Siebzehntes Kapitel
Enthält zu viele Abenteuer, um sie kurz angeben zu können.
Es gibt keinen Monat im ganzen Jahre, in dem die Natur einen herrlicheren Anblick bietet als im August. Wohl hat der Lenz seine Reize, und der Mai ist heiter und blütenreich, aber das liegt an dem Kontrast mit dem Winter, der diese Jahreszeit so lieblich erscheinen läßt. Der August hingegen ist auf sich selbst beschränkt. Er kommt, wenn wir bereits verwöhnt sind von klarem Himmel, grünen Wiesen und süß duftenden Blumen und die Erinnerung an Schnee und Eis und rauhe Winde fast ganz aus unserm Gedächtnis entschwunden ist. – Und doch, welch köstliche Zeit! Baumgärten und Getreidefelder sind belebt vom Gesang fröhlicher Arbeiter, die Bäume beugen sich unter der Last reifer Früchte, und das gelbe Korn, die Landschaft vergoldend, läßt seine Ähren unter dem leisesten Lüftchen wogen und ruft nach der Sichel. Ein Geist des Friedens ist ausgegossen über der Erde, und geräuschlos schwankt der schwere Erntewagen über das Feld.
Schnell rollt die Postkutsche durch die Baumgärten dahin die Straße entlang, und die Weiber und Kinder, die die Frucht in Garben binden oder die zerstreuten Ähren sammeln, bleiben gruppenweise stehen und feiern für einen Augenblick. Der Schnitter hält in seiner Arbeit inne und sieht mit verschränkten Armen dem Gefährt nach, und die derben Ackergäule werfen einen schläfrigen Blick auf die schmucken Kutschenrosse, der so deutlich, wie es ein Pferdeblick vermag, sagt: Das ist alles recht schön anzusehen, aber langsam über ein Ackerfeld hinzugehen, ist im Grunde doch besser als eine heiße Arbeit wie diese auf der staubigen Straße. Dann nehmen die Weiber und Kinder ihre Arbeit wieder auf, der Schnitter bückt sich mit seiner Sichel, und die Gäule ziehen langsam an.
Natürlich verfehlte eine Szene wie diese nicht ihre Wirkung auf das empfängliche Gemüt Mr. Pickwicks. Mit seinem Entschlüsse beschäftigt, den schurkischen Jingle zu entlarven, saß er anfangs stumm und in Gedanken verloren da; aber nach und nach lenkte sich seine Aufmerksamkeit mehr und mehr auf die Umgebung, und schließlich gewährte ihm der Ausflug so viel Genuß, als hätte er ihn nur zum Vergnügen unternommen. „Ein entzückender Anblick, Sam“, bemerkte er.
„Is den Schornsteinen in London bedeutend über“, versetzte Mr. Weller und lüftete den Hut.
„Du hast wohl auch in deinem Leben nicht viel anderes gesehen als Schornsteine, Steinbauten und Mörtel?“ fragte Mr. Pickwick lächelnd. „Bin nich immer Hausknecht gewesen, Sir“, entgegnete Mr. Weller mit Kopfschütteln. „War früher Fuhrmannsjunge. Zuerst war ich bei ’nem Kärrner, dann bei ’nem Fuhrmann, dann hab ich’s zum Aushelfer gebracht und dann zum Hausknecht. Und jetzt bin ich Bedienter bei ’nem Schenlmän. Nächstens werd ich vielleicht selbst ’n Schenlmän, mit ’ne Feife im Mund und ’nem Sommerhaus mit Hintergarten. Kann man nie wissen.“
„Du bist ja ein Philosoph, Sam“, bemerkte Mr. Pickwick.
„Erbstück, Sir“, versetzte Mr. Weller. „Mein Vater ist sehr stark in dieser Richtung. Wenn meine Stiefmutter keift, feift er. Und wenn sie vor Wut seine Feife zerbricht und Krämpfe kriegt, geht er langsam raus, holt sich ’ne andre und raucht ganz gemütlich, bis sie wieder zu sich kommt. Ich dächte, das is die wahre Philosophie, Sir.“
„Auf alle Fälle ein gutes Ersatzmittel dafür“, gab Mr. Pickwick lachend zu. „Es muß dir im Laufe deines Lebens oft gut zustatten gekommen sein, Sam?“
„Will ich meinen, Sir! Bevor ich zum Fuhrmann kam, wohnte ich in ’nem Logis ohne Möbel. Da kam sie mir gut zustatten.“
„Ohne Möbel?“ fragte Mr. Pickwick.
„Ja – die drei Bögen der Waterloobrücke. Hübsche Schlafstätte, nur die Lage bißchen zu luftig. Habe dort seltsame Dinge zu sehen gekriegt.“
„Das glaube ich“, versetzte Mr. Pickwick mit einer Miene, die großes Interesse verriet.
„Dinge, Sir“, fuhr Mr. Weller fort, „wo Ihr menschenfreundliches Herz durchdrungen hätten, daß se auf der andern Seite wieder rausgekommen wären. Nicht etwa ausgelernte Vagabunden wohnten dort; die wissen sich was Besseres als das. Junge Bettler und Bettlerinnen, wo noch in die Lehre gehen. Oder arme Deibel, die den Zweipfennigstrick nich erwischen konnten.“
„Zweipfennigstrick? Was ist das?“ fragte Mr. Pickwick wißbegierig.
„Zweipfennigstrick, Sir? ’ne wohlfeile Herberge, wo das Bett zwei Pence kostet.“
„Warum nennt man denn ein Bett einen Strick?“ fragte Mr. Pickwick.
„Gott segne Ihre Unschuld, Sir“, erwiderte Sam. „Als das Hotel eröffnet wurde, betteten sie zuerst auf dem Boden auf, aber das zahlte sich nich aus. Anstatt bescheiden ihre zwei Pence abzuschlagen, blieben die Gäste den halben Tag liegen. Jetzt haben sie zwei Stricke dort mit Hängematten aus Sackleinwand darauf, und wenn’s sechs Uhr läutet, binden se die Enden auf, und da fallen se dann haufenweis runter und sind bestimmt wach. – Übrigens, ist das Bury St. Edmunds?“
„Ja, ich glaube“, erwiderte Mr. Pickwick. Die Postkutsche rasselte über die wohlgepflasterten Straßen eines hübschen Städtchens von wohlhabendem und reinlichem Aussehen und hielt vor einem großen Gasthof in einer breiten, offenen Straße, beinahe gerade der alten Abtei gegenüber.
