.
„Ach woher, Sammy, die sehen, doch ganz auffällig aus, und denn wunderte ich mich auch, daß sich der Herr mit seinem Diener so gemein machte, und denn hörte ich auch noch, wie sie lachten und sagten, daß sie dem alten Feuerfrosch eins ausgewischt hatten.“
„Alten … was?“ fragte Mr. Pickwick.
„Alten Feuerfrosch, Sir; womit sie zweifelsohne Ihnen meinten, Sir.“
Es liegt zwar nichts Niederträchtiges oder Beschimpfendes in. der Bezeichnung „alter Feuerfrosch“, aber sie ist auch Keineswegs ausgesprochen ehrerbietig oder gar schmeichelhaft. Die Erinnerung an alle jene Widerwärtigkeiten, die Jingle verschuldet hatte, waren in Mr. Pickwick lebendig geworden, sobald Mr. Weller mit seiner Erzählung begonnen hatte: es bedurfte nur noch eines Tropfens, um das Maß überlaufen zu lassen, und der „alte Feuerfrosch“ war dieser Tropfen.
„Ich muß ihm nach“, rief Mr. Pickwick und schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Ich werde so wie übermorgen vom ,Ochsen‘ in Whitechapel aus nach Ipswich runtergondeln“, sagte Mr. Weller senior, „und wenn Sie wirklich hinwollen, fahren Sie am besten mit mir.“
„Da haben Sie recht“, sagte Mr. Pickwick. „Sehr gut; ich kann nach Bury schreiben, daß ich in Ipswich zu treffen sein werde. Wir fahren also mit Ihnen. Aber haben Sie es denn so eilig, Mr. Weller? Wollen Sie nicht noch einen Schluck trinken?“
„Sie sind sehr gütig, Sir“, antwortete Mr. Weller stockend, „so ’n Gläschen Branntwein auf Ihre Gesundheit und Sammys Glück würde vielleicht nichts schaden.“
„Sicher nicht“, versetzte Mr. Pickwick. „Ein Glas Brandy hierher!“
Das Getränk wurde gebracht, Mr. Weller schüttelte sein Haar gegen Mr. Pickwick, nickte Sam zu und stürzte das Glas in seine geräumige Kehle hinab, als wäre es nur ein Fingerhütchen voll.
„Bravo, Vater“, sagte Sam. „Aber nimm dir in acht, alter Knabe, daß dir die Gicht nich wieder besuchen kommt.“
„Ich hab ’n Universalmittel dagegen gefunden, Sammy.“
„Ein Universalmittel gegen die Gicht?“ rief Mr. Pickwick und zog hastig sein Notizbuch hervor. „Und was wäre das?“
„Die Gicht, Sir“, erklärte Mr. Weller, „die Gicht ist ’n Leiden, wo vom allzu bequemen und behaglichen Leben herrühren tut. Wenn Sie mal die Gicht kriegen, Sir, dann heiraten Sie ’n Wittweib, das „ne laute Stimme hat und sie auch zu gebrauchen versteht: Sie werden nie wieder die Gicht bekommen. Ein Kapitalrezept, Sir. Ich habe es gründlich eingenommen und garantiere Ihnen, es vertreibt jede Krankheit, wo von zu großem Wohlbehagen herrühren tut.
Nachdem Mr. Weller dieses unschätzbare Geheimnis preisgegeben hatte, sog er die letzten Tropfen aus seinem Glas, blinzelte wehmütig, seufzte tief auf und entfernte sich langsam.
„Nun, was denkst du von dem, was dein Vater sagt, Sam?“ fragte Mr. Pickwick lächelnd.
„Was ich denke, Sir?“ erwiderte Sam. „Nun, ich denke, er ist das Opfer von die Ehe, wie Blaubarts Hauskaplan mit „ner Träne des Mitleids sagte, als er ihm begrub.“
Mr. Pickwick antwortete nichts auf diesen sehr passend angebrachten Schluß, bezahlte und machte sich auf den Weg nach Grays Inn.
Als er dies entlegene Viertel erreicht hatte, war es bereits acht Uhr vorüber, und der ununterbrochene Strom von Herren in bespritzten Stiefeln, schmutzigen weißen Hüten und abgetragnen Kleidern, der zu den verschiednen Ausgängen herausquoll, sagte ihm, daß die Mehrzahl der Kanzleien für diesen Tag geschlossen sei.