„Und dies“, sagte Mr. Pickwick und blickte auf, „ist der ,Engel‘. Wir müssen höchst vorsichtig sein, Sam. Bestelle ein Zimmer für mich, nenne aber meinen Namen nicht. Du verstehst?“
Mr. Weller blinzelte pfiffig, tat, wie ihm geheißen, besorgte die Mantelsäcke und geleitete gleich darauf Mr. Pickwick in sein Zimmer.
„Das erste, was wir jetzt zu tun haben, Sam“, sagte Mr. Pickwick, „ist …“
„Das Essen bestellen, Sir“, unterbrach ihn Mr. Weller. „Es ist schon sehr spät.“
„Hm, allerdings“, sagte Mr. Pickwick und sah auf seine Uhr.
„Und wenn ich Ihnen raten darf, Sir, so würde ich mich an Ihrer Stelle nach dem Essen zu Bett begeben und erst morgen, ausgeschlafen, ans Werk gehen, ’s is nichts so erquickend wie ’n ordentlicher Schlaf, Sir, wie das Schenkmädchen sagte, ehe sie das Glas Opium austrank.“ „Da magst du recht haben, Sam“, versetzte Mr. Pickwick. „Aber erst muß ich mich überzeugen, ob der Schurke im Hause ist und sich nicht etwa heute noch aus dem Staube macht.“
„Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Sir“, sagte Sam. „Ich bestelle unten ’n hübsches kleines Abendessen für Ihnen und werde dabei meine Nachforschungen anstellen. Ich will nich Sam Weller heißen, wenn ich nich in fünf Minuten alles aus dem Hausknecht rausgepumpt habe, was drin is.“
„Also gut, tue das“, sagte Mr. Pickwick, und Mr. Weller entfernte sich.
Nach Verlauf einer halben Stunde saß Mr. Pickwick bereits vor einem sehr ausgiebigen Mahl, und nach weiteren fünfzehn Minuten erschien Mr. Weller mit der Nachricht, Mr. Charles Fitz-Marshall habe angeordnet, man solle ihm sein Zimmer bis auf weiteres reservieren. Er sei nur ausgegangen, um den Abend in einem benachbarten Privathause zuzubringen, habe dem Hausknecht befohlen, bis zu seiner Rückkunft aufzubleiben, und sei dann mit seinem Diener weggegangen.
„Ich werde mir morgen früh den Bedienten ausborgen und schon rauskriegen, was sein Herr vorhat“, schloß Mr. Weller seinen Bericht. „Wie wollen Sie das vorher wissen?“ warf Mr. Pickwick ein.
„Du meine Güte! Aber das tun Diener doch immer, Sir“, antwortete Mr. Weller.
„Ach so, ja, daran dachte ich nicht“, sagte Mr. Pickwick, „na schön.“
„Sie können dann festlegen, was am besten zu machen is, Sir, und demzufolge geht’s dann los.“
Da dies offenbar die beste Lösung war, die sich finden ließ, wurde sie gewählt. Mr. Weller zog sich mit der Erlaubnis Mr. Pickwicks zurück, um den Abend nach Gutdünken zu verbringen; bald darauf wurde er von den Besuchern des Schankstübchens einstimmig zum Vorsitzenden gewählt. In dieser Eigenschaft machte er sich so gut und erntete so viel Zufriedenheit bei den versammelten Gentlemen, daß die Beifallsrufe und das dröhnende Gelächter bis in Mr. Pickwicks Schlafzimmer drangen und seine Nachtruhe gut und gerne um drei Stunden verkürzten.
Zeitig am folgenden Morgen vertrieb sich Mr. Weller eben die Nachwehen des verfloßnen Abends durch ein Halbpennysturzbad, das heißt, er ließ sich von einem Gentleman, der im Stalldepartement angestellt war, Wasser über Kopf und Nacken pumpen, da wurde er einen jungen Mann in maulbeerfarbener Livree gewahr, der auf einer Bank im Hofe mit einer Miene tiefen Nachsinnens in einem Gebetbuch las, aber doch von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick auf die Vorgänge bei der Pumpe warf, als ob sie sein Interesse sehr in Anspruch nähmen.
Scheinst mir ein seltsamer Bursche zu sein, deinem Aussehen nach, dachte Mr. Weller, als seine Augen zum erstenmal den Blicken des Fremden in der maulbeerfarbenen Livree begegneten, der ein breites, schmutziges, häßliches Gesicht, tiefliegende Augen und einen riesigen Kopf hatte, von dem ein Wust schlichten schwarzen Haares herabhing. Ein seltsamer Bursche, sagte sich Mr. Weller und setzte sein Bad fort, ohne sich weiter Gedanken zu machen.
Da aber der Mensch immer wieder von seinem Gebetbuch aufsah und nach ihm schielte, als ob er eine Unterhaltung anzuknüpfen wünschte, nickte er ihm schließlich, um ihm Gelegenheit dazu zu geben, vertraulich zu und sagte:
„Wie geht’s, Gouverneur?“
„Gottlob, gut, ziemlich gut, Sir“, antwortete der Mensch mit bedächtiger Langsamkeit und klappte das Buch zu. „Ich hoffe, Ihnen ebenfalls?“ „Na, wenn ich mir weniger als wandelnde Branntweinflasche fühlen würde, dann wäre ich diesen Morgen nich so flaumenweich“, antwortete Sam. „Loschieren Sie hier im Hause?“
Der Maulbeerfarbene bejahte.
„Warum haben Sie denn gestern nacht nicht mitgehalten?“ fragte Sam und trocknete sich das Gesicht mit dem Handtuch ab. Scheinst mir einer von der fidelen Sorte zu sein. Siehst so gesellig aus wie ’ne lebende Forelle in ’ner Reuse, setzte er innerlich hinzu.
„Ich war gestern abend mit meinem Herrn aus“, erwiderte der Fremde.
„Wie heißt er?“ fragte Mr. Weller, von einer plötzlichen Ahnung ergriffen.