Nachdem er zwei steile und schmutzige Treppen erstiegen hatte, fand er seine Ahnung erfüllt. Mr. Perkers Außentür war verschlossen und die Grabesstille, die auf Mr. Wellers wiederholtes Anklopfen folgte, verriet, daß die Schreiber Feierabend gemacht hatten.
„Das ist eine schöne Geschichte, Sam“, sagte Mr. Pickwick. „Ich hätte keine Stunde verlieren sollen, ihn aufzusuchen. Ich weiß, ich werde jetzt die ganze Nacht kein Auge schließen vor Unruhe, die Sache nicht rechtzeitig einem Manne vom Fach übergeben zu haben.“
„Hier kommt ’n altes Weib die Treppe rauf, Sir“, bemerkte Mr. Weller. „Vielleicht weiß sie, wo wir jemand finden können. Holla, Frau Gräfin, wo sind Mr. Perkers Leute?“
„Perkers Leute?“ sagte ein dürres, elend aussehendes altes Weib, oben an der Treppe stehenbleibend, um Atem zu schöpfen. „Mr. Perkers Leute sind fort, und ich will eben die Schreibstube auskehren.“
„Sind Sie Mr. Perkers Magd?“ fragte Mr. Pickwick.
„Nö, Scheuerfrau“, antwortete das alte Weib.
„Hm“, sagte Mr. Pickwick halblaut zu Sam. „Es ist doch sonderbar, Sam, daß man die alten Weiber in diesem Viertel immer Scheuerfrauen nennt. Möchte doch wissen, warum eigentlich?“
„Es kommt, glaube ich, daher, daß ihnen das Scheuern auf den Tod zuwider ist.“
„Sollte mich nicht wundern“, gab Mr. Pickwick mit einem Blick auf die Alte zu, deren Äußeres sowohl wie der Zustand der Schreibstube, die sie jetzt geöffnet hatte, einen tief eingewurzelten Widerwillen gegen die Anwendung von Seife und Wasser verrieten. „Wissen Sie vielleicht, wo ich Mr. Perker finden kann?“
„Nö, weiß nicht“, antwortete die Alte mürrisch. „Er is verreist.“
„Das ist mißlich“, meinte Mr. Pickwick. „Können Sie mir nicht sagen, wo sein Schreiber ist?“
„O ja. Weiß schon, wo er is, aber ’s wird ihm gar nicht passen, wenn ich’s Ihnen sag.“
„Es ist etwas sehr Wichtiges“, fuhr Mr. Pickwick fort.
„Hat’s nicht Zeit bis morgen früh?“
„Nicht gut.“
„Na, wenn’s gar so was Besonderes is“, brummte die Alte, „will ich Ihnen sagen, wo er is. Hoffentlich krieg ich’s nicht. Wenn Sie jetzt grade in die ,Elster‘ gehen und in der Bar nach Mr. Lowten fragen, können S‘ ’n finden. So heißt der Schreiber von Mr. Perker.“
Nachdem Mr. Pickwick sich noch darüber hatte belehren lassen, das fragliche Gasthaus stehe in einem Hofe und habe den doppelten Vorteil, in der Nähe von Clare Market zu liegen und an die Rückseite von New-Inn zu stoßen, kletterte er mit Sam glücklich die gefährliche Treppe wieder hinunter und suchte die „Elster“ auf.
Diese beliebte Schenke, den Bacchanalien Mr. Lowtens und Konsorten geweiht, war, was gewöhnliche Leute mit dem Namen Schanklokal bezeichnet haben würden. Der Wirt war ein Mann, der sich aufs Geldmachen verstand, was sich durch den Umstand, daß ein Verschlag unter dem Schenkzimmerfenster, an Gestalt und Größe einer Sänfte nicht unähnlich, an einen Schuhflicker vermietet war, hinlänglich verriet; daß er zugleich auch Philanthrop war, ging aus dem Schütze hervor, den er einem Pastetenbäcker angedeihen ließ, der seine Leckerbissen ungestört an der Türschwelle verkaufen durfte. Hinter den niederen Fenstern, die mit Vorhängen von Safranfarbe geziert waren, staken zwei bis drei gedruckte Anpreisungen von Devonshire-Apfelwein und Danziger Sprossenbier, während eine große schwarze Tafel mit weißen Buchstaben einem verehrlichen Publikum anzeigte, daß 500000 Fässer Doppelbräu in den Kellern des Etablissements lägen, wobei sie den Geist in einer kitzelnden Ungewißheit hinsichtlich der Richtung ließ, nach der sich diese ungeheuren Gewölbe ins Innere der Erde erstrecken möchten. Fügt man noch hinzu, daß ein verwittertes Schild das halbblinde Konterfei einer Elster darstellte, die eine krumme Linie von brauner Farbe aufmerksam betrachtete, ein Gekleckse, das man den Nachbarn von Jugend auf als einen Baumstumpf bezeichnet hatte, so ist alles Erwähnenswerte über das Äußere des Gebäudes gesagt.