„Fitz-Marshall“, antwortete der Maulbeerfarbene.
„Geben Sie mir die Hand“, sagte Mr. Weller und trat näher. „Sie gefallen mir, alter Bursche.“
„Nun, das ist höchst seltsam“, bemerkte der Maulbeerfarbene schlicht, „auch Sie haben mir gleich so gefallen, daß ich Sie vom ersten Augenblick an, wo ich Sie unter der Pumpe sah, am liebsten angesprochen hätte.“
„Wahrhaftig?“
„Auf mein Wort. Ist das nicht kurios?“
„Sehr sonderbar“, bestätigte Sam und beglückwünschte sich innerlich zu der Zutraulichkeit des Fremden. „Wie heißen sie eigentlich, würdiger Vater?“
„Hiob.“
„Hm, ein sehr guter Name das; der einzige meines Wissens, wo sie noch keinen Spitznamen draus gemacht haben. Und weiter?“
„Trotter“, antwortete der Fremde. „Und Sie?“
Sam gedachte der Mahnung seines Herrn und sagte:
„Mein Name ist Walker, und mein Herr heißt Wilkins. Wollen Sie nich ’n Tropfen mit mir hinter die Binde gießen, Mr. Trotter?“
Mr. Trotter ging auf diesen annehmbaren Vorschlag ein, steckte sein Buch in die Rocktasche und begleitete Mr. Weller in die Trinkstube, wo sie sich alsbald der Untersuchung einer herzstärkenden Mischung aus Wacholderbranntwein und Nelkenessenz widmeten.
„Und was für „n Posten haben Sie?“ fragte Sam, als er das Glas seines Gefährten zum zweiten Male füllte.
„’n schlechten“, antwortete Hiob, mit den Lippen schmatzend, „’n sehr schlechten.“
„Das ist doch nich Ihr Ernst?“ fragte Sam.
„Mein vollkommener Ernst. Und was noch schlimmer ist, mein Herr will heiraten.“
„Was Sie nich sagen!“
„Ja, leider. Und noch schlimmer als das, er will eine unermeßlich reiche Erbin aus einem Pensionat entführen.“
„’n nettes Scheusal, das“, äußerte Sam, seines Gefährten Glas wieder füllend. „Aus ’nem Pensionat hier in der Stadt wohl, was?“
Obgleich die Frage scheinbar in ganz unbefangnem Ton hingeworfen wurde, gab doch Mr. Hiob Trotter durch Gebärden deutlich zu erkennen, daß er die Absicht seines neuen Freundes durchschaute. Er leerte sein Glas, machte ein geheimnisvolles Gesicht, blinzelte mit seinen beiden Äuglein – zuerst mit dem rechten, dann mit dem linken – und machte schließlich eine Bewegung mit dem Arme, als ob er an einem Brunnenschwengel zöge, um dadurch anzuzeigen, daß er gar wohl wisse, Mr. Weller gedenke ihn auszupumpen.
„Nein, nein“, sagte er endlich. „Das darf ich nicht sagen; das ist ein Geheimnis, ein großes Geheimnis, Mr. Walker.“
Er stürzte dabei sein Glas um, um seinem Gefährten anzudeuten, daß nichts mehr darin sei. Sam verstand den zarten Wink und ließ, zur großen Freude des Maulbeerfarbenen, das zinnerne Gefäß nochmals füllen.
„So, so, ist’s wirklich ein Geheimnis?“ fragte er dann.
„Ich möchte denken, ja“, erwiderte Mr. Hiob Trotter und schlürfte seinen Trank mit Wohlbehagen.
„Ihr Herr ist wohl sehr reich?“
Mr. Trotter lächelte und schlug sich ausdrucksvoll viermal auf die Hosen, wie um damit anzudeuten, daß sein Herr das auch tun könnte, ohne jemand durch Geldklimpern in Unruhe zu versetzen.
„Hm“, sagte Sam, „so stehen die Sachen!“
Der Maulbeerfarbene nickte bejahend.
„Na, und daß Sie Ihren Herrn so mir nichts, dir nichts die junge Dame entführen lassen“, fing Mr. Weller wieder an, „macht Ihnen weiter keine Gewissensbisse nich, was, alter Prophet?“
„Ach, und wie“, seufzte Hiob Trotter mit einem Blick voll Seelenqual. „Ach, und wie! Es nagt wie ein Wurm an meinem Herzen. Aber was soll ich tun?“
„Tun?“ fragte Sam. „Die Sache der Vorsteherin melden und Ihren Posten aufgeben.“
„Sie würde mir nicht glauben“, erwiderte Hiob Trotter. „Die junge Dame gilt für die Unschuld und Besonnenheit selbst. Sie würde es leugnen und mein Herr auch. Wer würde mir glauben? Ich würde meinen Posten verlieren und noch wegen Verleumdung verklagt werden; das ist alles, was dabei herauskäme.“
„’s is freilich nich ohne“, gab Sam nachdenklich zu.
„Ja, wenn ich einen angesehenen Herrn wüßte, der die Sache auf sich nähme“, fuhr Mr. Trotter fort, „dann hätte ich wohl Hoffnung, die Entführung zu verhindern. Aber das ist’s ja gerade, Mr. Walker, das ist’s ja gerade. Ich kenne hier niemand, und dann, wenn ich es auch jemand sagte, wer würde mir denn die Geschichte glauben?“
„Kommen Sie mal mit“, sagte Sam, sprang plötzlich auf und faßte den Maulbeerfarbenen am Arm. „Mein Herr ist der Mann, den Sie suchen.“ Hiob Trotter sträubte sich nur schwach. Sam führte ihn in Mr. Pickwicks Zimmer, stellte ihn seinem Herrn vor und wiederholte kurz das Zwiegespräch, das sie soeben gehabt hatten.
„Es tut mir sehr weh, meinen Herrn verraten zu sollen“, sagte Hiob Trotter und drückte ein rotgewürfeltes Taschentuch von ungefähr drei Quadratzoll vor die Augen.
„Dieses Gefühl macht Ihnen nur Ehre“, versetzte Mr. Pickwick. „Aber nichtsdestoweniger, es ist Ihre Pflicht.“
„Ich weiß, es ist meine Pflicht, Sir“, erwiderte Hiob mit großer Rührung. „Wir alle sollen unsre Pflicht tun, Sir, und ich bin in Demut bemüht, die meinige zu erfüllen, Sir; aber es ist eine schwere Prüfung, seinen Herrn zu verraten, dessen Kleider man trägt und dessen Brot man ißt, selbst wenn er ein Schurke ist, Sir.“
„Sie sind ein guter Mensch“, bemerkte Mr. Pickwick ergriffen. „Ein sehr ehrenhafter Mensch.“
„Ach was“, fiel Sam ein, der Mr. Trotters Tränen voll Ungeduld mit angesehen hatte. „Geben Sie die Regnerei auf ; ’s hat doch keinen Sinn nich.“
„Sam!“ sagte Mr. Pickwick vorwurfsvoll. „Es tut mir sehr leid, daß du so wenig Achtung vor den Gefühlen dieses jungen Mannes an den Tag legst.“
„Gefühle sin recht gut und schön, Sir“, versetzte Mr. „Weller, „aber s‘ is schade, daß er sie so in Wasser umsetzen tut. Mit Tränen hat noch nie einer ’ne Uhr aufgezogen oder ’ne Dampfmaschine getrieben. Wenn Sie wieder mal in ’ne Tabakbude gehen, junger Mann, denn stopfen Sie sich die Pfeife mit diese Betrachtung. Stecken Sie sich lieber das bißchen rote Baumwolle in die Tasche, ’s ist gar nich schön, daß Sie so damit rumfuchteln tun wie ’n Seiltänzer.“
„Mein Bedienter hat nicht so unrecht“, wendete sich Mr. Pickwick zu Hiob, „wiewohl seine Art, sich auszudrücken, etwas unmanierlich und bisweilen unverständlich ist.“
„Er hat sehr recht, Sir“, seufzte Mr. Trotter, „ich will mich beherrschen.“
„Sehr wohl“, sagte Mr. Pickwick, „und wo ist das Institut?“
„Es ist ein großes altes Haus aus roten Ziegeln, gerade vor der Stadt“, erwiderte Hiob Trotter.
„Und wann soll der schändliche Plan ausgeführt werden, wann soll die Entführung stattfinden?“
„Heute abend, Sir.“
„Heute abend!“ rief Mr. Pickwick.
„Noch heute abend, Sir“, versicherte Hiob Trotter. „Das ist’s, was mich so sehr beunruhigt.“
„Es müssen augenblicklich Maßnahmen getroffen werden“, sagte Mr. Pickwick. „Ich werde sofort die Dame aufsuchen, die dem Pensionat vorsteht.“ „Bitte um Verzeihung, Sir“, wendete Hiob ein, „aber auf diese Art geht es nicht.“
„Warum nicht?“
„Mein Herr ist. äußerst gerieben.“
„Oh, das weiß ich“, sagte Mr. Pickwick.
„Und er hat die gute Dame so beschwatzt“, fuhr Hiob fort, „daß sie nichts zu seinem Nachteil glauben wird, und wenn Sie es auf den Knien beschwören; überdies haben Sie keinen andern Beweis als die Aussagen eines Bedienten, von dem man dann behaupten wird, er sei wegen irgendeines Vergehens fortgejagt worden und handle aus Rache.“
„Was wäre da also zu tun?“ fragte Mr. Pickwick.
„Nichts kann die alte Dame überzeugen, außer wenn wir ihn auf der Tat ertappen“, meinte Hiob.
„Alte Katzen wollen eben mit dem Kopf durch die Wand“, bemerkte Mr. Weller in Parenthese.
„Aber dieses Auf-der-Tat-Ertappen, fürchte ich, wird ziemlich schwer auszuführen sein“, wendete Mr. Pickwick ein.
„Ich weiß nicht, Sir“, entgegnete Mr. Trotter, nachdem er einige Minuten nachgedacht hatte. „Ich dächte, es müßte sehr leicht gehen.“
„Wie?“ fragte Mr. Pickwick.
„Nun, sehen Sie, mein Herr und ich sind mit den beiden Mägden im Einverständnis und werden uns um zehn Uhr in der Küche verstecken. Wenn sich die Familie zur Ruhe begeben hat, wird die junge Dame aus ihrem Schlafzimmer kommen. Eine Postkutsche wartet auf uns, und wir fahren ab.“
„Gut, und?“
„Nun, Sir, da habe ich mir gedacht, wenn Sie im Garten hinten warten würden, allein …“
„Allein?“ wiederholte Mr. Pickwick. „Und warum denn allein?“
„Ich dächte“, versetzte Hiob, „es könnte der alten Dame nicht erwünscht sein, wenn eine so peinliche Entdeckung von mehr Personen gemacht würde, als gerade unumgänglich nötig sind. Der jungen Dame ebensowenig, Sir. Bedenken Sie, Sir …“
„Sie haben vollkommen recht“, sagte Mr. Pickwick. „Diese Rücksicht ist wiederum ein Beweis von großem Zartgefühl. Fahren Sie fort. Sie haben vollkommen recht.“
„Nun, und da dachte ich, Sir, wenn Sie im rückwärtigen Garten allein warteten und ich Sie dann Punkt halb zwölf Uhr durch die Tür einließe, die aus dem Hausgang in den Garten führt, so würden Sie gerade im rechten Augenblick ankommen, um mir die Pläne dieses schlechten Menschen vereiteln zu helfen, in dessen Netz ich unglücklicherweise mit verstrickt bin.“ Mr. Trotter seufzte tief.
„Grämen Sie sich deswegen nicht“, tröstete ihn Mr. Pickwick. „Wenn er nur eine Spur von Ihrem Zartgefühl hätte, so untergeordnet Ihre Stellung auch sein mag, so würde ich selbst ihn noch nicht ganz verloren geben.“
Hiob Trotter verbeugte sich tief, und wieder traten Tränen in seine Augen.
„So ’nen Burschen hab ich mein Lebtag noch nicht gesehen“, brummte Sam. „Gott straf mich, ich glaube, er hat ’n Wasserschlauch im Kopf, den braucht er immer bloß zu drücken.“
„Sam!“ ermahnte. Mr. Pickwick mit großer Strenge. „Halte deinen Mund.“
„Sehr wohl, Sir.“
„Der Plan gefällt mir nicht besonders“, sagte Mr. Pickwick nach tiefem Nachdenken. „Warum kann ich mich eigentlich nicht mit den Verwandten der jungen Dame in Verbindung setzen?“
„Weil sie hundert Meilen von hier wohnen, Sir“, antwortete Hiob Trotter.