Als sich Mr. Pickwick vor dem Schenkverschlag blicken ließ, tauchte eine ältliche Frau hinter einem Wandschirm auf und vertrat ihm den Weg. „Ist Mr. Lowten hier, Ma’am?“ fragte Mr. Pickwick.
„Ja, Sir. – Charley, führe den Herrn zu Mr. Lowten.“
„Der Herr kann jetzt nicht hinein“, erwiderte ein schlenkriger Pikkolo mit einem roten Kopf. „Mr. Lowten singt eben was Komisches, und es könnt ihn rausbringen, ’s wird gleich aus sein, Sir.“
Ein allgemeines Hämmern auf. die Tische und ein lebhaftes Klingeln der Gläser kündigten im selben Augenblick an, daß der Gesang soeben beendigt worden war.
Mr. Pickwick überließ es Sam, es sich im Schenkzimmer gütlich zu tun, und wurde zu Mr. Lowten geführt.
Auf die Ankündigung: „Es will Sie jemand sprechen, Sir“, richtete ein junger Mann mit aufgedunsenem Gesicht, der den Stuhl am oberen Ende der Tafel innehatte, seine Blicke erstaunt nach der Richtung, aus der die Stimme kam, und sein Erstaunen schien sich keineswegs zu vermindern, als seine Augen auf einer Person haftenblieben, die er nie zuvor gesehen hatte.
„Ich bitte um Entschuldigung, Sir“, begann Mr. Pickwick, „und auch der andern Herren wegen tut es mir leid, daß ich störe, aber ich komme in einer sehr dringenden Angelegenheit, und wenn Sie mir in einer Ecke dieses Zimmers fünf Minuten lang Gehör schenken wollten, würden Sie mich sehr verbinden.“
Der junge Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht stand auf, zog einen Stuhl in einen dunklen Winkel zu Mr. Pickwick und lauschte aufmerksam auf dessen Leidensgeschichte.
„Ja“, sagte er, als Mr. Pickwick geendet hatte. „Dodson und Fogg – scharfe Praktiker das. – Vortreffliche Geschäftsleute, Dodson und Fogg, Sir. Perker ist verreist und wird vor Ende der nächsten Woche nicht zurückkommen. Aber wenn Sie eine Replik wünschen und mir die Abschrift der Klage mitteilen wollen, so kann ich alle Schritte einleiten, die bis zu seiner Rückkunft nötig sind.“
„Eben deswegen bin ich hier“, sagte Mr. Pickwick und händigte Mr. Lowten sein Dokument ein. „Wenn etwas Besonderes vorfallen sollte, so können Sie mir nach Ipswich schreiben.“
„Sehr wohl“, erwiderte Mr. Perkers Schreiber und fügte, da er Mr. Pickwick neugierige Blicke nach dem Tisch hinüberwerfen sah, hinzu: „Wollen Sie sich nicht ein halbes Stündchen zu uns setzen, Sir? Wir haben heute abend eine exquisite Gesellschaft beisammen. Dort den Sekretär von Samkins und Greens und Smithers und Prices Substituten, der Erste Schreiber von Pimkins und Tomas – singt großartig – und Jack Bamber und noch viele andre. Sie kommen vermutlich vom Lande. Wollen Sie nicht mithalten?“
Mr. Pickwick konnte einer so verlockenden Gelegenheit, die menschliche Natur zu studieren, unmöglich widerstehen. Er ließ sich der Gesellschaft in aller Form vorstellen, erhielt den Ehrenplatz neben dem Präsidenten angewiesen und bestellte sich ein Glas von seinem Lieblingsgetränk.