„Da is allerdings ’n Riegel vorgeschoben“, brummte Mr. Weller leise vor sich hin.
„Und dann dieser Garten!“ fing Mr. Pickwick wieder an. „Wie soll ich hineinkommen?“
„Die Mauer ist sehr niedrig, Sir, und Ihr Bedienter kann Sie hinaufheben.“
„Mein Bedienter kann mich hinaufheben“, wiederholte Mr. Pickwick mechanisch. „Sie sind also bestimmt an der Tür, von der Sie sprachen?“
„Sie können sie nicht verfehlen, Sir; es ist die einzige, die in den Garten führt. Klopfen Sie nur, wenn Sie die Stunde schlagen hören, und ich werde Ihnen augenblicklich öffnen.“
„Der Plan gefällt mir zwar nicht“, sagte Mr. Pickwick, „aber da ich keinen besseren weiß und das Lebensglück der jungen Dame auf dem Spiele steht, willige ich ein. Gut. Ich werde kommen.“
Zum zweiten Male verwickelte sich so Mr. Pickwick in seiner angeborenen Herzensgüte in ein Unternehmen, von dem er sich sonst ferngehalten haben würde.
„Und wie heißt das Haus?“
„Westgatehouse, Sir. Sie wenden sich ein wenig nach rechts, wenn Sie ans Ende der Stadt kommen; es liegt in geringer Entfernung von der Landstraße, und der Name steht auf einer Messingplatte am Tor.“
Mr. Trotter machte eine zweite Verbeugung und wollte sich entfernen, aber Mr. Pickwick hielt ihn zurück und drückte ihm eine Guinee in die Hand.
„Sie sind ein wackerer Bursche“, sagte er, „und ich bewundere Ihr gutes Herz. Nein, kein Wort des Dankes! Also, vergessen Sie die Stunde nicht! – Elf Uhr!“
„Seien Sie unbesorgt, Sir!“ beteuerte Hiob Trotter und verließ das Zimmer.
Sam folgte ihm.
„Hören Sie mal“, sagte er, „das Geflenne ist doch nicht so übel. Wenn das immer so wirkt, würde ich auch tropfen wie ’ne Dachrinne, wenn’s regnet. Wie machen Sie das eigentlich?“
„Es kommt aus dem Herzen, Mr. Walker“, erwiderte Hiob feierlich. „Guten Morgen, Sir.“
Du wärst mir so der Richtige! Na, macht nichts, jedenfalls haben wir alles aus dir rausgequetscht, dachte Mr. Weller, als sich Hiob entfernte. Die Gedanken, die Mr. Trotters Geist durchzogen, können wir nicht genau angeben, weil wir sie nicht kennen.
Der Tag neigte sich, der Abend kam, und kurz vor zehn Uhr berichtete Sam Weller, Mr. Jingle und Mr. Hiob seien miteinander ausgegangen, hätten ihre Sachen gepackt und eine Kutsche bestellt. Das Komplott sollte offenbar ausgeführt werden; genau, wie Mr. Trotter angegeben. Es schlug halb elf Uhr, und die Zeit rückte näher, wo sich Mr. Pickwick seiner heiklen Mission entledigen sollte. Sam brachte ihm den Überrock, aber er wies das Anerbieten zurück, um beim Überklettern der Mauer nicht behindert zu sein. Dann trat er in Begleitung seines Dieners den Weg an.
Es war Vollmond, aber Wolken, verhüllten ihn. Die Nacht war schön, doch ungewöhnlich finster. Wege, Hecken, Häuser und Bäume, alles lag in tiefe Schatten gehüllt. Die Luft war heiß und schwül, und am Horizont zitterte schwach sommerliches Wetterleuchten, der einzige Schein, der die dichte Finsternis durchbrach. Kein Laut störte die Stille; nur in weiter Ferne bellte ein wachsamer Haushund.
Mr. Pickwick und sein Diener fanden das Haus, lasen die Messingplatte, gingen um die“ Mauer herum und blieben an der Stelle, wo der Garten anstieß, stehen.
„Sam, du kehrst in den Gasthof zurück, wenn du mir hinübergeholfen hast“, befahl Mr. Pickwick.
„Sehr wohl, Sir.“
„Und bleibst auf, bis ich zurückkomme! So, und jetzt halte mir das Bein hin, damit ich daraufsteigen kann, und wenn ich sage ,über‘, so hebst du mich sacht in die Höhe.“
„Ganz recht, Sir.“
Mr. Pickwick faßte den oberen Mauerrand und gab das Signal „über“, dem Sam sozusagen buchstäblich gehorchte. Ob nun der Körper des unsterblichen Mannes an der Elastizität seines Geistes partizipierte, oder ob Mr. Weller vom Sachte-in-die-Höhe-Heben eine etwas gröbere Auffassung hatte als sein Herr, jedenfalls war die unmittelbare Folge seines Beistandes, daß Mr. Pickwick über die Mauer in das untenliegende Gartenbeet fiel und drei Stachelbeerbüsche und einen Rosenstock mitriß.
„Sie haben sich doch um alles in der Welt nicht verletzt, Sir?“ fragte Sam ziemlich laut, als er sich von der Bestürzung über das geheimnisvolle Verschwinden seines Herrn ein wenig erholt hatte.
„Ich habe mich nicht verletzt, Sam, ich gewiß nicht“, antwortete Mr. Pickwick von der andern Seite der Mauer. „Ich dächte vielmehr, du hast mich verletzt.“
„Ich hoffe doch nicht, Sir“, sagte Sam.
„Mache dir weiter keine Sorgen deshalb“, versetzte Mr. Pickwick und stand auf. „Es sind nur ein paar Schrammen. Geh jetzt, man könnte uns sonst hören.“
„Guten Abend, Sir.“ „Guten Abend.“
Mit leisen Schritten entfernte sich Sam Weller und ließ Mr. Pickwick allein im Garten.
Dann und wann zeigten sich Lichter an den verschiednen Fenstern des Hauses oder schimmerten von den Treppen herüber, als die Bewohner sich zur Ruhe begaben. Mr. Pickwick wollte sich nicht vor der bestimmten Zeit an die Tür wagen und drückte sich daher einstweilen in eine Mauerecke.
Es war eine Lage, die so manchem den Mut genommen haben würde, jedoch Mr. Pickwick fühlte weder Niedergeschlagenheit noch Bangigkeit. Er wußte, daß sein Zweck in der Hauptsache ein guter war, und setzte uneingeschränktes Vertrauen in den hochherzigen Hiob. Seine Lage war zwar ermüdend, um nicht zu sagen trist, aber ein kontemplativer Geist kann sich immer mit Nachdenken beschäftigen. Mr. Pickwick meditierte sich in einen Halbschlummer hinein, aus dem er erst durch die Glockenschläge der benachbarten Kirche erweckt wurde; es schlug halb zwölf.
Die Zeit ist da, sagte er sich, schlich leise näher und sah am Hause hinauf. Die Lichter waren verschwunden und die Läden verschlossen. – Alles im Bett, ohne Zweifel. – Er ging auf den Zehen zur Tür und klopfte leise. Zwei bis drei Minuten verflossen, ohne daß eine Antwort erfolgte. Er klopfte lauter und dann noch lauter.
Endlich hörte man Fußtritte auf der Treppe, und dann schien das Licht einer Kerze durch das Schlüsselloch. Ein langes, umständliches Aufschließen und Aufriegeln, und sachte ging die Tür auf. Sie öffnete sich nach außen, und je weiter sie aufgemacht wurde, desto mehr zog sich Mr. Pickwick hinter sie zurück. Wie groß war sein Erstaunen, als er bei vorsichtigem Hervorlugen die überraschende Entdeckung machte, daß es nicht Hiob Trotter war, der öffnete, sondern ein Dienstmädchen mit einem Licht in der Hand. Mit einer Geschwindigkeit, die einem Taschenspieler Ehre gemacht haben würde, zog er seinen Kopf zurück.
„Es muß die Katze gewesen sein, Sara“, sagte das Mädchen, sich an jemand im Hause wendend. „Ws, ws, ws – zi, zi, zi.“
Aber kein Tier erschien auf ihren Lockruf. Sachte schloß das Mädchen die Tür und schob den Riegel wieder vor.
Mr. Pickwick, fest an die Mauer gedrückt, wagte kaum zu atmen.
Höchst seltsam, dachte er. Sie sind vermutlich länger als gewöhnlich aufgeblieben. Äußerst schade, daß es gerade diese Nacht sein muß. Wirklich ärgerlich. Behutsam zog er sich wieder in den Winkel zurück, in dem er sich vorher versteckt hatte, und harrte des Augenblicks, wo es rätlich sein würde, das Signal zu wiederholen.
Er war noch nicht fünf Minuten dort, als ein greller Blitzstrahl, unmittelbar gefolgt von einem furchtbaren Donnerschlag, die Finsternis zerriß. Blitz folgte auf Blitz, Krachen auf Krachen, und nieder strömte ein Platzregen mit einer Wut, die alles mit sich fortriß.
Mr. Pickwick war sich sehr wohl bewußt, daß ein Baum eine sehr gefährliche Nachbarschaft bei einem Gewitter bedeutet. Er hatte einen Baum zu seiner Rechten, einen zu seiner Linken, einen dritten vor sich und einen vierten hinter sich. Zu bleiben war nicht ratsam und höchst gefährlich, und sich mitten im Garten zu zeigen, mußte seine Anwesenheit aller Wahrscheinlichkeit nach dem Nachtwächter verraten. Ein- oder zweimal versuchte er, die Mauer zu überklettern, aber da er diesmal keine andern Beine zur Verfügung hatte als die, mit denen ihn die Natur versehen, erreichte er durch seine Anstrengungen nur so viel, daß seine Knie und Schienbeine schmerzende Schrammen davontrugen und sein ganzer Körper in kurzer Zeit in reichlichen Schweiß gebadet war.
„Welch furchtbare Situation“, seufzte Mr. Pickwick, als er nach einer solchen vergeblichen Leibesübung sich wieder die Stirn abwischte. Er sah an dem Hause hinauf. Alles war finster. Sie mußten jetzt zu Bett gegangen sein. Er wollte das Signal wiederholen.
Auf den Zehen schlich er über den nassen Sand und klopfte an die Tür. Gespannt hielt er den Atem an und lauschte am Schlüsselloch. Keine Antwort. Sehr seltsam. Er pochte noch einmal und lauschte wieder. Ein leises Geflüster wurde im Hause hörbar, dann rief eine Stimme:
„Wer ist da?“
Das ist wieder nicht Hiob, sagte sich Mr. Pickwick und drückte sich schnell an die Wand. Es ist eine Frauenstimme.
Er hatte kaum Zeit gehabt, diesen Schluß zu ziehen, als ein Fenster über der Treppe aufgerissen wurde und drei oder vier weibliche Kehlen die Frage wiederholten: „Wer ist da?“
Mr. Pickwick rührte sich nicht. Er begriff sofort, daß er das ganze Haus alarmiert hatte, und faßte den Entschluß, zu bleiben, wo er war, bis wieder Ruhe eingetreten sein würde, um dann eine übernatürliche Anstrengung zu machen und über die Mauer zu gelangen oder bei dem Versuch umzukommen.
Gleich allen Entschlüssen Mr. Pickwicks war auch das der beste, den er unter solchen Umständen fassen konnte; nur war er unglücklicherweise auf die Voraussetzung gegründet, man würde es nicht wagen, die Tür zu öffnen. Wie groß war daher seine Bestürzung, als er Schloß und Riegel klirren hörte und den Torflügel sich immer weiter und weiter öffnen sah.
Schritt für Schritt zog er sich in die Ecke zurück, aber sosehr er sich auch zusammenquetschte, er konnte nicht verhindern, daß sein Embonpoint dem weiteren Vordringen der Tür ein Ziel setzte.