Ganz gegen seine Erwartung trat tiefe Stille ein.
„Stört Sie doch nicht, wenn ich rauche, Sir?“ fragte endlich sein Nachbar zur Rechten, ein Gentleman in einem gestreiften Hemd mit Mosaikknöpfen, mit einer Zigarre im Mund.
„Nicht im geringsten“, erwiderte Mr. Pickwick. „Ich habe es sehr gern, wenn ich auch selbst Nichtraucher bin.“
„Letzteres kann ich von mir nicht sagen“, fiel ein andrer Herr an der gegenüberliegenden Seite des Tisches ein. „Rauchen ersetzt mir Wohnung, Speise und Trank.“
Mr. Pickwick sah den Sprecher von der Seite an und dachte: Wenn es ihm auch die weiße Wäsche ersetzen würde, wäre es noch besser.
Abermals trat eine Pause ein. Mr. Pickwick störte offenbar als Fremder mit seiner Gegenwart die Gesellschaft.
„Mr. Grundy wird uns mit einem Liedchen erfreuen“, brach der Präsident das Schweigen.
„Nein, wird er nicht“, sagte Mr. Grundy.
„Warum nicht?“ fragte Mr. Lowten.
„Weil ich nicht kann“, versetzte Mr. Grundy.
„Sagen Sie lieber, weil Sie nicht wollen.“
„Also gut, weil ich nicht will.“
Mr. Grundys so bestimmte Weigerung, die Gesellschaft zu unterhalten, veranlaßte ein abermaliges Stillschweigen.
„Will denn niemand etwas zur Unterhaltung beitragen?“ fragte der Präsident entmutigt.
„Warum tragen denn Sie selbst nichts dazu bei, Herr Präsident?“ fragte ein junger Mann mit einem Backenbart, Schielaugen und einem schmutzigen offenen Hemdkragen am untern Ende des Tisches.
„Hört, hört!“ rief der Gentleman mit den Mosaikknöpfen.
„Weil ich nur ein einziges Lied kann und es bereits gesungen habe“, erwiderte der Präsident. „Es kostet ja eine Strafrunde, wenn man an einem Abend dasselbe Lied zweimal singt.“
Gegen diese Erwiderung ließ sich nichts einwenden, und das Gespräch stockte abermals.
„Ich war heute abend“, sagte Mr. Pickwick, in der Hoffnung, ein Thema zur Sprache zu bringen, an dem sich die ganze Gesellschaft beteiligen könnte, „ich war heute abend an einem Ort, den Sie alle ohne Zweifel sehr gut kennen, den ich aber seit vielen Jahren nicht mehr besucht habe und der mir eigentlich fast fremd ist. Ich meine Grays Inn, meine Herren. Merkwürdiges Winkelwerk für eine so große Stadt wie London, diese alten Inns.“
„Bei Gott“, flüsterte der Präsident Mr. Pickwick über den Tisch zu, „Sie haben damit etwas berührt, worüber wenigstens einer von uns in einem fort sprechen könnte. Der alte Jack Bamber wird gleich damit herausrücken. Man hat ihn noch nie über etwas anderes sprechen hören, als über die Inns, und er hat fast sein ganzes Leben einsam drin gehaust, bis er halb verrückt drüber geworden ist.“
Die Person, auf die Lowten anspielte, war ein kleiner, gelber, hochschulteriger Mann, der jetzt plötzlich sein helles graues Auge mit einem forschenden, durchdringenden Blick auf Mr. Pickwick richtete. Auf seinen markanten Zügen lag beständig ein unveränderliches bitteres Lächeln, sein Kinn war auf eine lange fleischlose Hand mit Nägeln von außerordentlicher Länge gestützt, und als er jetzt den Kopf auf die Seite neigte und unter den buschigen grauen Augenbrauen hervorschaute, lauerte in seinem durchdringenden Blick ein seltsamer Ausdruck grollender Schlauheit, vor dem sich das Auge des Beschauers unwillkürlich abwandte.
So sah der Mann aus, der jetzt sein Gesicht der Gesellschaft zukehrte und, plötzlich ganz Feuer und Leben, zu erzählen begann.