„Wer ist da?“ kreischte von der Treppe herunter ein zahlreicher Chor von weiblichen Stimmen, die der jungfräulichen Vorsteherin, den Lehrerinnen, fünf Dienstboten und dreißig Pensionärinnen angehörten, alle nur halb angekleidet und unter einem Dickicht von Haarwickeln. Natürlich sagte Mr. Pickwick nicht, wer da war, und so ging die Weise des Chores über in ein: „Ach, wie bin ich erschrocken!“
„Köchin“, rief die Dame des Hauses, die die Vorsichtsmaßregel beobachtet hatte, sich oben auf der Treppe hinter der ganzen Gruppe zu verschanzen, „Köchin, warum geht Sie nicht ein paar Schritte in den Garten hinaus?“
„Ach bitt schön, Madame, ich möcht nich“, antwortete die Köchin.
„Ach Gott, das dumme Ding!“ riefen die dreißig Pensionärinnen.
„Köchin“, rief die Institutsvorsteherin mit großer Würde, „antworte Sie mir nicht immer, wenn ich etwas befehle. Ich bestehe darauf, daß Sie sogleich im Garten nachsieht.“
Die Köchin fing augenblicklich zu weinen an, und das Stubenmädchen sagte, „es wäre eine Schande“ – eine Widersetzlichkeit, die ihr eine sofortige Kündigung zuzog.
„Hört Sie, Köchin?!“ rief die Dame des Hauses abermals und stampfte ungeduldig mit dem Fuß.
„Hört Sie denn nicht, Köchin?“ echoten die drei Lehrerinnen.
„Ein unverschämtes Ding, die Köchin!“ riefen die dreißig Pensionärinnen.
So von allen Seiten gedrängt, tat die unglückliche Köchin einen Schritt vorwärts, hielt dabei ihr Licht so, daß sie überhaupt nichts sehen konnte, und erklärte, es sei nichts da und es müsse der Wind gewesen sein. Das Tor sollte eben wieder geschlossen werden, als eine wißbegierige Pensionärin, die zwischen den Angeln durchgespäht hatte, ein furchtbares Geschrei erhob.
„Was hat denn Miß Smithers?“ rief die Institutsvorsteherin‘, als die besagte junge Dame einen hysterischen Anfall bekam, der für vier ausgewachsene Jungfern ausgereicht hätte.
„Ach, der Mann, der Mann hinter der Tür“, kreischte Miß Smithers.
Die Institutsvorsteherin hörte kaum den Schreckensruf „Mann“, als sie in ihr Schlafgemach zurückeilte, die Tür hinter sich verriegelte und in eine tiefe Ohnmacht fiel. Die Pensionärinnen, die Lehrerinnen und die Mägde stürzten übereinander die Treppe hinauf, und des Schreiens, Inohnmachtfallens und Händeringens war kein Ende. Mitten in diesem schrecklichen Tumult tauchte Mr. Pickwick aus seinem Versteck auf.
„Meine Damen, meine wertgeschätzten Damen“, rief er, so laut er konnte.
„O Gott, er nennt uns Wertgeschätzte“, kreischte die älteste und häßlichste der Lehrerinnen. „Oh, der Elende.“
„Meine Damen“, schrie Mr. Pickwick, durch das Gefährliche seiner Lage förmlich in Verzweiflung versetzt, „hören Sie mich an, ich bin doch kein Räuber. Ich muß zur Dame des Hauses.“
„Ach, welch schreckliches Ungeheuer!“ rief eine andre Lehrerin. „Er will zu Miß Tomkins!“
Jammergeschrei durchgellte die Nacht.
„Zieht die Sturmglocke“, rieten ein Dutzend Stimmen.
„Bitte, nicht, bitte, nicht!“ schrie Mr. Pickwick. „Schauen Sie mich doch nur an. Sehe ich denn wie ein Räuber aus? Meine werten Damen, Sie können mir Hände und Füße binden oder mich in eine Kammer sperren, wenn Sie wollen, nur hören Sie, was ich zu sagen habe. Hören Sie nur!“
„Wie sind Sie in unsern Garten gekommen?“ stotterte das Stubenmädchen.
„Rufen Sie die Vorsteherin, und ich will ihr alles erzählen, alles, haarklein“, schrie Mr. Pickwick. „Beruhigen Sie sich, und rufen Sie sie, und Sie sollen alles erfahren.“
Vielleicht war es Mr. Pickwicks ganze Erscheinung oder sein Benehmen, vielleicht auch die Versuchung, der ein weibliches Herz nie widerstehen kann, ein Geheimnis zu hören; kurz, der vernünftigere Teil der Hausbewohnerinnen, nämlich ungefähr vier Personen, fing an, sich verhältnismäßig zu beruhigen. Sie machten den Vorschlag, Mr. Pickwick sollte sich zum Beweise seiner aufrichtigen Gesinnung in den Verschlag, in dem die Tagesschülerinnen ihre Hüte und Butterschnitten aufzubewahren pflegten, einsperren lassen, bis Miß Tomkins käme. Da Mr. Pickwick bereitwillig darauf einging und das Gefängnis hinter ihm abgeschlossen wurde, kehrte auch der Mut der andern zurück, und als Miß Tomkins wieder zu sich und heruntergebracht worden war, nahm die Konferenz ihren Anfang.
„Was hatten Sie in meinem Garten zu tun, Mann?“ fragte Miß Tomkins mit schwacher Stimme.
„Ich wollte Sie in Kenntnis setzen, daß eine von Ihren jungen Damen diesen Abend entführt werden sollte“, antwortete Mr. Pickwick aus dem Verschlag heraus.
„Entführt?“ riefen Miß Tomkins, die drei Lehrerinnen, die dreißig Pensionärinnen und die fünf Mägde wie aus einem Munde. „Von wem?“
„Von Ihrem Freund, Mr. Charles Fitz-Marshall.“
„Meinem Freund? Ich kenne ihn doch gar nicht.“
„Gut, von Mr. Jingle also.“
„Ich habe diesen Namen in meinem Leben nie gehört.“
„Dann bin ich hintergangen und an der Nase herumgeführt worden“, jammerte Mr. Pickwick. „Ich bin das Opfer einer Verschwörung geworden, einer gemeinen und niederträchtigen Verschwörung. Schicken Sie in den .Engel‘, Ma’am, wenn Sie mir nicht glauben. Schicken Sie in den .Engel‘ nach Mr. Pickwicks Bedienten, ich beschwöre Sie, Ma’am.“
„Er muß ein respektabler Mann sein, er hält einen Bedienten“, sagte Miß Tomkins zu der Schreib- und Rechenlehrerin.
„Ich fürchte, Miß Tomkins“, warnte die Schreib- und Rechenlehrerin, „sein Bedienter hält ihn. Er ist bestimmt wahnsinnig, Miß Tomkins, und seinem Wärter entsprungen.“
„Ich glaube, Sie haben recht, Miß Gwynn“, antwortete Miß Tomkins. „Schicken Sie zwei von den Mägden in den ,Engel‘, und die übrigen sollen hierbleiben, um uns zu beschützen.“
Es wurden also zwei von den Mägden nach Mr. Samuel Weller geschickt, und drei blieben zurück, um Miß Tomkins, die drei Lehrerinnen und die dreißig Pensionärinnen zu schützen. Mr. Pickwick saß in seinem Verschlag in einem Wäldchen von Butterbrotbeuteln und harrte, philosophisch gefaßt, der Rückkehr der Gesandtinnen mit aller ihm zu Gebote stehenden Seelenstärke.
Anderthalb Stunden vergingen, da schlugen vertraute Stimmen an sein Ohr. Nicht nur die Mr. Samuel Wellers, sondern noch zwei andre, die ihm bekannt vorkamen, ohne daß er sich in der Eile entsinnen konnte, um wen es sich handelte.
Nach einer kurzen Verhandlung wurde die Tür des Verschlages geöffnet; Mr. Pickwick schlüpfte heraus und sah die ganze Bewohnerschaft von Westgatehouse, Mr. Samuel Weller und – den alten Mr. Wardle und dessen zukünftigen Schwiegersohn, Mr. Trundle, vor sich.
„Mein teurer Freund“, rief er, eilte auf Mr. Wardle zu und ergriff mit Wärme seine Hand. „Mein teurer Freund, ich bitte Sie ums Himmels willen, erklären Sie dieser Dame hier die peinliche und schreckliche Lage, in die ich geraten bin. Sie müssen es von meinem Diener gehört haben; bestätigen Sie zumindest, mein teurer Freund, daß ich weder ein Räuber noch ein Wahnsinniger bin.“
„Ich habe es bereits getan, mein lieber Freund. Ich habe es bereits getan“, versicherte Mr. Wardle und ließ die Rechte Mr. Pickwicks gar nicht wieder los.
„Und wer’s sagt oder gesagt hat“, fiel Mr. Weller ein, „der is ’n Lügner. Ganz konträr im Gegenteil. Und falls hier im Hause Männer sin, wo das gesagt haben, so werde ich mir ungemein glücklich schätzen, ihnen das in diesem Zimmer beweiskräftig vorzuführen, wenn die geschätzten Damen so gütig sein wollen, sie mir Stück für Stück reinzubringen.“
Mr. Weller schlug dabei grimmig mit der geballten Faust in die offne Hand und zwinkerte Miß Tomkins, deren Indignation bei der Zumutung, in dem Pensionat könnte sich ein Mann befinden, keine Grenzen kannte, freundlich zu.
Mr. Pickwick gab in kurzen Worten die noch nötigen Aufschlüsse. Aber weder auf dem Rückwege mit seinen Freunden, noch nachher vor einem knisternden Feuer und dem für ihn so notwendig gewordenen Nachtessen war eine Silbe aus ihm herauszubringen. Er schien förmlich der Sprache beraubt zu sein. Einmal, und nur ein einziges Mal, wandte er sich an Mr. Wardle mit der Frage:
„Wie kommen Sie eigentlich hierher?“
„Trundle und ich sind in der Absicht hierhergekommen, eine kleine Jagdpartie zu machen“, antwortete Wardle fröhlich, „und waren ganz erstaunt, von Ihrem Bedienten zu hören, daß Sie sich auch hier befänden. Jedenfalls freut es mich sehr, Sie zu treffen. Es wird eine lustige Partie sein, und wir werden Mr. Winkle Gelegenheit geben, noch einmal sein Glück zu probieren; was meinen Sie dazu, alter Schwede?“ Mr. Pickwick gab keine Antwort. Er fragte nicht einmal nach seinen Freunden in Dingley Dell, zog sich bald darauf in sein Schlafzimmer zurück und befahl Sam, das Licht zu bringen, sobald er läuten würde.
„Sam!“ sagte er unter seiner Decke hervor, als Mr. Weller mit den Kerzen eintrat.
„Sir?“
Mr. Pickwick schwieg, und Mr. Weller putzte das Licht.
„Sam!“ sagte Mr. Pickwick wieder mit äußerster Anstrengung.
„Sir?“
„Wo ist dieser Trotter?“
„Hiob, Sir?“
„Ja.“
„Fort, Sir.“
„Mit seinem Herrn vermutlich?“
„Freund oder Herr oder was er sonst sein mag, zum Geier mit ihm!“ erwiderte Mr. Weller, „’n sauberes Paar das, Sir.“
„Jingle hat mich wahrscheinlich durchschaut und seinen Bedienten angestiftet, dir diese Geschichte aufzubinden?“ sagte Mr. Pickwick, nach Atem ringend.
„‚türlich, Sir.“
„Und es war alles erlogen?“
„Von A bis Z, Sir“, antwortete Mr. Weller. „Gemeiner Schwindel!“
„Nun, das nächstemal soll er uns nicht wieder so leicht entwischen, Sam!“
„Nein, wahrhaftig nich, Sir.“
„Wann und wo ich diesen Jingle wieder treffe“, fuhr Mr. Pickwick fort, richtete sich im Bett auf und führte einen furchtbaren Hieb nach seinem Kissen, „ich werde ihn erbarmungslos an den Pranger stellen und ihm eine persönliche Züchtigung zuteil werden lassen, an die er denken wird. So wahr ich Pickwick heiße.“
„Und wenn ich den melancholischen Schuft mit dem schwarzen Gestrüpp in die Föten kriege“, sagte Sam, „werde ich ihm mal wirkliches Wasser in die Augen treiben. So wahr ich Sam Weller heiße. – Gute Nacht, Sir.“